Wenn die Chinesen Rügen kaufen, dann denkt an mich

Cover

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, September 2019

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Covergestaltung Anzinger und Rasp, München

Coverabbildung Caspar David Friedrich/ akg-images

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ISBN 978-3-644-00415-3

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

ISBN 978-3-644-00415-3

| Aus heiterem Himmel, schön wär’s, wenn ich sagen könnte: aus heiterem Himmel.

 

Gefeuert, entlassen, rausgeschmissen. Na, was fällt ihm sonst noch ein, dem alten Hasen? Freigestellt, abserviert, abgebaut, kaltgestellt, fallengelassen, verjagt, rausgekickt. Gut, aber da gibt es noch mehr im Vorratslager: in die Wüste geschickt, in den Ruhestand versetzt, in die Rente abgeschoben, zum alten Eisen geworfen, abgehalftert, ausgeschieden. Ausgeschieden! Das ist es, fünf Tage nach der Bundestagswahl und zwei Jahre vor dem Rutsch in die Rente hat meine Zeitung mich ausgeschieden, fristgerecht zum Ende des Jahres. Vorsicht, ich stinke.

 

Als ich den Brief gestern Morgen auf dem Tisch liegen sah, wusste ich Bescheid, obwohl der Himmel heiter war. Solche Briefe kommen freitags. Während ich las, rasselten mir alle diese Wörter durch den Kopf. Danach der erste klare Gedanke: kein Amoklauf bitte. Im Gegenteil: weiterschreiben, noch heute! Wenn es keine Artikel und Kommentare mehr sein dürfen, dann irgendwas anderes, was du noch nie gemacht hast. Eine Art Tagebuch. Subjektiv jedenfalls, rücksichtslos, falls ich das überhaupt noch kann nach so vielen Jahren Fron und Fakten, Zahlen und Meinungsservice.

 

 

Statt auszurasten, einzuknicken oder loszubrüllen, war ich seltsam glücklich mit dem Gedanken: weiterschreiben, aber ganz anders, frei, endlich frei, wirklich frei! Freigestellt, zum ersten Mal gefiel mir der alte Zynismus der Arbeitgeber. Abends war ich dann doch zu gereizt anzufangen.

 

Heute sitz ich zu Hause vor dem eigenen Bildschirm. Bin froh, nicht den Fehler gemacht zu haben, am Morgen in einen Papierladen zu rennen und ein dickes leeres Heft zu kaufen, das dann vollgeschrieben werden will, mit schludriger Handschrift und schludrigen Formulierungen und dem unlustigen Druck einer selbstauferlegten Chronistenpflicht.

Nein, Profi bleiben an der heimischen Tastatur, eine neue Datei

 

 

1.10. | Vorgestern Ancelotti, gestern ich, sagte ich an den Mülleimern zu der freundlichen italienischen Nachbarin vom Musikinstrumentenmuseum, die mich bedauerte. Ancelottis Entlassung – bei ihm nimmt man das vornehme Wort Trennung – überall in den Schlagzeilen. (Wer war Ancelotti? wirst du fragen, Leserin Lena. Ein Trainer beim meistgehassten und meistgeliebten Fußballverein der Zehnerjahre. Und wer ich war? Das sollen dir diese Notizen zeigen, liebe Nichte.)

 

Bin bestenfalls ein Ersatzspieler. Alle wissen es, sogar die Statistiken: Mit der gedruckten Presse geht es abwärts. Für meine Chefs bin ich ein Kostenfaktor, eine Nummer. Überall in unserer bibbernden Branche wird Personal gekappt. Lieber in den Redaktionen als beim Marketing und in der Verwaltung. Nicht immer auf einen Schlag, bei uns schleichend, sozialverträglicher Stellenabbau heißt das. Die Dax-Priester dürfen natürlich bleiben. Ich muss versuchen, mich nicht als Opfer betriebswirtschaftlicher Schmalhänse zu stilisieren, was für einen Ökonomen besonders peinlich wäre.

Trotzdem, es ist eine Ohrfeige, im besten Berufsalter die Ohrfeige eines Berufsverbots. Das brennt im Gesicht, ätzt den Verstand, nagt am Humor. Obwohl es natürlich kein Berufsverbot ist, wir leben nicht in der Türkei, sondern auch übermorgen noch in einer freiheitlichen Gesellschaft, in der ich weiter schreiben darf, Bücher, Blogs, Tagebuch und

 

 

2.10. | Es wäre kindisch, sich in dieser Lage zu bemitleiden. Ich werde mich nicht als Opfer betrachten, man kennt sein Berufsrisiko im Meinungsgewerbe. Meine Chefs stehen der Regierungspartei nahe, ich nicht. Sie hätscheln die Kanzlerin, die mit Ach und Krach wiedergewählte, ich nicht. Mich hat man für Globalisierungsfragen angestellt, daran hab ich mich gehalten, folglich gelte ich im Haus als ihr Kritiker. Man sieht nicht gern, wenn ökonomisch begründet wird, warum ihre Politik oft falsch und fatal wird und sie für das laufende und das kommende Desaster in Europa auf ihre listige oder naive Art mitverantwortlich ist. Nicht sie als Person, sondern sie als Repräsentantin der kurzsichtigen deutschen Interessen. Dabei sage ich nicht mehr als die meisten europäischen Fachleute. Und teile nicht den deutschen Dünkel, die Wahrheit gepachtet zu haben. (Pass nur auf, nicht selber so ein Pächter zu werden, hat meine kritische Gefährtin neulich gesagt.)

 

 

3.10. | Längere Telefonate mit Jürgen und Bernd, die letzten Freunde, die ich in der Redaktion noch habe. Beide raten mir zu bloggen, ab Januar dürfte ich das. Statt solcher Notizen lieber fesche Thesen schnitzen und ins Netz werfen. Aber heute bloggt doch jeder, der einen Computer starten kann. Allein im deutschen Sprachraum Zehntausende von entlassenen oder nie vorwärtsgekommenen oder edelpensionierten Schreiberlingen aller Richtungen, die bloggen und ihre Meinungen durchs Internet schaukeln. Jeder bloggt und jagt sein

 

Aber deine Leser werden dich vermissen, sagt Jürgen. Dann sollen sie den Chefs die Hölle heißmachen und mir nicht hinterherweinen, sag ich. Und weißt du, wie viele es sind, a) die es merken, dass ich ab 1.1. fehle, b) die es bedauern, c) die protestieren? Na bitte.

 

Noch hab ich ihm nicht gesagt, dass ich manchmal auch erleichtert bin, nicht mehr im Wettbewerb der Fakten und Meinungen mithecheln zu müssen. Will ich wirklich so weitermachen? Die Frage ist noch nicht beantwortet. Weiterlachen ist die bessere Devise. Gerade an den Tagen der Einheit.

 

 

4.10. | Kassandra geht in Rente, hörte ich heute in der Kantine hinter mir tuscheln. So schnell geht das. Mein Spitzname ehrt mich sogar, natürlich wird man zum Schwarzseher gestempelt, wenn man ein bisschen genauer in die Bilanzen

Hört her, ihr Tratschtüten aus der Kantine: Auch jetzt in der Stunde des Feierabends sitzt Kassandra noch vor dem Schirm, gleich geht Kassandra mit seiner Frau essen und einen Rotwein trinken. Freut euch nicht zu früh, Kassandras Blog wird es nicht geben!

 

Gestern Geburtstag der Schwägerin Ella. Die es Helmut Kohl zu verdanken hat, immer an einem Feiertag feiern zu können. Die deutsche Einheit war, wo ich zuhörte, kein Thema, bei den Jüngeren schon gar nicht. Längeres Gespräch mit der aufgeweckten Nichte Lena, Abiturientin, die genauer wissen wollte, warum man mich rausschmeißt. Gab mir Mühe, ein guter Pädagoge zu sein: Ich hätte nichts gegen die Wirtschaft, sie sorge für unseren Wohlstand, auch nichts gegen die soziale Marktwirtschaft, aber die werde verdrängt von der asozialen Finanzwirtschaft, das sei mein Thema, damit ecke man dauernd an. Den Zeitungen gehe es schlecht, es gebe zum Glück sehr viele sehr gute Journalisten in Deutschland, ich sei nun etwas älter, und so weiter.

Auch sie liest nicht mehr auf Zeitungspapier, sie verstand die wirtschaftlichen Argumente, witterte schnell meine Abneigung gegen die Regierung, bohrte nach, wollte wissen, ob und

Lena wollte ein Beispiel, ich erzählte von der Finanzkrise, als die Chefs der vom Staat geretteten Banken nur noch 500000 € im Jahr verdienen durften und die CDU/CSU trotzdem bald danach, 2010 schon, natürlich mit Wissen der Kanzlerin, den Antrag einbrachte, diese Grenze aufzuheben, extrem kurzfristig und klammheimlich, und der Bundestag binnen 24 Stunden abstimmte, ohne dass die Opposition sich richtig regen konnte. Und alles für den Chef der Commerzbank und ein paar andere Herren.

Sie hat gerade zum ersten Mal gewählt, in Opposition gegen die in ihren Augen eiserne, ewige Kanzlerin. Habe sie nicht animiert, ihr süßes Wahlgeheimnis preiszugeben, obwohl ich das zu gern gewusst hätte, vermute FDP oder Grün.

 

 

5.10. | Der heftigste Sturm des Jahres, man rät zum Zuhausebleiben. Meine Anwesenheit im Büro wird sowieso nicht mehr verlangt. Also nehme ich mir Home Office und hole die alten Jazz-CDs vor. Zum Sturmgebraus die alten Teufel am Piano, Oscar Peterson, Thelonious Monk, Herbie Hancock. Der Rückenwind der Musik! Während draußen Bäume stürzen und Kinder in das Licht der Welt hüpfen.

 

Für wen schreib ich das hier? Für mich oder Susanne in zehn Jahren oder, wer weiß das, in zwanzig. Um später gerührt oder verbittert auf dem Altersheimsofa nachzulesen, wie es damals

Nein, keine Nostalgie bitte. Auch wenn das hier keiner liest, beim Schreiben sollte ich hin und wieder an andere denken. An Lena zum Beispiel. Eine passende Adressatin, eine Brücke in die unbekannte Zukunft, dieser Gedanke kam mir gestern auf dem Rückweg vom Geburtstag. Wenn schon keine Kinder, keine Enkel auf meine Brocken warten, könnte meine aufgeweckte Nichte vielleicht irgendwann einmal, in zwanzig oder noch mehr Jahren, Interesse an den Aufzeichnungen ihres politischen Onkels haben: Wie war das damals am Anfang des Jahrhunderts, in den letzten Merkel-Jahren, als Europa bröckelte? Einverstanden, Leserin Lena?

 

 

6.10. | Das wird natürlich in zwanzig Jahren keine Sau interessieren: Eine neue Koalition bahnt sich an, jeder Politikermund schmeckt das Wort Jamaika ab. Auch bei uns im Haus plappern die meisten das so selbstgefällig nach, als fiele ihnen sonst nichts mehr ein. Adieu, ihr Papageien!

 

Ich erzählte Jürgen vom Tarpejischen Felsen im alten Rom, von dem man die Greise geschubst hat, die zu nichts mehr nützlich waren, nicht mal die Ziegen mehr melken konnten. Das wäre eine hübsche Idee für die Junge Union zur Sanierung der Rentenkassen, meinte er, aber seiner Ansicht nach seien Mörder und Verbrecher von diesem Felsen gestürzt worden, nicht Greise. Die staatstreuen Greise, sagte ich, sind da sogar

 

Wenn ich doch einmal spekuliere über die Motive meiner Leute: Gerade jetzt, könnten die gedacht haben, wo die neue Rechte so stark ist und ständig die Kanzlerin attackiert, noch dazu auf die unflätigste Art, da dürfen wir denen nicht noch zusätzlich Munition liefern, jetzt müssen Demokraten zusammenstehen, Nörgelei schadet da nur, da schicken wir Kassandra lieber in Rente. Jetzt vereint gegen rechts, da brauchen wir keine Störungen von links mehr, diese abgenudelte Kapitalismuskritik gibt’s doch sowieso an jeder Straßenecke, ein Augstein und eine Augstein reichen doch. Dass ich die Politik der M. mit ganz anderen Argumenten kritisiere, nämlich als Pro-Europäer, das ignorieren die einfach.

Freund Jürgen und ich nennen die Frau, vor der zwei Drittel unserer Kolleginnen und Kollegen in die Knie gehen (oder gingen bis vor kurzem), die MÜK, die maßlos überschätzte Kanzlerin. Mein letztes Vergehen vor der Wahl: habe die Weisheit und den Reformwillen Macrons höher eingestuft als die der MÜK. Da macht der Franzose in Athen, mit viel Pathos und Klartext, mit konstruktiver Kritik eine Reihe von Vorschlägen zur Verbesserung der EU in Richtung Demokratie, Italien und Spanien lechzen nach solchen Reformen – er streckt die Arme aus, aber aus den deutschen Wäldern kommen nur Schweigen und der weiße Nebel wunderbar. Man überlässt die Kritik an der EU den Rechten. Das wird sich rächen, schrieb ich wörtlich. Ohne an meine Chefetage zu denken.

Alles Spekulatius. Ich nehme mich zu wichtig, ich bin nur ein Kostenträger, Punkt. Und koste ab 1.1. weniger, so

 

 

7.10. | Die Zeitungen immer noch voll mit Artikeln, die Talkshows fixiert auf die Frage: Wie konnte die rechte Truppe nur so weit kommen? Aber niemand hat diese Leute vor der Wahl mit Fragen gelöchert, am wenigsten die Plapperkollegen vom Fernsehen: Wer fährt Ihren Müll weg, wer pflegt Sie im Krankenhaus, wer legt Ihnen die Ware im Supermarkt zurecht? Fehlen bei Ihnen keine Feuerwehrleute und auf dem Land keine Ärzte? Welche Ingenieure sollen die neuen Brücken bauen, woher sollen die händeringend gesuchten Lehrlinge kommen, die Mathegenies? Wissen Sie nicht, dass wir pro Jahr 300000 Einwanderer brauchen, damit Sie noch eine erträgliche Rente bekommen und Ihre Enkel einen Kitaplatz? Die Falschfrager, wie Kollege B. sie nannte, die Flachfrager und Nichtfrager unter den Journalisten, die sich lieber am Nationalgewäsch erregen, können durchaus für ein paar Prozent der zwölfeinhalb Prozent dieser Rechtsaußenaufwertung verantwortlich sein, über die jetzt alle barmern.

 

Unsere Zunft war ein Jahrzehnt viel zu kniefällig und zahm vor der M., ihr wurden viel zu selten substanzielle Fragen gestellt oder nachgebohrt, darum sind die meisten Kolleginnen und

 

Susanne meint hin und wieder, ich solle mich mit einem Buchprojekt ablenken. Klar, das wäre die angenehmste Lösung. Aber die Welt ist so voll von Büchern und Meinungen, ein gnadenloser Verdrängungswettbewerb, da genieße ich lieber den größeren Luxus, an keine Abnehmer, Anhänger, keinen Markt zu denken, für mich allein zu schreiben, niemanden informieren und überzeugen zu wollen, zu müssen, nicht einmal Susanne und Lena irgendwann. Natürlich könnte ich auch jammern: Mit so viel aufklärerischem Elan angefangen vor vierzig Jahren, nach dem «Deutschen Herbst» (ein Thema für sich, Lena, bitte googeln oder mich fragen, falls ich noch antworten kann). Es ist genug Terror in der Welt, dachte ich damals, unsereiner hat nur ein Mittel dagegen: nach der Wahrheit fahnden, nach den Wahrheiten! Nicht die Leute bestätigen, sondern ihnen was zu denken geben. Zur Wirklichkeit vordringen, schon das ist nicht beliebt. Zur Wirklichkeit vordringen heißt: zur Wirtschaft vordringen. Das ist noch weniger beliebt.

 

 

8.10. | Dass bei so einem heftigen Sturm dicke Bäume umfallen, ist nicht verwunderlich. Aber ich habe gestern einige kleine, mickrige Bäume gesehen, die dem Wind überhaupt keine Angriffsfläche boten – und flach und entwurzelt auf der Straße lagen. Wer erklärt mir das?

 

 

 

9.10. | Wenn ich am Pförtner vorbei und dann durch die Gänge zu meinem Zimmerchen gehe, grüßend, an Gesichtern vorbei, die nicht wissen, ob sie mitleidig gucken sollen oder erleichtert, dass es nicht sie erwischt hat, dann tut sie durchaus weh, die Ohrfeige. Mit 63, auf dem Höhepunkt meiner Kenntnisse, Erfahrungen und bescheidenen Fähigkeiten einfach stummgeschaltet. Was für eine Verschwendung, auch für die Zeitung, die so viel in mich investiert hat. Aber ich werd mich nicht lächerlich machen und darauf pochen, was ich über zwanzig Jahre lang für unser Blatt getan habe, haufenweise Artikel und Kommentare, endlose Dschungel aus Zahlen, Statistiken, Managerfloskeln, Bilanzen durchforstet und durchforscht, tausend Recherchefragen mit stichfesten Belegen zu beantworten und ökonomisches Latein in gutes Deutsch zu übersetzen versucht. Soll ich dem Personalchef wie ein trotziger Schuljunge mein Zwischenzeugnis zeigen mit höchstem Lob für alle meine Tätigkeiten? Nee, weine nicht, wenn der Regen fällt. Tam tam, tam tam!

 

 

10.10. | Mea culpa, könnte ich sagen, wenn ich ein guter Katholik wäre. Und dir in Kurzfassung meine Vergehen auflisten, damit du deinen Onkel besser verstehst, Lena. Ja, ich gestehe, ich hab mich mit Kommentaren und Berichten

 

Die Mea-culpa-Liste wäre viele Seiten lang, die werd ich mir ersparen. Aber wenn Lena oder wer immer mich bittet: Hör doch auf zu meckern, hör auf, mit deiner Kritik anzugeben, sag doch mal, was du politisch willst, positiv, dann könnte ich Ulrich Beck zitieren von anno 2011: «Was die Ostpolitik der siebziger Jahre im geteilten Deutschland war, sollte angesichts der Finanzkrise die Europapolitik heute sein: Vereinigung über Grenzen hinweg. Warum war die unendliche Kosten verursachende Vereinigung mit der DDR selbstverständlich, warum ist die wirtschaftspolitische Integration der Schuldnerländer wie Griechenland und Portugal dagegen verpönt? Es geht darum, Europas Zukunft und seine Stellung in der Welt neu zu denken und zu gestalten. Mehr Europa!»

 

Jetzt kriegen die Physiker, die solche Messungen ermöglicht haben, den Nobelpreis. Für die Kunst des Staunens gibt es immer noch keinen.

 

 

11.10. | Genau einen Tag nach dem Entlassungsbrief meldete sich mein alter Schulfreund Fritz Roon wieder, Kardiologe an einer Uniklinik in Baltimore. Jahrelang nichts von ihm gehört. Nun berichtete er in wenigen Sätzen von seiner Karriere, seiner Familie, seiner Scheidung und gab zu, dieser seltsam kranke Präsident der USA, der leider weder bei ihm noch bei den psychiatrischen Kollegen in Behandlung sei, habe bei ihm den Wunsch geweckt, seine Kontakte nach Deutschland wieder «wachzuküssen». Er wolle mir nicht lästig fallen, aber … Natürlich antwortete ich ihm, überrascht und erfreut, dem besten Kumpel neben mir auf der Schulbank am Friedrich-Wilhelm-Gymnasium in Eschwege und vor oder hinter mir auf dem Fahrrad beim Anstieg auf den Hohen Meißner. Berichtete ihm von meiner steilen Karriere abwärts ins Tal der Frührente.

Carpe diem reicht nicht, mailte er jetzt zurück, typisch Mediziner: Genieße jeden Schritt!

 

Langsam lernen, Ich zu sagen.

 

 

12.10. | Seidenstraße – ein Wort, das auf der Zunge zergeht, ein magisches, morgenländisches Versprechen. Ich halte jedesmal inne, wenn es mir begegnet. Der Plan ist politisch genial: ein Netz moderner, chinesisch dominierter Handelswege durch alle Kontinente, Aufschwung, Freundschaft, Frieden und bessere Zukunft für alle versprechend. Nehme mir vor, die Antennen mehr in diese Richtung auszufahren.

 

Je mehr Zeit ich habe, desto mehr Verdrängtes kommt hoch, zum Beispiel die Nebenwirkungen der ökonomisch und politisch idiotischen Griechenlandpolitik: wie mit der erzwungenen und hastigen Privatisierung den Chinesen der Hafen von Piräus fast geschenkt wurde, wie sie nach Europa eingeladen wurden. Ein «Brückenkopf» der neuen Seidenstraße. Aus Dummheit lassen wir uns von chinesischen Firmen erobern oder erleichtern ihnen zumindest die Eroberungen. Vielen Dank, Herr Sarkozy, Frau Merkel, Herr Schäuble, Herr Dijsselbloem! (Entschuldige, Lena, du wirst in welcher Zukunft auch immer einige Namen googeln müssen, ich kann sie hier nicht alle erklären.) Arrogant und selbstzufrieden, wie sie sind, meinten unsere neoliberalen (sie so zu nennen gilt im Blatt schon als ideologisch) Experten, die Griechen über Marktwirtschaft belehren und die Privatisierung befehlen zu müssen, während die Chinesen Fakten schaffen und danke sagen. Schon deine Generation, Lena, wird bald merken, was wir für Trottel waren zu Anfang des 21. Jahrhunderts. Es ist ein

Auch ich müsste mehr in diese Richtung, in die wahrscheinlichste Zukunft schauen: auf die riesigen Investitionsprojekte in aller Welt, aber eben auch in Griechenland, Mazedonien, Serbien, Bosnien-Herzegowina, Ungarn.

Im chinesischen ICE von Wien oder Budapest nach Athen rollen, vielleicht werd ich das noch erleben.

 

Fahre wieder öfter mit dem Rad in die Redaktion. Wer absteigt, muss mobil bleiben. Auch wenn es die Rechtsabbieger auf mich abgesehen haben.

 

 

13.10. | Schöner Satz des Fußballers Müller: «Wir haben die Qualität, wir müssen sie nur auf die Wiese bringen.» Meine Wiese ist jetzt diese Datei.

 

 

15.10. | Eine besonders kluge und sympathische freie Journalistin, Außenpolitik, wurde neulich beim Sturm von einem Baum erschlagen. Und in unserm Haus: Der vom Sport kämpft immer noch mit der Prostata, wie sein Vorgänger, der daran starb. Der vom Feuilleton, ein heiterer, pfiffiger Mensch, hatte Lungenembolie. Die Redakteurin Innenpolitik Brustkrebs. Alle jünger als ich. Gehöre immer noch nicht zur Generation Betablocker. Keine Klagen bitte.

 

 

 

16.10. | Ein Brandanschlag auf eine Synagoge soll «nicht antisemitisch» sein? Sondern «politisch motiviert», von wegen «Kritik an Israel»? Geht’s noch, ihr Oberlandesgerichtsrichter? Wo lebt ihr? In Düsseldorf?

 

 

17.10. | Hältst du deinen Onkel für einen Feigling, Lena? Weil er seine Entlassung so einfach hinnimmt? Erwartest du, dass ich mich räche an meinen Chefs mit List und Gewalt und nachdenke über eine raffinierte Attacke, einen Anschlag, eine schöne spektakuläre Aktion? Nein, einen Krimi kann ich dir nicht bieten, einen Helden auch nicht. Meine Rachegelüste und anderen finsteren Triebe gehen nicht weit genug, um zur Pistole, zum Gift oder zu einer Machete zu greifen. Nicht mal zu einer Klageschrift.

Du musst wissen, ich hab schon mal einen strengen Verweis bekommen, vor zwei Jahren. Wir waren in der Kantine zu laut geworden, ich hatte in der FAZ etwas über den mittelalterlichen Dichter Dante gelesen. Der hatte es gewagt, drei Päpste, die er erlebt hatte und die in seinen Augen zu Sündern geworden waren, in die von ihm gebaute Hölle zu schicken und ihre Strafen und Qualen genüsslich auszumalen. Was für eine Ketzerei und Frechheit!

Wenn ich so ein Dante wäre, hatte ich zu den Kollegen Jürgen

Wir waren in guter Stimmung, nach Redaktionsschluss, und haben noch ein paar ähnliche Argumente pro oder kontra Hölle durchgespielt. Ohne uns wie der radikale Herr Dante spezielle Strafen auszumalen. Dummerweise waren wir etwas zu eifrig und laut. In der Nähe saß jemand mit Gästen von auswärts, die Beschwerde landete beim Chef.

Der konnte sich gar nicht einkriegen, das Wort Hölle im Zusammenhang mit der Kanzlerin, und das von Redakteuren einer bürgerlichen Zeitung! Wenn das nach außen dringt! Und so weiter, und so weiter. Er hätte mich damals schon gern rausgeschmissen. Mein Argument: Ich hab doch nur im Konjunktiv gesprochen! Wenn ich Dante wäre, habe ich gesagt, ich bin aber nicht Dante, der ist siebenhundert Jahre tot, und ich hab leider gar nicht zu entscheiden, wer in die Hölle sollte – es nützte nichts.

(Das kommt davon, wenn man ausnahmsweise mal das Feuilleton liest. Ein Artikel von F.C. Delius über den «frechsten Dichter aller Zeiten», der hat mich frecher gemacht als erlaubt. Die Achtundsechziger sind schuld!)

Ein Einwanderungsgesetz, bei dem man die Humanitätspflichten von Wirtschaftsinteressen und die eigenen Bedürfnisse von denen der Flüchtlinge unterschieden, Rechte und Pflichten ähnlich vernünftig wie in den USA, Kanada oder Australien definiert hätte. Vor solchem Regelwerk für solide Integration hat sie nicht nur 2002 gekniffen, sondern all die Jahre, sogar nach ihrem mutigen Satz «Wir schaffen das», aus Angst vor den Rechten. Um mal wieder vom Haarriss in den Füßen der Nation zu sprechen: Weil jener Satz nicht ordentlich begründet, nicht mit Plänen konkretisiert, nicht offen und offensiv vertreten wurde und die krankhafte bürokratische Exklusion der «Ausländer» weitergeht, ist der Haarriss im deutschen Fuß so schwer heilbar geworden. Feigheit vor der eigenen Courage nannte man das in Zeiten, als das Wort Courage noch kein Fremdwort war.

 

Keine Sorge, Lena, an die Hölle glaubt hier und heute im Jahr 2017 niemand.

 

 

| Der Chor der Spötter über den amerikanischen Präsidenten ist groß genug, da muss ich nicht mitsingen, nicht in diesen Aufzeichnungen. Nach seiner Wahl reichte mir der Satz: 50 Jahre Verblödungsfernsehen können doch nicht umsonst gewesen sein. Es ist allzu leicht, bei diesem Herrn recht zu haben und Witze zu machen. Aber er lässt uns politisch denkfaul und einfältig werden, wenn wir meinen, das sei schon politisch, gegen ihn zu sein. Dabei gibt er harte Nüsse zu knacken.

Warum reizt es mich heute, den öffentlichen Satz eines republikanischen Senators über den Präsidenten festzuhalten? «Es ist eine Schande, dass das Weiße Haus zu einem Pflegeheim für Erwachsene geworden ist.» Nur weil die Bosheit so elegant formuliert ist? Oder weil ich doch jeden Tag hoffe, dass er strauchelt, damit wir ihn nicht ernst nehmen müssen. Jedenfalls ein ergiebiges Gesprächsthema, dieser Kerl, mit Roon in unseren Mails und mit Susanne beim Fernsehen oder in der Kantine und mit den Freunden: kein Tag ohne Mister T.

 

Kleinkindgruppe im Laub, beim Suchen möglichst großer, schöner Blätter. Auch bei Vierjährigen ist das Haupt- und Spitzenwort: cool. «Guck mal, so groß: cool!»

 

 

19.10. | Vogeldeuter! Wenn wir uns ein bisschen aufpumpen wollen, sagte Kuno, der Chef der Journalistenschule, nennen wir uns Journalisten. Wenn wir die Luft rauslassen, Zeitungsschreiber. Wenn wir uns beschimpfen, steht uns ein gut gefülltes Arsenal von Wörtern zur Verfügung. Aber in Wahrheit sind wir nicht viel mehr als Vogeldeuter, nicht viel besser als die Auguren der alten Römer, die aus dem Vogelflug deuten, ob ein

Ein Vogeldeuter bin ich, ja – immer noch besser als Vogelfänger.

 

Aufzeichnungen eines abgestürzten Vogeldeuters. Das wäre die Leitlinie. Was kommt da wie aus China angeflogen, mit welchen Zielen?

 

Die Zeiten sind zu aufregend, um nicht über sie zu schreiben. Man will reagieren, und sei es mit kleinen Randbemerkungen. Die laufenden Ereignisse zu beschweigen ist, Seneca hin oder her, jedenfalls auch keine Lösung.

 

 

| In der U-Bahn kochte sie mal wieder hoch, die Wut: In zwei Monaten fährst du nicht mehr zur Arbeit.

Die Gesichter rundum, als wären die Leute auch gerade rausgeschmissen worden. Jeder trägt seine Kündigung auf der Stirn.

 

 

22.10. | Als ich im Sommer anhand des neuen Buches von Yanis Varoufakis «Die ganze Geschichte» den Griechenlandschlamassel auf einer Seite darstellen wollte, hieß es: Nicht im Wahlkampf! (Es hatte sich herumgesprochen, wie zerstritten Frau M. und Herr Sch. in dieser Frage waren.) Nun, nach der Wahl und nach der Kündigung, machte ich, ohne Hoffnung, einen neuen Anlauf. Jetzt heißt es: ich solle mich in meiner Lage nicht mehr exponieren (auf dem Abstellgleis). Man lässt mich ins Büro und an die Datenbanken, aber schreiben, auch noch Gutes über die bösen Griechen und den Buhmann Nummer 1, denkste!

 

Vorteil des Tagebuchs: die eigenen Dummheiten von denen der übrigen Welt trennen. Im Blog, bei Twitter, Facebook usw.: die eigenen Dummheiten mit denen der restlichen Welt vermanschen.

 

 

23.10. | Nein, will mir kein Buchprojekt aufladen, erst mal jedenfalls nicht. Susanne wünscht ja schon lange und drängt jetzt wieder, dass ich über ihren Onkel schreibe, der in einem Altersheim bei Hannover sitzt und in der Geschichte der Bundesrepublik eine winzige, aber wichtige Rolle gespielt hat, ein linker Lehrer, der Ulrike Meinhof der Polizei ausgeliefert hat und dafür sein halbes Leben lang als Verräter beschimpft und belästigt wurde. Das war anno 1972, das ist bald ein halbes

 

Der Verrat vor der Haustür in Malta zum Beispiel. Wo die Journalistin Daphne Caruana Galizia von einer Autobombe getötet wurde, Mitarbeiterin an den Panama Papers. Sie hatte Belege für die mafiösen Strukturen ihrer Regierung geliefert, die offenbar Geldwäsche, Ölschmuggel, Drogengeschäfte, Steuerflucht fördert und den finsteren Vertretern dieser Branchen aus Russland, China, Vorderasien auch noch EU-Pässe verkauft. Mitten in der EU ist es lebensgefährlich geworden, investigativ zu arbeiten. Und die Regierung scheint die Aufklärung des Mords verhindern zu wollen. Es rächt sich, dass die EU keine schnellen, wirksamen Mittel hat, Länder zu sanktionieren, die an den Grundpfeilern des Rechtsstaats rütteln. Ungarn, Polen, Rumänien, Bulgarien, jetzt Malta. Der geduldete Verrat an Grundwerten, juckt der nur noch uns alte Verfassungspatrioten?

Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, über die ich manchmal herziehe (wie sie über mich), an diesem Punkt sind sie alle hellhörig und erfreulich eindeutig. Ähnlich wie bei Deniz Yücel oder bei Can Dündar.

 

Und in Deutschland verschwenden wir unsere Zeit mit einer in Panik um sich schlagenden, das Land lähmenden CSU, die das Verlieren nicht gelernt hat. Als sei das Wahlvolk schuld an einer kollektiven Majestätsbeleidigung. Als schriebe die bayerische Verfassung für alle Zeiten die absolute CSU-Herrschaft vor. So viel Panik vor ein bisschen mehr Demokratie. Die Partei stellt die unfähigsten Minister und wird dafür nicht mal kritisiert. Wo bleiben die Artikel über diesen Einparteienstaat mit öffentlich-rechtlicher Hofberichterstattung?

 

 

BWL