Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg bei Reinbek, Mai 2019
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Die Originalausgabe erschien 1984 im Verlag Gerald Duckworth & Co. Ltd., London, unter dem Titel «A Leg to Stand On»
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ISBN Printausgabe 978-3-499-18884-8 (20. Auflage Oktober 2016)
ISBN E-Book 978-3-644-00087-2
www.rowohlt.de
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Thom[son] William Gunn, geboren 1929 in England, lebt in Kalifornien; Lyriker. (Anm. d. Übers.)
Zahme Xenien II, 1,613: Wie das Gestirn, / Ohne Hast, / Aber ohne Rast, / Drehe sich jeder / Um die eigene Last. (Anm. d. Übers.)
Gestalt aus Charles Dickens’ Roman «Oliver Twist»: ein Berufsverbrecher, der wegen Beteiligung an einem Mord zum Tode verurteilt wird. (Anm. d. Übers.)
Aus historischen Gründen legt in der englischsprachigen Welt ein Chirurg Wert darauf, nicht mit «Doctor», sondern mit «Mister» tituliert zu werden. (Anm. d. Übers.)
Der irische Philosoph George Berkeley (1685 – 1753) lehrte, dass alle Dinge nur im Geist existieren, dass Sein und Bewusstsein gleich seien (subjektiver Idealismus). (Anm. d. Übers.)
Joseph, I. Baron Lister (1827–1912) führte die Antisepsis in die Chirurgie ein. (Anm. d. Übers.)
E. Liveing, britischer Migräneforscher, Autor des Buches «On Megrim, Sick-Headache, and Some Allied Disorders: A Contribution to the Pathology of Nerve-Storms». London: Churchill 1873. (Anm. d. Übers.)
Nervenübertragungstests, Elektromyogrammen usw. wurde ich erst vier Jahre später unterzogen. Dabei stellte sich heraus, dass noch immer eine recht starke Denervierung des Quadrizeps und eine erhebliche Beeinträchtigung der Reizleitung im Schenkelnerv, der den Quadrizeps versorgt, vorlagen. Zur Zeit meiner «Entfremdung», meines Skotoms, müssen diese Beeinträchtigungen sehr stark oder sogar absolut gewesen sein.
(Jenseits von Gut und Böse», Nr. 146. (Anm. d. Übers.)
Vom Leben des Geistes, Bd. 1: Das Denken. München (Piper) 1979, Kapitel 20. (Anm. d. Übers.)
Bognor Regis, engl. Seebad am Kanal. (Anm. d. Übers.)
Babinski spricht in diesem Zusammenhang von einem «dritten Bereich», der weder hysterisch noch «organisch» im klassischen (neuroanatomischen) Sinn ist, sondern auf Schockeinwirkung und einer sich verstärkenden Hemmung spinaler und peripherer Mechanismen beruht und eine tiefgehende, posttraumatische physiologische Störung darstellt. Meine eigene «Physiopathie» gehörte offenbar in diesen «dritten Bereich».
Ich fragte mich, wie Frauen eine Entbindung unter Lumbalanästhesie erleben mochten – ob dieses Gefühl der Entfremdung sich auch auf die Babys bezog, die unter diesen Umständen zur Welt gebracht wurden, und ob die Frauen ihr Kind nicht als eigenes, sondern als aus einem fremden Körper hervorgegangenes Nicht-Fleisch-und-Blut empfanden –, und ich begriff, welche Weisheit darin lag, bei einer Entbindung keine alle Empfindung auslöschende Lumbalanästhesie, sondern die mildere Epiduralanästhesie einzusetzen, bei der die Schmerzempfindung lediglich gedämpft wird.
Kürzlich bekam ich einen Brief von einer Kollegin, in dem sie mir die «völlig unerwarteten» Auswirkungen eines einfachen Knöchelbruchs beschrieb. Sie hatt eeine Genesung ohne Komplikationen erwartet und angenommen, sie würde, sobald die körperlichen Voraussetzungen dafür gegeben waren, all die komplexen Bewegungen wieder wie zuvor ausführen können. Zu ihrer Überraschung war dies jedoch nicht der Fall: Als der Gips nach mehreren Wochen entfernt wurde, stellte sie fest, dass sie nicht mehr imstande war, die bis dahin «automatischen» Bewegungen des Beins auszuführen, und dass sie diese von neuem lernen musste. Sie hatte den Eindruck, die «Vorstellung» dieser Bewegungen sei verschwunden gewesen, und sie müsste ihr Gehirn «reprogrammieren». Dies ist in der Tat die Gefahr, die in einer Immobilität oder einer orthopädischen Ruhigstellung lauert: Komplexe Bewegungen, die nicht ausgeführt, nicht innerlich «geübt» werden – und Bewegungen, die physisch unmöglich sind, können nicht in der Vorstellung ausgeführt werden –, sind innerhalb weniger Wochen «vergessen» und damit dann auch neurologisch oder neuropsychologisch unmöglich.
1974 hatte Lurija mich gefragt, ob ich der Tatsache, dass bei mir das linke Bein betroffen sei, eine Bedeutung beimesse und ob ähnliche Syndrome auch nach einer Operation des rechten Beines auftreten könnten. Damals wusste ich darauf keine Antwort, aber seine Frage fiel mir wieder ein, als ich mich unversehens in der Situation eines «Vergleichsfalls» wiederfand. Seine Frage bezog sich auf die Tatsache, dass die zentralen Syndrome der Aufmerksamkeitsstörung, der Allästhesie und der Entfremdung (Pötzl’sches Syndrom usw.) gewöhnlich die linke Körperhälfte in Mitleidenschaft ziehen und bei Funktionsstörungen der «nichtdominanten» rechten Gehirnhälfte auftreten, deren Bewusstsein, im Vergleich zur «dominanten» Hemisphäre, auf einer niedrigeren Ebene steht. Würde eine höhere Bewusstseinsebene, so fragte er sich, das Auftreten eines solchen Syndroms in der anderen Körperhälfte verhindern? (Siehe Fußnote S. 280.)
Beim Zahnarzt habe ich, wie wohl viele, gelegentlich erlebt, wie der Kiefer plötzlich «verschwindet», wenn das Betäubungsmittel zu wirken beginnt. Es ist ein Gefühl, als wäre man auf bizarre Weise entstellt, ein Wesen ohne Unterkiefer, und ich greife dann zum Spiegel, um mich meiner selbst zu versichern. Das Bild, das ich dort erblicke, ist beruhigend und beunruhigend zugleich: Ich sehe wohl meinen Unterkiefer, doch er wirkt genauso unwirklich, genauso nicht zu mir gehörig, wie er sich anfühlt. (Dies geschieht besonders dann, wenn eine beidseitige Betäubung vorgenommen wird, und darum ziehen die meisten Zahnärzte es vor, jeweils nur eine Seite des Kiefers zu behandeln.)
Ende 1983 schickte ich dem British Medical Journal einen Beitrag für die Rubrik «Klinische Kuriosa». Er gefiel ihnen, wurde jedoch mit der Begründung abgelehnt, er sei viel zu lang. In der Zeit, in der ich meine rechte Hand nicht gebrauchen durfte, bot ich der Zeitschrift für dieselbe Rubrik einen zweiten Beitrag an, der diesmal nur fünfzig Wörter umfasste. Der Redakteur war erstaunt über die Kürze des Artikels und nahm ihn sofort an, doch wollte er wissen, wie es kam, dass ein zu so weitschweifigen Ausführungen neigender Autor wie ich sich derart bezähmt hatte. Als ich ihm von meinem Unfall erzählte und erklärte, ich könne im Augenblick nur mit der linken Hand schreiben, sagte er: «Ihre Verletzung tut mir leid, aber für Ihren Stil ist sie ein Segen.»
In diesem ersten Beitrag für «Klinische Kuriosa» – und auch in den anderen, die ich damals unter großen Mühen schrieb – ging es vor allem um Phantome (sie sind in meinem Buch «Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte» abgedruckt). Eine weitere Geschichte, die ich diktierte, schildert den Fall einer Patientin, die nach einer sensorischen Neuropathie einen katastrophalen Verlust der Propriozeption – der Eigenwahrnehmung des Körpers – erlebte. In einer anderen Geschichte beschrieb ich den Fall einer Frau, die, als Folge eines Schlaganfalls, den Begriff’ «links», bezogen auf ihren Körper und ihre Umwelt, vollkommen verloren hatte. Diese beiden Fälle wurden später (in den Kapiteln «Die körperlose Frau» und «Augen rechts!») in mein Buch «Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte» aufgenommen.
«Wie kommt es, dass ihr Neurologen letztlich immer Zuflucht bei der Mystik sucht?», fragte mich die Psychoanalytikerin Carol Feldman einmal – eine Frage, die tief in die Regionen der Erkenntnistheorie und der Psyche vorstößt. Siehe meinen Aufsatz «Neurology and the Soul», New York Review of Books, 11. November 1990; deutsch «Neurologie und Seele», Lettre international 12 (1991).
«Die kortikalen Repräsentationen von Körperteilen sind bei Erwachsenen (gebrauchsabhängig)», schreibt Merzenich; sie bleiben «lebenslang dynamisch organisiert».
Wenn das stimmt – so könnte man nun fragen –, was ist dann mit den «Phantomen», diesen eigenartigen, fierten, noch Jahre nach der Amputation von Gliedmaßen vorhandenen, sozusagen fossilen Bildern, die mit der Realität nichts zu tun haben? Es ist wahrscheinlich, dass Phantome zumindest zu einem erheblichen Teil durch eine ständige, pathologische periphere (und vielleicht auch zentralere) Reizung aufrechterhalten werden. Dies wird besonders dann deutlich, wenn sich am Nervenstumpf ein Amputationsneurom gebildet hat; Neurome erzeugen oft qualvolle Phantomschmerzen. Wenn die periphere Reizung unterbrochen wird, verschwinden die Phantome. Dies konnte ich bei einem Patienten beobachten, dessen Phantomfinger mit dem Verlust des Gefühls für alle Finger der Hand im Zuge einer diabetischen Neuropathie verschwand. Umgekehrt führt die Stimulierung eines peripheren Nervs oft zur Stimulierung des Phantoms. Dieses Mittel kann bei Amputierten eingesetzt werden, die dann mit Hilfe des Phantombildes ihre Prothese besser handhaben können. Phantome können auch durch Stimulation der entsprechenden Rückenmarkwurzeln aktiviert beziehungsweise durch deren Anästhesierung beseitigt werden. (Diese und andere Phänomene werden in «Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte» im Kapitel «Phantome» diskutiert.)
Als ich «Der Tag, an dem mein Bein fortging» schrieb, dachte ich, ein Ausfall der Eigenwahrnehmung sei eine hinreichende Bedingung für «Verlust» und «Entfremdung». Heute glaube ich, dass er zwar für den «Verlust», nicht aber für die «Entfremdung» ausreicht. So «verlieren» Patienten mit Rückenmarksschwindsucht zwar ihre Beine, doch erscheinen diese ihnen nicht als «fremd». Und bei Christina, der «körperlosen Frau», die ich in «Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte» beschrieben habe, konnte ich mehrmals beobachten, dass sie ihre Hand, wenn sie ihr nicht mit den Augen folgte, für die eines anderen hielt; sie betrachtete sie jedoch nie als «fremd». Rosenfield (1991) postuliert, es müsse nicht nur ein Ausfall der Eigenwahrnehmung, sondern auch ein Ausfall von Schmerz- und anderen Empfindungen vorliegen, bevor das betreffende Glied als «fremd» angesehen wird.
Einer meiner Studenten erlitt schwere Erfrierungen und hatte das Gefühl, als wären seine Finger an den Knöcheln amputiert und als hätte er nur eine hässliche, keulenförmige, monströse Faust zurückbehalten. Wenn eine Betäubung lange andauert, besteht eine große Gefahr, dass es zu Verletzungen der ausgeblendeten Körperteile kommt – daher die vielen Verletzungen der Gliedmaßen bei Lepra-Patienten.
«Mit Selbstreferenz», schreibt Rosenfield (1991), «meine ich den Bezug auf ein dynamisches Körperbild … Unser ‹Selbst› wird durch die Art bestimmt, wie wir unseren Körper benutzen, durch die Bewegungen unseres Körpers – Bewegungen, die wir uns im Laufe der Zeit aneignen. Auf dieses dynamische Bild werden Stimuli bezogen (Selbstreferenz), und es steckt den Rahmen ab, innerhalb dessen die Stimuli ‹einen Sinn ergeben› … Jede Erinnerung bezieht sich nicht nur auf die erinnerte Person oder Sache, sondern auch auf den, der sich erinnert.
Könnte ein Hund, ein Affe, ein Menschenaffe an Hysterie leiden oder ein Glied als «fremd» empfinden? Was ist die Voraussetzung für Hysterie oder Entfremdung? Ich habe den Eindruck, dass das bei einem Hund unmöglich ist – auch wenn Freuds Chow-Chow angeblich eine Scheinschwangerschaft entwickelte (wozu Freud ironisch bemerkte, dies könne nur im Haus eines Analytikers passieren). Auch glaube ich, dass es bei einem Affen, einem Nachtaffen, wie Merzenich sie verwendet, nicht möglich ist. Ein Menschenaffe jedoch könnte, so vermute ich, durchaus ein Gefühl der Entfremdung gegenüber einem seiner Glieder haben, und es ist zwar weniger wahrscheinlich, aber doch möglich, dass er auch eine Hysterie entwickeln könnte. Sowohl eine Entfremdung als auch eine Hysterie, so verschieden sie auch sein mögen, setzen nämlich ein höheres Bewusstsein, ein selbstreferenzielles Bewusstsein – ein explizites Gefühl für das «Selbst» – voraus, das bei Menschenaffen, nicht aber bei niederen Tieren vorhanden ist. So können Menschenaffen sich in einem Spiegel erkennen, während andere Affen und Hunde dazu nicht imstande sind.
Diese Patienten leben, so könnte man sagen, in einer halbierten Welt, ohne sich natürlich bewusst zu sein, dass es eine halbe Welt ist, denn für sie ist sie ungeteilt, vollständig und unversehrt. Meist ist es so, dass die Wahrnehmung, die Vorstellung, die Erinnerung der «Linksheit» verschwindet wie bei der Patientin, die ich in meinem Buch «Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte» im Kapitel «Augen rechts!» beschrieben habe. «Bei einem krassen Wahrnehmungsausfall», schreibt M. Marcel Mesulam, «kann es geschehen, dass der Patient sich verhält, als habe eine Hälfte der Welt mit einem Mal aufgehört, auf eine sinnvolle Weise zu existieren … Patienten mit einem Halbseitensyndrom verhalten sich nicht nur so, als geschähe nichts in der linken Hälfte des Raumes, sondern tun auch so, als wäre dort gar nichts von Bedeutung zu erwarten.»
Solche Patienten, nimmt Edelman an, empfinden keine Kluft, keine Teilung des Bewusstseins, sondern entwickeln ein radikal reorganisiertes Bewusstsein, das als vollständig und unversehrt erlebt wird.
Dasselbe gilt, wenn auch auf ganz andere Weise, für die Hysterie. So weiß der Hysteriker, obgleich er über Lähmungen, Anästhesien usw. klagt, nichts vom Ursprung dieser Leiden in Veränderungen von Affekten und Konzepten, in Veränderungen seines Bewusstseins. Wenn ihm diese pathogenen Veränderungen bewusstgemacht werden können, verschwindet die Hysterie. Daher ist sie von der Unbewusstheit abhängig, wenngleich es sich um eine Unbewusstheit handelt, die sich von der eines Menschen, der an Anosognosie leidet, deutlich unterscheidet. Dieser Unterschied war nicht immer so klar, und so wurden Patienten mit Anosognosien oder bizarren Auslöschungen und Fehlzuweisungen bestimmter Körperteile früher (vor Babinski) oft als schizophren oder hysterisch eingestuft.
«Was diesen Verlust so schrecklich gemacht habe, sei die Tatsache gewesen, dass das Bein nicht einfach ‹verlorengegangen› sei, sondern sogar seinen angestammten Platz verloren habe. Das Bein war verschwunden und hatte seinen ‹Platz› mitgenommen. Und da es eben keinen Platz mehr gegeben habe, zu dem es habe zurückkommen können, schien es keine Möglichkeit zu geben, es zurückzubekommen. Konnte vielleicht Erinnerung helfen, wo vorausschauendes Denken versagte? Nein! Das Bein war verschwunden und hatte seine ‹Vergangenheit› mitgenommen! Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, dieses Bein jemals gehabt zu haben. Ich wusste nicht mehr, wie ich je gelaufen und geklettert war. Ich fühlte mich auf unfassbare Weise abgeschnitten von jener Person, die nur fünf Tage zuvor gelaufen, gerannt und geklettert war. Zwischen ihr und mir bestand nur eine ‹formale› Kontinuität. Zwischen damals und jetzt gähnte ein Abgrund, eine unüberbrückbare Kluft, und darin, in diesem Nichts, war mein früheres ‹Ich› verschwunden … In dieser Kluft, in diesem Nichts, jenseits von Raum und Zeit, waren die Wirklichkeit und die Möglichkeiten meines Beins untergetaucht und verschwunden … Es hatte sich ‹in Luft aufgelöst›, es war aus Raum und Zeit verschwunden – es war verschwunden, und mit ihm seine Raum-Zeit.»
Neuropsychologische Syndrome richten sich «von unten nach oben»: Eine neurologische Störung auf einer unteren Ebene fuhrt zu einer psychischen Störung auf einer höheren Ebene. Im Gegensatz dazu ist Hysterie eine «von oben nach unten gerichtete» Störung, wobei die primäre Störung auf der höchsten Ebene – im Bewusstsein höherer Ordnung, das symbolisch und sprachlich organisiert ist – auftritt und eine Störung auf den tiefer liegenden Ebenen nach sich zieht. Im Falle einer «Entfremdung» kommt es zu einer primären Störung der lokalen Repräsentation und des primären Bewusstseins, während im Fall einer Hysterie keine primäre Störung dieser beiden Bereiche vorliegt. (Es könnte hier natürlich zu einer sekundären Störung kommen.) Bei der Hysterie ist das Bewusstsein höherer Ordnung (das auch das Freud’sche «Unbewusste» einschließt) mit spezifischen, starken Affekten befrachtet, wohingegen es im Fall einer Entfremdung lediglich verstört ist.
Wir können, betont Edelman, das primäre Bewusstsein nie direkt erforschen, sondern nur mit Hilfe des Bewusstseins höherer Ordnung. Tiere, denen das Bewusstsein höherer Ordnung fehlt, erleben das primäre Bewusstsein direkt, können sich jedoch nicht mitteilen. Wenn es Fälle gibt, in denen Menschen in der Lage sind, Mitteilungen über das reine, nicht vom Bewusstsein höherer Ordnung entstellte primäre Bewusstsein zu machen, dann nur, so Edelman, bei Patienten, deren Gehirnhälften operativ getrennt worden sind. Solche Patienten können über Wahrnehmungen der linken Körperhälfte oder im linken Teil des Gesichtsfeldes berichten, ohne dass diese Mitteilungen durch das Sprach- und Reflexionsvermögen der linken Gehirnhälfte moduliert werden. (Siehe Fußnote S. 261.)
Daher behauptet auch die Heilkunde, sie habe von jeher die Erfahrung zum Prüfstein ihres Verfahrens gemacht. Also hatte Plato recht zu sagen, ein wahrer Arzt müsste notwendig erst alle Krankheiten, die er heilen wolle, selbst gehabt haben und alle Zufälle und Umstände durchgegangen sein, welche seiner Beurteilung unterworfen werden … Wirklich, nur einem solchen würde ich mich anvertrauen. Denn die andern führen uns wie jener, welcher Meere, Klippen und Häfen auf den Tisch hinmalt, an welchem er sitzt, und das Modell eines Schiffchens in aller Sicherheit herumspazieren lässt. Bringt ihn zur wirklichen Tat, so weiß er nicht, mit welcher Hand er angreifen soll.
MONTAIGNE, «ESSAIS» III, KAP. 13
Thom Gunn[*]hat eindringlich über die «Anstöße» der Poesie geschrieben. Nicht anders als die Kunst hat auch die Wissenschaft ihre Anstöße: Manchmal handelt es sich, wie bei Kekulés Schlangen, um eine Traum-Metapher, manchmal um eine Analogie wie Newtons Apfel, manchmal um ein ganz simples Ereignis, um eine banale Sache, die plötzlich eine ungeahnte Bedeutung erhält, wie beispielsweise das Heureka-Erlebnis des Archimedes im Bad. Ein solcher Anstoß ist tatsächlich immer ein Heureka-Erlebnis, eine Offenbarung.
Die Medizin erhält ihre Anstöße von Krankheiten, Verletzungen und Patienten. Den Anstoß zu diesem Buch gab eine sonderbare Verletzung, oder jedenfalls eine Verletzung mit sonderbaren Auswirkungen. Sie war die Folge eines Unfalls auf einem Berg in Norwegen. Als Arzt hatte ich mich noch nie zuvor in der Rolle des Patienten befunden, und jetzt war ich auf einmal beides zugleich. Ich hatte angenommen, mein Fall (eine schwere, aber unkomplizierte Verletzung der Muskeln und Nerven des einen Beines) sei unproblematisch und alltäglich, und war überrascht über die tiefgreifenden Auswirkungen, die diese Verletzung hatte: eine Art von Lähmung und Entfremdung des Beines, die es zu einem «Objekt» werden ließ, welches mit mir nichts zu tun zu haben schien. Es war ein Abgrund von bizarren, ja beängstigenden Auswirkungen. Ich wusste nicht, wie ich sie einschätzen sollte, und hatte Angst, ich würde vielleicht nie wieder genesen. Dieser Abgrund erfüllte mich mit Grauen, die Genesung war für mich ein Wunder, und seither habe ich ein tieferes Verständnis für das Grauen und das Wunder, die hinter dem Leben verborgen sind und gewissermaßen schlummern unter der vertrauten Oberfläche der Gesundheit.
Infolge dieser eigentümlichen Auswirkungen – der zentralen Resonanzen einer peripheren Verletzung sozusagen – und des Fehlens beruhigender Erklärungen meines behandelnden Arztes war ich äußerst besorgt und verwirrt und schrieb an den hervorragenden Neuropsychologen Alexander Romanowitsch Lurija in Moskau. Er antwortete mir unter anderem: «Solche Syndrome sind möglicherweise häufig, werden jedoch nur sehr selten beschrieben.» Als ich von meiner Verletzung genesen war und meine Tätigkeit als Arzt wiederaufgenommen hatte, stellte ich fest, dass es sich in der Tat so verhielt. Über Jahre hinweg untersuchte ich einige hundert Patienten mit eigentümlichen Störungen ihres Körper-Bildes und ihres Körper-Ichs, welche neurologischen Ursprungs waren und im Wesentlichen Ähnlichkeiten mit meinem eigenen Fall aufwiesen. Im letzten Kapitel dieses Buches werde ich diese Arbeit und ihre Bedeutung in groben Zügen skizzieren. Ich werde, so hoffe ich, zu einem späteren Zeitpunkt eine gründliche Monographie zu diesem Thema veröffentlichen. Im vorliegenden Buch sind also viele Themen miteinander verwoben: die mit meiner Verletzung und Genesung verknüpften spezifischen neuropsychologischen und existenziellen Phänomene; die Anforderungen, vor die man durch das Dasein als Patient und die spätere Rückkehr ins normale Leben gestellt ist; die Vielschichtigkeit der Beziehung zwischen Arzt und Patient und die Schwierigkeiten, mit denen der Dialog zwischen ihnen behaftet ist, besonders dort, wo es um Dinge geht, die für beide verwirrend sind; die Anwendung meiner Erkenntnisse auf eine große Gruppe von Patienten und die Würdigung ihrer theoretischen und praktischen Bedeutung. All dies mündet schließlich in eine kritische Betrachtung der Neurologie von heute und in die Vision einer möglichen Neurologie der Zukunft.
Dieser letzte Gedankengang kam erst einige Jahre später. Den Anstoß dazu gab mir die Lektüre von Henry Heads großartigen «Studies in Neurology» (1920) während einer langen Zugfahrt von Boston nach New York: Er beschreibt darin seinen, meinem eigenen so ähnlichen Weg von der Untersuchung der Auswirkungen, die die Durchtrennung eines Nervs bei ihm hatte, zu der Erarbeitung von weitestgehend allgemeingültigen Konzepten von Körper-Bild und Körper-Musik. Das letzte Kapitel meines Buches habe ich auf einem Berg in Costa Rica geschrieben und so die Odyssee vollendet, die auf jenem schicksalhaften Berg in Norwegen begonnen hatte.
Mit Ausnahme des letzten Kapitels ist das Material nicht systematisch geordnet. Man möge dieses Buch als eine Art von neurologischer Erzählung oder Kurzgeschichte lesen, als eine Geschichte jedoch, die auf persönlicher Erfahrung und neurologischen Fakten aufbaut, ganz wie die, die Lurija uns in «The Man with a Shattered World» und seinen anderen «Neurographien» erzählt hat.
Bei alldem hat mir Lurija, mit dem ich, was mir eine besondere Ehre war, von 1973 bis zu seinem Tod im Jahr 1977 in engem Briefkontakt stand, sehr geholfen und mich immer wieder ermuntert. Im Verlauf unserer Korrespondenz schrieb er: «Sie sind dabei, ein ganz neues Gebiet zu entdecken … Bitte veröffentlichen Sie Ihre Beobachtungen. Das wird dazu beitragen, den ‹veterinärmedizinischen› Umgang mit peripheren Störungen zu verändern und einer umfassenderen und menschlicheren Medizin den Weg zu bahnen.» In dankbarer Erinnerung widme ich dieses Buch dem verstorbenen A.R. Lurija, dem Pionier einer neuen und umfassenderen Medizin.
London und New York
O.W. S.
Diese Welt in ihrem bodenlosen Schweigen hatte nichts Wirtliches, sie empfing den Besucher auf eigene Rechnung und Gefahr, sie nahm ihn nicht eigentlich an und auf, sie duldete sein Eindringen, seine Gegenwart auf eine nicht geheure, für nichts gutstehende Weise, und Gefühle des still bedrohlich Elementaren, des nicht einmal Feindseligen, vielmehr des Gleichgültig-Tödlichen waren es, die von ihr ausgingen.
THOMAS MANN, «DER ZAUBERBERG»
Samstag, der 24., begann trübe und bedeckt, aber später am Tag versprach das Wetter schön zu werden. Ich konnte also früh zu meiner Bergtour aufbrechen und durch die Obstgärten und Wälder am Fuß des Berges wandern und würde, so schätzte ich, gegen Mittag den Gipfel erreichen. Bis dahin würde es vielleicht aufgeklart haben, und mir würde sich eine großartige Aussicht von der Spitze des Berges bieten – rings um mich her die niedrigeren Berge, deren Hänge sich in den Hardangerfjord stürzten, und der große Fjord selbst würde in seiner ganzen Ausdehnung zu sehen sein. Das Wort «Bergtour» lässt an Seile und das mühsame Erklettern von Felsen denken. Um diese Art von Bergtour handelte es sich jedoch nicht. Vor mir lag lediglich ein steiler Pfad. Ich rechnete nicht mit besonderen Problemen oder Schwierigkeiten. Ich war stark wie ein Stier, ich befand mich in der Blüte, auf dem Zenit meines Lebens, ich war ein Mann in den besten Jahren. Ich sah meiner Wanderung mit Selbstvertrauen und Freude entgegen.
Bald hatte ich mein Tempo gefunden – einen federnden, schwungvollen Schritt, der mich rasch voranbrachte. Ich war vor Morgengrauen aufgebrochen und befand mich um halb acht in etwa sechshundert Meter Höhe. Der Frühnebel riss bereits auf. Nun betrat ich einen dunklen Nadelwald, in dem ich langsamer vorankam, zum Teil wegen der knorrigen Wurzeln auf dem Pfad, zum Teil aber auch, weil ich von der Welt der niedrigen Pflanzen, die hier im Schutz der Bäume wuchsen, fasziniert war und immer wieder stehen blieb, um einen jungen Farn, ein Moos, eine Flechte zu betrachten. Dennoch hatte ich kurz nach neun den Wald hinter mir gelassen, und vor mir erhob sich der eigentliche Berg, ein gewaltiger, zweitausend Meter hoher Kegel, der über dem Fjord aufragte. Zu meiner Überraschung stieß ich hier auf einen Zaun und ein Tor, an dem ein noch überraschenderes Schild angebracht war:
VORSICHT – STIER!
stand dort auf Norwegisch, und für diejenigen, die den Sinn dieser Worte vielleicht nicht verstanden, war daneben ein eher komisches Bild von einem Mann aufgemalt, der durch die Luft gewirbelt wurde.
Ich blieb stehen, studierte das Bild und kratzte mich am Kopf. Ein Stier? Hier oben? Was sollte ein Stier hier oben verloren haben? Auf den Wiesen und bei den Bauernhöfen weiter unten hatte ich nicht einmal Schafe gesehen. Vielleicht handelte es sich nur um einen Witz, den sich die Dorfbewohner oder ein früherer Wanderer mit einem seltsamen Sinn für Humor ausgedacht hatten. Oder vielleicht gab es hier tatsächlich einen Stier, den man den Sommer über auf diese riesige Alm getrieben hatte und der das spärliche Gras und die kümmerlichen Büsche abweidete. Doch genug der Spekulationen! Auf zum Gipfel! Wieder veränderte sich das Terrain. Es war jetzt sehr steinig, und hier und da lagen riesige Felsblöcke; es gab jedoch auch eine dünne Schicht Erde, die stellenweise matschig war, weil es in der Nacht zuvor geregnet hatte, auf der aber reichlich Gras und einige schmächtige Büsche wuchsen – Futter genug für ein Tier, das den ganzen Berg als Weide hatte. Der Pfad wurde viel steiler und war ziemlich gut markiert, wenn auch, so hatte ich den Eindruck, nur wenig benutzt. Ich befand mich ja schließlich auch in einem nicht gerade dicht besiedelten Teil der Welt. Ich hatte keinen anderen Touristen gesehen, und die Dorfbewohner waren, so dachte ich, zu sehr mit dem Fischfang und der Landwirtschaft beschäftigt, um Ausflüge in die Berge zu unternehmen. Umso besser. Ich hatte den Berg für mich allein! Vorwärts, weiter zum Gipfel – obwohl ich ihn nicht sehen konnte. Doch nach meiner Schätzung war ich bereits auf tausend Meter Höhe angelangt, und wenn der Weg auch weiterhin nur steil war und nicht schwierig wurde, konnte ich, wie geplant, um Mittag auf dem Gipfel stehen. So stieg ich in einem trotz der Steigung zügigen Tempo weiter bergauf und freute mich über meine Energie und meine Ausdauer, besonders aber über meine starken Beine, die durch jahrelanges Üben und Gewichtestemmen im Fitnessraum trainiert waren. Starke Glieder, ein starker Körper, ein langer Atem und eine große Ausdauer – ich war der Natur, die mich so gut ausgestattet hatte, dankbar. Und ich trieb mich zu körperlichen Leistungen an, schwamm ausgiebig und machte lange Bergtouren. Das war meine Art, mich bei der Natur zu bedanken und von dem guten Körper, den sie mir geschenkt hatte, den besten Gebrauch zu machen. Gegen elf Uhr sah ich, als es die ziehenden Nebelschwaden erlaubten, zum ersten Mal den Gipfel des Berges. Es war nun nicht mehr so weit – ich würde es tatsächlich bis Mittag schaffen. Hier und da lag immer noch ein dünner Nebel und verhüllte zuweilen die Felsblöcke, sodass sie schwer auszumachen waren. Manchmal sah ein solcher durch die Nebelschwaden nur undeutlich zu erkennender Felsblock wie ein riesiges, kauerndes Tier aus, und erst im Näherkommen enthüllte sich mir, um was es sich hier in Wirklichkeit handelte. Es gab Augenblicke des Zweifels, in denen ich unsicher stehen blieb, wenn ich der nebelumwaberten Umrisse vor mir gewahr wurde … Aber als es dann geschah, hatte ich keinerlei Zweifel!
Die tatsächliche Realität brach jedoch nicht in einem solchen Augenblick über mich herein und wurde nicht einmal ansatzweise durch Einbildung oder Zweifel verfälscht. Ich hatte gerade den Nebel hinter mir gelassen und ging um einen haushohen Felsblock herum. Der Weg krümmte sich, sodass ich ihn nicht übersehen konnte, und dies war es, was «die Begegnung» ermöglichte. Ich lief praktisch in das hinein, was vor mir lag – ein riesiges Tier, das sich auf dem Weg niedergelassen hätte, ja ihn geradezu versperrte, und dessen Anwesenheit durch die Rundung des Felsens verborgen gewesen war. Es hatte einen gewaltigen, gehörnten Kopf, einen gigantischen weißen Körper und ein mächtiges, milchweißes Gesicht. Unbewegt und außerordentlich gelassen blieb es bei meinem Erscheinen liegen und wandte mir lediglich sein riesiges weißes Gesicht zu. Und in diesem Augenblick veränderte es sich vor meinen Augen und verwandelte sich aus etwas Herrlichem in etwas ausgesprochen Monströses. Das riesige weiße Gesicht schien immer mehr aufzuquellen, und die großen Glotzaugen funkelten vor Bosheit. Größer und größer wurde das Gesicht, bis ich schließlich glaubte, es werde die ganze Welt auslöschen. Der Stier wurde entsetzlich, unglaublich entsetzlich – entsetzlich in seiner Kraft, seiner Bösartigkeit, seiner Tücke. Alles an ihm schien jetzt den Stempel des Teuflischen zu tragen. Erst hatte er sich in ein Ungeheuer verwandelt, jetzt wurde er ein Teufel.
Ich bewahrte einen Augenblick lang die Fassung oder das, was ich dafür ausgab, machte ganz «natürlich» mitten im Gehen einen Schwenk um 180 Grad, als kehrte ich am Ende eines Spaziergangs um, und machte mich behände und trittsicher an den Abstieg. Aber dann – wie schrecklich! – verlor ich plötzlich die Nerven, die Angst überwältigte mich, und ich rannte um mein nacktes Leben – ich rannte blindlings und wie verrückt den steilen, schlammigen, rutschigen Pfad hinunter, der hier und da im Nebel verborgen war. Blinde, wilde Panik! Es gibt auf der Welt nichts Schlimmeres als das, nichts Schlimmeres – und nichts Gefährlicheres. Ich weiß nicht genau, was geschah. Bei meiner überstürzten Flucht den schlüpfrigen Pfad hinunter muss ich falsch aufgetreten sein – auf einen losen Stein oder in ein Loch. Es ist, als fehle in meiner Erinnerung ein Augenblick – es gibt ein «Vorher» und ein «Nachher», aber kein «Dazwischen». Eben noch rannte ich wie ein Verrückter, war mir nur des schweren Keuchens und schwerer, stampfender Schritte bewusst, ohne dass ich hätte sagen können, ob diese Geräusche vom Stier oder von mir kamen, und gleich darauf lag ich am Fuß einer kleinen, steilen Klippe, das Bein unter mir grotesk verdreht und mit einem Schmerz in meinem Knie, wie ich ihn noch nie zuvor erlebt hatte. Eben noch stark und voller Energie und im nächsten Augenblick praktisch hilflos zu sein, eben noch vor Gesundheit zu strotzen und im nächsten Augenblick ein Krüppel zu sein, sich eben noch im Vollbesitz aller Kräfte und Fähigkeiten zu fühlen und ihrer im nächsten Augenblick beraubt zu sein – die Plötzlichkeit einer solchen Veränderung ist schwer zu begreifen, und der Geist sucht nach Erklärungen.
Ich hatte dieses Phänomen schon bei anderen beobachtet – bei Patienten, die plötzlich einen Schlag oder eine Verletzung erlitten hatten, und jetzt erlebte ich es an mir selbst. Mein erster Gedanke war, dass es einen Unfall gegeben hatte und dass jemand, den ich kannte, ernstlich verletzt worden war. Später dämmerte mir, dass ich selbst das Opfer war; dieser Gedanke war jedoch von dem Gefühl begleitet, dieser Fall sei nicht wirklich ernst. Um das zu beweisen, stand ich auf, oder vielmehr: Ich versuchte aufzustehen, brach aber dabei wieder zusammen, denn das linke Bein war völlig kraftlos und schlaff und gab unter mir nach wie eine weichgekochte Nudel. Es hielt überhaupt keine Belastung aus, sondern knickte unter mir ein, knickte am Knie nach hinten und ließ mich vor Schmerz aufschreien. Was mich dabei so furchtbar erschreckte, war jedoch weit weniger der Schmerz als vielmehr diese schlaffe, schwache Nachgiebigkeit des Knies, meine Unfähigkeit, etwas dagegen zu tun oder ihrer Herr zu werden – und die offenbare Lähmung des Beines. Aber dann verschwand dieses Entsetzen, das einen Augenblick lang so überwältigend gewesen war, und machte einer «professionellen Haltung» Platz.
«Also gut, Herr Doktor», sagte ich zu mir selbst, «würden Sie so gut sein und das Bein untersuchen?»
Wie ein Chirurg, der einen Fall untersucht, nahm ich sehr professionell und distanziert und ganz und gar nicht behutsam das Bein und untersuchte es: Ich tastete es ab und bewegte es hin und her. Dabei murmelte ich, wie in einer Lehrveranstaltung, meinen Befund laut vor mich hin:
«Keine Bewegung am Knie- oder am Hüftgelenk, meine Herren … Wie Sie sehen, ist der ganze Musculus quadriceps femoris von der Kniescheibe abgerissen. Trotzdem hat er nicht retrahiert – er ist ohne jeden Tonus, was auf eine Verletzung des Nervs hindeutet. Die Patella ist ihrer stärksten Befestigung beraubt und kann – hier! – wie ein Kugellager gedreht werden. Da sie nicht mehr gehalten wird, ist sie leicht zu verschieben. Was das Knie selbst betrifft» – hier demonstrierte ich jeden Punkt meines Befundes –, «ist eine abnorme Motilität, eine eindeutig pathologische Beweglichkeit festzustellen. Es kann ohne jeden Widerstand gebeugt –» ich führte mit den Händen die Ferse an mein Hinterteil – «und, mit klar erkennbarer Dislokation, nach vorn überstreckt werden» – beide Bewegungen ließen mich, während ich sie demonstrierte, aufschreien. «Ja, meine Herren», fasste ich meinen Befund abschließend zusammen, «ein faszinierender Fall! Ein vollständiger Riss der Quadrizepssehne. Muskel paralysiert und atonisch – vermutlich aufgrund einer Verletzung des Nervs. Instabiles Kniegelenk – erscheint rückwärtig dislozierbar. Wahrscheinlich Riss der Kreuzbänder. Über eine Knochenverletzung lässt sich im Augenblick keine eindeutige Aussage machen – es könnte jedoch sehr gut eine Fraktur vorliegen, vielleicht sogar mehrere. Erhebliche Schwellung, wahrscheinlich Gewebe- und Gelenkflüssigkeit, aber eine Verletzung von Blutgefäßen kann nicht ausgeschlossen werden.»
Mit einem zufriedenen Lächeln wandte ich mich, als erwartete ich Beifall, meinem unsichtbaren Publikum zu. Und dann fielen plötzlich die «professionelle Haltung» und die Berufsfassade in sich zusammen, und ich begriff, dass es sich bei diesem «faszinierenden Fall» um mich handelte – um mich selbst, der ich schrecklich behindert war und infolgedessen mit einiger Wahrscheinlichkeit würde sterben müssen. Das Bein war absolut nicht zu gebrauchen, weit weniger nutzlos, als wenn es nur gebrochen gewesen wäre. Ich war mutterseelenallein, dicht unterhalb eines Berggipfels, in einer einsamen und nur spärlich besiedelten Gegend. Niemand wusste, wo ich war. Das machte mir mehr Angst als alles andere. Ich konnte hier, wo ich lag, sterben, und niemand würde es erfahren.
Noch nie zuvor hatte ich mich so einsam und verlassen, so verloren, so weitab von aller Hilfe gefühlt. Bis dahin war mir noch gar nicht aufgefallen, wie schrecklich und gefährlich einsam ich war. Ich hatte mich nicht «einsam» gefühlt, als ich den Berg bestieg (das tue ich nie, wenn ich etwas genieße). Ich hatte mich nicht einsam gefühlt, als ich meine Verletzung untersuchte (ich begriff nun, welch ein Trost meine imaginäre «Lehrveranstaltung» gewesen war). Aber nun überfiel mich ganz unvermittelt das schreckliche Gefühl der Einsamkeit. Mir fiel ein, dass mir vor einigen Tagen jemand etwas über einen «Dummkopf von einem Engländer» erzählt hatte, der vor zwei Jahren allein auf ebendiesen Berg gestiegen war und den man eine Woche später mit gebrochenen Beinen erfroren aufgefunden hatte. In diesen Breiten und dieser Höhe sinkt die Temperatur auch im August nachts tief unter null Grad. Bis zum Einbruch der Dunkelheit musste ich gefunden werden, sonst würde ich sterben. Ich musste, wenn es irgend möglich war, nach unten, ins Tal, denn dort bestand wenigstens eine Chance, entdeckt zu werden. Nun, da ich es recht bedachte, machte ich mir sogar Hoffnungen, ich könnte es mit diesem nutzlosen Bein vielleicht ganz allein bis ins Tal schaffen; erst viel später ging mir auf, dass dies vor allem eine tröstliche Illusion war. Aber wenn ich mich zusammenriss und tat, was ich konnte, hatte ich trotz allem eine gute Chance, es zu schaffen.
Plötzlich war ich sehr ruhig und gelassen. Zuallererst musste ich mich um mein Bein kümmern. Während jede Bewegung des Knies heftige Schmerzen hervorrief und buchstäblich einen physiologischen Schock auslöste, hatte ich festgestellt, dass es mir relativ gutging, wenn das Bein flach auf dem Boden lag. Aber da kein Knochen, keine «innere Struktur» es mehr hielt, war es vor unwillkürlichen, passiven Bewegungen des Knies, wie sie durch Bodenunebenheiten hervorgerufen wurden, nicht geschützt. Also war offenbar eine äußere Struktur, eine Schiene, erforderlich.
Hier kam mir eine meiner Eigenarten zu Hilfe. Mehr als alles andere war es meine Gewohnheit, die mich, wohin ich auch ging, einen Regenschirm mitnehmen ließ, und so hatte ich ganz selbstverständlich, oder vielleicht auch automatisch, meinen robusten, treuen Regenschirm mitgenommen, als ich bei schlechtem Wetter zu dieser Wanderung aufbrach (auch wenn mein Ziel ein kilometerhoher Berg war). Außerdem hatte er sich beim Aufstieg, wo ich ihn als Spazierstock gebrauchte, als nützlich erwiesen. Jetzt aber hatte er – als Beinschiene – seine große Stunde: Ohne eine solche Schiene hätte ich mich kaum bewegen können. Ich brach den Griff ab und zerriss meinen Anorak. Die Länge des Schirms war gerade richtig – der schwere Schaft war fast ebenso lang wie mein Bein –, und ich band ihn mit breiten Stoffresten von meinem Anorak fest, und zwar so, dass jede unwillkürliche Bewegung des Knies unmöglich, die Blutzirkulation aber nicht unterbrochen war. Seit ich mich verletzt hatte, waren etwa zwanzig Minuten, vielleicht auch weniger, verstrichen. Konnte dies alles in so kurzer Zeit passiert sein? Ich blickte auf meine Uhr, um zu sehen, ob sie stehengeblieben war, aber der Sekundenzeiger bewegte sich völlig gleichmäßig. Seine Zeit, seine abstrakte, unpersönliche, chronologische Zeit, hatte ganz und gar nichts mit meiner Zeit zu tun – meiner Zeit, die ausschließlich aus persönlichen Momenten, Lebensmomenten, entscheidenden Momenten bestand. Während ich auf das Zifferblatt sah, verglich ich in Gedanken das Vorrücken der Zeiger, die sich gleichmäßig im Kreis bewegten – es war jene unerbittliche Gleichmäßigkeit, mit der die Sonne über das Firmament zieht –, mit meinem ungewissen Abstieg ins Tal. An Eile war nicht zu denken – das würde mich nur erschöpfen. Auch trödeln durfte ich nicht – das wäre noch schlimmer. Ich musste das richtige Tempo finden und es beibehalten.
Während ich bisher nur meiner Verletzung Beachtung geschenkt hatte, stellte ich nun fest, dass meine Gedanken sich dankbar meinem Glück im Unglück zuwandten. So war weder eine Arterie noch ein anderes größeres Blutgefäß innerlich verletzt, denn die Schwellung rund um das Knie war klein, und das Bein fühlte sich nicht sehr kühl an und hatte sich nicht verfärbt. Zwar war der Quadrizeps offenbar gelähmt, aber ich nahm keine weitere neurologische Untersuchung vor. Bei meinem Sturz hatte ich mir keinen Bruch am Schädel- oder am Rückgrat zugezogen. Und Gott sei Dank besaß ich nicht nur drei brauchbare Glieder, sondern auch genug Energie und Kraft, um einen guten Kampf zu liefern. Und bei Gott – das würde ich! Dies würde der Kampf um mein Leben sein – der Kampf ums Leben, der ein Kampf für das Leben ist.
Ich konnte mich nicht beeilen – ich konnte nur hoffen. All meine Hoffnungen jedoch wären zunichtegemacht, wenn ich nicht vor Einbruch der Dunkelheit gefunden würde. Wieder sah ich auf die Uhr, wie ich auch in den folgenden Stunden immer wieder ängstliche Blicke darauf werfen würde. In diesen Breiten würde die Abenddämmerung lange dauern und gegen sechs Uhr einsetzen. Von da an würde es langsam dunkler und kühler werden. Um halb acht würde es bereits recht kühl und dämmrig sein. Um halb neun würde völlige Dunkelheit herrschen, und es würde nichts mehr zu sehen und ein weiteres Vorankommen unmöglich sein. Und obwohl es zumindest vorstellbar war, dass ich es, mit Hilfe anstrengender Übungen, schaffte, die Nacht zu überstehen, sprach die Wahrscheinlichkeit eindeutig, ja geradezu erdrückend dagegen. Einen Augenblick lang dachte ich an Tolstois «Herr und Knecht» – aber hier waren keine zwei Menschen, die einander wärmen konnten. Wenn ich nur einen Begleiter gehabt hätte! Plötzlich kam mir derselbe Gedanke noch einmal, und zwar so, wie er in der Bibel formuliert ist, in der ich seit meiner Kindheit nicht mehr gelesen hatte, an die ich mich nicht bewusst erinnern konnte und an die ich auch gar nicht gedacht hatte: «So ist’s ja besser zwei als eins … fällt ihrer einer, so hilft ihm sein Gesell auf. Weh dem, der allein ist! Wenn er fällt, so ist kein anderer da, der ihm aufhelfe.» Und unmittelbar darauf folgte eine plötzliche Erinnerung, ein in allen Einzelheiten klares Bild eines kleinen Tieres mit gebrochenem Rückgrat, das ich an der Straße gesehen hatte und das seine gelähmten Hinterbeine nachgezogen hatte. Genau wie dieses Tier kam ich mir jetzt vor. Das Gefühl meiner Menschlichkeit als etwas Eigenständiges, etwas, das über dem Animalischen und Sterblichen steht – auch dies verschwand in diesem Augenblick, und wieder fielen mir Worte aus dem Buch des Predigers ein: «Denn es geht dem Menschen wie dem Vieh: Wie dies stirbt, so stirbt auch er … und der Mensch hat nichts voraus vor dem Vieh.»
Während ich mein Bein schiente und mich beschäftigte, hatte ich wieder «vergessen», dass der Tod auf mich lauerte. Und wieder war es der Prediger Salomo, der mich daran erinnerte. «Aber», rief meine innere Stimme, «mein Lebenswille ist stark. Ich will leben – und wenn ich Glück habe, werde ich das auch. Ich glaube nicht, dass meine Zeit schon gekommen ist.» Wieder antwortete der Prediger ungerührt und neutral: «Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde: Geboren werden hat seine Zeit, Sterben hat seine Zeit.» Diese seltsame, tiefe, ruhige Klarheit, die weder kalt noch heiß, weder streng noch nachgiebig, sondern überaus, wunderbar, schrecklich aufrichtig war, hatte ich schon bei anderen Menschen erlebt, besonders bei Patienten, die wussten, dass sie bald sterben würden, und dieser Wahrheit ins Gesicht sahen; ich hatte, wenn auch irgendwie verständnislos, über das schlichte Ende von Tolstois «Hadschi Murat» gestaunt, wo, nachdem Murat von einer tödlichen Kugel getroffen worden ist, «Bilder der Vergangenheit ohne irgendwelche Empfindungen» durch seinen Geist strömen; jetzt aber erlebte ich dies zum ersten Mal – und zwar bei mir selbst.
Diese Bilder, diese Worte, diese leidenschaftslosen Gefühle schossen mir nicht, wie es immer heißt, «blitzartig» durch den Kopf. Sie ließen sich so viel Zeit – mindestens einige Minuten –, wie sie in der Realität, nicht aber in einem Traum, in Anspruch genommen hätten; es waren Meditationen, die es durchaus nicht eilig hatten – aber ebenso wenig lenkten sie mich in irgendeiner Weise von dem ab, was ich zu tun hatte. Kein (imaginärer) Beobachter hätte mich «grübeln» oder innehalten sehen. Er wäre im Gegenteil beeindruckt gewesen, wie energisch und fachmännisch ich aussah und zu Werk ging, wie zügig und zielstrebig ich mein Bein schiente, alles noch einmal rasch überprüfte und mich an den Abstieg machte.
So brach ich also auf, wobei ich mich auf eine Art und Weise fortbewegte, die mir völlig neu war – grob gesagt auf drei Beinen, unter Zuhilfenahme meines Hinterteils. Das soll heißen, ich rutschte auf meinem Hinterteil zu Tal, zog oder ruderte mit den Armen und benutzte mein unverletztes Bein als Steuer und, wenn nötig, als Bremse, während das geschiente, kraftlose Bein schlaff über den Boden schleifte. Ich brauchte mir diese ungewöhnliche, beispiellose und – so sollte man meinen – unnatürliche Fortbewegungsart nicht auszudenken. Ich entwickelte sie ohne nachzudenken und hatte mich schon sehr bald daran gewöhnt. Und jeder, der mich geschwind und kräftig den Hang hätte hinunterrudern sehen, hätte gesagt: «Ach, das ist ein alter Hase. Diese Art zu laufen ist für ihn ganz natürlich.»
Beinamputierten braucht man nicht beizubringen, wie man mit Stützen geht: Diese Fertigkeit erlangen sie «ohne nachzudenken» und «ganz natürlich», als hätten sie sie insgeheim schon ihr ganzes Leben lang eingeübt. Der Organismus und das Nervensystem haben ein riesiges Repertoire von «Trickbewegungen» und «Entlastungsmechanismen» aller Art – ganz und gar automatische Kunstgriffe, die «in Reserve» gehalten werden. Wir hätten keine Ahnung von den Fertigkeiten, die wir in potentia besitzen, wenn wir nicht vorgeführt bekämen, wie sie uns in Zeiten der Not zu Hilfe kommen.
So geschah es auch in meinem Fall. Es war eine einigermaßen zügige Art der Fortbewegung, jedenfalls solange der Pfad stetig, ohne große Unebenheiten und nicht zu steil bergab führte. Sobald er jedoch holprig wurde, stieß sich das Bein an Hindernissen aller Art – es schien eigenartig unfähig zu sein, diese zu vermeiden –, und ich verfluchte es mehrmals laut, weil es so «dumm» oder «unvernünftig» war. Tatsächlich stellte ich fest, dass ich, wann immer das Gelände schwierig wurde, auf dieses nicht nur kraftlose, sondern auch dumme Bein achten musste. Am meisten Angst machten mir jene Abschnitte des Weges, die zu schlüpfrig oder zu steil waren, denn es war schwierig, nicht praktisch unkontrolliert hinunterzurutschen und mit einem Ruck oder einem Stoß zum Stehen zu kommen, der das Knie schmerzhaft abknicken ließ und die Grenzen meiner improvisierten Beinschiene aufzeigte.