Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Mai 2016
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ISBN Printausgabe 978-3-87134-835-8 (1. Auflage 2016)
ISBN E-Book 978-3-644-12301-4
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Deutschland erzählen, geht das überhaupt? Ein Land mit einer derart zerfaserten, zerfetzten jüngeren Geschichte. Ein Land, das sich in so ziemlich jedes Hirngespinst verstieg, das in so ziemlich jede Falle ging und nach jedem Desaster so ziemlich jeden Neustart hingelegt hat, den die jeweilige Lage hergab. Deutschland, worüber reden wir da eigentlich? Es gab so viele davon und so extrem verschiedene, dass einem schwindelig wird beim Betrachten. Deutschland, ein stroboskopischer Bilderrausch. Kaiserreich, Weimar, die Hitlerei, die Epoche der Teilung und nun die allerneueste Gestalt, in der wir Gegenwärtigen leben. Fünfmal Deutschland in gut siebzig Jahren, das dürfte Weltrekord sein in der Disziplin Untergang/Wiedergeburt – moderner deutscher Fünfkampf.
Seine Stationen heißen: Selbstüberhebung – Selbstverlust – Selbstmord – Selbstverleugnung – Selbstheilung. Denn am Ende des Irrsinnsparcours steht ein unverhofft glücklicher Ausgang. In der Nacht jenes konfusen, aufgewühlten 9. November sehen die Deutschen im Fernsehen ihre Mauer fallen – den eisernen Ring um die Brust aus einem deutschen Märchen – und reiben sich verwundert die nassen Augen. Verwundert über beides. Über die Absolution, die ihnen zuteilwird, ohne dass sie darum gebeten hätten; aber auch verwundert darüber, dass sie der Tränen über dergleichen noch fähig sind. Hatten wir uns das nicht mühsam abtrainiert?
Natürlich kann man das alles erzählen, das Zerfaserte und Zerfetzte, aber nicht ohne die Haltung des Staunenden einzunehmen, die der Haltung des Liebenden nicht unverwandt ist. Der Staunende ist der Liebende, bevor er weiß, dass er liebt (und lange bevor er die Fröste der Liebe kennt). In der Nacht des 9. November, während die Augen der Kameras auf die durch Berlins Mauerlücken Hervorquellenden, Hervortaumelnden gerichtet waren, auf Umarmungen, Gefühlsausbrüche und Jubel, spielte sich am Kurfürstendamm eine unvergessliche Szene ab. Die Ersten hatten es bis hierhin geschafft, aber nichts war so, wie eine sarkastische Gewitztheit es erwartet hätte. Dieser Vortrupp von drüben belagerte und begaffte keineswegs die hell erleuchteten Schaufenster des Westboulevards. Eine vom Moment ergriffene Prozession zog die breite Straße hinauf und hinab. Vor den Schaufenstern mit ihren Luxuswaren – Kleider, Uhren, Autos – blieb kaum einer stehen, kaum einer sah auch nur hin. In diesen novembernebligen Stunden war der Kurfürstendamm die Prozessionsstraße einer fassungslos heiteren Selbstfeier der Staunenden.
Die Winter dieser Liebe, wir kennen sie inzwischen. Der Zauber des Vorabends ist verglüht, wir erinnern uns kaum noch daran und genieren uns wegen unserer Tränen. Sicher, dieses neueste Deutschland ist in den Härten und Mühen seiner Wirklichkeit angekommen. Dennoch, ich kenne kein Land, das seine kostbarsten Momente so leicht verwirft und vergisst und sie so ungelenk feiert wie meines. Vielleicht hat das damit zu tun, dass wir Deutschen erst seit kurzer Zeit eine Nation sind, und das auch noch mit Unterbrechungen, erfüllt von Unglück und Unheil. Andere um uns her kleiden sich länger und lieber ins nationale Gewand und tragen es lässiger als wir. Deutschland, das war über Jahrhunderte eher das treibende Ferment eines größeren Ganzen als eine sich absondernde nationale Entität.
Im Juni 1982 ging Werner Herzog vom oberbayerischen Sachrang aus los, er wollte einmal um Deutschland herum. In dem Dorf am Ende des Prientals an der Tiroler Grenze hatte er mit seiner Mutter und seinen Brüdern ein paar Kindheitsjahre verbracht. Sachrang war ihm ein kindheitsmythischer Ort. Dort gibt es zwei Gipfel und dazu eine Legende. Vom einen Gipfel wollte Herzog los, beim anderen wieder ankommen, so wie der Held der Legende, von dem es hieß, er sei dermaßen schnell gewesen, dass er einmal um ganz Deutschland herum gerannt sei und doch früher den anderen Gipfel erreicht hätte als seine Verfolger, die den direkten, tausendfach kürzeren Weg durchs Tal nahmen.
Herzog brauchte Sachrang. Die Sachranglegende würde das Deutschland, das er umwanderte, zusammenhalten wie eine Fibel ein flatterndes Gewand. Es erging ihm wie einem kühnen Entdecker beim ersten Versuch. Er wurde unterwegs krank und musste an der Nordseeküste abbrechen. Später schrieb er, er sei aus dem Gefühl heraus losgegangen, dieses Deutschland sei so zerfasert – die Umwanderung als Versuch, etwas, das zergeht und zerflattert, zusammenzuhalten, vielleicht auch zu umfassen. Eine rituelle Tat. Ähnliche Empfindungen waren es wohl, die mich zweiundzwanzig Jahre später bewogen, den Versuch noch einmal zu wagen. In diesen zweiundzwanzig Jahren hatte das Land wieder einmal seine Gestalt gewechselt. Herzog hatte um Westdeutschland herumgehen wollen – um was sonst im Sommer 1982? Ich ging 2004 um Deutschland herum.
Was hat der siebzehnjährige deutsche Soldat, der im Sommer 1945, eben aus britischer Kriegsgefangenschaft entlassen, in den Harz hinaufsteigt, weil er hofft, dort seine kriegszersprengte Familie wiederzusehen, mit der jungen Berliner DJane zu tun, die fünfzig Sommer später in den Kellern der wiedervereinten Stadt ihre Generation durch ekstatische Nächte treibt – existieren sie nicht in komplett verschiedenen Welten und Zeiten? Genau wie die junge Fußballerin, die sich im Sommer 1975 ihren Traum erfüllt, in die reine Männerwelt des Fußballs durchzudringen, und der deutsche Soldat, der dreißig Jahre später in Afghanistan erlebt, was das ist: Krieg. Eher schon könnte man meinen, der deutsche Gymnasiast, der 1955 aus den Ruinen seiner Heimatstadt nach Amerika aufbricht, und der syrische Theatermann, der 2015 aus den Ruinen von Aleppo nach Deutschland kommt, hätten sich etwas zu sagen.
Das mag so sein oder auch nicht. Wir haben uns an einzelne Menschen gehalten. Jeweils einer oder eine für alles. Für einen Sommer. Für eine deutsche Erzählung. Acht biographische Probebohrungen in die Zeitgeschichte, die zugleich eine Entdeckung unseres Landes sind.
Wolfgang Büscher,
März 2016
An einem strahlenden Sommermorgen kurz nach dem Krieg stieg ein junger Mann in den Harz hinauf, fast noch ein Kind mit seinen siebzehn Jahren und doch ein deutscher Soldat. Von der Schule geholt, an die Front geschickt, besiegt, entwaffnet, in die Gefangenschaft geführt. Dort hatte er die drei Monate zugebracht, die seit dem Ende des Kriegs vergangen waren, in einem britischen Kriegsgefangenenlager bei Emden, unter anderen entwaffneten deutschen Soldaten.
Ab und zu hielt er inne, wischte sich den Schweiß ab, schaute sich um, sog die würzige Waldluft ein. Manchmal, wenn der Tannenwald sich öffnete, konnte er weit ins Tal schauen und auf blaue Höhen. In Goslar war er losgegangen in der Frühe, in seiner blauen Marineuniform und mit seinem Seesack, hatte sich durchgefragt zur Station, von der ein Omnibus in den Hochharz fuhr, aber er kam wenige Augenblicke zu spät und sah den Bus nur noch von ferne. Er war nicht böse darum, dann ging er eben zu Fuß hinauf, fünfzehn Kilometer waren es bis zu seinem Ziel, na und, es war Sommer, der Krieg vorüber, er war siebzehn und endlich kein Gefangener mehr; keine Wachen, kein Stacheldraht, keine Befehle – herrliche siebzehn und frei auf eine Art, die man atmen konnte. Er ging seines Weges, und niemand hielt ihn an und fragte, wer und wohin.
An der Kaiserpfalz ging er vorüber, aus Goslar hinaus, erst übers Land, dann die Serpentinen hinauf in die Harzwälder. Einmal wollte er eine Haarnadelkurve abschneiden, schlug sich ins Grüne, den steilen Hang hinauf, verlief sich, kehrte zurück auf die Straße. Hätte er geahnt, dass sein Weg ihn fortführen würde von allem, was er gekannt und geliebt hatte, er wäre erschrocken. Später, wenn er an diesen Sommer zurückdachte, war es ihm, als habe er hinter sich eine Tür schwer und nachhallend ins Schloss fallen hören. Nur ein Traumgesicht. Jetzt hörte er nichts dergleichen, nur das Knirschen der eigenen Schritte auf dem Asphalt und einen Specht ins Holz hacken ab und an.
«Wir fahren nach Hahnenklee», hatte ihm die Mutter geschrieben, «hier in Leipzig sind zu viele Bombenangriffe, wir sind dort im Hotel ‹Goldener Löwe›.» Diese letzte Nachricht aus den letzten Kriegswochen trieb ihn hinauf. Er kannte weder den Ort noch das Hotel, das ihm die Mutter als Zuflucht der Familie genannt hatte, irgendein kleiner Kurort hoch im Harz, mehr wusste er nicht. Sonderbarer Name, Hahnenklee, klang nach Bergwiese, wäre nur der Hahn nicht gewesen, der Hahn war ein zwielichtiger Vogel. Er krähte dreimal, und das Unheil nahm seinen Lauf. Er dachte an den Vater. Ihn würde er nicht wiedersehen dort oben im Harz. In Russland gefallen, bei Tula, mehr wusste man nicht. Aber heute noch würde er, wenn alles gutging, die Mutter sehen.
Solche wie er waren viele unterwegs in diesem Sommer nach dem Krieg. Millionen zogen umher, aus Armeen entlassen, aus Lagern befreit, aus besetzten Gebieten verjagt, auf der Flucht vor alten Rechnungen oder neuen Todesgefahren. Die Ruinen verbrannter deutscher Städte hingen voller Zettel, angeschlagen von Frauen, die ihre Männer suchten, von Familien, die nach Angehörigen forschten, von Kindern, die irgendein Zeichen ihrer Eltern zu finden hofften. Nein, er fiel gar nicht auf, der blutjunge Soldat, wie er da die Straße hinaufging in die Wälder.
Aus Leipzig hatte ihm die Mutter die Hahnenkleepost geschrieben, da war sie schon nicht mehr daheim gewesen in Breslau. Leipzig war nur eine Station auf ihrer Flucht, ihre Schwester lebte dort, seine Tante Else. Else war mit einem Ehepaar befreundet, dem mehrere Hotels gehörten, auch der «Goldene Löwe» im Harz, so war die Idee entstanden: nach dem Krieg in Hahnenklee.
Seine Stimmungen wechselten. Mal weitete sich seine Seele, und er sog in vollen Zügen die betörend harzige Freiheit ein, in der er ging. Wer ihn beobachtet hätte, hätte ein paarmal ein kurzes, verwundertes Auflachen gesehen, Bilder des Krieges und der Gefangenschaft flackerten auf, und er konnte sein Glück kaum fassen. Vor Tagen noch war es ganz unwahrscheinlich gewesen, dass er heute hier wandern würde, ein freier Mann. Dann wieder drängte sich Bangigkeit in seine Gedanken. Wird sie dort sein, wird sie mich erwarten? Es wird der Mutter doch nichts passiert sein? Nein, es gelang ihm nicht, sich seinem wiedergewonnenen Jungsein, seinen herrlichen siebzehn Jahren, und diesem geschenkten Hochsommertag ganz und gar hinzugeben. Er ging in den Harz hinauf voll angespannter Erwartung.
Einmal, als er verschnaufte und zu Tal schaute, schob sich ein anderes Bild vor den Sommertag – das Elternhaus auf der Breslauer Dominsel, sein Leben dort eben noch. Und es waren keine Schwarzweißbildchen mit Zackenrand wie später, als er die geretteten Fotos der Kindheit in einer kleinen Kiste verwahrte, die er immer seltener öffnen würde, je weiter das alles in ein unbegreiflich fernes Vorleben entrückte. Nein, die Bilder, die ihm jetzt in der Serpentine vor Augen standen, hatten nichts düster Umflortes, sie waren noch hell – die Kreuzstraße, in der er gespielt hatte, seine alte Schule schräg gegenüber dem Elternhaus, der Botanische Garten, nur ein paar Schritte entfernt, die steile Treppe der Heiligkreuzkirche, von der seine Straße den Namen hatte. Sommernachmittage an der Oder, ihr Ufer fast vor der Haustür, ein Ausflug ins Riesengebirge, an all das dachte er, wie ein Junge auf Klassenfahrt an daheim denkt. Nicht dringlich, erst recht nicht traurig. Diese Bilder, man musste sie nicht ängstlich festhalten oder beschwören, das alles gab es doch wirklich, und bald wäre er wieder daheim. Nur stiller als sonst war es am Ende in seiner Straße gewesen. Seine Freunde fehlten – fort, irgendwo eingesetzt, irgendwohin evakuiert. Bis auch er an der Reihe gewesen war.
Das Soldatische hatte ihn nicht sehr angezogen, er hatte es übergestreift mit der Uniform. Er entstammte einer Familie von Ingenieuren. Der Großvater war zu einigem Wohlstand gekommen mit seiner Tiefbaufirma. Sein Hauptgeschäft war es, Ländereien im nördlichen Niederschlesien trockenzulegen. Die Flüsse dort traten häufig über die Ufer und überschwemmten die Äcker, was dem Großvater viele Aufträge eintrug, Drainagerohre zu verlegen. In seiner besten Zeit beschäftigte er über dreißig Leute, ein Chauffeur lenkte seinen Wagen. Der Junge sollte einmal das Geschäft übernehmen, er sollte studieren und seinen Bauingenieur machen, aber je totaler der Krieg sich aufführte und je näher er Breslau rückte, desto bescheidener fielen die Rationen des Wünschbaren aus, desto notgedrungener geriet das Leben.
Jemand hatte ihm von einer kriegsmäßig improvisierten Ingenieurschule in einem katholischen Stift berichtet, und da war er untergebracht worden, ein Junge von sechzehn Jahren, unter lauter kriegsversehrten Soldaten. Dem einen fehlte der Arm, dem andern das Bein, dem dritten das Auge. Männer mit Splittern im Körper, Männer, die alles gesehen hatten. An der Front nicht mehr zu gebrauchen, sollten sie zu Ingenieuren umgeschult werden für die Zeit nach dem Krieg. Frontfüchse, die die Pausen zwischen den Schulstunden nutzten, um dem unerfahrenen Burschen eine Vorstellung von dem zu geben, was das ist: Krieg. Er wird’s bald selber sehen, nickten sie einander zu, wird ja bald siebzehn, dann ist er dran.
Seine letzten Weihnachtsferien daheim endeten am 3. Januar 1945, aber die wunderliche Invalidenklasse besuchte er nur noch wenige Tage. Am 12. Januar, einem Freitag, wurde er eingezogen, das hieß, seine Mutter packte ihm warme Sachen und Proviant ein, dann ging er zum Bahnhof und nahm den Zug in den Krieg. Es traf sich, dass dieser Zwölfte zugleich der Tag war, an dem die längst erwartete Großoffensive der Roten Armee an der gesamten Ostfront begann, die Stalins Truppen bis nach Berlin führen würde, zum Sieg. Eine Woche später wäre der Krieg zu ihm gekommen. Am 20. Januar, einem Samstag, schlossen alle Breslauer Schulen – die großen Endkampfferien begannen. Als sie endeten, nach vielen Monaten, war er weit weg und die Welt eine andere.
Wäre er nicht eingezogen worden, hätte sich das Schicksal des Siebzehnjährigen ganz mit dem seiner Heimatstadt verwoben. Ganz sicher wäre er zum Volkssturm befohlen worden, jener Truppe, ausgehoben aus alten Männern und halben Kindern ab sechzehn, die verteidigen sollte, was nicht mehr zu verteidigen war. Am 20. Januar schlossen nicht nur die Schulen, es schloss sich die ganze Stadt ein und erwartete den Angriff. An jenem Tag erging in Breslau der «Auflockerungsbefehl». Aufgelockert wurde die Bevölkerung – wer irgendwie kriegstauglich war, hatte zu bleiben, alle anderen störten und mussten raus aus der Stadt, sofort. «Achtung, Achtung!», schnarrte es aus Lautsprechern, «Frauen und Kinder verlassen die Stadt zu Fuß in Richtung Opperau-Kanth!» Nur kleines Handgepäck war erlaubt.
Am Tag darauf, dem Sonntag, lasen die Dagebliebenen und nunmehrigen Festungsbewohner das Plakat, das der Gauleiter und unumschränkte Herrscher über Breslau überall hatte aufhängen lassen. Was aber war das, eine Festung? Es war eine vom Feind eingeschlossene, aber koste es, was es wolle, zu haltende Stadt. «Männer von Breslau!» So hob der Plakattext an und verkündete, jeder sei nun kriegsverpflichtet. «Keiner verlässt seinen Posten!» Jede Tätigkeit, die für die militärische Verteidigung der Stadt nicht unbedingt nötig sei, sei sofort einzustellen. Der totale Krieg, er war da.
Die viel zu späte und viel zu überstürzte Evakuierung Breslaus mitten im strengen Winter setzte einen Zug in Marsch, bei dem das Grauen und der Tod mitmarschierten. So verrückt es uns Heutigen erscheinen mag, selbst in dieser Lage gab es Menschen, die Tagebuch führten, und nicht wenige. Einer von ihnen war der katholische Pfarrer Walter Laßmann. Doch vielleicht ist es gar nicht so verwunderlich, in höchster Not und Todesgefahr Zuflucht in stiller Zeugenschaft und Zwiesprache zu suchen, im geschriebenen Wort, das den Schrecken bannt, indem es ihn beim Namen nennt. Das Tagebuch gedeiht in Gefängnissen und einsamen Expeditionszelten, warum nicht auch in einer modernen Festung, unter Granatfeuer und Einschlägen und inmitten der Brände ringsumher, denn so sah das Leben in Breslau bald aus.
Wäre der tagebuchschreibende Priester erwischt oder verraten worden, er wäre des Todes gewesen. Was er heimlich notierte, war in den Augen der Festungsherren Hochverrat. «Es ist schwerer Winter, die Oder völlig zugefroren», schrieb Walter Laßmann unter dem Eindruck des Auszugs der Frauen und Kinder. «Bei über zwanzig Grad Kälte ziehen Tausende von jungen und alten Frauen mit Kinderwagen, Schlitten und kleinen Ziehwagen auf verschneiten Landstraßen in die Winternacht hinaus. Zurückkehrende geben grausige Berichte über diesen Todesmarsch. Für Hunderte von Kleinkindern war diese Nacht die letzte. In den Straßengräben liegen in den nächsten Tagen massenhaft Säuglingsleichen, erfroren, zurückgelassen von den in panischer Angst Flüchtenden. In Neumarkt wurden allein über vierzig Kinderleichen gezählt, säuberlich auf Stroh auf dem Marktplatz niedergelegt. Koffer, Bettenbündel, Kleidungsstücke liegen in den Gräben der Chausseen.» Dann kommt der Priester übergangslos auf Breslau zurück, auf seine eigene Lage. «In immer kürzeren Abständen jagt das Geheul der Sirenen die Menschen in die Keller.» Das russische Dauerfeuer auf die Stadt hatte begonnen.
Nicht nur Berichte von Kleinkindern und Alten, leblos in den Schnee gelegt, gingen in Breslau um. Auch von mitleidigen Krankenschwestern raunte man, die tödliche Medikamente ausgaben, um sehr alten Menschen ein Ende dort draußen in Eis und Schnee zu ersparen. All das sprach sich herum, so kam es, dass sich viele weigerten, den Marsch anzutreten, dass Ältere und Junge gegen den Befehl in der Festung blieben. In ihr führte jetzt der Gauleiter sein Regiment mit täglichen Todesurteilen und nächtlichen Partys. Man sehe, vertraute Laßmann seinem Festungstagebuch an, «junge Frauen, die gestern noch im billigen Mantel umherliefen und heute einen Nerzpelz tragen. Ein Teil der Bevölkerung zieht ständig in der Festung hin und her, angeführt von besonders ‹Schlauen›, die vorausahnen, welcher Stadtteil in Kürze bombardiert werden soll. So schlafen sie heute in den Betten offenstehender Patrizierhäuser, morgen auf dem dürftigen Lager armseliger Mietskasernen im äußersten Osten.»
Todesangst und Notbegräbnisse erfüllten die Tage des Priesters. Noch hielt Breslau stand, aber es war nicht zu halten – was sollten aus zersprengten Divisionen zusammengestellte Truppen und Ersatzeinheiten, unterstützt von alten Männern und jugendlichen Volksstürmern, gegen eine zehnfache sowjetische Übermacht ausrichten? Gegen den nahezu pausenlosen Granatenbeschuss waren die Verteidiger machtlos, den Bomben und Bordgeschützen russischer Flieger hatten sie nichts entgegenzusetzen. Die Lufthoheit lag bei den Belagerern, bald würde ihnen die Stadt gehören. Trotz alledem war der Widerstand zäh, die Eroberung kam nur mühsam voran, von Straße zu Straße, von Haus zu Haus.
Manchmal schrak der Tagebuchschreiber aus seiner Schreckensroutine auf und stellte verwundert fest, dass er das alles ertrug, ohne daran irre zu werden. Dass er inmitten von Tod, Wahn, Verzweiflung die Kraft aufbrachte, seinen Dienst als Priester zu tun, wie er ihn immer versehen hatte; tagein, tagaus Verwundete aufzurichten, Sterbende zu trösten. «Das Leben des Alltags», notierte er, «geriet immer mehr unter das Gesetz der Festung.» Sogar die Art, Adieu zu sagen, passte sich an. Verabschiedeten sich Freunde, sagten sie einander: «Bleib übrig!»