Fritjof Capra
Das Neue Denken
Die Entstehung eines ganzheitlichen Weltbildes im Spannungsfeld zwischen Naturwissenschaft und Mystik
Aus dem Amerikanischen von Erwin Schuhmacher
FISCHER E-Books
Begegnungen und Gespräche mit führenden Geistes- und Naturwissenschaftlern der Wendezeit
Fritjof Capra (geb. 1939) promovierte 1966 an der Universität Wien in Theoretischer Physik. Er forschte und lehrte an namhaften Universitäten und Institutionen in den USA und England. Neben seiner Arbeit auf den Gebieten der Quantenphysik und der Systemtheorie beschäftigt Capra sich mit den philosophischen und gesellschaftlichen Konsequenzen der modernen Naturwissenschaft. Er gilt als einer der führenden Vertreter und Vordenker einer ökologisch-ganzheitlichen Weltsicht.
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Erschienen bei Fischer Digital
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2015
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ISBN dieser E-Book-Ausgabe: 978-3-10-560805-0
Die Schlüsselrolle von Descartes bei der Entwicklung der mechanistischen Weltanschauung erkannte ich erst später richtig und verwendete dann den Begriff «kartesianisches Paradigma».
Die in diesem Gespräch angetippten Gedanken sind weiter unten breiter ausgeführt.
Fortran = formula translator, d.i. eine der verbreitetsten mathematisch orientierten Programmiersprachen. (Anm.d.Übers.)
Bateson zog es oft vor, von «Naturgeschichte» statt von «Biologie» zu sprechen, wahrscheinlich um Assoziationen mit der mechanistischen Biologie der Gegenwart zu vermeiden.
Ein Kritiker sagte einmal, dieser Syllogismus sei logisch nicht korrekt, spiegele aber Batesons Art zu denken. Bateson stimmte dem zu und war stolz darauf.
Jahre später veröffentlichte Laing diese außergewöhnliche Geschichte in seinem Buch Die Stimme der Erfahrung.
Später lernte ich, daß der Strukturalismus, die dritte bedeutende Strömung im «klassischen» psychologischen Denken, ebenfalls Newtonsche Begriffe in seinem theoretischen Rahmen enthält.
Er hat es dann doch nicht getan. Das Zitat in Wendezeit stammt aus dem ersten Entwurf von Laings Manuskript.
Eine «black box» ist eine Übereinkunft zwischen Wissenschaftlern, an einem bestimmten Punkt mit dem Versuch aufzuhören, die Dinge zu erklären. Beim Zeichnen eines Diagramms für eine komplizierte Maschine setzen Ingenieure anstelle aller Einzelheiten eine Box ein, die für ein ganzes Konglomerat von Teilen steht. Eine black box ist eine Bezeichnung für das, was ein ganzes Konglomerat von Teilen tun soll, aber keine Erklärung dafür, wie es funktioniert. (Anm.d.Übers., frei nach G. Bateson)
Im April 1970 erhielt ich das letzte Gehalt für meine Forschungstätigkeit auf dem Gebiet der theoretischen Teilchenphysik. Seither habe ich diese Arbeit zwar an mehreren amerikanischen und europäischen Universitäten fortgesetzt, doch ließ sich keine dieser Institutionen überzeugen, mich dabei finanziell zu unterstützen. Seit 1970 hat meine physikalische Forschung nämlich, obwohl für meine Tätigkeit nach wie vor wesentlich, nur einen verhältnismäßig kleinen Teil meiner Arbeitszeit in Anspruch genommen. Weit größeren Raum beanspruchte die Forschungsarbeit in einem viel umfassenderen Bereich, wobei ich oft den beengenden Rahmen der geläufigen akademischen Disziplinen überschritt und in noch unbekannte Gebiete vorstieß. Dabei habe ich gelegentlich die heute gültigen Grenzen der Wissenschaft hinter mir gelassen oder, besser gesagt, versucht, sie weiter zu stecken. Obwohl ich meine Studien ebenso beharrlich, systematisch und sorgfältig betrieben habe wie meine Kollegen die ihren und die Ergebnisse in mehreren Arbeitspapieren und zwei Büchern publizierte, ist deren Thematik zu neuartig und kontrovers, als daß eine akademische Institution sie unterstützen würde.
Für jede Forschung in Grenzbereichen des Erkennens ist typisch, daß man niemals genau weiß, wohin sie führen wird. Geht jedoch alles gut, dann erkennt man rückblickend oft ein folgerichtiges Muster in der Entwicklung der eigenen Ideen und des eigenen Verständnisses, was gewiß auch für meine Arbeit gilt. Während der vergangenen fünfzehn Jahre habe ich viele Stunden in intensiven Gesprächen mit führenden Wissenschaftlern verbracht. Mit und ohne Führer oder Anleitung habe ich verschiedene veränderte Bewußtseinszustände erkundet. Ich habe mit Philosophen und Künstlern diskutiert, eine ganze Reihe physischer und psychischer Therapien erörtert und selbst erlebt. Ich nahm an vielen Veranstaltungen teil, bei denen Theorie und Praxis des gesellschaftlichen Wandels im Kontext unterschiedlicher kultureller Bedingungen und aus verschiedenen Perspektiven erörtert wurden. Oft schien es so, als würde jede Übereinstimmung, die man erreichte, sofort neue Wege erschließen und zugleich Stoff zu weiteren Fragen liefern. Blicke ich heute auf diese Zeit zurück, dann zeigt sich, daß ich während der vergangenen fünfzehn Jahre beharrlich ein einziges Thema verfolgt habe – den gegenwärtigen fundamentalen Wandel der Weltanschauung in unserer Wissenschaft und Gesellschaft, die Entfaltung einer neuen Sicht der Wirklichkeit sowie die gesellschaftlichen Implikationen dieses kulturellen Wandels. Die Ergebnisse meiner Forschung habe ich in zwei Büchern veröffentlicht, Das Tao der Physik und Wendezeit. In einem dritten Buch, Green Politics, das ich in Zusammenarbeit mit Charlene Spretnak speziell für amerikanische Leser (innen) geschrieben habe, habe ich die konkreten politischen Implikationen dieses Wandels erörtert.
Der Zweck des vorliegenden Buches ist nicht in erster Linie, neue Ideen vorzutragen oder die Gedanken meiner früheren Bücher zu erweitern oder zu modifizieren. Vielmehr möchte ich hier vor allem über meinen persönlichen Weg berichten, der zur Entwicklung dieser Gedanken führte. Es ist die Geschichte meiner Begegnungen mit vielen bemerkenswerten Persönlichkeiten, Männern und Frauen, die mich inspirierten, mir halfen und meine Suche förderten. Ich spreche von Werner Heisenberg, der mich in diese neue Sicht der Wirklichkeit einführte; von Geoffrey Chew, der mich lehrte, nichts als fundamental gelten zu lassen; von Krishnamurti und Alan Watts, die mir halfen, das Denken zu transzendieren, ohne dadurch meiner wissenschaftlichen Arbeitsweise untreu zu werden; von Gregory Bateson, der meine Sichtweise ausweitete, indem er das Leben in ihren Mittelpunkt stellte. Ferner spreche ich von Stanislav Grof und R.D. Laing, die mich herausforderten, das ganze Spektrum des menschlichen Bewußtseins zu erkunden; von Margaret Lock und Carl Simonton, die mir neue Wege zur Gesundheit und Heilung wiesen; von E.F. Schumacher und Hazel Henderson, die mich an ihren ökologischen Zukunftsvisionen teilhaben ließen, und schließlich von Indira Gandhi, die mein Bewußtsein der globalen Vernetzung erweiterte. Von diesen Frauen und Männern und von vielen anderen, mit denen ich in den vergangenen fünfzehn Jahren ins Gespräch kam, lernte ich die Hauptelemente dessen, was ich als neue Sicht der Wirklichkeit bezeichne. Mein persönlicher Beitrag bestand darin, Verbindungen zwischen den Gedanken dieser Persönlichkeiten und den von ihnen repräsentierten wissenschaftlichen und philosophischen Überlieferungen herzustellen.
Die hier aufgezeichneten Gespräche fanden statt zwischen 1969 – dem Jahr, in dem ich zum ersten Male den Tanz der subatomaren Teilchen als Tanz des Shiva erlebte – und 1982, dem Jahr, in dem die Wendezeit veröffentlicht wurde. Ich habe sie aus Tonbändern, ausführlichen Notizen und aus dem Gedächtnis rekonstruiert. Ihren Höhepunkt fanden sie in den «Big-Sur-Gesprächen», einer dreitägigen Runde von erregenden, stimulierenden und geistig fruchtbaren Gesprächen mit einer Gruppe außergewöhnlicher Menschen, die stets zu den Höhepunkten meines Lebens zählen wird.
Parallel zu meiner Forschungsarbeit erlebte ich einen tiefgreifenden persönlichen Wandel, der in einer wahrhaft magischen Ära, den späten sechziger Jahren unseres Jahrhunderts, durch die damaligen Ereignisse in Gang gebracht wurde. Die vierziger, fünfziger und sechziger Jahre entsprechen etwa den ersten drei Jahrzehnten meines Lebens. In den vierzigern erlebte ich meine Kindheit; die fünfziger waren die Zeit meines Heranwachsens und die sechziger die des jungen Mannes. Blicke ich auf mein Erleben dieser Jahrzehnte zurück, dann charakterisiere ich die fünfziger am besten mit dem Titel des berühmten Films mit James Dean, Rebel Without A Cause – «Rebell ohne Anliegen» (deutscher Filmtitel «… denn sie wissen nicht, was sie tun»). Zwar gab es auch damals Spannungen zwischen den Generationen, doch huldigten die Generation von James Dean und die ältere Generation im Grunde derselben Weltanschauung, demselben Glauben an die Technologie, an den Fortschritt und das Bildungssystem. Nichts davon wurde in den fünfziger Jahren in Frage gestellt. Erst in den sechzigern begannen die Rebellen die Gründe (cause) für ihr Aufbegehren zu sehen und sich für eine Sache (cause) zu engagieren, was dann zu einer fundamentalen Herausforderung der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung führte.
In den 1960er Jahren stellten wir die Gesellschaftsordnung in Frage. Wir lebten nach anderen Wertvorstellungen, hatten andere Rituale und andere Lebensformen. Doch waren wir nicht imstande, unsere Kritik prägnant zu formulieren. Natürlich übten wir bei einzelnen strittigen Themen konkrete Kritik, etwa am Vietnamkrieg, entwickelten jedoch kein umfassendes alternatives System von Ideen und Wertvorstellungen. Unser Protest wurde mehr pragmatisch gelebt und körperlich ausgedrückt als verbalisiert und in ein System gebracht.
In den siebziger Jahren konsolidierten und integrierten wir dann unsere Anschauungen. Die Verzauberung der sechziger Jahre schwand dahin; die anfängliche Erregung wich einer Periode der Festigung der eigenen Ansichten, der Klärung und Sammlung, des Verarbeitens und Integrierens unserer Vorstellungen. Im Verlauf der siebziger Jahre entstanden zwei neue Bewegungen, die ökologische und die feministische, die zusammen den schon lange benötigten umfassenden Rahmen für unsere Kritik und unsere alternativen Ideen lieferten.
Die achtziger Jahre schließlich sind erneut eine Periode gesellschaftlicher Aktivitäten. In den sechzigern hatten wir mit Begeisterung und Erstaunen gespürt, wie die kulturelle Wandlung in Gang kam; in den siebzigern erarbeiteten wir ihr theoretisches Skelett; in den achtzigern beginnt dieses Skelett Fleisch anzusetzen. Die weltweite Grüne Bewegung ist das eindrucksvollste Zeichen entsprechender politischer Aktivität in den achtziger Jahren, die man vielleicht einmal als das Jahrzehnt der Grünen Politik bezeichnen wird.
Die Ära der sechziger Jahre, die auf meine Weltanschauung den stärksten Eindruck machte, war von einer Bewußtseinserweiterung in zwei Richtungen beherrscht. Die eine ging in Richtung einer für den Westen neuen Art von Spiritualität, die den mystischen Überlieferungen des Ostens nahesteht. Sie orientierte sich an Erfahrungen, die von den Psychologen als transpersonal bezeichnet werden. Die andere erweiterte das gesellschaftliche Bewußtsein, ausgelöst durch ein radikales Infragestellen jeglicher Autorität. Das geschah parallel in mehreren Bereichen. So forderte die amerikanische Bürgerrechtsbewegung die Einbeziehung der farbigen amerikanischen Bürger ins politische Leben. Die Bewegung für freie Rede an der Universität Berkeley und die Studentenbewegungen an anderen amerikanischen und europäischen Universitäten forderten dasselbe für die Studenten. Während des Prager Frühlings stellten tschechische Bürger die Autorität des Sowjetregimes in Frage. Die Frauenbewegung begann, die patriarchalische Ordnung herauszufordern, und humanistische Psychologen untergruben die Autorität von Schulmedizin und Psychotherapeuten. Die beiden dominierenden Trends der sechziger Jahre – die Bewußtseinserweiterung hin zum Transpersonalen und zum Sozialen – beeinflußten mein Leben und meine Arbeit erheblich. Meine beiden ersten Bücher Das Tao der Physik und Wendezeit haben eindeutig ihre Wurzeln in jenem magischen Jahrzehnt.
Das Ende der sechziger Jahre fiel zeitlich zusammen mit der Beendigung meines Arbeitsverhältnisses, jedoch nicht meiner Tätigkeit als theoretischer Physiker. Im Herbst 1970 zog ich nach London, wo ich während der folgenden vier Jahre die Parallelen zwischen moderner Physik und östlicher Mystik erforschte. Es waren die ersten Schritte eineslangen und systematischen Bemühens, eine neue Vision der Wirklichkeit zu formulieren und zu kommunizieren. Die einzelnen Phasen dieser geistigen Reise und die Begegnungen und Gespräche mit den vielen bemerkenswerten Männern und Frauen, die zu den Wegbereitern der «Wendezeit» gehören, bilden den Inhalt dieses Buches.
Mein Interesse für den Wandel der Weltanschauungen in den Naturwissenschaften und der Gesellschaft wurde geweckt, als ich im Alter von neunzehn Jahren als junger Physikstudent Werner Heisenbergs Physik und Philosophie las, seinen klassischen Bericht über die Geschichte und Philosophie der Quantenphysik. Dieses Buch übte und übt immer noch einen unerhörten Einfluß auf mich aus. Es ist ein gelehrtes Werk, manchmal sehr technisch, doch ebenso voller persönlicher und sogar in starkem Maße emotionaler Bemerkungen. Heisenberg, einer der Begründer der Quantentheorie und zusammen mit Albert Einstein und Niels Bohr einer der Giganten der modernen Physik, beschreibt und analysiert darin das einzigartige Dilemma, in dem sich während der ersten drei Jahrzehnte unseres Jahrhunderts die Physiker fanden, als sie die Struktur der Atome und die Natur der subatomaren Phänomene erforschten. Diese Forschung brachte sie in Berührung mit einer seltsamen und unerwarteten Wirklichkeit, die die Grundlagen ihrer Weltanschauung zertrümmerte und sie zwang, auf ganz neue Weise zu denken. Bei ihrem Ringen um das Begreifen dieser neuen Wirklichkeit wurden die Wissenschaftler auf schmerzliche Weise gewahr, daß ihre Grundbegriffe, ihre Sprache und ihre ganze Denkweise nicht ausreichten, atomare Phänomene zu beschreiben.
In Physik und Philosophie liefert Heisenberg nicht nur eine brillante Analyse der begrifflichen Probleme, sondern auch eine lebendige Darstellung der unerhörten Schwierigkeiten, mit denen die Physiker fertig werden mußten, als ihre Forschung sie zwang, ihr eigenes Bewußtsein zu erweitern. Ihre atomaren Experimente nötigten sie, in neuen Kategorien über die Natur der Wirklichkeit zu denken. Es war Heisenbergs große Leistung, dies klar erkannt zu haben. Die Geschichte seines Ringens und Triumphes ist auch die Geschichte der Begegnung und Symbiose zweier außergewöhnlicher Persönlichkeiten, von Werner Heisenberg und Niels Bohr.
Heisenberg begann im Alter von zwanzig Jahren sich mit Atomphysik zu beschäftigen, als er in Göttingen Vorlesungen von Niels Bohr besuchte. Gegenstand dieser Vorlesungen war Bohrs neue Atomtheorie, die als großartige wissenschaftliche Leistung gepriesen worden war und von Physikern in ganz Europa studiert wurde. In einer auf eine der Vorlesungen folgenden Diskussion war Heisenberg bezüglich eines besonderen technischen Punktes anderer Ansicht als Bohr. Dieser zeigte sich von den klaren Argumenten des jungen Studenten so beeindruckt, daß er ihn zu einem Spaziergang einlud, um dabei die Diskussion fortzusetzen. Dieser mehrstündige Spaziergang war das erste Zusammentreffen zweier hervorragender Geister, deren weiterer Gedankenaustausch zur Haupttriebkraft der Entwicklung der Atomphysik werden sollte.
Niels Bohr, sechzehn Jahre älter als Heisenberg, war ein Mann mit außerordentlicher Intuition und tiefer Achtung vor den Geheimnissen der Welt. Er war von der religiösen Philosophie Kierkegaards und den mystischen Schriften von William James beeinflußt. Bohr schätzte axiomatische Systeme überhaupt nicht und erklärte wiederholt: «Alles, was ich sage, sollte nicht als Affirmation, sondern als Fragestellung verstanden werden.» Im Gegensatz zu ihm war Werner Heisenberg ein klarer analytischer und mathematischer Geist, tief verwurzelt im griechischen Denken, mit dem er seit früher Jugend vertraut war. Bohr und Heisenberg repräsentierten komplementäre Pole des menschlichen Geistes, deren dynamisches und oft dramatisches Zusammenwirken ein einzigartiges Geschehen in der Geschichte der modernen Naturwissenschaft war und zu einem ihrer großartigsten Triumphe führte.
Als ich als junger Student Heisenbergs Buch las, war ich fasziniert von seinem Bericht über die Paradoxa und augenscheinlichen Widersprüche, die in den frühen zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts die Erforschung atomarer Phänomene erschwerten. Viele dieser Paradoxa standen in Zusammenhang mit der dualistischen Natur der subatomaren Materie, die manchmal als Wellen, manchmal als Teilchen in Erscheinung tritt. Die Physiker sagten damals oft: « Elektronen sind Teilchen am Montag und Mittwoch und Wellen am Dienstag und Donnerstag.» Das Seltsame dabei war: Je mehr die Physiker die Lage zu klären versuchten, desto schärfer kam das Paradoxe daran zum Vorschein. Nur mit sehr kleinen Schritten entwickelten sie eine gewisse Intuition dafür, wann ein Elektron als Teilchen und wann es als Welle auftreten würde. Heisenberg drückte sich so aus: Sie tauchten erst in den Geist der Quantentheorie ein, bevor sie ihre genaue mathematische Formulierung entwickelten.
Bei dieser Entwicklung spielte Heisenberg eine entscheidende Rolle. Er erkannte, daß die Paradoxa in der Atomphysik immer dann auftraten, wenn jemand versuchte, atomare Phänomene mit klassischen Begriffen zu beschreiben, und war wagemutig genug, den klassischen gedanklichen Rahmen zu verwerfen. In einem 1925 publizierten Arbeitspapier gab er die von Bohr und anderen verwendete konventionelle Beschreibung der Position und Geschwindigkeit der Elektronen innerhalb eines Atoms auf. Er ersetzte sie durch einen viel abstrakteren Rahmen, in dem physikalische Quantitäten durch mathematische Strukturen dargestellt werden, die man Matrizen nennt. Heisenbergs «Matrizen-Mechanik» war die erste logisch stimmige Formulierung der Quantentheorie. Ein Jahr später wurde sie durch einen anderen Formalismus ergänzt, den Erwin Schrödinger ausgearbeitet hatte und der als «Wellenmechanik» bekannt wurde. Beide Formalismen sind logisch stimmig und mathematisch äquivalent. Dasselbe atomare Phänomen kann mit ihnen durch zwei mathematisch verschiedene Sprachen beschrieben werden.
Ende des Jahres 1926 verfügten die Physiker über einen vollständigen und logisch folgerichtigen mathematischen Formalismus, wußten jedoch nicht immer, wie sie ihn zur Beschreibung einer bestimmten experimentellen Situation interpretieren sollten. Während der darauffolgenden Monate schufen Heisenberg, Bohr, Schrödinger und andere nach intensiven, ermüdenden und oft höchst erregten Diskussionen Klarheit. In Physik und Philosophie beschreibt Heisenberg sehr lebendig diese entscheidende Periode in der Geschichte der Quantentheorie:
In den Monaten, die auf diese Diskussionen folgten, führte schließlich ein intensives Studium all der Fragen, die mit der Deutung der Quantentheorie zu tun haben, in Kopenhagen zu einer vollständigen … Klärung der ganzen Situation. Aber es war keine Lösung, die man leicht annehmen konnte. Ich erinnere mich an viele Diskussionen mit Bohr, die bis spät in die Nacht dauerten und fast in Verzweiflung endeten. Und wenn ich am Ende solcher Diskussionen noch allein einen kurzen Spaziergang im benachbarten Park unternahm, wiederholte ich mir immer und immer wieder die Frage, ob die Natur wirklich so absurd sein könne, wie sie uns in diesen Atomexperimenten erschien.
Heisenberg erkannte, daß der Formalismus der Quantentheorie nicht mit Begriffen unserer intuitiven Vorstellungen von Raum und Zeit oder von Ursache und Wirkung interpretiert werden kann. Gleichzeitig wurde ihm klar, daß alle unsere Begriffe an diese intuitiven Vorstellungen gebunden sind. Daraus schloß er, daß es keinen anderen Weg gebe, als die klassischen intuitiven Begriffe beizubehalten, jedoch ihre Anwendbarkeit einzuschränken. Heisenbergs großartige Leistung besteht darin, daß er die Begrenzungen der klassischen Begriffe in eine präzise mathematische Formel faßte, die heute seinen Namen trägt und als Heisenbergs Unschärfeprinzip bekannt ist. Sie besteht aus mehreren mathematischen Relationen, die das Ausmaß bestimmen, in dem klassische Begriffe auf atomare Phänomene anwendbar sind, und die damit die Grenzen der menschlichen Vorstellungskraft in der subatomaren Welt abstecken.
Die Unschärferelation bestimmt das Ausmaß, in dem der Wissenschaftler die Eigenschaften des beobachteten Objektes durch den Meßvorgang beeinflußt. In der Atomphysik können die Wissenschaftler nicht mehr die Rolle des unparteiischen, objektiven Beobachters spielen; vielmehr werden sie in die von ihnen beobachtete Welt einbezogen. Heisenbergs Unschärferelation gibt Auskunft über den Grad dieses Einbezogenseins. Auf fundamentalster Ebene ist das Unschärfeprinzip ein Maß für die Einheit und die innere Verbundenheit des Universums. In den 1920er Jahren kamen Physiker, angeführt von Heisenberg und Bohr, zu der Erkenntnis, daß die Welt nicht eine Ansammlung getrennter Objekte ist, sondern als ein Netz von Zusammenhängen zwischen den verschiedenen Teilen eines einheitlichen Ganzen erscheint. Unsere aus gewöhnlicher Erfahrung abgeleiteten klassischen Vorstellungen sind nicht völlig ausreichend, um diese Welt zu beschreiben. Wie kein anderer hat Werner Heisenberg die Grenzen der menschlichen Vorstellungskraft erforscht, bis zu denen unsere konventionellen Auffassungen ausgedehnt werden können, sowie das Ausmaß, in dem wir in die von uns beobachtete Welt einbezogen sind. Heisenbergs Bedeutung besteht darin, daß er nicht nur diese Begrenzungen und ihre tiefgreifenden philosophischen Implikationen erkannte, sondern auch in der Lage war, sie mit mathematischer Klarheit zu präzisieren.
Im Alter von neunzehn Jahren habe ich natürlich keineswegs den ganzen Inhalt des Buches von Heisenberg verstanden. Vielmehr blieb mir das meiste bei der ersten Lektüre rätselhaft. Andererseits ging von ihm eine Faszination für jene epochale Periode der Naturwissenschaft aus, die mich seither nie mehr verlassen hat. Zunächst jedoch mußte ein gründlicheres Studium der Paradoxa der Quantenphysik und ihrer Auflösung noch um einige Jahre aufgeschoben werden, in denen ich eine gründliche Ausbildung in Physik erhielt, zuerst in der klassischen Physik, danach in der Quantenmechanik, der Relativitätstheorie und Theorie der Quantenfelder. Während dieser Studien blieb Heisenbergs Physik und Philosophie mein Weggefährte. Wenn ich heute auf diese Zeit zurückblicke, dann erkenne ich, daß es Heisenberg war, der das Samenkorn gelegt hat, aus dem sich ein Jahrzehnt später meine systematische Erforschung der Grenzen der kartesianischen Weltanschauung entwickelte. «(Die kartesianische) Spaltung», schrieb Werner Heisenberg, «hat sich in den auf Descartes folgenden drei Jahrhunderten tief im menschlichen Geist eingenistet, und es wird noch viel Zeit vergehen, bis sie durch eine wirklich andersartige Haltung gegenüber dem Problem der Wirklichkeit ersetzt werden wird.»
Zwischen meiner Zeit als Student in Wien und dem Schreiben meines ersten Buches liegt die Periode meines Lebens, in der ich die tiefgreifendste und radikalste persönliche Wandlung erlebte – die Periode der 60er Jahre. Für diejenigen von uns, die sich mit der Bewegung jener Jahre identifizieren, war diese Periode weniger irgendein Zeitraum als vielmehr ein Bewußtseinszustand, charakterisiert durch transpersonale Ausweitung, das Magische, die Herausforderung jeglicher Autorität, ein Gefühl der Beflügelung und der Erfahrung sinnlicher Schönheit und des Gemeinschaftssinnes. Dieser Zustand reichte bis weit in die 70er Jahre hinein. Man könnte eigentlich sagen, die sechziger Jahre endeten im Dezember 1980 mit der Kugel, die John Lennon tötete. Das unerhörte Gefühl des Verlustes, das so viele von uns damals überkam, war zu einem erheblichen Teil das Gefühl, eine Ära sei verlorengegangen. Einige Tage lang nach dem tödlichen Schuß erlebten wir noch einmal die Magie der sechziger Jahre. Wir taten das voller Trauer und mit Tränen, doch überkam uns erneut dasselbe Gefühl der Verzauberung und der Gemeinschaft. Wo immer man während dieser wenigen Tage sich aufhielt – in jedem Dorf, in jeder Stadt, in jedem Lande der ganzen Welt–, hörte man John Lennons Musik, und jenes intensive Gefühl, das uns durch die sechziger Jahre beflügelt hatte, manifestierte sich wieder, zum letzten Male:
You may say I’m a dreamer,
but I’m not the only one.
I hope some day you’ll join us
and the world will live as one.
Nach meiner Promotion an der Universität in Wien im Jahre 1966 verbrachte ich zwei Jahre mit Forschungsarbeit in theoretischer Physik an der Universität von Paris. Im September 1968 zogen meine Frau Jacqueline und ich nach Kalifornien, wo ich von der Universität von Kalifornien in Santa Cruz einen Lehr- und Forschungsauftrag erhalten hatte. Ich erinnere mich, daß ich während des Fluges über den Atlantik das Buch von Thomas Kuhn Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen las. Ich war von diesem vieldiskutierten Buch leicht enttäuscht, als ich entdeckte, daß mir die Hauptgedanken bereits durch die häufige Lektüre Heisenbergs vertraut waren. Doch machte Kuhns Buch mich mit dem Begriff des wissenschaftlichen Paradigmas vertraut, der Jahre später in den Mittelpunkt meiner Arbeit rückte. Kuhn benutzte den Ausdruck «Paradigma», aus dem griechischen paradeigma (Struktur, Modell, Beispiel), um einen begrifflichen Rahmen zu bezeichnen, den eine Gemeinschaft von Wissenschaftlern gemeinsam hat und der ihnen ein Modell für ihre Probleme und Lösungen vorgibt. In den folgenden zwanzig Jahren wurde es sehr populär, von Paradigmen und Paradigmenwechsel auch außerhalb der Naturwissenschaften zu sprechen, und in Wendezeit habe ich diese Ausdrücke in sehr breiter Bedeutung verwendet. Für mich bedeutet ein Paradigma die Gesamtheit der Gedanken, Wahrnehmungen und Wertvorstellungen, die eine besondere Sicht der Wirklichkeit formen, eine Anschauung, die die Grundlage dafür liefert, wie die Gesellschaft sich selbst organisiert.
In Kalifornien trafen wir zwei sehr unterschiedliche Kulturen an. Da war die vorherrschende bürgerliche Kultur der amerikanischen Mehrheit und daneben die «Gegenkultur» der Hippies. Wir waren entzückt von der landschaftlichen Schönheit Kaliforniens, aber auch erstaunt über den allgemeinen Mangel an gutem Geschmack und ästhetischen Werten in der offiziellen Kultur. Der Kontrast zwischen der atemberaubenden Schönheit der Natur und der elenden Häßlichkeit der Zivilisation trat uns am auffallendsten hier an der amerikanischen Westküste entgegen, wo es uns schien, daß man das europäische Erbe schon lange hinter sich gelassen hatte. Da fiel es uns leicht zu begreifen, warum der Protest der Gegenkultur gegen die amerikanische Lebensform (the American Way of Life) hier seinen Ursprung hatte, und wir fühlten uns zu dieser Bewegung hingezogen.
Die Hippies lehnten eine Menge kultureller Merkmale ab, die auch wir wenig anziehend fanden. Um sich vom kurzen Haarschnitt und den Polyester-Nadelstreifenanzügen der typischen Manager zu unterscheiden, trugen sie lange Haare, farbenprächtige und individualistische Kleidung, Blumen, Perlen und anderen Schmuck. Sie lebten natürlich, ohne desinfizierende Chemikalien oder Deospray. Viele von ihnen waren Vegetarier, andere praktizierten Yoga oder sonstige Formen der Meditation. Oft buken sie auch ihr eigenes Brot oder übten ein Handwerk aus. Von den «Squares» wurden sie als «schmutzige Hippies» bezeichnet, zählten sich selbst jedoch zu den «beautiful people». Unzufrieden mit einem Bildungssystem, das darauf abgestellt war, junge Menschen für eine von ihnen abgelehnte Gesellschaft vorzubereiten, waren viele Hippies aus diesem Bildungssystem ausgeschert, obwohl viele von ihnen sehr begabt waren. Diese Subkultur war leicht zu identifizieren und hielt fest zusammen. Ihre Anhänger hatten ihre eigenen Rituale, ihre Musik, Dichtung und Literatur, teilten die Faszination für Spiritualität und das Okkulte und die gemeinsame Vision einer friedlichen und schönen Gesellschaft. Rockmusik und psychedelische Drogen waren starke Bande, die Kunst und Lebensart der Hippiekultur stark beeinflußten.
Während ich meine Forschungen an der Universität in Santa Cruz fortsetzte, tauchte ich in diese Gegenkultur ein, soweit meine akademischen Pflichten es erlaubten, und führte ein einigermaßen schizophrenes Leben – teils als Dozent mit Forschungsauftrag, teils als Hippie. Nur wenige der Leute, die mich mitnahmen, wenn ich als Anhalter mit meinem Schlafsack unterwegs war, würden gedacht haben, daß ich den akademischen Grad eines Dr. phil. besaß, und noch weniger, daß ich gerade das Alter von dreißig Jahren überschritten hatte und entsprechend dem bekannten Hippie-Slogan nunmehr zu den Leuten zählte, denen man nicht trauen konnte. In den Jahren 1969 und 1970 erlebte ich alle Facetten der Gegenkultur – die Rock-Festivals, die psychedelischen Drogen, die neue sexuelle Freiheit, das Leben in der Gemeinschaft, die vielen Tage als Anhalter auf den Fernstraßen. Reisen war damals leicht. Man brauchte nur den Daumen hochzuhalten und wurde problemlos mitgenommen. Sobald man in den Wagen gestiegen war, wurde man nach seinem Sternzeichen gefragt, zu einem «Joint» eingeladen und wurde aufgefordert, den Grateful Dead zu lauschen. Oder aber man wurde in ein Gespräch über Hermann Hesse, das I Ging oder über ein anderes esoterisches Thema verwickelt.
Die 1960er Jahre brachten mir zweifellos die tiefsten und radikalsten persönlichen Erfahrungen meines Lebens: die Ablehnung der konventionellen, bürgerlichen Werte, die Geschlossenheit, Friedfertigkeit und Vertrauensseligkeit der Hippie-Gemeinschaft; die Freiheit der Freikörperkultur, die Erweiterung des Bewußtseins durch psychedelische Drogen und Meditation; die Ausgelassenheit und besondere Beachtung des «Hier und Jetzt». Alles das bewirkte ein fortdauerndes Gefühl der Verzauberung, der Ehrfurcht und des Erstaunens, das für mich für alle Zeiten mit den sechziger Jahren verknüpft bleiben wird.
In den sechziger Jahren wurde auch mein politisches Bewußtsein geweckt. Das geschah zunächst in Paris, wo sich viele promovierte Studenten und junge Dozenten an der Studentenbewegung beteiligten, die ihren Höhepunkt in der denkwürdigen Revolte erlebte, die heute noch als der «Mai 68» in aller Gedächtnis ist. Ich erinnere mich langer Diskussionen an der Naturwissenschaftlichen Fakultät von Orsay, während derer die Studenten nicht nur den Vietnamkrieg und den arabischisraelischen Krieg von 1967 analysierten, sondern auch die Machtstrukturen innerhalb der Universität in Frage stellten und alternative, nichthierarchische Strukturen diskutierten.
Im Mai 1968 schließlich wurden alle Forschungs- und Lehraktivitäten gestoppt, als die von Daniel Cohn-Bendit angeführten Studenten ihre Kritik auf die Gesellschaft insgesamt ausdehnten und die Solidarität mit der Arbeiterschaft suchten, um die gesamte gesellschaftliche Organisation zu verändern. Für etwa eine Woche waren die Verwaltung, das öffentliche Transportwesen und der Geschäftsbetrieb von Paris durch einen Generalstreik vollkommen lahmgelegt. Die Menschen verbrachten den größten Teil der Zeit mit politischen Diskussionen auf der Straße. Die Studenten hatten das Odéon, das geräumige Theater der Comédie Française, besetzt und in ein rund um die Uhr tagendes «Volksparlament» umgewandelt.
Die Erregung jener Tage werde ich niemals vergessen, gedämpft nur durch meine Scheu vor Gewalttätigkeiten. Jacqueline und ich verbrachten die Tage mit der Teilnahme an riesigen Massenversammlungen und Demonstrationen, wobei wir Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Polizeiaufgeboten aus dem Wege gingen. Wir trafen uns mit vielen Menschen auf den Straßen, in Restaurants und Cafés und ließen uns in endlose politische Diskussionen verwickeln. An den Abenden gingen wir meist ins Odéon oder zur Sorbonne, um zuzuhören, wie Cohn-Bendit und andere ihre überaus idealistischen, jedoch äußerst anregenden Visionen einer künftigen Gesellschaftsordnung verkündeten.
Die weitgehend marxistisch orientierte europäische Studentenbewegung war nicht imstande, während der sechziger Jahre ihre Visionen in die Wirklichkeit umzusetzen. Doch wurden ihre sozialen Themen während des darauffolgenden Jahrzehnts, in dem viele ihrer Anhänger einen tiefgreifenden persönlichen Wandel erlebten, weiter in der Öffentlichkeit diskutiert. Unter dem Einfluß der beiden Hauptbewegungen der siebziger Jahre, der feministischen und der ökologischen Bewegung, erweiterten diese Angehörigen der Neuen Linken ihren Horizont, ohne ihr gesellschaftliches Bewußtsein zu verlieren, und am Ende der siebziger Jahre begannen sie, sich den neugebildeten europäischen Grünen Parteien anzuschließen.
Als ich im Herbst 1968 nach Kalifornien umzog, wurde ich Zeuge von Rassismus, der Unterdrückung der farbigen Amerikaner. Begegnungen mit der daraus entstehenden Bewegung der Black Panthers wurden zu einem weiteren wichtigen Bestandteil meiner Erfahrungen. Ich nahm nicht nur an Antikriegsversammlungen und -märschen teil, sondern besuchte auch politische Versammlungen der Schwarzen Panther und lauschte Rednern wie Angela Davis. Mein in Paris geschärftes politisches Bewußtsein wurde durch diese Geschehnisse ebenso erweitert wie durch die Lektüre von Eldridge Cleavers Buch Seele im Feuer und anderen Büchern farbiger Autoren.
Ich erinnere mich, daß meine Sympathie für die Bewegung der Black Panthers durch ein unvergeßliches dramatisches Geschehen geweckt wurde, bald nachdem wir nach Santa Cruz gezogen waren. In der Zeitung lasen wir, ein unbewaffneter schwarzer Teenager sei in einem kleinen Schallplattengeschäft in San Francisco von einem weißen Polizisten brutal erschossen worden. Empört fuhr ich mit meiner Frau zur Beerdigung des Jungen nach San Francisco, in der Erwartung, dort auf eine große Schar gleichgesinnter Weißer zu stoßen. Wir waren dann schockiert, daß wir mit zwei oder drei anderen die einzigen Weißen waren. In der Aussegnungshalle drängten sich finster blickende Schwarze Panther, in schwarzes Leder gekleidet, die Arme über der Brust verschränkt. Die Atmosphäre war gespannt, und wir fühlten uns unsicher und hatten Angst. Als ich jedoch an einen der Männer der Totenwache herantrat und ihn fragte, ob wir der Beerdigung beiwohnen könnten, blickte er mir fest in die Augen und sagte nur: «Du bist willkommen, Bruder. Sei willkommen!»
Mein erster Kontakt mit östlicher Mystik ergab sich in Paris. Dort interessierten sich einige Bekannte für indische und japanische Kultur. Wer mich jedoch wirklich in östliches Denken einführte, war mein Bruder Bernt. Wir sind einander seit unserer Kindheit eng verbunden geblieben, und Bernt teilt mein Interesse für Philosophie und Spiritualität. Im Jahre 1966 studierte er in Österreich Architektur und hatte vielleicht als Student mehr Zeit, sich dem neuen Einfluß östlichen Denkens auf die europäische und amerikanische Jugendkultur zu öffnen, als ich, der ich damit beschäftigt war, mir eine Position als theoretischer Physiker zu schaffen. Bernt gab mir eine Anthologie der Dichter und Schriftsteller der Beat-Generation, wodurch ich die Werke von Jack Kerouac, Lawrence Ferlinghetti, Alan Ginsberg, Gary Snyder und Alan Watts kennenlernte. Durch Alan Watts erfuhr ich vom Zen-Buddhismus, und kurz danach riet mir Bernt, die Bhagavad-Gita zu lesen, eine der schönsten und tiefgründigsten heiligen Schriften Indiens.
Nach meinem Umzug nach Kalifornien fand ich bald heraus, daß Alan Watts einer der Helden der Gegenkultur war. Seine Bücher fand man in den Regalen aller Hippie-Gemeinschaften, zusammen mit denen von Carlos Castaneda, Jiddu Krishnamurti und Hermann Hesse. Obwohl ich schon vor der Lektüre von Watts Bücher über östliche Philosophie und Religion gelesen hatte, war es Watts, der mir am meisten geholfen hat, ihren wesentlichen Gehalt zu verstehen. Seine Werke führten mich so weit, wie man mit Büchern eben kommen kann, und regten mich an, mich darüber hinaus unmittelbarer, nichtverbaler Erfahrung zuzuwenden. Obwohl Alan Watts als Gelehrter nicht so bedeutend ist wie D.T. Suzuki oder einige der anderen wohlbekannten östlichen Autoren, besaß er die einzigartige Gabe, die östlichen Lehren in abendländischen Begriffen beschreiben zu können. Seine Schreibweise war leicht und geistvoll, elegant und voller gelassener Heiterkeit. Dadurch transformierte er die Form der Lehren und paßte sie unserem kulturellen Kontext an, ohne dabei ihren Sinn zu verzerren.
Auch wenn ich mich, wie die meisten meiner damaligen Freunde, stark von den exotischen Aspekten der östlichen Mystik angezogen fühlte, spürte ich zugleich, daß diese spirituellen Überlieferungen überaus bedeutsam für uns sein könnten, wenn wir sie nur unserem eigenen kulturellen Kontext anpassen könnten. Alan Watts gehörte zu denen, die das auf großartige Weise vermochten, und ich fühlte mich ihm seelenverwandt, seit ich Das Buch und Der Weg des Zen gelesen hatte. Genaugenommen drang ich so tief in seine Schriften ein, daß ich unbewußt seine Technik des Neuformulierens östlicher Lehren übernahm und sie viele Jahre später in meinen eigenen Schriften verwendete. Einer der Gründe, warum Das Tao der Physik so erfolgreich ist, kann durchaus der sein, daß ich dieses Buch in der Tradition von Alan Watts geschrieben habe.
Ich traf Watts persönlich, bevor ich selbst meine Gedanken über den Zusammenhang zwischen Naturwissenschaft und Mystik formuliert hatte. Er kam zu einer Vorlesung im Jahre 1969 nach Santa Cruz, und ich wurde ausgewählt, während des vorangehenden Abendessens der Fakultät neben ihm zu sitzen, vermutlich weil man mich für den «Ausgeflipptesten» unter den Professoren hielt. Während des Essens erwies Alan Watts sich als sehr gesprächig, erzählte viele Geschichten über Japan und berührte in der lebhaften Unterhaltung Themen der Philosophie, der Kunst, der Religion, sprach über französische Küche und vieles andere, was ihm am Herzen lag. Am folgenden Tage setzten wir unsere Unterhaltung bei einem Glas Bier im «Catalyst» fort, einem Hippie-Treffpunkt, wo ich gewöhnlich einige Stunden mit Freunden verbrachte und viele interessante und vielseitig interessierte Leute traf. (In dieser Kneipe hörte ich auch Carlos Castaneda, kurz nachdem er sein erstes Buch geschrieben hatte, zwanglos über sein Abenteuer mit Don Juan sprechen, dem mythischen Yaqui-Weisen.)
Nachdem ich im Jahre 1970 von Kalifornien nach London gezogen war, blieb ich mit Alan Watts in Verbindung, und als ich meinen ersten Artikel über die Parallelen zwischen moderner Physik und östlicher Mystik mit dem Titel «The Dance of Shiva» schrieb, erhielt er als einer der ersten eine Kopie. Er schrieb mir einen sehr aufmunternden Brief, in dem er dieses Thema als höchst interessanten Forschungsbereich bezeichnete und mich bat, ihn über meine Fortschritte auf diesem Gebiet auf dem laufenden zu halten. Ferner nannte er mir noch einige interessante Bücher über Buddhismus. Leider war dies unser letzter Kontakt. Während meiner Tätigkeit in London sah ich stets ungeduldig einer neuen Begegnung mit Watts entgegen, sobald ich wieder nach Kalifornien zurückgehen würde, wo ich dann mein Buch mit ihm diskutieren wollte. Er starb jedoch ein Jahr, bevor ich Das Tao der Physik vollendete.
Zu ersten Kontakten mit östlicher Spiritualität kam es durch meine Begegnung mit Krishnamurti gegen Ende des Jahres 1968. Er kam zu Vorlesungen an die Universität nach Santa Cruz. Mit seinen damals 73 Jahren war er eine in jeder Hinsicht erstaunliche Persönlichkeit. Seine scharfen indischen Gesichtszüge, der Kontrast zwischen der dunklen Haut und dem perfekt frisierten weißen Haar, seine elegante westliche Kleidung, seine würdige Haltung, die gemessene Ausdrucksweise in makellosem Englisch und vor allem seine intensive Konzentration und völlige Präsenz nahmen mich gefangen. Damals war gerade Castanedas Buch Die Lehren des Don Juan erschienen, und beim Anblick Krishnamurtis kam mir sofort ein Vergleich mit der mythischen Gestalt des Yaqui-Weisen in den Sinn.
Die Wirkung der äußeren Erscheinung und das Charisma von Krishnamurti wurden noch verstärkt und vertieft durch das, was er sagte. Krishnamurti war ein origineller Denker, der jegliche spirituelle Autorität und Überlieferung ablehnte. Seine Lehren kommen denen des Buddhismus sehr nahe, doch pflegte er keine buddhistischen Begriffe oder solche anderer östlicher Überlieferungen zu gebrauchen. Er hatte sich eine sehr schwierige Aufgabe gestellt – er wollte sich der Sprache und der Vernunft bedienen, um seine Zuhörer über Sprache und Vernunft hinauszuführen. Wie er das tat, war höchst eindrucksvoll.
Krishnamurti wählte gewöhnlich für jede Vorlesung ein bekanntes existentielles Problem aus – Angst, Begierde, Tod, Zeit – und leitete die Vorlesung dann etwa so ein: «Wir wollen das Thema jetzt gemeinsam anpacken. Ich werde Sie nicht belehren, da ich keine Autorität dazu habe. Wir werden diese Frage gemeinsam erkunden.» Zunächst zeigte er dann die Nutzlosigkeit aller konventionellen Wege zur Überwindung (beispielsweise) der Angst auf. Danach fragte er langsam, eindringlich und mit Gespür für Dramatik: «Ist es Ihnen möglich, in diesem Augenblick die Angst loszuwerden? Ich meine nicht, sie zu verdrängen, sie zu leugnen oder gegen sie anzukämpfen, sondern sie ein für allemal loszuwerden? Das wird heute abend unsere Aufgabe sein – uns völlig von der Angst zu befreien, total, für immer. Schaffen wir das nicht, dann wird meine Vorlesung nutzlos sein.»
Damit ist die Bühne bereitet; die Zuhörer verharren in gespanntem Schweigen und höchster Aufmerksamkeit. Krishnamurti: »Untersuchen wir nunmehr diese Frage urteilslos, ohne Verdammung, ohne Rechtfertigung. Was ist Angst? Sie alle und der Vortragende werden jetzt das Thema angehen. Wir wollen doch einmal sehen, ob wir tatsächlich alle miteinander kommunizieren können, alle auf derselben Ebene, mit derselben Intensität, zur selben Zeit. Benutzen Sie den Vortragenden als Spiegel. Können Sie dann die Antwort auf die ungewöhnlich wichtige Frage finden: Was ist Angst?» Krishnamurti begann dann, ein makelloses Gewebe von Gedanken zu weben. Um die Angst zu verstehen, müßte der Mensch erst einmal die Begierde verstehen. Um die Begierde zu verstehen, muß man das Denken verstehen, also auch die Zeit, das Erkennen, das Selbst, und so weiter und so fort. Er analysierte auf brillante Weise, wie diese grundlegenden existentiellen Probleme zusammenhängen – nicht theoretisch, sondern erfahrungsmäßig. Er konfrontierte uns nicht nur mit den Ergebnissen seiner Analyse, sondern drängte uns dazu, uns selbst in den analytischen Prozeß einzubringen. Am Ende verließ man seine Vorlesung mit dem starken und klaren Gefühl, der einzige Weg zur Lösung der eigenen existentiellen Probleme sei der, über das Denken, die Sprache und die Zeit hinauszugehen, um zu erreichen, was er im Titel eines seiner besten Bücher formuliert hat: Freedom from the Known – Freiheit vom Wissen (deutscher Buchtitel: Einbruch in die Freiheit).
Von Krishnamurtis Vorlesungen war ich nicht nur fasziniert, sondern zutiefst aufgerührt. Nach jedem abendlichen Vortrag saß ich mit Jacqueline noch stundenlang am Kamin und diskutierte mit ihr, was Krishnamurti gesagt hatte. Das war meine erste Begegnung mit einem radikalen spirituellen Lehrer. Dabei wurde ich sofort mit einem ernsten Problem konfrontiert. Ich hatte eben erst eine vielversprechende wissenschaftliche Laufbahn begonnen, in die ich auch emotional viel investiert hatte. Und ausgerechnet jetzt sagte mir Krishnamurti mit seinem ganzen Charisma und seiner Überzeugungskraft, ich solle aufhören zu denken, solle mich meines Wissens entledigen und den Verstand hinter mir lassen. Was bedeutete das für mich? Sollte ich meine wissenschaftliche Laufbahn schon in diesem frühen Stadium aufgeben, oder sollte ich Naturwissenschaftler bleiben unter Aufgabe aller Hoffnung auf spirituelle Selbstverwirklichung?
Ich konnte es kaum erwarten, Krishnamurti um Rat zu bitten. Doch während der Vorlesungen ließ er keine Fragen zu, wollte danach auch mit niemandem sprechen. Bei wiederholten Versuchen wurde mir bedeutet, Krishnamurti wolle nicht gestört werden. Ein glücklicher Zufall – wenn es so etwas wie Zufall überhaupt gibt – bescherte uns schließlich doch eine Audienz bei ihm. Wir hörten, daß er einen französischen Sekretär hatte. Jacqueline, geborene Pariserin, gelang es, diesen nach der letzten Vorlesung in ein Gespräch zu verwickeln. Die beiden verstanden sich gut, und so kam es dazu, daß wir Krishnamurti am folgenden Morgen in seiner Wohnung sprechen konnten.
Zuerstdann«J’adore la science»«C’est merveilleux.»