Tine Wittler
Suche Heimat – biete Bier!
Dorfkneipengeschichten einer Stadtflüchtigen
Knaur e-books
Tine Wittler ist seit über 20 Jahren freischaffende Bühnenkünstlerin, Autorin und Moderatorin. Mit der Sendung »Einsatz in 4 Wänden« (2003-2013) wurde sie einem Millionenpublikum bekannt. Nach 25 Jahren in Hamburg zog sie Ende 2017 in das 60-Seelen-Dörfchen Jabel im Wendland und erweckte dessen alte Dorfkneipe wieder zum Leben - diesmal samt Kleinkunstbühne.
© 2020 Knaur eBook
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Redaktion: Nina Schnackenbeck
Covergestaltung: Isabella Materne, München
Coverabbildung: Eckart Breitschuh und Shutterstock / Foxys Graphic, daizuoxin
Illustration im Innenteil von Foxys Graphic/Shutterstock.com
ISBN 978-3-426-45853-2
Name aus Diskretionsgründen geändert
Die Regeln im »Wohnzimmer«: Veranstaltungen sind selbstverständlich rauchfrei – zu späterer Stunde jedoch ist der Rauchertisch gern mal der lustigste (und beliebteste) von allen.
Rinderbratels: wendländische Spezialität aus gepökeltem und gekochtem Rindfleisch
Eine Zeitzeugin berichtete mir im persönlichen Recherchegespräch über diese Tage, dass im benachbarten Dörfchen Satemin ein Bauer umgehend nach Bekanntgabe der »kurzfristigen Störung« im Kernkraftwerk von Tschernobyl – noch bevor die ersten Strahlenwolken über Deutschland hinwegziehen konnten – eine seiner Milchkühe von der Weide nahm. Er brachte sie von nun an ein ganzes Jahr lang im Stall unter, wo sie mit dem Restbestand garantiert unverseuchten Heus des Vorjahres gefüttert wurde (welcher wiederum nur für eine Kuh ausreichte), damit insbesondere die Kinder des Dorfes weiterhin garantiert strahlenfreie Milch trinken konnten.
Daten und Fakten wurden der Chronik »Gorleben und der Atommüll« (NDR) entnommen: ndr.de/geschichte/schauplaetze/Gorleben-und-der-Atommuell-Eine-Chronik,gorlebenchronik2.html
Während der Entstehung dieses Textes versucht man in der Ukraine, Waldbrände unter Kontrolle zu bringen, die unter anderem die Ruine des Kernkraftwerkes Tschernobyl samt havariertem Reaktorblock bedrohen.
Im Nachhinein scheint es nicht ausgeschlossen, dass es sich bei dem zunächst als Grippe selbst diagnostizierten Siechtum im Januar 2020 bereits um eine handfeste Corona-Infektion handelte, die zwar sehr früh dran, aber dafür umso hartnäckiger war.
Quelle: Wikipedia (https://de.wikipedia.org/wiki/Nachtigall)
Zum Zeitpunkt der Drucklegung dieses Werkes ist Kalli leider schon seit mehreren Wochen verschwunden. Smörchen hat damit nichts zu tun, ich schwör!
Christiane Stamers Mann Hans klärte mich zwischenzeitlich darüber auf, dass es genau genommen sogar drei Christianes sind. Wobei die Dritte im Bunde nach ihrem Einzug ins verrückte Dorf etwaige Komplikationen vorausschauend zu umschiffen beschloss und sich lieber gleich überall als »Christl« vorstellte. Christl, ich danke dir dafür.
Dieter hat den »Jabel der Welt« zwischenzeitlich als Wohnort verlassen, und auch Didi plant einen Umzug.
Vergnügungssteuersatzung Stadt Lüchow
https://www.bild.de/bild-plus/unterhaltung/leute/leute/einsatz-in-4-waenden- was-macht-tine-wittler-heute-68598164,view=conversionToLogin.bild.html
»Giselas goldene Kneipenregeln für kleine WirTin(n)en« sind am Ende dieses Kapitels zu finden.
Rede Richard von Weizsäcker (z.B. abgedruckt in Welt.de: https://www.welt.de/print-welt/article509229/Kultur-sichert-Ueberleben.html#:~:text=Der%20Ausdruck%20lenkt%20uns%20in,sie%20ins%20Werk%20setzen%20sollen.)
Im aus der Corona-Not geborenen »Kleinsten Autotheater der Welt« von Kulturbar Wendland e. V. im Garten der Antikhütte fanden fünf Pkw Platz. Plus – vor der Gartenmauer mit Blick auf die Minibühne – ein Trecker oder Wohnmobil (vgl. Kapitel 22). Hier spielte sich die WirTine mit »Die Prinzessin & der Horst« im Mai und Juni 2020 mehrere Wochen die Seele aus dem Leib, damit überhaupt irgendwas geht. Das Ganze war zwar ein einzigartiges Experiment. Aber es waren dann doch alle sehr froh, als ab Juli endlich wieder Menschen ganz ohne Autos zum Kulturkonsum im Garten Platz nehmen durften.
Für den »Jabel der Welt« & das ganze Wendland.
Danke, dass ich bei und mit euch sein darf.
Es muss so im Jahr 2000 gewesen sein, ich war etwa 27 Jahre alt, als ich den Eltern zum allerersten Mal in meiner ganz eigenen Hamburger Wohnung Kaffee einschenkte. Filterkaffee aus so einer gläsernen Drückerkanne, bei der man geduldig warten muss, bis sich das Kaffeepulver gesetzt hat, und die – genau wie die Wohnung – plötzlich ganz allein mir gehörte.
Ebenso wie die Wohnung musste ich diese Kanne ab sofort nicht mehr gegen im besten Fall chaotische, im schlimmsten Fall völlig lebensuntüchtige Mitbewohner verteidigen: Sie und die zweieinhalb Zimmer im noch nicht ganz so übertrieben hippen, aber doch kontinuierlich aufstrebenden Szeneviertel Ottensen – in dem die bezahlbaren Altbaubuden für Junge und Kreative bereits damals knapp wurden – waren endlich nur für mich da! Als aufstrebende Jungautorin, noch dazu mit einer Festanstellung als Redakteurin, konnte ich mir das erlauben: kleine, aber eigene vier Wände, sogar mit einem Minigarten; kein Studentenwohnheim mehr und auch keine WG oder Übergangslösung.
Für das Landmädchen, das sich vom ostwestfälischen Nirgendwo über das Studium in Lüneburg und Auslandssemester in Großbritannien bis ins Berufsleben der großen Hansestadt Hamburg vorangewühlt hatte wie ein Maulwurf, der immer größere Hügel produziert, war damals klar: Hier, in diesem pulsierenden Kosmos der schönsten Stadt der Welt, bleibe ich für immer. Ich werde diesen Kosmos auskosten und einatmen; alles, was er zu bieten hat, werde ich entdecken und mitnehmen; und das ist so viel, dass ich dabei nie auf ein Ende stoßen werde oder auf ein »Alles-Gesehen«. Nein, für mich stand fest: Hier gehe ich nie wieder weg! Nie nicht. Nicht aus dieser Wohnung, und nicht aus dieser Stadt.
So teilte ich es bei besagtem Kaffee mit Nachdruck auch den Altvorderen, angereist aus dem Dörflich-Ostwestfälischen, mit; schließlich hatte ich eine extrem vorausschauende und, wie ich fand, auch sehr kluge Immobiliensuche betrieben und mich fürs Ebenerdige entschieden – »falls man später im Alter mal nicht mehr so gut zu Fuß ist«. Ich fand mich außerordentlich überzeugend, was nicht schwer war, immerhin glaubte ich fest an das, was ich da fabulierte. Die Eltern hingegen lachten nur wissend – und sagten sonst nichts weiter dazu.
Knapp 17 Jahre und mehrere Ottensener Immobilien später lebe ich mit meinem Ehemann und einem eigenwilligen, aber bezaubernden Kätzchen namens Smöre in einem Bungalow im Hamburger Stadtteil Rissen.
Rissen ist nicht Ottensen und von dessen überbordender Quirligkeit, die sich von einstiger Subkultur zu einem Paradebeispiel höchst ungesunder Gentrifizierung entwickelt hat, weit entfernt. Wobei Ersteres nicht weiter schlimm, sondern vielmehr Sinn der Sache ist: Den Drang zur Szeneviertelzugehörigkeit legt man ja auf dem Weg zum vierzigsten Geburtstag, spätestens aber kurz danach ab wie einen unbequem gewordenen jugendlichen Turnschuh mit zu dünner Sohle und stattdessen fürderhin eher Wert auf ein gediegeneres Dasein. Schön, wenn man dann einen Stadtteil findet, in dem man sich weiterhin hip und kosmopolitisch fühlen kann: Zwischen Rentnerehepaaren und arriviertem Establishment zählen der Mann, die Katze und ich in Rissen zu den »jungen Wilden«.
Und immerhin gehört das Quartier noch zum Bezirk Altona: ein gepflegtes Viertel mit Einfamilienhäusern, von denen viele ohne Weiteres als »Anwesen« durchgehen. Anfahrt über die sagenumwobene Elbchaussee, die einem im täglichen Stau immerhin was fürs Auge bietet. Direkt neben dem Grundstück, welches in einer klitzekleinen, holprigen Anliegerstraße mit einem so langen Namen liegt, dass man beim Nennen der Adresse mehrere Atemzüge braucht und beim Buchstabieren mehrfach neu ansetzen muss, weil man längst vergessen hat, wo man eigentlich war, beginnt der Wald.
Der Bungalow im Bauhausstil ist auf eine hügelige Fläche gebaut. Wenn man von der Auffahrt her darauf blickt, erahnt man nur anhand der riesigen Garagen, auf denen ein Teil der Wohnfläche ruht und in denen bequem drei Fahrzeuge von Maßen über die klassischer Mittelklassewagen hinaus Platz finden, wie groß und ausladend er tatsächlich ist; mit einem Schwimmbad im Keller, umlaufenden Terrassenflächen und voller weiterer Annehmlichkeiten. Nur der Kenner mit dem geschulten Blick für hanseatisches Understatement mag vermuten, dass hier jemand wohnen muss, der zumindest etabliert, vielleicht sogar erfolgreich ist. Oder mal war. Oder von jemandem, der es ganz bestimmt mal war, geerbt hat. Die Luft ist gut, der Verkehr in der kleinen Straße mit dem langen Namen nicht der Rede wert.
Und trotz alldem stimmt irgendetwas nicht, denn ich fühle mich nicht gut. Das geht bereits seit einiger Zeit so; ich weiß nur nicht recht, warum. Auf der Suche nach dem Grund habe ich in den vergangenen Monaten vieles auf den Prüfstand gestellt.
Als Erstes habe ich überlegt, ob es die Arbeit ist, die dieses undefinierbare Unwohlsein hinterlässt. Aber mein Künstlerinnen- und Gastronominnendasein bereitet mir Freude und Befriedigung: Das Tourleben mit Chanson und Kabarett, Theater und Vorträgen ist zwar aufreibend, aber erfüllend. Meine »Parallelwelt Kulturbar«, die vor 13 Jahren als Bar mit kleinen Livegigs angefangen und sich nach ihrem Umzug auf eine größere Fläche durch viel Hingabe und Engagement zu einem Kulturzentrum für junge darstellende und bildende Künstler entwickelt hat, verbindet meine Leidenschaft für genreübergreifende Performances, Werke und das Gastgebertum mit einer Freiheit und Vielseitigkeit, die ich mir auf keine andere Art und Weise und erst recht in keinem anderen Beruf wünsche.
Für den Mann stellt sich die Lösung des Ganzen recht einfach dar. Seit ich ihn regelmäßig mit meinen aus dem generellen Unwohlsein resultierenden Befindlichkeiten konfrontiere, behauptet er ebenso regelmäßig, ich müsse nur zu meinen künstlerischen Wurzeln zurückkehren. Sprich: nach Dokumentarfilm, Chansonalbum, Theaterengagement und Bühnenprogramm endlich wieder ein ganzes Buch schreiben statt Produktionskalkulationen oder Liedtexte. Dann würde es mir bestimmt besser gehen. Schließlich läge das letzte meiner belletristischen Werke dieser Art, von denen ich aber doch gekommen sei in meinem Schaffen, nunmehr einige Zeit zurück, und da habe sich in mir kreativ vielleicht was verkapselt.
Die Katze hat sich zu dieser Vermutung bis heute nicht dezidiert geäußert, aber grundsätzlich gibt sie sowieso immer dem Mann recht, denn der füttert sie auch am offenen Kühlschrank mit Hühnchenbrust.
Jedenfalls, je öfter der Mann oben stehenden Rat als Antwort auf mein ständiges Gemaule wiederholt, desto unleidlicher werde ich, was dafürspricht, dass an seiner Erklärung was Wahres dran ist. Vielleicht. Aber das zuzugeben fällt mir schwer, und natürlich hasse ich es einigermaßen, wenn der Mann einen besseren Durchblick hat als ich; vor allem, wenn dieser Durchblick ausgerechnet meine Person betrifft.
Außerdem braucht man viel Zeit und Muße, um ein ganzes Buch zu schreiben, das weiß ich aus eigener Erfahrung natürlich viel besser als er. Und diese Zeit habe ich nun mal nicht. Schließlich gibt es Bälle in der Luft zu halten, nicht erst seit gestern und vermutlich auch nicht nur bis morgen. Die Buchhaltung macht sich ja nicht von allein, wobei erschwerend hinzukommt, dass man überhaupt erst mal Zahlen braucht, die man hierin eintragen kann, und zwar am besten schwarze. Allein deshalb würde der Mann mir wohl trotz seiner Fürsorge und allen ehrlichen Interesses an der Auflösung meiner kreativen Verkapselung den Vogel zeigen, wenn ich ihn darüber informierte, dass die Finanzierung des Bungalows voller Annehmlichkeiten ab sofort leider allein bei ihm läge. Weil ebenjene kreative Verkapselung nun endlich rausmuss aus mir. Vom Bücherschreiben ist hanseatisches Understatement in Hamburg-Rissen nur in seltenen Fällen finanzierbar; die Dichte freiberuflicher Autoren oder überhaupt freiberuflicher Künstler ist dort nicht sehr hoch. Das habe ich dem Mann auch immer wieder erklärt, aber er ist dafür einfach nicht zugänglich und behauptet weiterhin, es würde alles besser, wenn ich nur endlich meine Buchstabenverkapselung auflöste.
Also habe ich überlegt, ob es vielleicht die Ehe an sich ist, die mir nicht bekommt. Um dies herauszufinden, habe ich das ein oder andere Streitgespräch mit dem Mann geführt, einige davon vielleicht sogar gezielt provoziert. Die Vermutung, dass auch dieser Weg nicht zu einer grundlegenden Besserung meiner Situation führen würde, lag zwar nahe und hat sich am Ende auch bewahrheitet, aber man kann es ja mal probieren.
Als Nächstes habe ich mich gefragt, ob ich nicht vielleicht doch ein Kind hätte bekommen sollen und dahingehend das Ruder auf die letzten Meter herumreißen sollte beziehungsweise könnte. Man hört ja doch immer wieder, dass kinderlose Frauen früher oder später damit hadern, ihrem angeblichen »evolutionären Auftrag« nicht nachgekommen zu sein.
Wenige Tage später – es muss zur Weihnachtszeit im Jahr 2016 gewesen sein; der ungeklärte Kummer war bereits weit fortgeschritten – saß ich sehr engagiert und voller Bereitschaft für mein ganz individuelles, lebensveränderndes Aha-Erlebnis mit einer Grundschullehrerin, der Mutter eines Neugeborenen sowie der Mutter einer pubertierenden Tochter an einem Tisch und gab mir alle Mühe, zu erkennen, dass im späten Nachwuchs das Heil liegen könne. Ich habe es wirklich versucht, bin aber allein an der Herausforderung, den Gesprächen und ihren Themen auch nur im Ansatz zu folgen, dermaßen grandios gescheitert, dass ich auch diese Möglichkeit potenzieller Traumabekämpfung noch vor Silvester für mich persönlich leider unter Stuss abhaken musste.
Schließlich und endlich habe ich versucht, mich mit der Vorstellung einer ganz normalen Midlife-Crisis zu beruhigen und entspannt darauf zu warten, dass das Unwohlsein von allein wieder vergeht, wenn erst die Wechseljahre überstanden sind. Leider behaupten die biologischen Fakten, dass diese schicksalhafte Zeit bei mir noch nicht mal begonnen hat. Gut, vielleicht kündigt sie sich so langsam an. Aber wie um Himmels willen soll das erst werden, wenn ich mittendrin stecke?!
Das Gute daran, in Rissen zu leben, ist, dass man im Auto so viel Zeit hat nachzudenken, während man auf der Elbchaussee im Stau steht. Und im Stau stehen, das tut man hier eigentlich immer, seit auf der Osdorfer Landstraße schwer gebaut wird. Bis zu zwei Stunden jeden Tag brauchten wir im Frühjahr 2017 auch außerhalb der Rushhour für die 18, 19 Kilometer bis zur »Parallelwelt Kulturbar« in Eimsbüttel, und das schon seit Wochen.
An diesem entscheidenden Tag ist es besonders schlimm. Schon seit einer Dreiviertelstunde unterwegs und noch nicht mal am Altonaer Rathaus vorbei. Der Mann schimpft; ich rolle mit den Augen und weiß nicht, wohin mit meinen Händen, die zum Nichtstun verdammt sind, aber so gern etwas bewegen wollen, während ihnen die Zeit durch die Finger rinnt und der Tag schon bald wieder vorbei ist, wenn das hier so langsam weitergeht.
Irgendetwas hupt; zu dumpf und lang für ein Auto. Es ist ein Schiff, das parallel zur Elbchaussee am Elbufer entlanggleitet, und ich stelle verwundert fest, dass ich ganz vergessen hatte, dass ich in Hamburg bin. In der schönsten Stadt der Welt. Und dass es hier Schiffe gibt. Aber ich habe keinen Blick mehr für die Containerriesen und Kreuzer, die man während der Fahrt zwischen Bäumen und Gebäuden hindurch erspähen kann, wenn der Verkehr ausreichend langsam ist und man genau genug hinschaut. Ich starre nur auf die Digitalanzeige an der Armatur des Wagens, höre auf NDR Info zum dritten Mal den gleichen Nachrichtenblock, seit wir in das Auto gestiegen sind, und denke daran, was ich in dieser Zeit schon alles hätte schaffen können.
Im nächsten Moment frage ich mich, wann ich eigentlich das letzte Mal zu Fuß unten am Elbufer entlanggegangen bin. Nur so, wie früher, mit etwas Zeit und ab und an einem Blick in den Himmel und ohne diesen verdammten Druck im Schädel, der dich ohne Pause weitertreibt und die schönste Stadt der Welt samt den größten Schiffen nicht mehr sehen lässt.
Der Mann bremst scharf und zieht den Wagen ruckartig nach links; ein Radfahrer ist plötzlich vom Gehsteig geschossen und kurz vor uns auf der Straße eingeschert, genau an der Stelle, wo sich die Fahrbahn von zwei Spuren auf eine reduziert. Fast kommt es zur Kollision mit einem anderen Auto, das sich just und eigentlich viel zu knapp kalkuliert vor uns von links nach rechts einfädeln will. Plötzlich quäken gleich mehrere Hupen gleichzeitig, weitere Wagen hinter uns bremsen abrupt, der Radfahrer rutscht noch schnell mit rotierenden Waden über die jetzt rot aufleuchtende Ampel und präsentiert dann, ohne sich umzudrehen, hinter seinem Rücken mit der linken Hand den Stinkefinger in unsere Richtung. Das Hupkonzert nimmt kein Ende, von allen Seiten bilde ich mir böse Blicke ein, wünsche mich irgendwo anders hin und mache mich auf dem Beifahrersitz so klein, wie es geht. Das geht nicht gut, weil ich ja nicht nur von oben nach unten, sondern auch von links nach rechts einiges an Platz beanspruche, aber gefühlt bin ich eigentlich verschwunden und noch dazu wünschte ich, es wäre dunkel und die Straße leer und der Lärm weniger laut.
Zu viel, denke ich, und ich denke es auch dann noch, als die Situation sich längst beruhigt hat. Eigentlich könnte ich wieder auftauchen aus der gefühlten Versenkung, aber ich will das gar nicht, denn mein Gefühl bleibt schlicht dabei: Alles zu viel. Zu laut. Zu unüberschaubar. Zu grell. Einfach zu viel, und ich fühle mich überfordert. Total. Von allem. Von nichts.
Ich weiß nicht einmal mehr, wohin ich auf der nächsten Kreuzung schauen soll. Nach links auf das majestätische, weiße Altonaer Rathaus? Nach vorn unten auf die Schmiererei an der Hauswand gegenüber? Nach vorn oben auf die Lichter der Ampel? Oder doch lieber wieder auf die Digitaluhr auf dem Armaturenbrett? Nach rechts zum Altonaer Balkon, auf dessen abschüssiger Grünfläche Mütter ihre Kinderwagen mit dem Fuß gegen das Gefälle sichern, mit dem Smartphone in der einen und dem To-go-Becher in der anderen Hand, während zwei abgerockte Gestalten einen mit vollgestopften Plastiktüten gefüllten Einkaufswagen, bei dem die oberste Tüte jede Sekunde herunterzurutschen droht, über den zum Grünbereich führenden Fußgängerüberweg schieben? Auf das riesige Werbeplakat vor uns, das sich mir ganz automatisch ins Blickfeld drängt, solange ich mich nicht bewusst für eine andere An- beziehungsweise Aussicht entscheide?
Schlagartig fühle ich mich wie eine hilflose Minifigur in einem überdimensionalen Wimmelbild, die zwar vorhanden ist, aber eigentlich gar nicht mitspielt. Auf einmal weiß ich auch nicht mehr, was ich überhaupt als Erstes tun soll, wenn ich in vermutlich frühestens einer weiteren Dreiviertelstunde in den Laden komme und dann nur noch eine knappe Stunde Zeit habe, um alles zu erledigen, bevor die dritten Künstler dieser Woche vor der Tür stehen und für ihre Show aufzubauen ist. Von acht Veranstaltungsportalen habe ich erst fünf mit den Veranstaltungen des übernächsten Monats bedient, morgen ist bei den anderen dreien Redaktionsschluss, der Programmflyer für den nächsten Monat ist noch nicht fertiggestellt, geschweige denn im Druck. Noch dazu frage ich mich plötzlich, warum ich überhaupt noch Programmflyer erstellen soll, wenn sie wegen der totalen Reizüberflutung sowieso keiner mehr liest, weil Buchstaben den Leuten mittlerweile nur noch Angst machen. Erst recht, wenn diese Buchstaben in größeren Gruppen daherkommen oder gar ohne Bild oder wenn sie nicht wenigstens neonfarben sind und blinken.
An diesem sonnigen Maitag im Jahr 2017 weiß ich es auf einmal, und die Erkenntnis trifft mich so hart und unerbittlich wie eine Gehwegplatte mit der Kante mitten auf den Scheitel: Ich muss hier weg. Mein Unwohlsein hat einen Namen. Es heißt »Großstadt«. Und ich muss hier raus.
So also wusste ich plötzlich, was zu tun war: 25 Jahre in der Stadt waren genug. Und ich würde den Citybungalow voller Annehmlichkeiten gegen ein Leben auf dem Land tauschen müssen, um Leib und Seele vor dem kompletten Durchdrehen zu bewahren. Punkt. Manchmal kann es so einfach sein, haha. Dann muss eine Frau eben tun, was eine Frau tun muss.
Und wenn es sich bei dieser Frau noch dazu um ein ursprünglich ostwestfälisches Landmädchen mit jenem unbezwingbaren Dickkopf handelt, für den die Ostwestfalen nun mal berühmt-berüchtigt sind, dann gibt es kein Zurück mehr. Und vor allem: keine Kompromisse.
Kennt hier überhaupt jemand Ostwestfalen? – Falls nein, ist das nicht schlimm und auch nicht weiter verwunderlich, denn die nächste Autobahn ist ziemlich weit weg, und viel zu sehen gibt es nicht. Nur Grün halt, aber das immerhin in besonders vielen Schattierungen. Das Ostwestfalen, in dem ich aufgewachsen bin, das ist jener Teil Nordrhein-Westfalens da ganz oben in diesem kleinen Zipfel, diesem fransigen Ausläufer auf der Landkarte, der so aussieht wie ein kleiner Hund.
Da ganz oben drin, in dem Hundeköpfchen, da bin ich groß geworden. Egal, in welche Richtung man fuhr (ob mit oder ohne Führerschein, das war damals nicht zwangsläufig entscheidend), man war spätestens nach sechs Kilometern in Niedersachsen. Es sei denn, man fuhr ganz geradeaus nach unten gen Süden, aber dafür gab es keinen Grund, und das alles ist eigentlich bis heute so. Veränderungen brauchen ihre Zeit in Ostwestfalen.
Ich behaupte deshalb, dass ich eigentlich niedersächsisch sozialisiert wurde und nicht westfälisch; ein Umstand, der mir schon bald immens weiterhelfen würde, aber das war mir zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar. Heute weiß ich, dass man mit dem in Ostwestfalen erworbenen Spezialwissen über Schützenfeste (der kleine Ort, in dem ich aufgewachsen bin, hat zehn davon!), über das Ausschenken eines anständigen Fanta-Korns (blind machen muss er!) und über die Bedeutung einer anständigen Mahlzeit für den weiteren Verlauf des Abends (ordentlich satt machen muss sie und Fleisch muss bei!) auch im Wendland weiterkommt.
Das Glücksgefühl, das einem ein Sternenhimmel bescheren kann, der diesen Namen wirklich verdient, ist hier wie dort übrigens ziemlich gleich. Und wenn wir eins hatten daheim in Ostwestfalen, dann war es Platz. Das erklärt vielleicht, warum ich mich bis heute ungeachtet jeglicher Konventionen oder vielmehr Konfektionsgrößen ungeniert ausbreite, und zwar in alle Richtungen. Noch ein Grund mehr, die enge Stadt zu verlassen.
Ostwestfälische Prominente gibt es relativ wenige, obwohl Jürgen von der Lippe – damals noch Hans-Jürgen Hubert Dohrenkamp – in Bad Salzuflen geboren wurde. Darauf kann man stolz sein als Ostwestfälin, auch wenn Bad Salzuflen bei mir persönlich leider ein Trauma verursacht hat. Als ich klein war, ist dort mal ein Motorradfahrer in jene Autotür hineingebrettert, hinter der ausgerechnet ich saß. Ich verarbeite das noch, bin aber trotzdem ein wirklich großer Jürgen-von-der-Lippe-Fan. Ja, so sind wir Ostwestfalen: stur und absolut unbeirrbar.
Und ebenjenes ostwestfälische Landmädchen kriegt man auch nach einem Vierteljahrhundert in einer aufregenden Metropole halt nicht raus aus den Synapsen. Im Gegenteil: Irgendwann beschließen diese, sich zurückzuentwickeln und penetrant auf all das zu verweisen, was man in Kindheit und Jugend so um sich rum hatte. Auf das Grün in allen Schattierungen, auf den Geruch frisch gemähten Rasens, just abgeernteter Getreidefelder und auf das Versteckspielen im hohen Mais. Auf stockdunkle Landstraßen, die einem gleichzeitig ein diffuses Gefühl von Angst und die Ahnung von Freiheit vermitteln. Auf die Beständigkeit einer überschaubaren, kleinen Welt, die trotz zeitweiliger Engegefühle doch Halt und Geborgenheit vermittelt und in der die größten Aufregungen sich immer um Leute drehen, die man tatsächlich alle persönlich kennt. Und auf die sagenumwobenen Zeltfeste mit sogenannten »Top 40«-Bands, gegen die eine Nacht auf der Reeperbahn bei genauerer Betrachtung ein Kindergeburtstag ist.
In meinem Fall begannen die Synapsen zusätzlich, mich rücksichtslos und ungehemmt mit jener plötzlichen, unerklärlichen und heftigen Sehnsucht zu beschießen, die bei dem ein oder anderen in der zweiten Lebenshälfte so auftaucht: der Sehnsucht nach einem Dasein ohne unendliche Möglichkeiten, die einen irgendwie nur noch lähmen.
Und damit gehen einem die Synapsen dann so lange auf die Nerven, bis man entweder dem totalen Wahnsinn anheimfällt. Oder aber wie ich klein beigibt und den Ortswechsel einläutet, und zwar flotti-karotti. Tschaui-Kakaoi, Hamburg! Unsere Wege werden sich trennen. Ja: Es war mir ernst, und es war mir dringend. Ich würde diesen Ortswechsel gegen alle Widrigkeiten durchsetzen.
Nun, in puncto Widrigkeiten seien hier allen voran der entsetzte Mann und die nicht minder überraschte Katze genannt. Letztere sah ebenso wenig einen Grund für einen Ortswechsel wie der Mann. Beide kannten nur die Stadt, waren mit dieser als Lebensraum nicht unzufrieden und konnten der Dringlichkeit meines Entschlusses nur beschränkt folgen. Oder vielmehr: Sie waren ob meiner hingebungsvollen Immobilienrecherchen und der damit zusammenhängenden etwaigen Zukunftsvisionen erschüttert bis beleidigt, ich hingegen geradezu euphorisch. Schließlich hatte ich es eilig. Am liebsten wollte ich schon bis zum Herbst auf dem Land und davon sein.
Meine Suchkriterien waren klar: Ein Kaff sollte es werden. Ein RICHTIGES Kaff. Nein, keine Kleinstadt. Am besten gleich gar nix, was eine Neubausiedlung hat, denn meiner Meinung nach gibt es nichts Deprimierenderes als »Würfelhusten«. Aber in Norddeutschland sollte es sein, und zwar nicht weiter von Hamburg entfernt als maximal 150 Kilometer.
Ach ja, ähm, und am besten eine Immobilie, die von Schnitt und Lage her geeignet wäre, um die Gastronomie und die Kleinkunstbühne aus Hamburg einfach mitzunehmen. Schließlich brauchte ich auch in der neuen Heimat neben dem Dasein als freiberufliche Künstlerin ein zweites Standbein, und außerdem steckt die Wirtin mindestens genauso tief in mir drin wie das ostwestfälische Landmädchen. Folglich sollte es eine Immobilie mit am besten mindestens einem größeren als Gaststube geeigneten Raum sein – und am allerbesten ohne Nachbarn, wegen Lärm und so. Oder zumindest so weit von den nächsten ebensolchen entfernt, dass man trotzdem ordentlich auf die Pauke hauen könnte, musikalisch und überhaupt. Schließlich besitze ich eine recht leistungsfähige Musikanlage, die ich genauso gern ausfahre wie in unserer kleinen Straße mit dem langen Namen der Nachbar seinen flunderplatten Porsche, in den ich noch nicht mal reinkäme, wenn man ordentlich nachdrücken würde.
Der Mann erklärte mich spätestens in jenem Moment für komplett verrückt, als ich ihm die Kriterien in Bezug auf die gesuchte Liegenschaft mithilfe einer eigens für ihn erstellten PowerPoint-Präsentation hochprofessionell zu erläutern versuchte, um ihn milde zu stimmen. Zum Eklat kam es trotzdem, denn er hatte für meine gastronomischen Pläne nur wenig Verständnis und reagierte auf den meinerseits behutsam, aber doch mit Nachdruck eingeführten Begriff »Dorfkneipe« leider überhaupt nicht so, wie es meiner Meinung nach als liebender Ehemann angebracht gewesen wäre.
Der Höhepunkt des Eklats war erreicht, als der Mann noch dazu gewahr wurde, dass ich hauptsächlich nach Kaufobjekten suchte und Mietimmobilien kaum in Betracht zog. Er schlug daraufhin vor, das Landleben doch vielleicht erst einmal in einem Mietobjekt auszutesten, um zunächst eine gewisse Sicherheit bezüglich der dauerhaften Eignung der neuen Lebensumstände zu erlangen und gegebenenfalls Maßnahmen der Richtungskorrektur einleiten zu können. Ich hingegen hielt das nicht für notwendig und zündete die »Sicherheitslunte« argumentativ lieber am anderen Ende an: Wirtschaftlichkeit und so. Außerdem wäre das Mieten ja ein Kompromiss, und wie ich bereits ausführlich erläutert habe, kommen diese für Ostwestfalen ganz grundsätzlich nicht infrage.
Man muss dazu vielleicht wissen, dass den Mann eine gewisse Weit- und Vorsicht auszeichnet, während diese in meinem Verhalten nur selten vorkommt, also so ungefähr einmal bis gar nicht pro Jahr. Zu allem Übel ist der Mann auch beruflich tagein, tagaus mit Immobilien und deren substanzieller Erhaltung beschäftigt, während ich ja nur die Dekoratöse bin und finde, dass alles toll aussehen kann. Selbst wenn es kurz vorm Zusammenfallen ist. Man muss das Auge dann nur ein bisschen mehr vom grundlegenden baulichen Zustand ablenken und falsche Fährten legen, was mir in der Regel gut gelingt, ja, sogar eine zehn Jahre andauernde Fernsehkarriere in diesem Bereich begünstigte.
In dieser Unterschiedlichkeit zwischen dem Mann und mir liegt per se schon ein gewisses Konfliktpotenzial, und das schlug in diesem Fall natürlich voll durch. Aber davon ließ ich mich nicht ins Bockshorn jagen. Und so durchforstete ich weiter die Immobilien- bis Ruinenangebote Norddeutschlands, während der Mann kurz davor war, die Männer mit den weißen Jacken zu rufen, und bereits nach einer geeigneten psychiatrischen Klinik suchte, in der man mir meine Pläne wahlweise mit Nahrungsentzug, Helene-Fischer-Dauerbeschallung oder auch den entsprechenden Medikamenten in angebrachter Dosierung schon austreiben würde.
Was soll ich sagen: Am Ende war ich schneller. Und immerhin habe ich mich an eine Bedingung gehalten. Denn der Mann, mittlerweile in einem Befindlichkeitsstadium irgendwo zwischen »komplett desillusioniert« und »final hoffnungslos«, trug mir schließlich auf, ihm wenigstens den folgenden Gefallen zu tun: »Frau«, sagte der Mann. »Frau. Such nichts aus, was um die hundert Jahre alt ist. Bitte. Die Dinger reißen alle grad die Hufe hoch.«
Na. Von zweihundert Jahren hat er nichts gesagt.
Im Onlinezeitalter wird Suchenden das Finden einer neuen Immobilie ja relativ leicht gemacht, und so dauerte es nicht lange, bis die ersten Objekte in meinem Optionsordner für die nächste Raketenstufe landeten. All diese Häuser befanden sich nördlich von Hamburg – natürlich suchte ich wie alle durch Alster, Elbe und Bill infiltrierten Stadtflüchtigen erst mal nach etwas in Wassernähe –, alle waren sie ehemalige Gasthöfe oder tatsächlich einstige Dorfkneipen. Und alle waren sie doch ziemlich schnell wieder raus: zu groß (ich wollte keinen Saal und auch keinen Pensionsbetrieb mit Gästezimmern), zu teuer (man muss sich manchmal wundern) oder selbst für eine Dekoratöse wie mich auf den zweiten Blick doch zu ruinös. Und es war schon fast Juli!
Die Begeisterung des Mannes für mein Vorhaben hatte leider zwischenzeitlich noch keine wahrnehmbare Steigerung erfahren. Dafür hatte mittlerweile sogar die Katze gemerkt, dass etwas im Busch war, das auch ihr Leben betreffen könnte, weshalb sie sich mit dem Mann solidarisierte und die beiden mir gegenüber immer wieder auffällig-unauffällig betonten, wie toll es doch im Bungalow voller Annehmlichkeiten sei. Der Mann durch Worte, tiefe Stoßseufzer und die fast schon penetrante Auflistung ebenjener Annehmlichkeiten in allen möglichen Lebenslagen; die Katze durch demonstrativ-aufdringliches Sich-mit-dem-»Wie schön das hier doch ist!«-Blick-Wälzen auf allen textilen Flächen, die der Bungalow zu bieten hatte. Plus: beide gemeinsam durch vorwurfsvolle Gesichtsausdrücke und anschließendes plakatives Genöle auf der ganzen Klaviatur der möglichen menschlichen und tierischen Unmutsbekundungen, sofern ich nicht beipflichtete und anschließend verkündete, ich hätte es mir anders überlegt und wolle jetzt doch lieber dauerhaft im Bungalow der Annehmlichkeiten verbleiben (was ich natürlich nicht tat).
Nein, ich gab nicht auf. Ich dachte gar nicht daran! Ich blieb dran. Ich suchte und suchte und suchte und verwarf und zog erneut in Betracht und verwarf wieder, bis mir der Monitor fast aus den Augen rausquoll.
Und so war es nur eine Frage der Zeit, bis ich im Radius »Hamburg + 150 km« schließlich auf das Wendland stieß – einen verschrobenen Landstrich in Niedersachsens wildem Osten, der dem Ostwestfalen meiner Jugend nicht unähnlich ist und den ich durch meine knapp sechs Jahre lange Studienzeit im pittoresken Lüneburg bereits flüchtig kennengelernt hatte: Für uns Studenten war das Wendland, das irgendwo hinter Lüneburg begann, beliebtes Reiseziel für kleine Fluchten gewesen oder auch für große Vorhaben, zum Beispiel das Verhindern des Atommüllendlagers Gorleben.
Hm. Kennen Sie dieses Gefühl, wenn man bei der Suche oder beim Nachdenken auf etwas stößt und sich dann innerlich an die Stirn schlägt und denkt: »DAS ist es! Warum zum Teufel bin ich da nicht gleich draufgekommen?!«
Tja. So war das jedenfalls in diesem Fall. Genau so. Und je länger ich mich nach dem ersten Schock der Erkenntnis mit dem Wendland beschäftigte und las und googelte, desto rettungsloser verliebte ich mich schon jetzt, aus der Distanz, in diese eigensinnige Region, diesen kleinen Ausläufer Niedersachsens, der im Uhrzeigersinn erst an Mecklenburg-Vorpommern, dann an Brandenburg und schließlich an Sachsen-Anhalt grenzt.
Lüchow-Dannenberg als Kern des Wendlands und östlichster Landkreis Niedersachsens ähnelt ja nicht nur aufgrund seiner Lage meinem Geburtsörtchen Rahden, dem nördlichsten Zipfel Nordrhein-Westfalens. Beide sind sie so eine Art – wie soll ich sagen – ja, so eine Art mehr oder weniger überflüssiger Wurmfortsatz, gern übersehen, manchmal sogar vergessen, auf den ersten Blick provinziell und unaufregend, mit viel Wald und Feld, ohne Industrie und ohne Autobahn, samt allen Problemen, die damit einhergehen – und auf den zweiten Blick so liebenswert, dass einem schlicht das Herz aufgeht, wenn man sich die Mühe des Kennenlernens macht und schließlich einfach nur ehrlich dankbar dafür ist, dass man dort sein darf.
»Strukturschwach« sei er, dieser Landstrich, liest man heute, wenn man den Aufwand der Recherche betreibt; ehemaliges »Zonenrandgebiet« (ein bemerkenswertes Wortkonstrukt!), merkwürdig bis kauzig, bevölkert von Revoluzzern, Künstlern, wild gewordenen Bauern und alternativ lebenden Stadtflüchtlingen; voller Improvisation, Widersprüche und Kuriositäten. Und genau hier – ja, genau hier gehörte ich künftig hin. Eine Frau spürt so etwas. Erschüttert fragte ich mich, wie es so lange hatte dauern können, diesen Schatz zu heben. Noch erschütterter war ich, als ich feststellte, auf welch für Hamburger Verhältnisse vernünftigem Niveau sich hier die Immobilienpreise bewegten. Das machte mich erst mal misstrauisch, und ich erzählte dem Mann lieber noch nichts von meiner schicksalhaften Erhellung. Aber ich intensivierte die Recherche und suchte weiter Objekte. Im Wendland. Und fand. Gleich mehrere.
Das teuerste der Angebote – es lag tatsächlich etwas über Budget, was für wendländische Verhältnisse bedeutete, dass es ein Palast sein musste!, aber vielleicht wäre das sogar noch irgendwie zu verschmerzen gewesen – schien für mein Vorhaben ideal; ich nahm Kontakt zum Makler auf. Dieser hatte aber leider in der Beschreibung vergessen zu erwähnen, dass die jetzige Eigentümerin ein zweites Haus auf dem Grundstück bewohnte und dort auch zu bleiben gedachte (»Aber davon kriegen Sie gar nichts mit. Die ist ganz ruhig«), was mir nicht nur für mein Vorhaben der gastronomischen und kulturellen Nutzung des Gebäudes, sondern auch für die etwaige verbleibende Restprivatsphäre etwas kontraproduktiv erschien. Als ich dem Makler mitteilte, dass das Anwesen unter diesen Umständen dann doch nicht in Betracht käme, und schon gar nicht zu dem Preis, war er beleidigt, und ich hatte zum ersten Mal engere Bekanntschaft mit der wendländischen Logik gemacht.
Das zweite Objekt, das interessant schien, sollte durch eine Erbengemeinschaft in Lüneburg verkauft werden. Der Kontakt war freundlich und zielführend; ein ehemaliger kleiner Laden samt zugehörigem Wohnhaus direkt im Dorf neben einer malerischen Minikirche. Und nach einer Besichtigung von außen und der Begutachtung des per Mail übersandten Grundrisses doch nicht das Richtige: zu aufwendig im Umbau, zu verwinkelt, zu viele Nachbarn zu dicht dran.
Und dann – war da Haus Nummer drei. Ein Fachwerkhaus, Baujahr 1838, in dem die derzeitige Eigentümerin bis vor einiger Zeit ein kleines Café betrieben hatte. Sicherlich nicht ohne Macken, der alte Kasten, aber – zauberhaft. Ach, einfach zauberhaft! So schlimm zauberhaft, dass ich am liebsten sofort eingezogen wäre.
Ich habe eine Schwäche für Fachwerkhäuser und das alte bäuerliche Leben. Schließlich steht in meinem Geburtsort der berühmte Museumshof, in dem man ebenjenes bäuerliche Leben anschaulich nachvollziehen kann. Als Kind bin ich ziemlich oft dort gewesen und habe mir lebhaft vorgestellt, wie es wohl war, das Leben in diesen ächzenden Häusern mit ihrer offenen Feuerstelle und den darüber hängenden Räucherhaken in der großen Deele, die das Zentrum war für die täglich zu verrichtende harte Arbeit all jener, die hier lebten, vom Gesinde bis zu den Herrschaften.
Die Ernte wurde durch die »Grot Dör« – das große Eingangstor, durch das der von Pferden gezogene Wagen hindurchpasste – direkt in der Deele abgeladen. Und dann wurde gedroschen, gekocht und das Hofleben gelebt; mit den Kühen und Schweinen quasi als Familienmitglieder in ihren offenen Stallverschlägen links und rechts der Deele, die, im Stroh raschelnd, muhend und grunzend, allein durch ihre Anwesenheit beim Heizen halfen. Auch wenn es dadurch vielleicht etwas komisch roch.
Außerdem bin ich in einem Fachwerkhaus aufgewachsen, und zwar genau in so einem rotbraunen wie jenem, das ich just gefunden hatte. Wenn auch mein Kindheitszuhause ein »unechtes« Fachwerkhaus war; denn was meine Eltern damals bauten, als meine Schwester und ich irgendwas zwischen sieben und neun Jahren zählten, war ein Fertighaus. Ich weiß noch, wie peinlich es mir war, als wir mit der ganzen Grundschulklasse einen Ausflug auf die Baustelle machten, um zu besichtigen, wie die Wände mithilfe eines riesigen Kranes angekarrt und aufgebaut wurden; aber selbst dieses traumatische Erlebnis konnte meine Liebe zum Fachwerkhaus am Ende doch nicht beeinträchtigen.
Und hier – hier hatten wir ein echtes Prachtexemplar, wie die Fotos im Internet zeigten. Krumm und schief war es (und das ist es noch!). Gebeutelt durch Winde und Wetterkapriolen und dadurch, dass man statt des ursprünglichen Reetbelages irgendwann schwere Pfannen auf den unter dem unerwarteten Gewicht aufstöhnenden Dachstuhl geworfen hatte, welcher sich daraufhin nur zu helfen wusste, indem er sich s-förmig verzog und sämtlichen sich bisher noch tapfer gerade machenden rechten Winkeln den Garaus machte.
Und trotzdem – oder vielleicht auch gerade deshalb? – erscheint dieser alte Kasten unerschütterlich; für die Ewigkeit gemacht und aller Zeit trotzend; voller Verheißung von Geborgenheit, mit dieser besonderen, behaglichen Gemütlichkeit, die kein Bungalow jemals wird erreichen können, egal wie liebevoll man ihn vollstopft oder ausstaffiert. Voller Geschichte. Voller Geschichten von Geborenwerden, Sterben und dem Leben dazwischen.
Na ja, und voller Spinnweben, aber das ist nun mal so bei einem Fachwerkhaus, das löchrig ist wie ein Schweizer Käse; da darf man nicht zimperlich sein.
Das schönste der Fotos im Angebot des Immobilienportals zu Jabel Nr. 20 war allerdings das von einem Schaf, das mitten in der Deele stand und keck in die Kamera griente. Das Schaf hieß Lucie. Und ich verliebte mich innerhalb weniger Tage zum zweiten Mal: in diesen alten Kasten und in die Vorstellung, ihn zu einem neuen Zuhause zu machen.
Als mir außerdem klar wurde, dass das im Wendländischen weit verbreitete niedersächsische Hallenhaus (im Folgenden: Antikhütte) hervorragend geeignet ist, um es neben dem Gebrauch als privatem Wohnraum einer teilgewerblichen Nutzung (= Kneipe!) zuzuführen und in diesem Fall ein Teil der hierfür erforderlichen behördlichen und bürokratischen Vorarbeit durch die bereits bestehende Nutzung als Café ja sogar geleistet worden war, gab es für mich kein Halten mehr: Ich vereinbarte einen Besichtigungstermin.
Bis zu ebenjenem wurde alles sogar noch besser. Zum Beispiel dank der örtlichen Tageszeitung. In der Elbe-Jeetzel-Zeitung (im wendländischen Volksmund »Wasser-Prawda« genannt, aber das wusste ich damals ebenfalls noch nicht) gibt es eine ziemlich liebevoll gemachte Serie, in der die Redaktion immer mal wieder eines dieser unzähligen wundersamen Mini-Wendlanddörfchen mit ihren schrulligen Namen vorstellt. So auch das Dorf Jabel mit seinen bummelig sechzig Einwohnern (aber nur, wenn man die Ferienhausbesitzer mitzählt), in dem die Antikhütte steht. Die Überschrift zum Artikel, der im August 2016