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Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, März 2019

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ISBN Printausgabe 978-3-498-09334-1 (1. Auflage 2019)

ISBN E-Book 978-3-644-00257-9

www.rowohlt.de

 

Hinweis: Seitenverweise beziehen sich auf die Printausgabe.

ISBN 978-3-644-00257-9

(Edgar Allan Poe, Morella)

So weit ich auch zurückdenke: Mein Vater war immer schon alt und meine Mutter immer schon tot. Als man sie in ihr Grab hinabsenkte, hatte ich gerade mein zweites Lebensjahr erreicht, und natürlich kann ich mich weder an meinen Geburtstag noch an ihre Totenfeier erinnern, aber auf den Fotos, die ich von ihr habe, sieht sie wunderschön aus: eine fast unwirkliche Erscheinung mit hohen Wangenknochen, hellblonden Haaren, wissendem Blick, gerader Haltung – die Würde einer Königin, die Entrücktheit eines Feenwesens. Es beruhigt und verstört mich, dass ich einmal aus dem Bauch dieser Frau geborgen worden bin, auch deshalb, weil ich ihr tatsächlich ähnlich sehe, selbst heute noch, als erwachsener Mann. Vermutlich ist es Einbildung, aber bisweilen meine ich mich an ihren Geruch zu erinnern, an ihr Gesicht über

Zu meinem Vater drängt sich mir als erster dieser Satz auf: Ein froher Mensch ist er nie gewesen. Auf Fotos, die ihn als 35-jährigen Bräutigam zeigen, wirkt er wie ein ernster, ausgemergelter Mann von Mitte vierzig. Früh zogen sich links und rechts seiner Nase steile Falten herab. Heute glaube ich, mein Vater hat ein Laster mit sich herumgetragen, es aber nicht ins Leben treten lassen: Der Kampf gegen sich selbst zehrte ihn aus, vertiefte die Falten, raubte den Lippen Fleisch und Farbe.

Schon als Kindergartenkind wusste ich, dass ich ihn überforderte. Mein Vater ertrug starke Gefühle nicht, ganz gleich, ob sie eine dunkle oder lichte Färbung hatten. Folglich versuchte ich mich ausschließlich im mittleren Spektrum zu präsentieren. Oft gab ich mich gefasster, als ich mich fühlte, und irgendwann wurde mir klar, dass es mein Vater nicht anders hielt. Manchmal, wenn ich nachts zur Toilette ging, hörte ich ihn hinter der verschlossenen Tür seines Arbeitszimmers weinen. Ich lauschte lange mit pochendem Herzen und berührte mit meiner Hand das Holz der Tür.

Am liebsten hätte ich dem Kindergarten nach diesem ersten Tag für immer den Rücken gekehrt, aber mein Vater ließ das nicht zu. Bliebe ich dem Kindergarten fern, würde ich nur noch weicher werden. Genau wie die verregneten Urlaube an der Nordsee sollte mich der Kindergarten abhärten. Fragte ich meinen Vater, was gut daran sei, abgehärtet zu sein, sagte er, die Welt sei eben, wie sie sei, wer darin leben wolle, müsse ihr gewachsen sein.

Trotz meiner Erschütterbarkeit war ich wohl ein glückliches Kind. Ich konnte mich auf mein Kindermädchen Anja verlassen, ich konnte mich auf meinen Vater verlassen, mehr verlangte ich nicht. Ich erlebte mein Leben als stimmig, nahm mich selbst, wie ich mich vorfand, und es gab nichts Grundlegendes zu hinterfragen. Ich liebte Anja, auch wenn ich das nicht so gesagt hätte. Ich war auf sie angewiesen, fühlte mich aber nicht im Geringsten abhängig von ihr. Ich fand sie schön, ohne sagen zu können, warum. Mein Blick zerfiel nicht in gierige Splitter, hob keine Details hervor und saugte sich nicht an Besonderheiten fest. Aber – und warum

Als ich eingeschult wurde, konnte ich bereits lesen und schreiben. Mein Vater hatte es mir beigebracht; wie mir schien, ohne dass er oder ich es darauf angelegt hätten, es hatte sich einfach so ergeben, und da mir auch das Rechnen nicht schwerfiel, übersprang ich bald eine Klasse und verwandelte mich von einem Tag auf den anderen zum Kleinsten unter meinen Mitschülern. Meine Unfähigkeit zu jeder Art von Grausamkeit, Härte, Spott, Kampflust erschien nun noch mehr wie ein Makel. Ich regte mich bei den geringsten Ungerechtigkeiten furchtbar auf – noch stärker, wenn sie nicht mich, sondern andere zum Opfer machten. Häufig bekam ich Kopfschmerzen, weil mir die anderen zu nah, zu laut, zu stark riechend oder zu hässlich erschienen. Ich musste den Unterricht oft frühzeitig verlassen oder blieb gleich ganz zu Hause. Mich verfolgten Geschichten, die die älteren Jungen erzählten, nicht allein wegen ihres Inhalts (zum Beispiel wie ein Mädchen aus der Gegend versucht habe, sich umzubringen, aber zu doof dazu gewesen sei und sich beim Sprung von einem Turm nur Arm und Bein gebrochen habe), sondern mehr noch wegen der Häme, mit der sie erzählt wurden. Mich irritierte die gehässige Weise, in der über weibliche und männliche Geschlechtsteile gesprochen wurde, als seien sie ein Grund, sich zu schämen. Auch Zuneigung zwischen Jungen und Mädchen schien zunehmend etwas zu sein, wofür man sich schämen musste.

Ich weinte viel und wurde deswegen ausgelacht. Einmal brüllte ein Mann auf dem Schulweg seinen Hund an und schlug ihn dann mit der Leine. Ich stand wie erstarrt, dann kamen mir die Tränen: vor Wut und Mitgefühl und Ohnmacht. Drei Jungen, die mich beobachtet hatten, äfften mich nach. Einer fragte, ob sie meine Mutti rufen sollten. Ein anderer sagte, das sei doch nur ein dummer Hund. Ich verstand sie nicht, sie verstanden mich nicht. Sie sagten auf dem Pausenhof: «Deine Mutter ist tot, deine Mutter ist tot.»

Nachts lag ich wach und fragte mich, was mit mir nicht stimmte. Ich hatte mich mit mir selbst entzweit. Nun empfand ich den Gedanken, nicht richtig zu sein, als bedrückend, konnte ihn aber weitaus leichter ertragen als die Vorstellung, in einer falschen Welt zu leben, die von lauten, grausamen Halbaffen beherrscht wurde. Mir dämmerte, dass es auf eine Entscheidung hinauslief: die Welt und ihre Bewohner zu akzeptieren, zu lernen, mich anzupassen und abzuhärten,

Mein Elternteilhaus stand in einem Vorort von Köln, in einer Straße am Rande des Forstbotanischen Gartens. Hier sorgte seit meinem fünften Lebensjahr während des Tages Anja für mich. Sie hatte sich meinem Vater und mir als kaugummikauender, redseliger Teenager vorgestellt, der nach der mittleren Reife keine beruflichen Ambitionen entwickelt hatte. Ich mochte sie sofort, und mein Vater ließ mir meinen Willen. Anja kam mir damals groß und erwachsen vor mit ihren schwarz lackierten Fingernägeln und der schwarzen, hochtoupierten Frisur. Wir bauten Höhlen aus Stühlen und Bettdecken, trommelten auf Töpfen und leeren bis halbvollen Waschpulverkartons. Anja brachte mir auch bei, welche Kräuter und Pilze man essen kann und woran man die giftigen erkennt. Einmal verdarb ich mir beim Verzehr solcher Wald-und-Wiesen-Kost den Magen, und Anja versorgte mich so angenehm mit Cola und Salzstangen, dass ich bald darauf sagte, ich würde gerne mal wieder einen «falschen Pilz» essen. In der Folge dieses Erlebnisses wurde ich tatsächlich häufiger krank, um zu Hause bleiben und von Anja versorgt werden zu können.

Manchmal, wenn es mit ihnen besonders gut oder besonders schlecht lief, erzählte mir Anja von ihren «Typen». Redete sie sich in einen Rausch, und das konnte schnell geschehen, dann wollte sie zwischendurch rauchen. Dazu musste sie auf Anweisung meines Vaters auf die Terrasse gehen, obwohl der Hausherr selbst in allen Räumen eine Pfeife an der anderen ansteckte, was ihm zufolge etwas ganz

Wir tanzten im Wohnzimmer zu Radiomusik, das mochte ich besonders. Dabei ging ich aus mir heraus. Und das war etwas, das ich laut der Direktorin unserer Grundschule lernen sollte: aus mir herauszugehen. Anja brachte auch Musikkassetten mit, von ihr zusammengestellte «Mixtapes», die «fetzten». Einmal sagte sie zu meinem Vater, ich sei ein Super-Tänzer. Mein Vater erwiderte verwirrenderweise, Anja könne ruhig ein bisschen «höhere Maßstäbe» anlegen, zum Beispiel beim Kochen. Dabei fand ich ihr Essen ausgezeichnet. Es gab Kartoffelbrei und Rahmspinat, Spaghetti Napoli, Maultaschen mit Gemüsefüllung und Pizza Tonno. Kam mein Vater schon zum Mittagessen nach Hause, tischte Anja verlässlich Fleisch auf, etwas, das ich nicht essen wollte, seit ich wusste, dass Tiere dafür gezüchtet, eingesperrt und getötet wurden. Bei Fischen sah ich es anders, und den Zusammenhang zwischen Milch und getöteten Kälbern verstand ich damals noch nicht. Anja und mein Vater aßen Fleisch. Aber während es Anja völlig in Ordnung fand, dass

«Ein Junge, der keine Würstchen mag», sagte er und sah Anja an, aber sie lächelte nur und sagte: «Ist auch ein Junge.»

Denke ich an meinen Vater, sehe ich ihn fast immer in Dunkelheit oder Dämmerung vor mir. Als Gymnasialdirektor kam er nicht selten schon tagsüber nach Hause, verschwand dann aber in der Regel gleich in seinem Zimmer. Mir war das recht, denn so konnte ich weiter mit Anja spielen, was meinen Vater nicht störte, obwohl er dafür vermutlich extra bezahlen musste. Zum Abendessen oder einem sogenannten Fünf-Uhr-Tee ließ er sich dann blicken und zeigte sich nicht unfreundlich. War Anja schließlich gegangen, veränderte sich die Atmosphäre des Hauses. Es wurde stiller, die Möbel erschienen dichter, ich wurde langsamer und schwerer.

Ich erzählte meinem Vater nie, wie es mir unter den Gröberen der Schulkinder erging. Ich verschwieg auch die Albträume, die grässliche Angst, die ich nachts hatte. Bei dieser Verschwiegenheit half mir, dass ich die Schule vergaß, wenn ich mich zu Hause aufhielt, und die Angst der Nächte nicht mehr greifen konnte, wenn das Licht des Tages schien. Aber obwohl ich meinem Vater das Abbild eines halbwegs normalen Jungen präsentierte, ahnte er meine Probleme und versuchte, mir auf seine stille Weise zu helfen. So sagte er einmal, als ich mit gequälter Miene einer immer wieder gegen die Glasscheibe stoßenden Fliege zusah: «Das Leben ist eine Komödie für den Denkenden und eine Tragödie für die, welche fühlen.» Ich wusste nicht recht, worin der Unterschied zwischen Denken und Fühlen bestehen sollte – führte

Ich konnte meinem Vater jede Frage stellen, immer hatte er Geduld mit mir, ich musste mich nie dumm fühlen. Wenn wir beide etwas nicht wussten, es aber wissen wollten, suchte er in Büchern nach einer Antwort oder rief jemanden an. Die Leidenschaft meines Vaters für Wissen erlebte ich nicht als hoch aufleuchtendes, schnell in sich zusammensackendes Feuer, sondern als konstant glühende Flamme. Er hatte Zeit. Er musste niemandem etwas beweisen.

Aber es wurde nicht besser mit mir. Ich ging bereits aufs Gymnasium und litt mehr denn je an Albträumen und Eindrücken, die mich verfolgten. Realistische Darstellungen von Krieg, Folter und der Erniedrigung von Frauen suchten mich ebenso heim wie beispielsweise das schlecht

Dann, von einem Tag auf den anderen, verließ mich Anja, laut meinem Vater, weil ich zu alt und sie außerdem schwanger geworden war. Sie verabschiedete sich nicht von mir, sondern kam einfach nicht mehr. Ich weinte wochenlang. Später sah ich sie einmal mit einem «Typen» und einem Kinderwagen auf der Straße. Sie wuschelte mir durch die Haare, und es gefiel mir nicht.

Mein Vater veränderte sich in diesen Tagen. Manchmal wurde er seltsam redselig, auf eine überschäumende, unpassende Weise. Etwas stimmte dann nicht mit seinen Augen und seiner Stimme. Er redete von «neuen Konzepten», die er an seiner Schule umzusetzen gedenke, einem «anderen Lernen», einer «fundamentalen Veränderung des Bewusstseins». In manchen Nächten streifte er im Haus umher und kam nicht zur Ruhe. Er trank Rotwein aus Wassergläsern und ließ sie im Haus herumstehen. Ohne Anja fehlte es uns an Ordnung und Struktur.

Es war in diesen Tagen, als mein Vater mit mir während einer unserer gemeinsamen Lektüren an einem Frühlingsabend ein Gemälde aus einem Bildband betrachtete, auf dem nackte Frauen aus einem Teich auftauchen und einen Mann anstarren, der sich zu ihnen hinabbeugt. Mein Vater

«Aus dem Wasser ist sie gekommen, ins Wasser ist sie wieder gegangen», sagte er und lächelte. «Sie hat es mir vor unserer ersten Nacht gesagt. Und dann noch einmal in der Nacht vor der Hochzeit: Ich bin kein Mensch. Das sieht nur so aus. Ich habe keine Seele.»

Ich zeigte auf das Bild und bat meinen Vater, doch lieber etwas über den Mann darauf zu sagen, aber er hörte mich nicht und redete weiter.

«In Wirklichkeit war sie eine Nixe. Verstehst du, was das bedeutet?», sagte er. Ich schüttelte den Kopf. Ein schwarzes Haar ragte aus dem rechten Nasenloch meines Vaters, als taste ein Krebsfühler aus einer Muschel.

«Ein Teil von dir ist nicht menschlich.» Er lachte und wiegte den eckigen Kopf. «Du hast Nixenblut in dir. Du bist ihr manchmal so unheimlich ähnlich. Das hat Vor- und Nachteile, mein Junge. Du wirst sehen.» Während er das sagte, sah er mich unverwandt an, so wie er es sonst nie tat, und seine Pupillen schimmerten schwarz und feucht und so groß, dass sie seine Regenbogenhäute fast zur Gänze füllten.

Nass von Schweiß wachte ich auf und spürte noch den Druck auf der Brust, in der das Herz so fest schlug, dass ich Angst bekam, es könne kaputtgehen. Ich spürte den Fischschwanz auf der Haut. Ich fürchtete mich nicht nur vor ihm und dem Meer, sondern auch vor mir selbst. Etwas stimmte mit mir nicht. Das konnte ich nicht mit mir selbst ausmachen. Also wagte ich mich aus meinem Bett, nahm Decke und Kissen und ging zum Schlafzimmer meines Vaters. Lange blieb ich vor der Tür stehen, weil ich mich schämte und Zurückweisung fürchtete. Aber ich konnte nicht zurück in mein Zimmer. Ich konnte diese Nacht nicht alleine ertragen. Ich legte mein Ohr an die Tür. Ich wartete darauf, dass mir jemand die Entscheidung abnahm. Als mir kalt wurde, klopfte ich und hörte sofort ein Räuspern, dann ein belegtes «Ja?». Ich öffnete die Tür und sah im Schein einer Nachttischlampe das Doppelbett. Mein Vater saß darin wie ein Schiffbrüchiger auf einem Floß. Während er mich ansah, wurde mir bewusst, dass er eine Pfeife in der Hand hielt, also noch nicht geschlafen hatte. Er nickte mir zu, brillenlos und fremd, und ich richtete mich ohne

Ich hätte mich meinem Vater nicht aufdrängen dürfen. Ich übernachtete nie wieder in seinem Zimmer. Seine Unnahbarkeit war ganz plötzlich, wenn auch nur für kurze Zeit, von ihm abgefallen und dauerhaft auf mich übergegangen. Kurz nach dieser Übernachtung und lange bevor ich in die Familie der Wielands aufgenommen wurde, zeigte sich meine Fähigkeit, mir selbst gegenüber so unberührbar zu sein, dass ich mich wie betäubt fühlte, ein Zustand, der mir ungeheure Möglichkeiten eröffnete. Ich rollte keineswegs als ungeprägte Rohmünze in die Freie Schule Schwanhagen, sondern als jugendliche Verkörperung eines Charakters, der – ich weiß, dass viele das anders sehen – bereits in der Zeugung in mir angelegt und im Laufe der Jahre lediglich deutlicher wurde, vergleichbar mit einem Bild auf dem Grund eines Sees, das man immer genauer erkennt, je länger man durch das Wasser blickt.

Im gleichen Frühling – ich war mittlerweile dreizehn

Von meiner Faszination für Poe erzählte ich nur einem anderen Menschen. Johanna ging in meine Klasse. Sie trug eine Zahnspange, und fettige Haare hingen ihr ins verpickelte Gesicht. Sie galt als uncool, wer sich mit ihr abgab, galt ebenfalls sofort als uncool. Nichts an ihr stimmte. Sie sagte wenig, ließ die Schultern hängen, trug die falsche Kleidung und wirkte eigentlich immer verletzt. Ich mochte sie.

Der Unterricht fiel mir entweder ermüdend leicht, oder ich konnte ihm nicht folgen und verlor den Anschluss. Letzteres betraf vor allem das Fach Chemie, aber auch Physik, Mathematik und Biologie. Es kam mir vor, als solle ich genötigt werden, ein Phantasiesystem aus willkürlichen Bezeichnungen und Zahlen zu erlernen, das mir keinerlei Vergnügen oder Nutzen bescherte. Mir war es gleichgültig, wie viele Protonen sich im Kern des Wasserstoffatoms befanden. Genauso gut hätte man mir auftragen können, ich solle die Namen sämtlicher Handballtorwarte der tschechischen Regionalliga von 1950 an auswendig lernen und auf Wunsch rückwärts aufsagen. Natürlich spiegelte sich mein Desinteresse bald in meinen Noten wider. Die Lehrer reagierten verständnislos auf mein Schweigen und meine wachsende Lustlosigkeit. Sie hielten Johanna und mich für hoffnungslose Fälle.

Johanna war Einzelkind wie ich; sie verriet mir, dass ihr Vater und ihre Mutter täglich Alkohol tranken und danach stritten. Sie habe ihre Mutter immer wieder gebeten, das Trinken zu lassen, und ihre Mutter habe es ihr versprochen, sich dann aber nicht daran gehalten. Manchmal, sagte Johanna, glaube sie, sie würde verrückt. Sie sagte es beiläufig und so, als hätte es nichts mit ihr zu tun, aber ich war erschüttert. Ich versuchte sie zu ermuntern, bei anderen Erwachsenen Hilfe zu suchen, doch sie sagte, das hätte sie

Einmal machten sich zwei Jungen kurz vor der Schulstunde in einer Regenpause im Klassenzimmer über Johanna lustig. Sie sei flach wie ein Brett, und ihre Eltern seien asozial. Mir falle das wohl nur nicht auf, weil ich so ein Homo sei. Der eine Junge machte Johannas Mutter nach, wie sie lallend mit seiner Mutter gesprochen habe. Dafür könne Johanna doch nichts, sagte ich. Meine Stimme zitterte. Der Junge sah mich grinsend an: «Du bist so ein Schwächling. Oder warum hältst du sonst zu dem Müllmädchen?»

Ich fühlte mich sonderbar ruhig, als ich den Zirkel nahm und mit der Spitze in das Gesicht des Jungen stach. Anschließend gab es wegen mir eine Lehrerkonferenz. Es hieß, ich hätte dem Jungen ein Auge ausstechen können. Ich musste mich bei ihm entschuldigen, auch wenn er das gar nicht wollte. Außerdem musste ich mit einer Psychologin reden, die mich nicht mochte. Man überlegte, ob ich nicht in einer Sonderschule besser aufgehoben wäre. Mein Vater schlug vor, dass ich besser auf eine alternative Schule wechseln sollte. Tatsächlich hatte er schon eine ganz bestimmte «Lehranstalt» im Sinn: die Freie Schule Schwanhagen. Dort gebe es keine Zensuren, sondern ein «Lernen vom Kinde aus», also einen «ressourcenorientierten Ansatz», dem zufolge ich nicht als Mängelwesen zugerichtet, sondern als Individuum mit einzigartigen Fähigkeiten gefördert werden solle. Die blassen Worte und die blutleere Begeisterung meines Vaters erzeugten bei mir blitzartig Müdigkeit.

Wie sich bald zeigte, stammte die Idee, mich auf diese freiste aller Freien Schulen zu schicken, von der neuen Frau (Konstanze Schallmeyer: blonde Haare, schwarzer Kajal,

«Für einen intelligenten jungen Mann wie dich ist das sicher ein ausgesprochen gedeihliches Umfeld», sagte sie zu mir. «Gedeihlich» – mit solchen Ausdrücken konnte man mich in diesem Lebensabschnitt tatsächlich für sich und seine Pläne einnehmen. Ich fühlte mich geschmeichelt und zugleich verunsichert. Zu meiner Verunsicherung trug bei, dass es sich bei Frau Schallmeyer eindeutig um ein sexuelles Wesen handelte. Als ich an diesem Abend einmal aufstand, um auf die Toilette zu gehen, sah ich ihre ausgiebig beringte Hand auf dem cordumhüllten Oberschenkel meines Vaters liegen. Schlimmer als diese besitzergreifende Hand fand ich die seit Wochen stattfindende Verwandlung meines Vaters: Er zeigte mittlerweile ebenfalls verstörende Anflüge von Sinnlichkeit, lächelte manchmal völlig untypisch, um nicht zu sagen: dämlich, und ließ sich tatsächlich von Madame Schallmeyer zu Mundküssen vor aller Augen hinreißen. Obendrein sprach er in ihrer Gegenwart mit einer weicheren, höheren Stimme. All das verstärkte die Abneigung, die ich ihm gegenüber zunehmend empfand.

«Das scheint mir sehr weit weg», sagte ich.

«Das hat Julia am Anfang auch gesagt», erwiderte Frau Schallmeyer. «Mittlerweile hat sie so viele Freunde gefunden, dass sie es fast schade findet, wenn Ferien sind und sie nach Hause fährt.»

«Das klingt, als ob sie dort eine zweite Heimat gefunden hätte», assistierte mein Vater weit unter seinem Niveau.

«Aha», sagte ich. Frau Schallmeyer lächelte mich an und spießte dann ein Stück Kalbfleisch auf die Zinken ihrer Gabel.

«Sie wohnen dort in Familien», sagte sie. «Immer sechs bis elf Schüler und zwei Pädagogen.»

«Ich finde, das klingt interessant», sagte mein Vater.

«Was findest du daran interessant?», fragte ich.

«So ein Umfeld bietet doch ganz andere und vielfältigere Einflüsse als ein fast leeres Haus mit einem einzigen Lehrervater.»

Ich sagte nichts und wühlte mit der Gabel in meinen Spaghetti Vongole, einem Gericht, das ich aufgrund seines exotisch klingenden Namens ausgewählt hatte.

«Tilman», sagte mein Vater fast feierlich, «du bist mittlerweile zu alt, als dass ich dir noch geben könnte, was du brauchst.»

Ich wollte fragen, was genau ich denn brauchte, wusste aber schon die Antwort: ganz andere und vielfältigere Einflüsse.

«Ich habe die Gründer der Schule kennengelernt», sagte Frau Schallmeyer. «Beeindruckende Persönlichkeiten.»

«Sie sind wirklich frei und lassen anderen ihre Freiheit. Ihr Motto ist: ‹Werde, der du bist.› Sie möchten den Heranwachsenden helfen, zu tun und zu lassen, was sie aus sich heraus wollen. Allerdings glaube ich, dass das nicht für jeden etwas ist.»

«Wie meinst du das?», fragte mein Vater. Mich störte, dass er Frau Schallmeyer duzte.

«Ehrlich gesagt gibt es auch Jugendliche, die die FSS nach wenigen Monaten wieder verlassen. Manche Menschen brauchen Vorschriften und bevorzugen die Sicherheit, die ein Dasein als Befehlsempfänger mit sich bringt. Sie quälen sich lieber jahrelang durch Fächer, deren Sinn sie nicht verstehen, als selbst zu bestimmen, was sie lernen wollen.»

«Ich kann an dieser Schule selbst bestimmen, was ich lernen will?», fragte ich.

«Ja», sagte mein Vater. «Ich habe dir doch von dem Prinzip erzählt: Bildung vom Kinde aus. Oder in deinem Falle: vom jungen Mann aus.»

«Tatsächlich ist die Schule umstritten. Die Wielands sind es sowieso», warf Frau Schallmeyer ein. «Manche konservativen Pädagogen wittern da geradezu eine Art Terrorzelle.»

«Wieso denn das?», fragte ich.

«Die Wielands und ihre Ideen haben schon was Wildes», sagte Frau Schallmeyer, nun fast so, als habe sie schon genug gesagt.

«Was heißt das?» Ich sah abwechselnd Frau Schallmeyer und meinen Vater an.

«Das kann ich jetzt nicht erklären», sagte Frau Schallmeyer. «Zumindest muss deren Familie einfach spitze sein. Und sehr speziell. Aber natürlich ist nicht gesagt, dass du

«Ich kann mir die Schule ja einmal ansehen», sagte ich und fand mich dabei recht erwachsen.

Am Morgen, bevor mein Vater mit mir die weite Fahrt zu dem fortschrittlichen Internat an der Ostsee unternehmen wollte, litt ich plötzlich an Halskratzen, verstopfter Nase, Mattigkeit und Kopfdruck. Ich bat meinen Vater, die Tour zu verschieben. Er zeigte sich erstaunlich gleichgültig und meinte, das sei meine Entscheidung. Ich wurde wankelmütig, fühlte mich nach einem ans Bett gebrachten Becher Tee und einer Dusche schon frischer und stimmte der weiten Fahrt schließlich doch zu.

So fuhren wir mit unserem schwarzen Saab Hunderte von Kilometern und weiter, als ich es mir hatte vorstellen können, nach Schwanhagen bei Wismar, in eine Gegend, die noch vor wenigen Jahren zur DDR gehört hatte und nun als so etwas wie der wilde Osten der Bundesrepublik

Ich fand mich ganz versunken in Gedanken über die Worte meines Vaters, als wir uns dem Ziel allmählich näherten: Die Sonne schien aus frühlingsblauem Himmel auf eine Landschaft, der ich die Meeresnähe anzusehen glaubte, und überzog die Gegend mit einem ganz eigenen Glanz, in dem Büsche und Bäume wie fein ziselierte Messingarbeiten wirkten. Der Himmel, die Wiesen, die Felder und die Dörfer mit ihren buckligen Kopfsteinpflastern, Storchennestern und Kirchtürmen entrückten mich in ein Mittelalter, ein Sagenland, kein unpassendes Umfeld für einen wie mich, und während ich mich fragte, was diese Umgebung mit mir und aus mir machen würde, vergaß ich meine anschwellende Erkältung und den Ärger darüber, dass mein Vater ohne Rücksicht darauf Pfeife rauchte.

Als wir Schwanhagen etwa eine halbe Stunde später erreichten, schlug das Wetter um. Über dem Ort mit seinen wenigen Straßenzügen und einigen wahllos in die Wiesen gewürfelten Häusern trieben jetzt schwarze Wolken durch einen dunkelblau-violetten Himmel. Die Internatsgebäude, die ich vom Parkplatz aus sah, erschienen mir in diesem plötzlich veränderten Licht wie die letzte Zuflucht nach einer Endzeit: Ringsherum ist alles wüst und leer, liegen verwaiste Felder, stehen uralte Jagdsitze, verkrüppelte Weiden, Totendörfer, Ruinen, die als riesige Grabmale den

Ich weiß nicht, wie ich mir das Internat vorgestellt hatte, aber sicher anders, vor allen Dingen weniger entlegen. Als ich wenige Minuten später bei Keksen und Kakao in einem typischen Schulbüro saß, zu dem wir durch typische Schulkorridore gelangt waren – Selbstgemaltes, Klassenfotos auf bunten Pappen, maschinengetippte Aushänge –, fühlte ich mich wieder auf vertrautem Terrain und gleichzeitig – aufgrund des abrupten Szenenwechsels und eines zunehmend dumpfen Schädels – wie weggetreten. Zähe Masse verklebte meine Atemwege und trübte meine Wahrnehmung, ich interessierte mich kaum für die Schule und die freundliche Frau mit den rot gefärbten Haaren und dem bunten Halstuch, die enthusiastisch auf mich und meinen Vater einredete. Ich bemerkte seine Gereiztheit (Wieso stellt der Junge keine Fragen? Wieso zeigt er kein Interesse? Und warum präsentiert man ihm ausgerechnet diese Frau, die keine gute Werbung für ihre Schule ist?), aber was sollte ich gegen meine Willenlosigkeit und das Gerede der Lehrerin tun?

Ich wurde durch die Anlage geführt und fühlte mich derart unter Druck gesetzt, begeistert oder zumindest interessiert zu wirken, dass ich kaum etwas mitbekam. Schau doch mal, wie freundlich der Speisesaal aussieht! Wie nah das Meer ist! Was es für tolle Werkstätten gibt! Ach, und erst der Fußball- und der Grillplatz! Ist das etwa nichts? Das ist doch etwas! So klein sind die Zweier-Zimmer gar nicht!

Aus meiner Halb-Trance tauchte ich erst auf, als die rothaarige Lehrerin – Frau Kastner – auf dem Weg zurück ins Hauptgebäude auf die Wielands zu sprechen kam, das Ehepaar, das diese Schule gegründet hatte und das nun mit mehreren Jugendlichen in dem ehemaligen Gesindehaus aus rotem Backstein lebte. Ich weiß nicht mehr, was genau sie sagte, aber in ihrer Stimme schwang etwas mit, das mich neugierig machte. Gerne hätte ich endlich das freiheitsliebende Paar gesehen, über das ich nach Frau Schallmeyers Andeutungen bereits allerlei, wenn auch verschwommene Vorstellungen entwickelte hatte: die Wielands, Herz, Kopf und Seele der Freien Schule Schwanhagen. Aber «leider, leider» befanden sich die beiden mit «ihrer Familie» auf einem Ausflug. Dabei hätten sie mich laut Frau Kastner doch so gerne kennengelernt. Mein Vater runzelte die Stirn. Vermutlich hätte er den Schulleiter und seine Frau auch gerne kennengelernt, nachdem er mich fast sieben Stunden durch die Republik kutschiert hatte.

«Es tut mir wirklich leid», sagte Frau Kastner. «Hier ist immer so viel los, da kann es schon einmal zu einem Missverständnis kommen.»

«Schon gut», sagte mein Vater und zog seine Pfeife aus der Jackettasche. «Wir fahren heute sicher nicht noch einmal über 600 Kilometer. Wir übernachten in der Nähe und kommen morgen Vormittag wieder.»

«War das hier eigentlich schon immer eine Schule?», fragte ich schnell und ohne dass es mich interessiert hätte.

Mein Vater und Frau Kastner sahen mich an. Dann sagte die Lehrerin: «Nein. Ganz früher war es ein Gutshof, das ist so eine Art Bauernhof mit einem adeligen Besitzer, weißt du?»

Ich nickte brav.

«Dann hat hier ein reicher Kaufmann gewohnt. Ich glaube, er hatte etwas mit Wertheim in Stralsund zu tun, also diesem Kaufhaus-Konzern, der heute Karstadt gehört. Karstadt kennst du sicher.»

Ich nickte wieder.

«Ich weiß jetzt aber nicht, ob er selbst ein Wertheim war. Vermutlich nutzte er die Gebäude nur als Sommerresidenz, also als Haus für die Ferien. Tja und dann …»

«Kamen die Nazis», unterbrach ich. Das war zwar neunmalklug, aber ich hatte keine Lust darauf, die Geschichte in kindgerechter Sprache vorgesetzt zu bekommen.

«Genau. Die haben dem Kaufmann den Gutshof abgenommen.»

«Und was haben sie damit gemacht?», fragte ich, nun doch interessiert. Die Lehrerin sah ratlos aus.

«Vermutlich haben sie ihn auch als Sommerresidenz genutzt.»

«Auch Nazis brauchten mal Ferien», sagte mein Vater.

«Und dann kam die Rote Armee, also russische Soldaten», fuhr Frau Kastner unbeirrt fort. «Die haben die Nazis vertrieben, und später, ich glaube, da war das hier schon DDR,

In diesem Moment hörte ich hinter mir ein Geräusch und fuhr herum. Die Tür des Lehrerzimmers stand plötzlich offen, herein kam ein Mann, der wie das genaue Gegenteil meines Vaters wirkte. Salvador Wieland strotzte vor Frische und Kraft. Seine Augen brannten bernsteinfarben in einem Gesicht, das vielleicht deshalb so groß erschien, weil der restliche Mann so klein und schlank war. Wieland trug ein weißes Hemd, dessen obere Knöpfe offenstanden und den Blick auf üppig sprießendes Brusthaar erlaubten. Einem Mann von dieser Erscheinung hätte man viele Rollen zuschreiben können: vom Abenteurer, der nur selten lange an einem Ort blieb, über den undurchsichtigen Zirkusdirektor bis zu einem jenseits der Konventionen forschenden Wissenschaftler, der lächelnd monströse Entdeckungen erläutert. Auf einer seiner Expeditionen oder in einer Stadt, in der der Zirkus Station machte, vielleicht aber auch in einem entlegenen Forschungslabor musste er die Frau kennengelernt haben, die mit ihm in den Raum trat: Sie trug ihre rotblonden Haare in einer jungenhaften, auf mich sehr mondän wirkenden Frisur, überragte Salvador Wieland um einen Kopf und erinnerte mich mit ihren scharf konturierten Gesichtszügen sofort an einen Fuchs. Ihr dunkelblaues Kleid fand ich schicker als alles, was ich bisher gesehen hatte. Neben Salvador Wieland wirkte sie zugleich wie seine groß geratene Tochter und wie seine erfahrene Betreuerin. So sehen Lehrer nicht aus, dachte ich.

«Ach», sagte Frau Kastner. Salvador Wieland lächelte, kam mit entschlossenen Schritten auf mich zu und gab mir mit kräftigem Druck eine kleine, harte Hand.

Die rotblonde Frau musterte mich interessiert und überhaupt nicht so, als ob ich ein Kind wäre. Schlagartig fühlte ich mich nicht mehr krank.

«Na», sagte sie mit einer leicht hochgezogenen Augenbraue, «hast du dich schon umgesehen?»

Ich nickte und wollte etwas Geistreiches antworten, kam aber nicht dazu, weil die Frau nun meinem Vater die Hand gab, als kenne sie ihn längst.

Salvador Wieland schlug die Hände zusammen und sagte laut: «Schön. Irgendwelche Fragen bis hierher?»