Jonathan Maberry
V-Wars. Die Vampirkriege
Aus dem Amerikanischen von Maike Hallmann und Birgit Herden
FISCHER E-Books
Jonathan Maberry hat »V-Wars. A Chronicle of the Vampire Wars« zusammen mit Nancy Holder, Yvonne Navarro, James A. Moore, Gregory Frost, John Everson, Keith R. A. DeCandido und Scott Nicholson entwickelt. Für seine Romane, Kurzgeschichten, Sachbücher, Theaterstücke und Comics wurde er mehrfach mit dem Bram-Stoker-Award ausgezeichnet. Seine Bücher sind in über 20 Sprachen übersetzt worden.
Weitere Informationen finden Sie auf www.tor-online.de und www.fischerverlage.de
Die Buchvorlage zur großen Netflix-Serie von und mit Ian Somerhalder.
Als der drittklassige Hollywoodschauspieler Michael Fayne neben der brutal verstümmelten Leiche eines One-Night-Stands aufwacht, weiß er zwei Dinge noch nicht. Erstens: Die junge Frau wird nicht sein einziges Opfer bleiben. Und zweitens: Er ist Patient Zero: Träger eines Virus, der aus Menschen … etwas anderes macht.
Der Wissenschaftler Dr. Luther Swann beschäftigt sich mit einem eher aparten Spezialgebiet. Sein akademisches Interesse gilt den volkstümlichen Überlieferungen zum Vampir-Mythos. Als man ihn bittet, Gutachter in einem Mordfall zu werden, ist das für ihn absolutes Neuland. Er ahnt noch nicht, wie gefragt seine Meinung in den folgenden Monaten sein wird. Und welche Entscheidungen ihm abverlangt werden. Denn als die alten Mythen Wirklichkeit werden und immer mehr Vampire auftauchen, wird Luther Swann zum Experten für das neue Phänomen. Kann er verhindern, dass sich Menschen und Vampire buchstäblich an die Gurgel gehen und gegenseitig auslöschen? Will er das verhindern? Fest steht nur: Amerika hat sich in ein Pulverfass verwandelt und Swann muss versuchen, inmitten der sich überstürzenden Ereignisse einen kühlen Kopf zu bewahren. Auf dem Spiel steht nicht weniger als die Existenz der Menschheit.
Für Leser von Bram Stoker, Anne Rice, Lisa J. Smith und Justin Cronin und Fans der Serien Vampire Diaries, Dexter, The Walking Dead und Buffy.
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »V-Wars. A Chronicle of the Vampire Wars« 2013 bei by IDW Publishing, a division of Idea and Design Works, LLC.
© Idea and Design Works, LLC. All Rights Reserved.
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2019 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: Guter Punkt, München,
nach einer Idee und unter Verwendung eines Motivs von Trevor Hutchinson/IDW
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-491071-0
Für Sara Jo und Sam
Nur die Toten haben das Ende des Krieges gesehen.
PLATON
Teil 1
NYPD, 6. Bezirk
12. Oktober, 16.55 Uhr
Ein Tag vor dem V-Ereignis
»War das Ihr Blut?«
Der Häftling schüttelte den Kopf.
»Bitte antworten Sie laut und vernehmlich«, mahnte der Fragesteller hinter der Glaswand. »Vergessen Sie nicht, wir nehmen das auf.«
»Nein.«
»Nein, das …?«
»Nein, das war nicht mein Scheißblut. Herrgott, glauben Sie, ich könnte noch so weit rennen, wenn ich so viel Blut verloren hätte? Ich wäre längst aus den Latschen gekippt. Ich wäre längst …«
»Sprechen Sie weiter.«
Der Häftling schüttelte den Kopf. Das Wort tot wollte er ungern in den Mund nehmen.
Der Fragesteller fuhr fort. »Erinnern Sie sich daran, wie Sie durch die Straßen gerannt sind?«
»Nein.« Pause. »Weiß nicht. Vielleicht ein bisschen. Irgendwie schon. Da ist aller möglicher Scheiß in meinem Kopf.«
»Wissen Sie, warum Sie nackt waren?«
»Ich … bin nicht sicher.«
»Erinnern Sie sich daran, wo Sie Ihre Kleider gelassen haben?«
»Die Bullen haben mir schon die gleichen Fragen gestellt. Das hab ich denen alles …«
»Ich bin nicht von der Polizei«, sagte der Fragesteller.
»Sie arbeiten für die.«
»Mit ihnen.«
»Was auch immer, Mann. Ich hab trotzdem den Bullen schon alles gesagt.«
»Ich würde es aber gern von Ihnen hören.«
»Warum? Scheiße, die wollen mich doch nur einsperren und den Schlüssel wegschmeißen.«
»Vermutlich.«
Der Häftling fuhr herum und starrte durch das Spiegelglas. »Was?«
»Die Polizei möchte Sie vermutlich einsperren«, bekräftigte der Fragesteller. »Aber wie ich schon sagte, ich gehöre nicht zur Polizei.«
»Warum stellen Sie mir dann dieselben Fragen, Mann? Was wollen Sie von mir?«
»Ich will verstehen.«
»Was verstehen?«
»Sie.«
Der Häftling lachte. Ein kurzes, bitteres und hässliches Lachen. »Mich? Was gibt’s da zu verstehen? Ich versteh ja nicht mal selbst, was passiert ist. Ich erinnere mich an nichts.«
»Das glaube ich nicht«, sagte der Fragesteller. »Ich glaube, Sie erinnern sich schon. Und ich glaube, Sie wollen jemandem davon erzählen. Sie wollen es verstehen, genau wie ich es verstehen will.«
»Nein, will ich nicht.«
»Doch«, beharrte der Fragesteller. »Das wollen Sie.«
Der Häftling blickte auf die spiegelnde Panzerglasscheibe, die ihn von der Stimme trennte. »Warum kommen Sie dann nicht rein, und wir reden von Angesicht zu Angesicht?«
»Nein«, sagte der Fragesteller. »Das wäre wohl keine besonders gute Idee.«
»Warum nicht?«
»Was glauben Sie denn?«
Der Häftling gab ein eigenartiges Geräusch von sich. Tief und kehlig. Vielleicht eine Art Knurren, aus Ärger oder Abscheu, oder vielleicht ein Lachen. Vielleicht auch ein Schluchzen.
»Was glauben Sie, weshalb ich nicht zu Ihnen reinkommen werde?«, hakte der Fragesteller nach.
»Weil Sie Angst vor mir haben.«
»Ja«, sagte der Fragesteller. »Das stimmt.«
Nach einer Pause sagte der Häftling: »Das sollten Sie auch.«
»Ich weiß.«
Starbucks, 72 Grove Street, West Village, New York
29. September, 12.25 Uhr
Vierzehn Tage vor dem V-Ereignis
Der Text war Schrott.
Hundserbärmlicher Schrott.
Am liebsten hätte Michael Fayne das Drehbuch quer durch den Raum gepfeffert. Hätte Feuerzeugbenzin drübergekippt und das Ding angezündet.
Filmt das doch, dachte er bitter. Das wäre wenigstens unterhaltsam.
Er starrte auf das Skript auf dem Tisch. Verbrennen konnte er das beschissene Ding wohl kaum. Wäre nur eine Verschwendung seiner ohnehin schon kurzen Pause. Die Kunden, diese dummen Schafe, würden ausflippen. Sogar die Stammgäste, die wie er zombiemäßig mit ausweglosen Jobs ihr hoffnungsloses Dasein bestritten. Ein brennendes Drehbuch, das über den Tresen gesegelt kam, würde sie gefährlich nahe an eine echte Reaktion, an eine Interaktion mit der Welt treiben, und das durfte natürlich nicht passieren.
Fayne betrachtete die Schlange der Koffeinabhängigen vor dem Tresen, musterte sie voller Verachtung. Ein bisschen Aufregung würde ihnen nur guttun. Den Rat würde ihnen sogar ein Arzt geben, aber sie würden ihn dafür hassen.
Und er brauchte das beschissene Trinkgeld.
Verdammte Kacke.
Überhaupt, vermutlich trugen die meisten von ihnen ähnliche Drehbücher in ihren Aktentaschen oder Rucksäcken mit sich herum. Mit einem absurd teuren und aufwendig zubereiteten Kaffee vor der Nase fiel es ihnen wohl leichter, den Müll zu lesen – drittklassige Skripte fürs Kabelfernsehen oder irgendeinen Dreck auf Netflix. Kein Einziger von ihnen würde auch nur einen Funken Mitleid für einen anderen Menschen aufbringen. Sie würden finden, dass er überreagierte und sich aufspielte, weil sein Drecksdrehbuch noch nicht mal annähernd so schlecht war wie ihre Drecksdrehbücher.
Er spürte, dass ihn jemand ansah, und warf einen Blick zur Seite – am Nachbartisch saßen zwei Mädchen, die miteinander flüsterten und ihn verstohlen musterten. Ganz niedlich. Anfang zwanzig, also laut seinem Ausweis zu jung für ihn, aber nicht, wenn man nur nach seinem Gesicht urteilte. Fayne ging noch immer für sechsundzwanzig oder achtundzwanzig durch.
Die beiden waren wirklich niedlich. Die Blonde hatte ein paar Pfund zu viel, doch das meiste davon an den richtigen Stellen. Die Dunkelhaarige war beinahe gothic. Dünn, die Augen stark geschminkt, viel zu viel komischer Schmuck. Aber Fayne kannte den Typ. Emotional kaputte Weiber wie die konnten im Bett hübsch wild werden. Vielleicht ein bisschen klammerig am Tag danach, in der Nacht allerdings gingen sie so richtig ab.
Er erwog seine Optionen. Er konnte es mit dem breiten Grinsen versuchen, das seinem Zahnarzt die Yacht finanziert hatte. Oder mit einem angedeuteten schiefen Lächeln wie auf seinen Porträtfotos. Ein bisschen Clint Eastwood, aus der Zeit, als er noch vor der Kamera gestanden hatte, ein bisschen Colin Farrell. Ganz viel Nathan Fillion. Wenn die Weiber das sahen, dann rissen sie sich schier die Kleider vom Leib.
Das schiefe Lächeln also.
Sie liefen beide rot an und stießen fast mit den Köpfen aneinander, als sie sich zum Tuscheln vorbeugten.
Fayne drehte sich weg, aber nur so weit, dass es so wirkte, als würde er nicht hinsehen.
Die Frauen versuchten, einen besseren Blick auf den Titel des Drehbuchs zu erhaschen – zumindest waren sie schlau genug, um es überhaupt als Drehbuch zu erkennen.
Fayne stellte seine Kaffeetasse so auf der obersten Seite ab, dass der Titel verdeckt wurde.
Megafüßler vs. Slothtopus III.
Damit legte man die Weiber nicht gerade reihenweise flach.
Das Skript war nicht nur Dreck, es war das dritte Stück Dreck in Folge. Die hatten tatsächlich schon zwei Machwerke von der Sorte produziert. Beim ersten hatte das kümmerliche Budget immerhin ausgereicht, um den Typen aus der einen Folge von Stargate zu engagieren. Wie war noch mal der verschissene Name? Der in dieser Realityshow aufgetreten war, in der es um Typen ging, die Typen in Serien wie Stargate gespielt hatten.
Für den ersten Teil hatte Fayne keinen Anruf erhalten, auf Slothtopus I hatte ihn sein Agent noch nicht einmal hingewiesen. Auch nicht auf den zweiten Teil. Bei dem hatte auch nicht mehr der erste Kerl mitgespielt. Nein, da hatten sie den Typen genommen, der in einer Folge dieser Soap aufgetreten war, die dann abgesetzt wurde. Darin hatte er einen Barkeeper gespielt, der ganze zwei Sätze losgeworden war. Etwas in der Art wie: »Letzte Runde, Ladys.« So richtig shakespearemäßig, die Sorte Text, bei der David Mamet einer abging. Und diesen Typen hatten sie also für die Fortsetzung engagiert. Faynes Telefon hatte auch da nicht geklingelt.
Nein, einen Anruf hatte er erst für Teil drei bekommen. Drei – bei jeder anderen billigen Videoserie rangierte das noch unter Liliputaner-Porno und knapp über Dauerwerbesendungen.
Willkommen in Hollywood.
Willkommen in den großen Städten mit ihren grellen Lichtern, auf zu Gastauftritten bei Jon Stewart, mit so vielen Oberwichtigärschen, wie man nur verkraften kann.
Dann in der Holzklasse zurück zum Brotjob in New York, Kaffee verschütten in Manhattan. Willkommen bei all den beschissenen Rollen, mit denen man zwar die Rechnungen bezahlt kriegte, zugleich aber die Karriere immer tiefer in den Sand setzte.
Die beiden Mädchen kicherten. Die zwei waren heiß, das musste er zugeben. Das war überhaupt der einzige Vorteil an seinem jetzigen Job. Heiße Schnitten tranken eine Menge Kaffee. Die tranken Fraps und Lattes, Cappuccinos und Fickdiccinos und Gott weiß was alles, solange es nur irgendwie elegant und europäisch klang. In Europa tranken die Leute verdammten Kaffee, aber das begriff hier ja niemand.
Er musterte die Mädchen, die noch immer versuchten, die oberste Seite seines Drehbuchs zu entziffern. Beiläufig schob Fayne sein Handy auf das Skript, um den Namen des Drehbuchschreibers zu verdecken. Ein Schmierfink. Die meiste Zeit schrieb er Begleitbücher zu Filmen und Zeug wie Slothtopus, wahrscheinlich um sein Crack zu finanzieren oder Alimente zu zahlen. Aus künstlerischer Ambition heraus produzierte er diesen Dreck wohl kaum.
Megafüßler vs. Slothtopus III.
Teil drei, Himmelherrgott.
Vor vier Jahren wäre er der Typ gewesen, den man für den ersten Teil angerufen hätte.
Vor sieben Jahren hätte er eine Rolle in einem besseren Film bekommen, denn vor acht Jahren hatte er eine Rolle in einem besseren Film bekommen. Ab da hätte er in einer ganzen Reihe besserer Filme mitspielen sollen. Aber sein Agent hatte ihm das falsche Drehbuch geschickt, und, schlimmer noch, Fayne hatte das Skript gefallen.
Frightbook.
O Mann.
Frightbook hatte großartig geklungen. Er hatte das Skript am selben Tag bekommen, als The Social Network in den Kinos anlief. Die Dreharbeiten begannen in der Woche vor der Oscarverleihung. Eigentlich war es ein bombensicherer Retro-Slasher-Streifen, in dem es dazu noch um Social Media ging. Sogar mit ein paar Anleihen an den Craigslist-Killer-Fall. Der Slogan lautete »Facebook mit Biss«.
So lief er auf Twitter.
Die Besetzung war sogar ganz gut. Nicht die große Klasse, keine A- oder B-Liste, aber ernsthafte Charakterdarsteller. Die Tusse, die früher bei CSI mitgemacht hatte. Der alte Knacker aus dem einen John-Carpenter-Film. Das Mädel, das im Mickey-Mouse-Club aufgetreten war, bevor ihr Titten gewachsen waren und sie vergessen hatte, auf Partys ihren Verstand mitzubringen. Ein klassischer – klassischer – Arsch. So perfekt, dass es schon weh tat.
Nur …
Die Mickey-Mouse-Schnitte hatte zu viele wichtige Zeilen in dem Skript, zu viele entscheidende Szenen, bei denen sie wenigstens ein bisschen – wie hieß das? Ach ja – schauspielern musste.
Wozu sie völlig unfähig war.
Sie war so schlecht, dass sie noch nicht einmal eine schlechte Schauspielerin imitieren konnte.
Das hatte niemand erwartet. Sie war ein Disney-Gewächs, und man mochte über den Mauskonzern sagen, was man wollte, junge Talente bildeten die eigentlich in Gestapomanier aus. Bei Zeus’ Klöten, sie hatte zwei Daytime-Emmys gewonnen. Das Mädchen hätte seine Rolle eigentlich im Schlaf bewältigen müssen. War ja nicht Gertrude aus Hamlet. Sie hatte nichts weiter zu tun, als die junge Naive zu spielen, die ihre Titten zeigt und schreiend vor dem Mann mit dem Messer davonläuft.
Aber … Fehlanzeige.
Der Film war ein totaler Flop. Erregte noch nicht einmal genügend Aufsehen, um sich für eine Goldene Himbeere zu qualifizieren.
Ein Multimillionen-Dollar-Budget einfach ins Klo gespült. Brachte nur etwa eine Million ein, hauptsächlich durch retardierte Volldeppen, die sich das Video ausliehen, weil auf dem Titelbild die Mickey-Mouse-Schnitte im Push-up-BH zu sehen war. Ein letzter verzweifelter Rettungsversuch der Marketingabteilung.
Fayne nippte an seinem Kaffee und drückte auf sein Handy, um nach der Uhrzeit zu sehen. Noch drei Minuten, dann musste er wieder das falsche Lächeln festzurren und gegen den Drang ankämpfen, in die Drinks zu spucken.
Die Blonde mit dem dicken Gestell versuchte, das Gothic-Mädel dazu zu überreden, ihn anzusprechen. Für eine halbe Sekunde bedachte Fayne die beiden noch einmal mit seinem schiefen Lächeln. Beide liefen knallrot an. O Mann, genauso gut hätten sie sich Zielscheiben aufmalen können. Fayne hätte seinen nächsten Gehaltsscheck darauf verwettet, dass sie beide Arschgeweihe hatten. Sie waren der Typ dafür. Irgendein Scheiß mit keltischen Knoten oder Delphinen.
Er nahm noch einen Schluck Kaffee, stellte aber dann hastig seine Tasse auf den Titel. Bei Slothtopus bekamen die Weiber nun mal keine nassen Höschen. Noch nicht mal die im Starbucks.
Er dachte an seinen zweiten Film. Der, der seine Karriere hätte retten sollen, die er gerade, so wie alle vom Frightbook-Cast, im Klo runtergespült hatte. Der zweite war so ein Science-Fiction-Streifen, von einem der Macher von Alien. Kein schlechter Regisseur. Netter Titel, Deep Ice. Das Drehbuch war okay, setzte aber stark auf Spezialeffekte, niemand erwartete, dass die Academy von den Schauspielern auch nur Notiz nehmen würde. Fayne spielte die zweite Hauptrolle, den hohlwangigen Guten, der sich im dritten Akt als Bösewicht entpuppt und von der beherzten Heldin zur Strecke gebracht wird. Als Fayne zusagte, versprachen ihm die Produzenten vage eine Hauptdarstellerin wie Mila Kunis oder Emma Stone. Doch als dann die Kameras anrollten, hatten sie eine, die vor einer halben Million Jahren dreimal eine Gastrolle in Friends gespielt hatte.
Deep Ice ging direkt in den Videoverleih. Gar kein Gedanke an die großen Multiplexe.
Am meisten ging Fayne dabei auf den Sack, dass er drei Monate in einem Pissloch namens Point Barrow in Alaska verbringen musste, am nördlichsten Zipfel der USA, keine zweitausend Kilometer vom Nordpol entfernt. Die Produzenten wollten echte Aufnahmen einer archäologischen Ausgrabungsstätte. Das hatte irgendwas mit dem Volk der Thule zu tun, den Vorfahren der Inuit, auf die niemand außer vielleicht dem Discovery Channel einen Scheiß gab. Fayne fror sich die Eier ab für den Streifen. Aber entgegen den Erwartungen der Produzenten lieferte er eine gute Leistung ab. Vielschichtig und konfliktbeladen, ein Schurke, der mit den eigenen bösen Taten haderte. Eine Darstellung, die es verdiente, gesehen zu werden.
Er wurde auch noch übel krank, doch selbst mit hohem Fieber bekam er alle seine Szenen hin, funktionierte bei jeder Einstellung auf den Punkt und gab auch noch eine Sterbeszene zum Besten, bei der die Zuschauer in ihren Kinosesseln geweint hätten. Nur dass der Film nie in einem Kino lief.
Der Virus allerdings, den er sich dort eingefangen hatte, der kam groß raus. I1V1. Der »Eisvirus«. Irgendein Scheiß, der vor zig Millionen Jahren in der Arktis eingeschlossen und durch die globale Erwärmung freigesetzt worden war, bla, bla, bla. Große Sache. Beinahe wäre er dran verreckt. Als er nach L.A. zurückkam, hatte er über vierzig Grad Fieber und abartigen Schüttelfrost. Musste ins Krankenhaus, obwohl er schon lange keine Versicherung mehr hatte. Die Rechnungen würde er wohl noch abbezahlen, wenn seine Enkel ins College gingen. Jeder Versuch, das Studio zur Kostenübernahme zu bringen, erwies sich als Zeitverschwendung, da er nicht beweisen konnte, dass er sich das Viech beim Dreh einfangen hatte, auch wenn I1V1 Schlagzeilen machte und die Leute davor mehr Schiss hatten als vor der Schweinegrippe.
Immerhin brachte ihn das Ding nicht um, das war schon mal was. Tatsächlich brachte es niemanden um, verursachte nur klischeehafte Panik, angeheizt von der hysterischen Presse, die sich wenig um die Fakten scherte, aber natürlich nach dem nächsten Hype gierte. Irgendwann wurde Fayne aus dem Krankenhaus entlassen, aber im folgenden Monat wurde er immer wieder krank, und sein Kontostand schrumpfte schneller als seine Glocken oben im kalten Alaska.
Das war nun beinahe zwei Jahre her. Der Eisvirus war so hartnäckig wie die Mahnungen seines Kreditkarteninstituts. Immer wieder hatte Fayne Fieberanfälle, richtig weg war der Virus eigentlich nie, und jedes Mal rutschte er wegen der verlorenen Arbeitszeit tiefer in die Scheiße. Zweimal passierte es während der Dreharbeiten. Beim ersten Mal waren die Produzenten großzügig, beim zweiten Mal wurde er ersetzt. Seither bekam er nur noch irgendwelchen Mist als Werbesprecher oder Statistenrollen in Serien, die er nie ansah.
Wenn er nun diesen neuen Quatsch annahm, dann bedeutete das zwei Dinge. Einen Gehaltsscheck, mit dem er sich eine Weile über Wasser halten konnte, und das war gut, zugleich musste er aber zurück in die Kälte, und das war scheiße. Megafüßler vs. Slothtopus III sollte im Norden Kanadas gedreht werden. Nicht so weit nördlich wie Deep Ice, aber schlimm genug. Es war bereits Oktober, und diese Geisteskranken wollten Anfang Januar mit dem Dreh beginnen. Scheiß auf die Eisgrippe. Was dachten die sich nur dabei? Noch nicht einmal Elche hielten sich mitten im Winter im Norden von Kanada auf. Als ob es die Schwachköpfe, die sich solchen Mist auf SyFy ansahen, interessierte, ob der Schnee echt oder gefaket war. Schließlich ging es um Monster, und die wurden vom Computer generiert. Warum also, zur Hölle …
»Yo, Mikey!«
Fayne blickte auf und sah, wie der stellvertretende Schichtleiter ihm zuwinkte. Seine Pause war um, ohne dass er sein Feuerzeug ans Drehbuch gehalten hätte, so gut ihm die Vorstellung auch gefiel. Allerdings hatte er das Scheißteil auch nicht von sich geschleudert.
Er warf den Mädchen einen letzten beiläufigen Blick zu. Sie beäugten ihn immer noch.
»Ach, zum Teufel«, brummte er und zog eine Visitenkarte aus seiner Brieftasche. Sein Foto war drauf – das mit dem schiefen Lächeln –, außerdem seine E-Mail-Adresse, Facebook- und Twitter-Links und Handynummer. Er drehte sie um, zog einen Kugelschreiber aus seiner Tasche und vergewisserte sich, dass sie zu ihm hinsahen, während er »Ruf mich an« auf die Rückseite schrieb.
Dann stand er auf, tat so, als ginge ihn der Manager gar nichts an, gab sich so cool, wie es in einem Polyesterhemd mit drei Knöpfen und einer grünen Schürze nur möglich war. Das Drehbuch einmal gefaltet und unter den Arm geklemmt, schlenderte er an den Mädchen vorbei, beugte sich dabei vor und platzierte die Karte genau zwischen den beiden auf dem Tisch. Kurz schenkte er ihnen noch einmal das schiefe Lächeln und schlurfte dann zur Theke.
Wie sich herausstellte, war es die Blonde, die ihm eine Nachricht schrieb.
Auch recht. Denn im Grunde seines Herzens war es ihm scheißegal, wen er vögelte, solange er nur irgendeine vögelte.
NYPD, 6. Bezirk
12. Oktober, 17.06 Uhr
Ein Tag vor dem V-Ereignis
»Die werden mich grillen, oder?«, fragte der Gefangene. »Die Bullen, der Anwalt … die wollen mich tot sehen.«
»Sie wollen Sie verstehen«, sagte der Fragesteller.
»Bullshit. Sie wollen mich verstehen. Die werden die Todesstrafe fordern. Den elektrischen Stuhl. Oder … was gibt es sonst noch? Eine Giftspritze? Nimmt man die nicht in diesem Bundesstaat?«
»Wir wissen nicht, was die planen oder wollen. Außerdem«, sagte der Fragesteller, »gibt es in New York keine Todesstrafe. Ich glaube, es gibt noch nicht mal mehr einen Todestrakt.«
»Die wollen mich tot sehen«, beharrte der Gefangene. Er blickte kurz zu Boden, dann fragte er: »Ich wette, die haben Ihnen gesagt, dass sie mich grillen wollen.«
»Ich bin ein Berater. Über solche Dinge reden sie nicht mit Leuten wie mir.«
»Was, wenn die nach Ihrer Meinung fragen?«
»Tun sie nicht.«
»Und wenn doch? Nur inoffiziell. Am Kaffeeautomaten oder bei einem Bier. Finden Sie, ich sollte die Todesstrafe bekommen?«
Der Gefangene benutzte jetzt das Wort »Tod«. Das war ermutigend. Es zeigte, dass sie ein wenig Fortschritte machten.
»Selbst wenn es in diesem Staat die Todesstrafe gäbe«, sagte der Fragesteller, »ich lehne sie ab.«
»Das ist eine Weichei-Antwort. Wenn Sie für die Todesstrafe wären, sollten die es dann Ihrer Meinung nach tun? Mit mir?«
»Nein«, sagte der Fragesteller. »Ich finde nicht, dass sie Sie hinrichten sollten, noch nicht einmal, wenn es rechtlich möglich wäre.«
Der Gefangene saß fast fünfzehn Sekunden lang schweigend da.
»Okay«, sagte er.
»Okay«, sagte der Fragesteller.
»Danke.«
»Keine Ursache.«
Weiteres Schweigen. Zehn Sekunden.
Der Gefangene sagte: »Ich hab nicht gelogen, als ich gesagt hab, dass ich mich nicht an alles erinnere.«
Der Fragesteller wartete.
»Da fehlen ganze Stücke. Stücke von der Zeit, meine ich. Sind einfach … weg.«
»Völlig weg?«
»Nein … und deswegen bin ich irgendwann ausgeflippt. Keine Ahnung, ob man das Blackout nennt oder sonst was.«
»Hatten Sie denn zuvor schon mal einen Blackout?«
»Klar.«
»Klar?«
»Jeder verliert doch mal ’ne Nacht. Du trinkst, ziehst ein paar Lines … äh, ich meine, Sie …«
»Sie können ruhig sagen, dass Sie ein paar Lines gezogen haben«, sagte der Fragesteller. »Ich glaube kaum, dass die Polizei sich für Ihre Drogendelikte interessiert.«
Der Gefangene gab wieder jenes eigenartige Geräusch von sich, und wieder konnte der Fragesteller nicht sagen, ob es ein Lachen war oder ein Schluchzen.
»Stimmt«, sagte der Gefangene. »Da haben Sie wohl recht.«
»Die Blackouts …«, erinnerte ihn der Fragesteller.
»Ich trink halt hin und wieder. Bin kein Alkoholiker«, sagte der Gefangene rasch, »aber klar, ich vertrag schon einiges. Später, als ich nach L.A. gezogen bin, da hab ich dann mit den richtigen Leuten Partys gefeiert, und die richtigen Leute haben immer Koks dabei. Nimmt einfach jeder.«
»Hab ich gehört.«
»Na ja, nach manchen solcher Partys bin ich in der Bude von ’nem Mädchen aufgewacht oder auf ’nem Liegestuhl am Pool von irgendeinem reichen Arsch in den Hills. Ein paarmal auch in meinem Wagen. Einmal ganz im Süden von L.A., und fragen Sie mich nicht, wie zum Geier es mich dahin verschlagen hat. Ich bin weiß bis auf die Knochen, hab noch nicht mal viele schwarze Freunde.«
»Okay.«
»Aber das war nicht dasselbe. Diese neuen Blackouts, meine ich. Völlig andere Kiste.«
»Inwiefern anders?«
»Die waren … ich weiß nicht. Wenn man nach einer Party einen Filmriss hat, dann fühlt man sich beim Aufwachen, als ob einem ein kranker Leguan ins Maul gepisst hätte. Halt völlig beschissen. Man will am liebsten sterben, so übel geht es einem.«
»Und diese neuen Blackouts?«
»Scheiße, Mann … die sind total anders.«
Christopher Street, West Village, New York
30. September, 6.22 Uhr
Dreizehn Tag vor dem V-Ereignis
Es war der Geruch, von dem Fayne aufwachte.
Der Gestank.
»Himmelarsch«, knurrte er und schlug die Decke zurück, sicher, dass er aus Versehen ins Bett gekackt hatte.
Es wäre nicht das erste Mal, dass er so besoffen war. Normalerweise war es Pisse oder Kotze, aber er hatte auch schon mal ein Ei gelegt. Im College, in der Nacht, als er herausgefunden hatte, dass Tequila aus dem Bauchnabel, Wettsaufen mit angestochenen Bierdosen, doppelte Jägermeister und sechs Lines eine ganz üble Mischung sind.
Ach ja, die Jugend.
Fayne stieß ein Brummen aus bei den Erinnerungen – sie liefen in seinem Kopf ab wie ein hochaufgelöster Digitalfilm, begleitet von einer oberschlauen Stimme aus dem Off. Eigentlich waren es eher zwei Stimmen, ein Engel und ein Teufel, die ihm auf den Schultern hockten. Beide waren sie Arschlöcher, die über sein Leben müde Witze rissen.
Scheiß auf die und scheiß auf das hier, dachte Fayne, während er sich aufsetzte. Bei dem üblen Gestank kam es ihm beinahe hoch.
Keine Exkremente.
Da war gar nichts auf dem Laken, außer einem geöffneten, aber unbenutzten Kondom und etwas verschmiertem Lippenstift.
In Faynes Augen klebte der Schmodder, und er hatte einen Geschmack im Mund, als wär eine Echse drin verreckt.
Und der Gestank. Verdammt, der war überall. Echt übel.
Aber es war nicht nur der Gestank.
Er blickte sich um.
»Scheiße«, sagte er. Das war nicht seine Wohnung. Die Bettwäsche war schwarz. Die Farbwahl hätte Fayne eigentlich eher von der Gothic-Schnitte erwartet, aber vielleicht hatte die Blonde sie ja von ihrer Freundin zu Weihnachten bekommen. Über die Nachttischlampe war ein rosa Schal drapiert, doch Lampe und Schal lagen auf dem Boden. Genau wie der Radiowecker – der Plastikrahmen zerbrochen, das Display dunkel.
Niemand sonst war im Zimmer. Ganz offensichtlich eine Frauenwohnung. Gerahmte Fotografien an den Wänden – ein Mädchen auf einem Pferd, Familienbilder mit lächelnden Menschen, ein Deutscher Schäferhund. Wer zum Geier ließ ein Bild von einem Schäferhund rahmen?
Die Kommode war vollgestellt mit Flaschen und Zerstäubern und Kosmetikkram. Jedenfalls nicht sein Kram, er erkannte nichts davon wieder.
Aber verdammt, woher zum Teufel kam der Gestank?
Und wie peinlich wär das, wenn die Tusse – wen auch immer er letzte Nacht gebumst hatte – gerade jetzt einen so gewaltigen Schiss hinlegte? Und wie komisch war es eigentlich, dass sie nicht aus Rücksicht mal runterspülte? Das roch ja, als wäre ihr was in den Arsch gekrabbelt und dort verreckt.
Fayne schwang seine Beine über die Bettkante und versuchte aufzustehen.
Das war der Moment, als alles richtig komisch wurde.
Als er sich vom Bett abdrückte, hob er ab, schoss durch die Luft und krachte in die Kommode – das ganze Parfüm und der Mädchenkram flogen in alle Richtungen. Der Aufprall dröhnte in der Stille so laut wie ein Auffahrunfall.
Fayne blieb wie erstarrt liegen, völlig verdattert von dem jähen Energieausbruch und dem Krach. Er lauschte auf Geräusche aus dem Badezimmer. Vielleicht ein hastiges Spülen. Eine schüchterne Nachfrage.
Doch alles blieb still.
Langsam richtete er sich auf.
Sein Körper fühlte sich seltsam an. Vage erinnerte er sich, dass er letzte Nacht viel getrunken hatte, also hätten seine Knie zittern, seine vergifteten Eingeweide rumoren, die entzündeten Augen brennen sollen wie Feuer. Nichts davon.
Tatsächlich spürte er überhaupt keine Schmerzen.
Allerdings fühlte er sich vollgestopft, als hätte er sich letzte Nacht durch ein Hong-Kong-Büfett gefressen. Ob er das vielleicht wirklich getan hatte? Beim Saufen bekam er immer solchen Heißhunger. Das gehörte zu den Dingen, wegen denen ihm sein Agent immer in den Ohren lag. Fünf Pfund waren nicht die Welt, außer wenn bei einem Casting steinharte Bauchmuskeln und keine Spur von Rettungsringen erwartet wurden.
Er fasste sich an den Bauch. Der war so voll, dass es schon schmerzte.
Trotzdem fühlte er sich nicht schlecht. Nicht wirklich. Einfach nur … satt.
Mit seinem Gleichgewichtssinn stimmte etwas nicht, aber das war auch schon alles. Nach allem, was er sich letzte Nacht geleistet haben musste, schien das ein geringer Preis.
Schlimmer war der Gestank. Der wurde zwar nicht stärker, aber jetzt im Stehen atmete er ihn tiefer ein.
»Himmelherrgott«, knurrte er leise. Die Tusse musste da drin den Schiss ihres Lebens hinlegen, machte wohl alle Freuden eines epischen Katers durch, der ihm irgendwie erspart geblieben war.
Besser sie als ich, dachte er.
Er räumte das Zeug zurück auf die Kommode, ohne auf eine bestimmte Ordnung zu achten, von der er eh keine Ahnung gehabt hätte. Zum Schluss nahm er eine Parfümflasche, sprühte sich etwas davon auf den Finger und rieb es sich auf die Oberlippe. Die ultimative Methode, um üble Gerüche zu überdecken. Den Trick hatte er gelernt, als er dieses junge koreanische Ding gebumst hatte, das im Old Navy beim Starbucks um die Ecke arbeitete. Die war heißer als die Oberfläche der Sonne, stank aber nach Knoblauch. Etwas Kölnischwasser auf die Oberlippe, und voilà – kein Geruchssinn mehr.
Seine Kleider lagen auf dem Boden, zwischen der geschlossenen Tür und dem Bett verstreut. Er lächelte. Auch wenn er sich nach zehn Jägermeistern kaum noch an etwas erinnerte, hatte er doch noch ein vages Bild von sich und der Blonden vor Augen, wie sie sich gegenseitig die Kleider vom Leib rissen. Sie hatte etwa zwanzig Pfund zu viel, aber einiges davon bestand aus Arsch und Titten, also kein Problem. Auch ihre Kleider lagen auf dem Teppich. BH und Tanga passten zusammen, sie war also auf der Jagd gewesen, als er sie im Starbucks getroffen hatte. Manchmal riss man eine Schnitte auf, die nicht nur Omabuxen trug, sondern auch noch einen dieser Schwerlast-BHs im Stil von Batmans Werkzeuggürtel. Reine Funktionsdinger, die eine Kugel vermutlich besser aufhielten als Kevlar. Wenn sie solches Zeug anhatten, dann huschten sie gewöhnlich für einen raschen Kleiderwechsel ins Badezimmer und kamen in irgendwas Spitzenbesetztem zurück, um dann kunstvoll jede Kontrolle zu verlieren.
Nicht diese Braut.
Als sich Fayne vorbeugte, um seine Boxershorts vom Boden zu angeln, sah er, dass ihre Bluse schlimm zerrissen war. Er musste grinsen. Echte blindwütige Leidenschaft. So was konnte man in keinem Film vortäuschen. Wenn es so abging, dann war das Ganze schnell und wild und gar nicht hübsch, machte aber bei Gott einen Heidenspaß.
Rasch zog er sich an. Kein Gedanke an eine Dusche, nicht bei dem, was auch immer im Badezimmer vorging. Als er in sein Hemd schlüpfte, spürte er einen dumpfen Schmerz am Rücken, drehte ihn zum Spiegel und spähte über seine Schulter.
Fuck.
Sein Rücken war kreuz und quer von Kratzern überzogen. Einige davon hatten geblutet, und jetzt war das Blut getrocknet und verkrustet. Ob betrunken oder nicht, dem Mädel musste er letzte Nacht wirklich das Hirn rausgevögelt haben.
Fayne grinste. »Mega«, sagte er leise und zwinkerte seinem Spiegelbild zu. Der geile Sack darin zwinkerte sogleich zurück.
Er überlegte, ob er eine Nachricht hinterlassen sollte. Allerdings hatte er keine Ahnung, wie die Tusse hieß. Irgendwas mit K am Anfang, so viel wusste er noch. Eine dieser trendigen Variationen von Kathleen. Kaitlyn oder Ketlen oder Kettlecorn. Irgend so ein Scheiß.
Ob er eine Nachricht an K hinterlassen sollte?
Er überlegte kurz. Ach, zum Teufel, man durfte kein totales Arschloch sein.
Fayne ging zur Kommode, fand eine Starbucks-Quittung und einen Kuli von einer Bank. Er schrieb, was er meistens schrieb.
K:
Du bist ein Tsunami!
Wir haben echt die Erde zum Beben gebracht, was?
– M
Kurz und nicht zu gefühlvoll. Die Nachricht eines Herumtreibers, kein Versprechen lebenslanger Hingabe.
Er platzierte den Zettel auf dem Kissen und wollte sich gerade abwenden, als sein Fuß gegen etwas Schweres stieß, das halb unter der schwarzen Satinwäsche verborgen lag.
Fayne zog die Decke beiseite und warf einen kurzen Blick darauf.
Dann schrie er los.
Er stolperte rückwärts, fiel auf den Hintern, strampelte und rutschte panisch nach hinten, bis er mit dem Rücken gegen die Badezimmerwand stieß.
Das Ding, gegen das er mit dem Fuß gestoßen war, lag halb unterm Bett.
Fayne rammte sich eine Faust in den Mund, um seinen Schrei zu ersticken.
Die Welt ringsum stürzte in sich zusammen. Gelähmt vor Entsetzen saß er da, würgte, und irgendwas schnürte sich immer fester um seine Brust.
Er vernahm ein leises Winseln, eine wimmernde Stimme, die immer wieder Gott anrief. Die brüchige Version seiner eigenen Stimme, die aus der verkrampften Kehle durch die Faust zwischen seinen Zähnen drang.
»O Gott o Gott o Gott o Gott o Gott o Gott o Gott o Gott o Gott o Gott …«
Der Inhalt seines Magens – das ganze Essen und der Alkohol, den er letzte Nacht runtergekippt haben musste – schien ihm plötzlich hochzukommen. Nur dass er zu erstarrt war, um sich zu übergeben.
Der Augenblick dehnte sich ins Unendliche. Das Ding unterm Bett weigerte sich wegzugehen. Weigerte sich, Teil irgendeines Säuferdeliriums zu werden, in dem er vielleicht noch gefangen war.
Es lag da, umgeben von glänzendem Satin.
Das Ding starrte ihn an.
Mit großen blauen Augen.
Fayne fuhr mit dem Kopf herum und sah zur geschlossenen Badezimmertür. Die Faust fiel ihm aus dem Mund.
»O Gott, nein«, krächzte er. »Bitte … nein.«
Er brauchte eine Ewigkeit, um auf die Beine zu kommen. Alle Muskeln zitterten im Kampf gegen den Drang, einfach abzuhauen. Das Laken über das unmögliche Ding auf dem Boden zu schlagen und zu machen, dass er aus dieser beschissenen Wohnung kam.
Stattdessen, gegen jeden gesunden Menschenverstand, fasste er nach dem Knauf der Badezimmertür.
Er wollte nicht. Gott, er wollte diese Tür nicht öffnen.
Seine Finger schlossen sich um den Knauf, und der Knauf drehte sich mit leisem Klicken.
Er ließ los, die Tür schwang auf.
Da lag die blonde Frau.
Jedenfalls der Rest von ihr.
Fayne sackten die Beine weg, er fiel auf die Knie, und nun kam ihm tatsächlich hoch, was er letzte Nacht gegessen hatte. Ein nicht enden wollender Strom schoss ihm aus dem Mund, überkleisterte einfach alles im Badezimmer.
Kein chinesisches Essen vom Hong-Kong-Büfett.
Überhaupt keine feste Nahrung.
Seine Kotze überzog das gesamte Badezimmer mit dunklem Rot.
NYPD, Notrufzentrale
30. September, 7.16 Uhr
Dreizehn Tage vor dem V-Ereignis
Mitschrift eines Notrufs, der um 7.16 Uhr am Dienstag, dem 30. September einging.
NOTRUFANNAHME: Hier die Notrufzentrale, beschreiben Sie den Notfall.
MÄNNLICHER ANRUFER: O Gott, sie ist tot. O Gott, Scheiße, sie ist tot und …
NOTRUFANNAHME: Beruhigen Sie sich, Sir. Erzählen Sie, was passiert ist.
MÄNNLICHER ANRUFER: Sie ist in Stücke gerissen. Ihr Kopf liegt auf dem Boden … und das Badezimmer … o Scheiße, ich …
NOTRUFANNAHME: Sir, Sie müssen sich beruhigen. Sagen Sie mir, wo Sie sich befinden.
MÄNNLICHER ANRUFER: Ich … ich weiß es nicht. In ihrer Wohnung. Fuck, ich weiß noch nicht einmal, wo ich bin.
NOTRUFANNAHME: Sir, sind Sie verletzt?
MÄNNLICHER ANRUFER: Nein, ich habe sie so gefunden und …
NOTRUFANNAHME: Befinden Sie sich in unmittelbarer Gefahr?
MÄNNLICHER ANRUFER: Nein.
NOTRUFANNAHME: Wie lautet der Name der verletzten Person?
MÄNNLICHER ANRUFER: Sie ist nicht verletzt – Herrgott, hören Sie mir nicht zu? Sie ist in Stücke gerissen und …
Ende des Anrufs.
Serita Sanchez von der Notfallleitstelle der NYPD blickte auf den Bildschirm. Die Software der Notfallzentrale zeigte Anschrift und Namen des Anschlussinhabers, von dessen Telefon der Anruf gekommen war. Da stand:
Kaitellyn Montgomery.
Laut Anschrift wohnte sie in einem dreigeschossigen Gebäude in West Village.
Sie gab die Daten an den Einsatzleiter weiter, der einen Streifenwagen losschickte. Es herrschte gerade Berufsverkehr, an einem Freitag in New York, der Wagen traf sechsunddreißig Minuten später ein. Bis dahin war der unbekannte Anrufer verschwunden.
Auf dem Treppenabsatz befanden sich blutige Fußspuren, die aus der Wohnung zur Treppe führten. Die Wohnungstür stand offen. Die Beamten zogen ihre Waffen, kündigten sich an, erhielten keine Antwort und drangen in die Wohnung vor.
Dann riefen sie sofort die Kripo an, zusammen mit der Spurensicherung.
Teil 1