Claude Lanzmann

Shoah

Aus dem Französichen von Nina Börnsen und Anna Kamp

Rowohlt Digitalbuch

Inhaltsübersicht

Über Claude Lanzmann

Claude Lanzmann, geboren 1925 in Paris, studierte Philosophie und war Lektor an der Freien Universität Berlin. Als Journalist reiste er unter anderem nach China und Korea und engagierte sich gegen den Algerienkrieg. Seine Dokumentarfilme «Pourquoi Israel» (1972) und «Shoah» (1985) machten ihn weltberühmt. Er ist Ehrendoktor der Hebräischen Universität Jerusalem und der European Graduate School. Claude Lanzmann lebt in Paris.

Über dieses Buch

Fast zwölf Jahre hat Claude Lanzmann an dem neuneinhalbstündigen Film «Shoah» gearbeitet. Und er kann, ohne zu übertreiben, sagen: «Mit ‹Shoah› habe ich die Zeit besiegt.» Denn wie kein anderes Werk vergegenwärtigt der Film Vergangenheit als Gegenwart. Dieses Buch umfasst den vollständigen Text des bedeutendsten Films über die Vernichtung der europäischen Juden, die eindringlichen Dialoge zwischen Claude Lanzmann, den Tätern, Opfern und Beobachtern – ein Monument der Erinnerungskultur.

Impressum

Die Originalausgabe erschien 1985 unter dem Titel «SHOAH» bei Editions Fayard, Paris. Diese ungekürzte deutsche Ausgabe enthält zusätzlich ein Gespräch mit Claude Lanzmann, aufgezeichnet in Paris 2008 von Max Dax.

 

Rowohlt Digitalbuch, veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, September 2011

© der deutschen Übersetzung 1986 by Claassen Verlag GmbH, Düsseldorf

Claassen ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

«SHOAH» de Claude Lanzmann

World Copyright © Librairie Arthème Fayard, 1985

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Umschlaggestaltung ANZINGER | WÜSCHNER | RASP, München

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved. Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

ISBN Buchausgabe 978-3-499-62777-4 (1. Auflage 2011)

ISBN Digitalbuch 978-3-644-44941-1

www.rowohlt-digitalbuch.de

ISBN 978-3-644-44941-1

Fußnoten

1

Die zahlreichen auf deutsch geführten Gespräche werden in der deutschen Ausgabe ebenfalls vollständig und im Wortlaut wiedergegeben; die in englischer Sprache gemachten Aussagen wurden aus dem Englischen übersetzt.

2

Adam Czerniakow war Präsident des «Judenrats» in Warschau.

3

Der Bunker Mila 18 war das Hauptquartier der jüdischen Kampforganisation.

Hier ist kein Warum

Von Claude Lanzmann

Vielleicht muß die Frage einfach lauten: «Warum haben sie die Juden getötet?» Wird sie in dieser elementaren Weise gestellt, wird ihre Obszönität sogleich deutlich.

Tatsächlich liegt in dem Versuch, verstehen zu wollen, eine unglaubliche Obszönität. In all den Jahren, in denen ich an Shoah arbeitete, war es meine eiserne Regel, nicht zu verstehen. An diese Weigerung habe ich mich geklammert als einzig mögliche Haltung, die zugleich ethisch und praktikabel war. Achtsam zu sein, Scheuklappen zu tragen und diese Blindheit selbst waren die Grundvoraussetzungen dafür, den Film drehen zu können.

Blindheit bedeutet hier, klar sehen zu können, sie ist die einzige Möglichkeit, den Blick von einer uns blendenden Realität nicht abwenden zu müssen: Blindheit als Scharfsichtigkeit. Um dem Schrecken ins Gesicht sehen zu können, muß man jeder Form von Zerstreuung, jeder Ausflucht abschwören und vor allem und zuallererst der so zentralen, aber falschen Frage nach dem Warum mit all den endlosen, akademischen Frivolitäten und schäbigen Kunstgriffen, die sie mit sich bringt. «Hier ist kein Warum»: Dieses Gesetz von Auschwitz, erinnert sich Primo Levi, hat ihn ein SS-Mann am Tag seiner Ankunft gelehrt. «Hier ist kein Warum»: Dieses Gesetz gilt für jeden, der Verantwortung für eine solche Überlieferung übernimmt. Denn nur auf den Akt des Überlieferns kommt es an: Ihm geht keine Verstehbarkeit, das heißt kein wahres Wissen voraus. Die Überlieferung selbst ist die Erkenntnis.

Was fundamental ist, läßt sich nicht zerteilen. Kein Warum, aber auch keine Antwort darauf, warum das Warum zurückgewiesen wird – aus Angst, dieser Obszönität zu verfallen.

 

 

Aus: Claude Lanzmann’s Shoah. Key Essays. Edited by Stuart Liebman. New York 2007. Übersetzung aus dem Englischen: Isabell Trommer. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Das Gedächtnis des Grauens

Vorwort von Simone de Beauvoir

Es ist nicht einfach, über Shoah zu sprechen. Dieser Film hat etwas Magisches an sich, und Magie läßt sich nicht erklären. Nach dem Krieg haben wir zahllose Zeugenaussagen über die Gettos und die Vernichtungslager gelesen; wir waren erschüttert. Doch wenn wir heute den außergewöhnlichen Film von Claude Lanzmann sehen, wird uns klar, daß wir nichts wußten. Trotz all unserer Kenntnisse war uns das grauenhafte Geschehen fremd geblieben. Jetzt erfahren wir es zum ersten Mal an uns selbst – in unseren Köpfen, in unseren Herzen, am eigenen Leib. Es wird zu unserer eigenen Erfahrung. Shoah ist weder Fiktion noch Dokumentation, es gelingt diesem Film, mit erstaunlich sparsamen Mitteln die Vergangenheit aufleben zu lassen: Orte, Stimmen, Gesichter. Claude Lanzmanns große Kunst besteht darin, daß er die Orte sprechen läßt, sie durch die Stimmen wieder ins Leben ruft und, über alle Worte hinaus, das Unsagbare von den Gesichtern ausdrücken läßt.

Die Orte. Die Nazis hatten sich gründlich bemüht, alle Spuren zu beseitigen; es ist ihnen jedoch nicht gelungen, alle Erinnerungen auszulöschen, und Claude Lanzmann hat die grauenvolle Wirklichkeit hinter der Tarnung – junge Wälder, frisches Gras – wieder aufzudecken vermocht. Unter dieser grünen Wiese befanden sich trichterförmige Gräben, in die Autobusse die auf der Fahrt vergasten Juden abluden. In diesen hübschen Fluß wurde die Asche der verbrannten Leichen geworfen. Dort sind die friedlichen Höfe, von denen aus die polnischen Bauern hören und auch sehen konnten, was in den Lagern geschah. Dort sind die Dörfer mit den schönen alten Häusern, deren jüdische Bewohner abgeholt und deportiert wurden.

Claude Lanzmann zeigt uns die Bahnhöfe von Treblinka, Auschwitz, Sobibor. Er betritt die heute mit Gras bewachsenen «Rampen», von denen aus Hunderttausende von Opfern in die Gaskammer getrieben wurden. Zu den ergreifendsten Bildern gehört für mich ein Berg von Koffern, schlicht die einen, eleganter die anderen, alle mit Namen und Adressen versehen. Mütter hatten vorsorglich Milchpulver, Talg und Weizenbreipulver hineingepackt, Kleidung, Lebensmittel und Medikamente in andere. Und nichts davon wurde gebraucht.

Die Stimmen. Sie erzählen, und weite Teile des Films hindurch beschreiben alle das Gleiche: die Ankunft der Züge, das Öffnen der Waggons, aus denen Leichen fallen, den Durst, die angsterfüllte Unkenntnis, das Entkleiden, die «Desinfektion», das Öffnen der Gaskammern. Doch nie hat man den Eindruck einer Wiederholung. Das liegt einmal an den unterschiedlichen Stimmen. Da ist die kalte, objektive Stimme von Franz Suchomel, SS-Unterscharführer von Treblinka; er ist es, der am genauesten und in allen Einzelheiten über die Vernichtung jedes Transports berichtet. Da sind die leicht verstörten Stimmen einzelner Polen: die des Lokomotivführers, den die Deutschen mit Wodka aufrechterhielten, der die Schreie der verdurstenden Kinder jedoch nicht ertrug, die des Stationsvorstehers von Sobibor, dem die Stille zu schaffen machte, die sich plötzlich über das nahe Lager gesenkt hatte.

Doch die Stimmen der Bauern sind oft gleichgültig, manchmal sogar spöttisch. Und da sind die Stimmen der wenigen Juden, die überlebt haben. Zwei oder drei von ihnen haben zu einer scheinbaren Gelassenheit gefunden. Doch viele können kaum sprechen, ihre Stimmen klingen gebrochen, sie sind in Tränen aufgelöst. Daß ihre Aussagen sich gleichen, ist nie ermüdend, ganz im Gegenteil. Man denkt an die absichtliche Wiederholung eines musikalischen Themas oder eines Leitmotivs. Denn der subtile Aufbau des Films erinnert an eine musikalische Komposition – mit seinen Momenten, in denen das Grauen den Höhepunkt erreicht, mit seinen friedlichen Landschaften, seinen Lamentos, seinen neutralen Einstellungen. Und das Ganze wird rhythmisiert durch das geradezu unerträgliche Rattern der Züge, die auf die Lager zurollen.

Gesichter. Sie sagen oft mehr aus als Worte. Die polnischen Bauern zeigen Mitleid. Aber viele wirken gleichgültig, ironisch, sogar zufrieden. Die Gesichter der Juden passen zu ihren Aussagen. Am merkwürdigsten sind die Gesichter der Deutschen. Franz Suchomel bleibt ungerührt, bis auf den Moment, als er ein Lied zu Ehren Treblinkas anstimmt und seine Augen aufleuchten. Doch die Behauptungen anderer, nichts gewußt zu haben, ihre Unschuldsbeteuerungen werden von ihrem verlegenen, verschlagenen Gesichtsausdruck widerlegt.

Claude Lanzmanns große Kunstfertigkeit besteht unter anderem darin, uns den Holocaust aus der Perspektive der Opfer, aber auch aus der Perspektive der «Techniker» vorzuführen, die ihn ermöglicht haben und die jede Verantwortung ablehnen. Charakteristisch für sie ist der Bürokrat, der die Transporte organisierte. Die Sonderzüge, erklärt er, seien Gruppen, die den halben Preis zahlten, für Ausflüge oder Urlaubsreisen zur Verfügung gestellt worden. Er leugnet nicht, daß auch die für die Lager bestimmten Transporte Sonderzüge waren. Aber er behauptet, nicht gewußt zu haben, daß die Lager Vernichtung bedeuteten. Er hielt sie für Arbeitslager, in denen die Schwächsten starben. Sein verlegener, ausweichender Blick straft ihn Lügen, wenn er beteuert, nichts gewußt zuhaben.

Etwas später erfahren wir von dem Historiker Raul Hilberg, daß die «umgesiedelten» Juden von dem Reisebüro den Urlaubern gleichgestellt wurden und daß die Juden ohne ihr Wissen ihre eigene Deportation finanzierten: Die Gestapo bezahlte sie mit ihren Vermögen, die sie konfisziert hatte.

Ein weiteres beeindruckendes Beispiel für die Widerlegung einer Aussage durch ein Gesicht ist einer der «Verwalter» des Warschauer Gettos. Er erklärt, er habe zum Überleben des Gettos beitragen, es vor Typhus schützen wollen. Die Fragen Claude Lanzmanns beantwortet er jedoch stotternd, sein Gesicht zerfällt, sein Blick weicht aus, er ist völlig verwirrt.

Claude Lanzmanns Gestaltung ist keiner chronologischen Ordnung unterworfen, ich würde eher sagen, daß wir es mit einer poetischen Konstruktion zu tun haben – wenn diese Bezeichnung bei einem solchen Thema angewendet werden darf. Es bedürfte einer ausführlichen Untersuchung, um auf die Resonanzen, Symmetrien, Asymmetrien und Harmonien hinzuweisen, auf denen diese Konstruktion beruht. So erklärt sich, daß das Warschauer Getto erst gegen Ende des Films beschrieben wird, wenn wir das erbarmungslose Schicksal der Eingeschlossenen bereits kennen. Auch hier liegt kein einstimmiger Bericht vor: es ist eine Totenklage aus mehreren, ineinander fließenden Stimmen. Karski, damals Kurier der polnischen Exilregierung, kommt der Bitte zweier hoher jüdischer Funktionäre nach und besucht das Getto, um vor der Welt Zeugnis abzulegen (übrigens vergeblich). Er sieht nur die grauenhafte Unmenschlichkeit dieser Welt in Agonie. Die wenigen Überlebenden des von deutschen Bomben erstickten Aufstands berichten dagegen von den Bemühungen, die unternommen wurden, um diesen Verdammten ihr Menschsein zu erhalten. Der Historiker Raul Hilberg spricht mit Lanzmann lange über den Selbstmord von Czerniakow, der geglaubt hatte, den Juden im Getto helfen zu können, und den am Tag der ersten Deportation jede Hoffnung verließ.

Das Ende des Films ist in meinen Augen wunderbar. Einer der wenigen Überlebenden des Aufstands steht allein inmitten von Ruinen. Er sagt, er habe damals so etwas wie Heiterkeit gespürt bei dem Gedanken: «Ich bin der letzte Jude und warte auf die Deutschen.» Und gleich darauf sieht man einen Zug mit einer weiteren Ladung zu den Lagern rollen.

Vergangenheit und Gegenwart sind für mich, wie für alle Zuschauer, nicht zu trennen. Ich sagte, daß das Magische an Shoah für mich in dieser Verschmelzung liegt. Ich möchte hinzufügen, daß ich eine solche Verbindung von Grauen und Schönheit nie für möglich gehalten hätte. Freilich, das eine dient nicht dazu, das andere zu verschleiern, es handelt sich nicht um Ästhetizismus, im Gegenteil: die Schönheit bringt das Grauen so schöpferisch und unnachgiebig an den Tag, daß uns bewußt wird, ein großes Werk vor uns zu haben. Ein wahres Meisterwerk.

Vorbemerkung

Ich stelle dem Leser in diesem Buch den vollständigen Text – das gesprochene Wort und die Untertitel – meines Films Shoah vor. Die Sprachen, die ich nicht beherrsche, wie Polnisch, Hebräisch und Jiddisch, sind in französischer Übersetzung in den Film aufgenommen worden, und die Dolmetscherinnen – Barbara Janica, Francine Kaufmann und Madame Apfelbaum – sind auf der Leinwand zu sehen. Ich habe ihre Art der Interpretation absolut respektiert und ebenso, bis aufs Wort, ihr Zögern, ihre Wiederholungen, die Unbeholfenheit der gesprochenen Sprache. Auch meine eigenen Äußerungen habe ich nicht geglättet. Wenn ich mich dagegen ohne die Vermittlung einer Dolmetscherin mit den Protagonisten auf deutsch oder englisch unterhalten konnte, wird unser Gespräch für die Zuschauer in Untertiteln wiedergegeben, die, in Zusammenarbeit mit mir, von Odette Audebeau-Cadier und Irith Leker angefertigt wurden und hier nachzulesen sind.[1]

Die Einfügung der Untertitel in den Film hat die typographische Gestaltung dieses Buches bestimmt: sie müssen in der Reihenfolge ihres Erscheinens auf der Leinwand eng mit dem Gesprochenen zusammengehen, sind jedoch nie ganz das gesprochene Wort. Die mögliche Anzahl von Wörtern kann von einem Untertitel zum anderen beträchtlich variieren, je nachdem, ob der Sprechende ruhig oder aufgeregt ist oder ob er schneller oder langsamer spricht – die Zeit, die das Lesen in Anspruch nimmt, bleibt dabei unverändert. Das Gesicht des Sprechenden, seine Mimik, seine Gesten, kurz: das Bild ist der natürliche Träger des Untertitels, seine Verkörperung, denn im Idealfall sollte er dem Gesprochenen weder vorausgehen noch folgen, sondern zeitlich mit ihm zusammentreffen, genau in dem Moment erscheinen, in dem das Wort gesprochen wird. Der beste Untertitel stellt daher sowohl den zufrieden, der die mit Untertiteln wiedergegebene fremde Sprache perfekt beherrscht und auf die Untertitel verzichten könnte, als auch den, der nur hier und da ein paar Worte versteht, dank der Untertitel jedoch die Illusion hat, sie voll und ganz zu verstehen. Mit anderen Worten: der beste Untertitel ist der, den man vergißt. Er erscheint auf der Leinwand und erstirbt, und sogleich folgt ihm ein anderer, der auf die gleiche Weise sein kurzes Leben fristet. Jeder einzelne leuchtet vor unseren Augen auf und wird im gleichen Augenblick ins Nichts zurückgeschickt, und die vom Lesen – und auch vom Übergang von einer Einstellung zur anderen – beanspruchte Zeit bestimmt die Anzahl der zur Verfügung stehenden Buchstaben und Zeichen, und diese wiederum bestimmen die Länge des Satzes und seinen endgültigen, oft gewaltsamen Schnitt: der ununterbrochene Wortschwall bereitet dem Untertitel ein jähes Ende.

Auf der Leinwand sind die Untertitel daher unwesentlich. Versammelt man sie dagegen in einem Buch, schreibt man diese Folge unverfälschter Augenblicke, die dem Film die durch seine filmische Anordnung gegebene Skandierung auferlegt, Seite für Seite nieder, wird aus dem Unwesentlichen plötzlich etwas Wesentliches, erlangen sie einen anderen Rang, eine andere Würde, gewissermaßen ein Siegel der Ewigkeit. Sie müssen allein bestehen, sich allein verteidigen, ohne Regieanweisung, ohne Bilder, ohne Gesichter, ohne Landschaften, ohne Tränen, ohne Schweigen, ohne die neuneinhalb Stunden Film, aus denen Shoah besteht.

Ungläubig lese ich immer wieder diesen kargen, nackten Text. Eine eigenartige Kraft durchzieht ihn, er hält stand, er lebt aus sich allein. Er ist die Sprache des Unheils, und das ist für mich ein weiteres Rätsel.

 

Claude Lanzmann

Einen ewigen Namen will ich ihnen geben, der nicht vergehen soll.

Jesaja 56,5

Erster Film

Die Handlung beginnt in unseren Tagen,

in Chelmno, in Polen.

Achtzig Kilometer nordwestlich von Lodz,

im Herzen einer Region, in der früher eine

große jüdische Bevölkerung lebte, war Chelmno

der Ort in Polen, an dem die ersten Juden durch

Gas umgebracht wurden. Es begann

am 7. Dezember 1941. 400 000 Juden

wurden in zwei verschiedenen Zeitabschnitten

in Chelmno ermordet: Dezember 1941 bis

Frühjahr 1943; Juni 1944 bis Januar 1945.

Die Art der Tötung

blieb bis zum Ende unverändert:

Vergasungswagen.

 

Von den 400 000 Männern, Frauen und

Kindern, die an diesen Ort kamen,

haben zwei überlebt: Mordechaï

Podchlebnik und Simon Srebnik.

Simon Srebnik, Überlebender der zweiten

Periode, war damals ein Kind von

dreizehneinhalb Jahren. Sein Vater war

vor seinen Augen im Getto von Lodz erschossen,

seine Mutter in einem der Wagen

von Chelmno vergast worden. Die SS-Männer

teilten ihn einem Kommando von

«Arbeitsjuden» zu, die die

Vernichtungsanlagen betrieben

und selber dem Tod geweiht waren.

 

Mit gefesselten Füßen, wie alle

seine Kameraden, ging das Kind

jeden Tag durch das Dorf Chelmno.

Daß Simon länger als die anderen verschont

wurde, hatte er seiner außergewöhnlichen Behendigkeit

zu verdanken, mit der er die Wettkämpfe gewann,

die die Nazis unter diesen

Gefesselten veranstalteten, im Springen oder

im Rennen. Und seiner melodischen Stimme:

mehrmals in der Woche, wenn die Kaninchen im

Hühnerhof der SS gefüttert werden mußten, fuhr

Simon Srebnik, von einer Wache beaufsichtigt,

den Ner hinauf, auf einem flachen Boot,

bis ans Dorfende, zu den Kleewiesen.

Er sang polnische Volkslieder, und die Wache brachte

ihm im Austausch preußische Soldatenlieder

bei. Jeder in Chelmno kannte

ihn. Die polnischen Bauern,

aber auch die deutsche Zivilbevölkerung,

denn diese polnische Provinz war gleich nach der

Kapitulation Warschaus dem Reich angegliedert,

germanisiert und in Warthegau umbenannt worden.

So wie Chelmno in Kulmhof, Lodz in

Litzmannstadt und Kolo in Warthbrücken umbenannt worden war.

Deutsche Siedler hatten sich überall im Warthegau

niedergelassen, und in Chelmno selbst gab es

eine deutsche Volksschule.

In der Nacht des 18. Januar 1945,

zwei Tage vor dem Eintreffen der sowjetischen

Truppen, töteten die Nazis die letzten

«Arbeitsjuden» durch Genickschuß. Auch Simon Srebnik

kam an die Reihe. Die Kugel ging an den

vitalen Zentren vorbei. Als er wieder zu sich kam,

kroch er zu einem Schweinestall.

Ein polnischer Bauer nahm ihn bei sich auf.

Ein Oberstabsarzt der Roten Armee

pflegte ihn, rettete ihn. Einige Monate

später brach Simon mit anderen Überlebenden nach Tel Aviv auf.

Und in Israel habe ich ihn gefunden.

Ich habe das singende Kind überzeugen können,

mit mir noch einmal nach Chelmno zu kommen.

Er war 47 Jahre alt.

Ein kleines weißes Haus

bleibt in meiner Erinnerung.

Von diesem kleinen weißen Haus

träum ich jede Nacht.

Bauern von Chelmno

Er war dreizehneinhalb Jahre alt.

Er hatte eine schöne Stimme, er sang wunderschön,

und man konnte ihn hören.

Ein kleines weißes Haus

bleibt in meiner Erinnerung.

Von diesem kleinen weißen Haus

träum ich jede Nacht.

Als ich ihn heute wieder singen hörte, hat

mein Herz viel schneller geschlagen,

denn was hier geschehen ist, war Mord.

Ich habe wirklich noch einmal erlebt, was geschehen ist.

Simon Srebnik

Es ist schwer zu erkennen, aber das war hier.

 

Ja. Da waren gebrennt Leute.

Viel Leute waren hier verbrannt.

Ja, das ist das Platz.

 

Wer hier hereingekommen, zurück hat er schon

kein Weg gehabt mehr.

 

Die Gaswagen sind hier reingekommen,

da, hier waren zwei große Öfen,

und nachher haben die hier die

reingeschmissen,

in die, in den Ofen, und das Feuer ist

gegangen zum Himmel.

Zum Himmel?

Ja. Ja.

Das war furchtbar.

 

Das … das … das kann man nicht erzählen.

Niemand kann das nicht bringen zum Besinnen,

was war so was da hier war.

Unmöglich. Und keiner kann das nicht ver-

stehen.

Und jetzt glaub ich auch, ich kann das auch schon

nicht verstehen.

 

Ich glaube nicht, daß ich da hier …

Das kann ich nicht glauben, daß ich bin hier

noch einmal.

 

Das war immer so ruhig hier. Immer.

Wenn die haben da jeden Tag verbrannt

zweitausend Leute, Juden,

es war auch so ruhig.

Niemand hat geschrien. Jeder hat seine

Arbeit gemacht.

 

Es war still. Ruhig.

So wie jetzt, so war es.

(Er singt) Mädchen wein nicht

… sei nicht so traurig

weil der liebe Sommer kommt

komm ich zurück.

Eine Flasche Rotwein

und ein Stückchen Braten

schenken die Mädchen

ihren Soldaten.

Warum darum warum darum

nur meine Kinder assa Kinder assa bum

Wenn die Soldaten

durch die Stadt marschieren

öffnen die Mädchen

die Fenster und die Türen.

Warum darum warum darum

nur meine Kinder assa Kinder assa bum

nur meine Kinder assa Kinder assa bum.

Bauern von Chelmno

Sie glaubten, die Deutschen hätten das absichtlich gemacht,

daß er auf dem Fluß singt.

 

Er war ein Spielzeug, mit dem

sie sich die Zeit vertrieben.

Er war gezwungen, es zu tun.

Er sang, aber sein Herz weinte.

Und weint Ihr eigenes Herz,

wenn Sie daran zurückdenken?

Natürlich, oft.

Wenn die Familie zusammen ist, sprechen sie

noch heute davon, bei Tisch.

Denn es war bekannt,

dicht an der Straße, alle wußten es.

 

Das war wirklich der Humor der Deutschen,

sie brachten Menschen um, aber er mußte singen.

Das habe ich damals gedacht.

Der andere Überlebende, Mordechaï Podchlebnik (Israel)

Was ist in Chelmno in ihm gestorben?

Alles ist gestorben.

Alles ist gestorben, aber man ist nur ein Mensch,

und man will leben.

Deshalb muß man vergessen.

Er dankt Gott für das, was geblieben ist, und dafür, daß

er vergißt. Und daß niemand mehr darüber spricht.

Findet er es gut, darüber zu sprechen?

Es ist nicht gut, für mich ist es nicht gut.

Warum spricht er dann trotzdem darüber?

Er spricht, weil er jetzt gezwungen ist zu sprechen,

aber er hat Bücher über den Eichmann-Prozeß bekommen,

bei dem er Zeuge war,

und er liest sie nicht einmal.

Hat er als Lebender überlebt oder …

An Ort und Stelle hat er es

wie ein Toter erlebt,

weil er nie glaubte, daß er überleben würde,

aber er ist lebendig.

Warum lächelt er die ganze Zeit?

Was soll er Ihrer Meinung nach tun, weinen?

Einmal lächelt man, einmal weint man.

Und wenn man lebt,

lächelt man besser …

Hanna Zaïdl, Tochter von Motke Zaïdl (Israel), Überlebender von Wilna

Warum hat sie sich so stark für diese Geschichte

interessiert?

Es ist eine sehr lange Geschichte.

Ich weiß, daß ich, als ich klein war,

kaum Kontakt zu meinem Vater hatte.

Einmal, weil er außer Haus arbeitete, ich sah ihn selten,

und außerdem war er ein schweigsamer Mann,

er redete nicht mit mir.

Und dann, als ich größer war, als ich die Kraft hatte,

ihm gegenüberzustehen,

habe ich ihn gefragt und gefragt, immerzu gefragt,

bis es mir gelungen ist, ihm all die Brocken

Wahrheit zu entreißen, die er mir nicht sagen konnte,

denn in Wirklichkeit begann er,

mir mit halben Sätzen zu antworten,

ich mußte ihm die Einzelheiten geradezu entreißen,

und schließlich habe ich, als Herr Lanzmann

zum ersten Mal gekommen ist,

glaube ich, die Geschichte vollständig erfahren.

Motke Zaïdl und Itzhak Dugin, Überlebende von Wilna

Die ganze Gegend ähnelt Ponari,

der Wald, die Gräben.

Man könnte beinahe glauben, daß die Leichen

hier verbrannt wurden.

Der einzige Unterschied ist der,

daß es in Ponari keine Steine gab.

Aber die Wälder in Litauen

sind doch viel dichter

als die Wälder Israels, nicht?

Sicher.

Ja, die Bäume sind ähnlich,

aber dort waren sie höher, größer.

Jan Piwonski (Sobibor)

Wird heute hier im Wald von Sobibor gejagt?

Ja, hier wird immer noch gejagt,

es gibt alle möglichen Tiere.

Wurde damals gejagt?

Nein, damals machte man hier

nur Jagd auf Menschen.

 

Es gab Fluchtversuche.

Aber die Opfer kannten das Gelände nicht gut.

Von Zeit zu Zeit hörten sie Explosionen

auf dem Minenfeld,

und manchmal fanden sie ein Reh,

und manchmal einen unglücklichen Juden,

der versucht hatte zu fliehen.

 

Das ist der Charme unserer Wälder, diese Stille,

diese Schönheit.

 

Aber ich muß Ihnen sagen, daß diese Stille hier nicht immer herrschte.

 

Es gab eine Zeit, in der hörte man hier, wo wir sind,

überall Schreie, Schüsse, Bellen,

und es ist vor allem diese Zeit,

die sich den Menschen, die damals hier wohnten,

ins Gedächtnis eingegraben hat.

 

Nach dem Aufstand haben die Deutschen beschlossen,

das Lager zu liquidieren,

und zu Beginn des Winters 1943

haben sie kleine drei- bis vierjährige Kiefern angepflanzt,

um alle Spuren zu verwischen.

Das ist diese Baumreihe?

Ja.

Waren hier überall Massengräber?

Ja. Als er 1944 zum ersten Mal hierherkam,

konnte man sich nicht vorstellen, was hier geschehen war.

Man konnte nicht ahnen,

daß sich hinter diesen Bäumen das Geheimnis

eines Vernichtungslagers verbarg.

Mordechaï Podchlebnik

Was ist mit ihm geschehen, als er

zum ersten Mal die Leichen entlud,

als die Türen seines ersten Gaswagens geöffnet wurden?

Was sollte er machen? Er hat geweint …

Am dritten Tag hat er seine Frau und seine Kinder gesehen.

Er hat seine Frau in die Grube gelegt

und verlangt, daß man ihn tötet.

Die Deutschen haben ihm gesagt,

er hätte noch die Kraft zum Arbeiten,

und sie würden ihn jetzt nicht töten.

War es sehr kalt?

Es war im Winter 1942, Anfang Januar.

Und damals wurden die Juden nicht verbrannt,

sondern einfach begraben?

Ja, sie wurden begraben,

und jede Reihe wurde mit Erde bedeckt,

sie wurden noch nicht verbrannt.

Es gab ungefähr vier bis fünf Schichten,

und die Gruben hatten die Form eines Trichters.

Sie warfen die Leichen in diese Gruben,

und sie mußten sie wie Heringe Kopf an Fuß legen.

Motke Zaïdl und Itzhak Dugin

Die beiden also haben alle Juden von Wilna

ausgegraben und verbrannt?

Ja.