Der Untertan

Heinrich Mann

Der Untertan

Große Neuausgabe

Mit einem Nachwort und Materialienanhang von Ariane Martin

Roman

FISCHER E-Books

Inhalt

Über Heinrich Mann

Heinrich Mann, geboren 1871 in Lübeck, begann nach dem Abgang vom Gymnasium eine Buchhandelslehre, 1891 bis 1892 volontierte er im S. Fischer Verlag, Berlin. Bis 1914 längere Italien-Aufenthalte, später München, ab 1928 Berlin. 1931 wurde er zum Präsidenten der Sektion für Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste zu Berlin gewählt. Die Verfilmung seines Romans Professor Unrat (unter dem Titel »Der blaue Engel« mit Marlene Dietrich) machte ihn weltberühmt. Februar 1933 erzwungener Austritt aus der Akademie; Emigration über Frankreich (Nizza), Spanien und Portugal 1940 nach Kalifornien. 1949 nahm er die Berufung zum Präsidenten der neu zu gründenden Deutschen Akademie der Künste zu Berlin (Ost) an. Heinrich Mann starb 1950 in Santa Monica / Kalifornien. Seine Urne ist auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin beigesetzt.

Impressum

Originalausgabe

Sonderausgabe

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

Covergestaltung: Andreas Heilmann und Gundula Hissmann, Hamburg

Coverabbildung: Estate of George Grosz, Princeton, N.J. / VG Bildkunst, Bonn, 2020. Foto: Ketterer Kunst, München

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-10-491283-7

Erste Seite des Manuskripts

Diederich Heßling war ein weiches Kind, das am liebsten träumte, sich vor allem fürchtete und viel an den Ohren litt. Ungern verließ er im Winter die warme Stube, im Sommer den engen Garten, der nach den Lumpen der Papierfabrik roch und über dessen Goldregen- und Fliederbäumen das hölzerne Fachwerk der alten Häuser stand. Wenn Diederich vom Märchenbuch, dem geliebten Märchenbuch, aufsah, erschrak er manchmal sehr. Neben ihm auf der Bank hatte ganz deutlich eine Kröte gesessen, halb so groß wie er selbst! Oder an der Mauer dort drüben stak bis zum Bauch in der Erde ein Gnom und schielte her!

Fürchterlicher als Gnom und Kröte war der Vater, und obendrein sollte man ihn lieben. Diederich liebte ihn. Wenn er genascht oder gelogen hatte, drückte er sich so lange schmatzend und scheu wedelnd am Schreibpult umher, bis Herr Heßling etwas merkte und den Stock von der Wand nahm. Jede nicht herausgekommene Untat mischte in Diederichs Ergebenheit und Vertrauen einen Zweifel. Als der Vater einmal mit seinem invaliden Bein die Treppe herunterfiel, klatschte der Sohn wie toll in die Hände – worauf er weglief.

Kam er nach einer Abstrafung mit gedunsenem Gesicht und unter Geheul an der Werkstätte vorbei, dann lachten die Arbeiter. Sofort aber streckte Diederich nach ihnen die Zunge aus und stampfte. Er war sich bewußt: ›Ich habe Prügel bekommen, aber von meinem Papa. Ihr wäret froh, wenn ihr auch Prügel von ihm bekommen könntet. Aber dafür seid ihr viel zuwenig.‹

Er bewegte sich zwischen ihnen wie ein launenhafter Pascha; drohte ihnen bald, es dem Vater zu melden, daß sie sich Bier holten, und bald ließ er kokett aus sich die Stunde herausschmeicheln, zu der Herr Heßling zurückkehren sollte. Sie waren auf der Hut vor dem Prinzipal: er kannte sie, er hatte selbst gearbeitet. Er war Büttenschöpfer gewesen in den alten Mühlen, wo jeder Bogen mit der Hand geformt ward; hatte

Frau Heßling wollte Diederich nötigen, vor dem Vater hinzufallen und ihn um Verzeihung zu bitten, weil der Vater seinetwegen geweint habe! Aber Diederichs Instinkt sagte ihm, daß dies den Vater nur noch mehr erbost haben würde. Mit der gefühlsseligen Art seiner Frau war Heßling durchaus nicht einverstanden. Sie verdarb das Kind fürs Leben. Übrigens ertappte er sie geradeso auf Lügen wie den Diedel. Kein Wunder, da sie Romane las! Am Sonnabendabend war nicht immer die Wochenarbeit getan, die ihr aufgegeben war. Sie klatschte, anstatt sich zu rühren, mit dem Mädchen … Und Heßling wußte noch nicht einmal, daß seine Frau auch naschte, gerade wie das Kind. Bei Tisch wagte sie sich nicht satt zu essen und schlich nachträglich an den Schrank. Hätte sie sich in die Werkstätte getraut, würde sie auch Knöpfe gestohlen haben.

Sie betete mit dem Kind »aus dem Herzen«, nicht nach Formeln, und bekam dabei gerötete Wangenknochen. Sie schlug es auch, aber Hals

Dennoch hatten die beiden von Gemüt überfließende Dämmerstunden. Aus den Festen preßten sie gemeinsam, vermittelst Gesang, Klavierspiel und Märchenerzählen, den letzten Tropfen Stimmung heraus. Als Diederich am Christkind zu zweifeln anfing, ließ er sich von der Mutter bewegen, noch ein Weilchen zu glauben, und er fühlte sich dadurch erleichtert, treu und gut. Auch an ein Gespenst, droben auf der Burg, glaubte er hartnäckig, und der Vater, der davon nichts hören wollte, schien ihm zu stolz, beinahe strafwürdig. Die Mutter nährte ihn mit Märchen. Sie teilte ihm ihre Angst mit vor den neuen, belebten Straßen und der Pferdebahn, die hindurchfuhr, und führte ihn über den Wall nach der Burg. Dort genossen sie das wohlige Grausen.

Ecke der Meisestraße hinwieder mußte man an einem Polizisten vorüber, der, wen er wollte, ins Gefängnis abführen konnte! Diederichs Herz klopfte beweglich; wie gern hätte er einen weiten Bogen gemacht! Aber dann würde der Polizist sein schlechtes Gewissen erkannt und ihn aufgegriffen haben. Es war vielmehr geboten, zu beweisen, daß man sich rein und ohne Schuld fühlte – und mit zitternder Stimme fragte Diederich den Schutzmann nach der Uhr.

 

Nach so vielen furchtbaren Gewalten, denen man unterworfen war, nach den Märchenkröten, dem Vater, dem lieben Gott, dem Burggespenst und der Polizei, nach dem Schornsteinfeger, der einen durch den ganzen Schlot schleifen konnte, bis man auch ein schwarzer Mann war, und dem Doktor, der einen im Hals pinseln durfte und schütteln, wenn man schrie – nach allen diesen Gewalten geriet nun Diederich unter eine

Denn Diederich war so beschaffen, daß die Zugehörigkeit zu einem unpersönlichen Ganzen, zu diesem unerbittlichen, menschenverachtenden, maschinellen Organismus, der das Gymnasium war, ihn beglückte, daß die Macht, die kalte Macht, an der er selbst, wenn auch nur leidend, teilhatte, sein Stolz war. Am Geburtstag des Ordinarius bekränzte man Katheder und Tafel. Diederich umwand sogar den Rohrstock.

Im Lauf der Jahre berührten zwei über Machthaber hereingebrochene Katastrophen ihn mit heiligem und süßem Schauder. Ein Hilfslehrer ward vor der Klasse vom Direktor heruntergemacht und entlassen. Ein Oberlehrer ward wahnsinnig. Noch höhere Gewalten, der Direktor und das Irrenhaus, waren hier gräßlich mit denen abgefahren, die bis eben so hohe Gewalt hatten. Von unten, klein, aber unversehrt, durfte man die Leichen betrachten und aus ihnen eine die eigene Lage mildernde Lehre ziehen.

Die Macht, die ihn in ihrem Räderwerk hatte, vor seinen jüngeren Schwestern vertrat Diederich sie. Sie mußten nach seinem Diktat schreiben und künstlich noch mehr Fehler machen, als ihnen von selbst gelangen, damit er mit roter Tinte wüten und Strafen austeilen konnte. Sie

Er hatte, den Machthabern nachzuahmen, keinen Menschen nötig; ihm genügten Tiere, sogar Dinge. Er stand am Rande des Holländers und sah die Trommel die Lumpen ausschlagen. »Den hast du weg! Untersteht euch noch mal! Infame Bande!« murmelte Diederich, und in seinen blassen Augen glomm es. Plötzlich duckte er sich; fast fiel er in das Chlorbad. Der Schritt eines Arbeiters hatte ihn aufgestört aus seinem lästerlichen Genuß.

Denn recht geheuer und seiner Sache gewiß fühlte er sich nur, wenn er selbst die Prügel bekam. Kaum je widerstand er dem Übel. Höchstens bat er den Kameraden: »Nicht auf den Rücken, das ist ungesund.«

Nicht, daß es ihm am Sinn für sein Recht und an Liebe zum eigenen Vorteil fehlte. Aber Diederich hielt dafür, daß Prügel, die er bekam, dem Schlagenden keinen praktischen Gewinn, ihm selbst keinen realen Verlust zufügten. Ernster als diese bloß idealen Werte nahm er die Schaumrolle, die der Oberkellner vom Netziger Hof ihm schon längst versprochen hatte, und mit der er nie herausrückte. Diederich machte unzählige Male ernsten Schrittes den Geschäftsweg die Meisestraße hinauf und zum Markt, um seinen befrackten Freund zu mahnen. Als der aber eines Tages von seiner Verpflichtung überhaupt nichts mehr wissen wollte, erklärte Diederich und stampfte ehrlich entrüstet auf: »Jetzt wird mir’s doch zu bunt! Wenn Sie nun nicht gleich herausrücken, sag ich’s Ihrem Herrn!« Darauf lachte Schorsch und brachte die Schaumrolle.

Das war ein greifbarer Erfolg. Leider konnte Diederich ihn nur hastig und in Sorge genießen, denn es war zu fürchten, daß Wolfgang Buck, der draußen wartete, darüber zukam und den Anteil verlangte, der ihm versprochen war. Indes fand er Zeit, sich sauber den Mund zu wischen, und vor der Tür brach er in heftige Schimpfreden auf Schorsch aus, der ein Schwindler sei und gar keine Schaumrolle habe. Diederichs Gerechtigkeitsgefühl, das sich zu seinen Gunsten noch eben so kräftig geäußert hatte, schwieg vor den Ansprüchen des anderen – die man freilich nicht einfach außer acht lassen durfte, dafür war Wolfgangs Vater eine viel zu

Einmal nur, in Untertertia, geschah es, daß Diederich jede Rücksicht vergaß, sich blindlings betätigte und zum siegestrunkenen Unterdrücker ward. Er hatte, wie es üblich und geboten war, den einzigen Juden seiner Klasse gehänselt, nun aber schritt er zu einer ungewöhnlichen Kundgebung. Aus Klötzen, die zum Zeichnen dienten, erbaute er auf dem Katheder ein Kreuz und drückte den Juden davor in die Knie. Er hielt ihn fest, trotz allem Widerstand; er war stark! Was Diederich stark machte, war der Beifall ringsum, die Menge, aus der heraus Arme ihm halfen, die überwältigende Mehrheit drinnen und draußen. Denn durch ihn handelte die Christenheit von Netzig. Wie wohl man sich fühlte bei geteilter Verantwortlichkeit und einem Selbstbewußtsein, das kollektiv war!

Nach dem Verrauchen des Rausches stellte wohl leichtes Bangen sich ein, aber das erste Lehrergesicht, dem Diederich begegnete, gab ihm allen Mut zurück; es war voll verlegenen Wohlwollens. Andere bewiesen ihm offen ihre Zustimmung. Diederich lächelte mit demütigem Einverständnis zu ihnen auf. Er bekam es leichter seitdem. Die Klasse konnte die Ehrung dem nicht versagen, der die Gunst des neuen Ordinarius besaß. Unter ihm brachte Diederich es zum Primus und zum geheimen Aufseher. Wenigstens die zweite dieser Ehrenstellen behauptete er auch

Andererseits empfand er gegen die Mitschüler, deren Fortkommen seine Tätigkeit in Frage stellte, zumeist keine persönliche Abneigung. Er benahm sich als pflichtmäßiger Vollstrecker einer harten Notwendigkeit. Nachher konnte er zu dem Getroffenen hintreten und ihn, fast ganz aufrichtig, beklagen. Einst ward mit seiner Hilfe einer gefaßt, der schon längst verdächtig war, alles abzuschreiben. Diederich überließ ihm, mit Wissen des Lehrers, eine mathematische Aufgabe, die in der Mitte absichtlich gefälscht und deren Endergebnis dennoch richtig war. Am Abend nach dem Zusammenbruch des Betrügers saßen einige Primaner vor dem Tor in einer Gartenwirtschaft, was zum Schluß der Turnspiele erlaubt war, und sangen. Diederich hatte den Platz neben seinem Opfer gesucht. Einmal, als ausgetrunken war, ließ er die Rechte vom Krug herab auf die des anderen gleiten, sah ihm treu in die Augen und stimmte in Baßtönen, die von Gemüt schleppten, ganz allein an:

 

»Ich hatt einen Kameraden,

Einen bessern findst du nit …«

 

Übrigens genügte er bei zunehmender Schulpraxis in allen Fächern, ohne in einem das Maß des Geforderten zu überschreiten oder auf der Welt irgend etwas zu wissen, was nicht im Pensum vorkam. Der deutsche

Seit seiner Versetzung nach Prima galt seine Gymnasialkarriere für gesichert, und bei Lehrern und Vater drang der Gedanke durch, er solle studieren. Der alte Heßling, der sechsundsechzig und einundsiebzig durch das Brandenburger Tor eingezogen war, schickte Diederich nach Berlin.

 

Weil er sich aus der Nähe der Friedrichstraße nicht fortgetraute, mietete er sein Zimmer droben in der Tieckstraße. Jetzt hatte er nur in gerader Linie hinunterzugehen und konnte die Universität nicht verfehlen. Er besuchte sie, da er nichts anderes vorhatte, täglich zweimal, und in der Zwischenzeit weinte er oft vor Heimweh. Er schrieb einen Brief an Vater und Mutter und dankte ihnen für seine glückliche Kindheit. Ohne Not ging er nur selten aus. Kaum, daß er zu essen wagte; er fürchtete, sein Geld vor dem Ende des Monats auszugeben. Und immerfort mußte er nach der Tasche fassen, ob es noch da sei.

So verlassen ihm um das Herz war, ging er doch noch immer nicht mit dem Brief des Vaters in die Blücherstraße zu Herrn Göppel, dem Zellulosefabrikanten, der aus Netzig war und auch an Heßling lieferte. Am vierten Sonntag besiegte er seine Scheu – und kaum watschelte der gedrungene, gerötete Mann, den er schon so oft beim Vater im Kontor gesehen hatte, auf ihn zu, da wunderte Diederich sich schon, daß er nicht früher gekommen sei. Herr Göppel fragte gleich nach ganz Netzig und vor allem nach dem alten Buck. Denn obwohl sein Kinnbart nun auch ergraut war, hatte er doch, wie Diederich, nur, wie es schien, aus anderen Gründen, schon als Knabe den alten Buck verehrt. Das war ein Mann: Hut ab! Einer von denen, die das deutsche Volk hochhalten sollte, höher als gewisse Leute, die immer alles mit Blut und Eisen kurieren wollten und dafür der Nation riesige Rechnungen schrieben. Der alte Buck war schon achtundvierzig dabeigewesen, er war sogar zum Tode verurteilt worden. »Ja, daß wir hier als freie Männer sitzen können«, sagte Herr Göppel, »das verdanken wir solchen Leuten wie dem alten Buck.« Und

Herr Göppel bekannte sich als freisinnigen Gegner Bismarcks. Diederich bestätigte alles, was Göppel wollte; er hatte über den Kanzler, die Freiheit, den jungen Kaiser keinerlei Meinung. Da aber ward er peinlich berührt, denn ein junges Mädchen war eingetreten, das ihm auf den ersten Blick durch Schönheit und Eleganz gleich furchtbar erschien.

»Meine Tochter Agnes«, sagte Herr Göppel.

Diederich stand da, in seinem faltenreichen Gehrock, als magerer Kandidat, und war rosig überzogen. Das junge Mädchen gab ihm die Hand. Sie wollte wohl nett sein, aber was war mit ihr anzufangen. Diederich antwortete ja, als sie fragte, ob Berlin ihm gefalle; und als sie fragte, ob er schon im Theater gewesen sei, antwortete er nein. Er fühlte sich feucht vor Ungemütlichkeit und war fest überzeugt, sein Aufbruch sei das einzige, womit er das junge Mädchen interessieren könne. Aber wie war von hier fortzukommen? Zum Glück stellte ein anderer sich ein, ein breiter Mensch namens Mahlmann, der mit ungeheurer Stimme mecklenburgisch sprach, stud. ing. zu sein schien und bei Göppels Zimmerherr sein sollte. Er erinnerte Fräulein Agnes an einen Spaziergang, den sie verabredet hätten. Diederich ward aufgefordert, mitzukommen. Entsetzt schützte er einen Bekannten vor, der draußen auf ihn warte, und machte sich sofort davon. ›Gott sei Dank‹, dachte er, während es ihm einen Stich gab, ›sie hat schon einen.‹

Herr Göppel öffnete ihm im Dunkeln die Flurtür und fragte, ob sein Freund auch Berlin kenne. Diederich log, der Freund sei Berliner. »Denn wenn Sie es beide nicht kennen, kommen Sie noch in den falschen Omnibus. Sie haben sich gewiß schon mal verirrt in Berlin.« Und als Diederich es zugab, zeigte Herr Göppel sich befriedigt. »Das ist nicht wie in Netzig. Hier laufen Sie gleich halbe Tage. Was glauben Sie wohl, wenn Sie von Ihrer Tieckstraße bis hierher zum Halleschen Tor gehen, dann sind Sie ja schon dreimal durch ganz Netzig gestiegen … Na, nächsten Sonntag kommen Sie nun aber zum Mittagessen!«

Diederich versprach es. Als es soweit war, hätte er lieber abgesagt; nur

»Ja. Das ist überhaupt die einzige Wissenschaft, die Berechtigung hat«, behauptete Diederich, ohne zu wissen, wie er dazu kam.

Fräulein Göppel ließ ihren Beutel fallen; er bückte sich so nachlässig, daß sie ihn wiederhatte, bevor er zur Stelle war. Trotzdem sagte sie danke, ganz weich, fast beschämt – was Diederich ärgerte. ›Kokette Weiber sind etwas Gräßliches‹, dachte er. Sie suchte in ihrem Beutel.

»Jetzt hab ich es doch verloren. Mein englisches Pflaster nämlich. Es blutet wieder.«

Sie wickelte ihren Finger aus dem Taschentuch. Er hatte so sehr die Weiße des Schnees, daß Diederich der Gedanke kam, das Blut, das darauf lag, müsse hineinsickern.

»Ich habe welches«, sagte er, mit einem Ruck.

Er ergriff ihren Finger, und bevor sie das Blut wegwischen konnte, hatte er es abgeleckt.

»Was machen Sie denn?«

Er war selbst erschrocken. Er sagte mit streng gefalteten Brauen: »Oh, ich als Chemiker probiere noch ganz andere Sachen.«

Sie lächelte. »Ach ja, Sie sind ja eine Art Doktor … Wie gut Sie das können«, bemerkte sie und sah ihm beim Aufkleben des Pflasters zu.

»So«, machte er, ablehnend, und trat zurück. Ihm war es schwül geworden, er dachte: ›Wenn man nur nicht immer ihre Haut anfassen müßte! Sie ist widerlich weich.‹ Agnes sah an ihm vorbei. Nach einer Pause versuchte sie: »Haben wir nicht eigentlich in Netzig gemeinschaftliche Verwandte?« Und sie nötigte ihn, mit ihr ein paar Familien durchzugehen. Es stellte sich Vetternschaft heraus.

»Sie haben auch noch Ihre Mutter, nicht? Dann können Sie sich freuen. Meine ist längst tot. Ich werde wohl auch nicht lange leben. Man hat so Ahnungen« – und sie lächelte wehmütig und entschuldigend.

Herr Göppel kam mit seinen drei Schwestern. Eine von ihnen hatte Mann und Kinder mit. Der Vater und die Tanten umarmten und küßten Agnes. Sie taten es mit dringlicher Innigkeit und hatten dabei behutsame Mienen. Das junge Mädchen war schlanker und größer als sie alle und blickte ein wenig zerstreut auf die hinab, die eben an ihren schmächtigen Schultern hing. Nur ihrem Vater erwiderte sie langsam und ernst seinen Kuß. Diederich sah dem zu und sah in der Sonne die hellblauen Adern, überzogen von roten Haaren, ihre Schläfe kreuzen.

Er mußte eine der Tanten ins Eßzimmer führen. Der Mecklenburger hatte Agnes’ Arm in den seinen gehängt. Um den langen Familientisch raschelten die seidenen Sonntagskleider. Die Gehröcke wurden über den Knien zusammengelegt. Man räusperte sich, die Herren rieben die Hände. Dann kam die Suppe.

Diederich saß von Agnes weit weg und konnte sie nicht sehen, wenn er sich nicht vorbeugte – was er sorgfältig vermied. Da seine Nachbarin ihn in Ruhe ließ, aß er große Mengen Kalbsbraten und Blumenkohl. Er hörte ausführlich das Essen besprechen und mußte bestätigen, daß es

Diederich nahm innerlich Partei für sie. Er hatte eine Wallung von Heldentum: er hätte machen wollen, daß sie alles dürfte, daß sie glücklich war und es ihm dankte … Da fragte Herr Göppel ihn, ob er in das Konzert wolle. »Ich weiß nicht«, sagte er verächtlich und sah Agnes an, die sich vorbeugte. »Was ist das für eins? Ich gehe nur in Konzerte, wo ich Bier trinken kann.«

»Sehr vernünftig«, sagte der Schwager des Herrn Göppel.

Agnes hatte sich zurückgezogen, und Diederich bereute seinen Ausspruch.

Aber die Creme, auf die alle gespannt waren, blieb aus. Herr Göppel riet seiner Tochter, einmal nachzusehen. Bevor sie ihren Kompotteller hingesetzt hatte, war Diederich aufgesprungen – sein Stuhl flog an die Wand – und festen Schritts zur Tür geeilt. »Marie! Der Krehm!« rief er hinaus. Rot und ohne jemand anzusehen, ging er wieder an seinen Platz. Aber er merkte ganz gut, sie blinzelten sich zu. Mahlmann stieß sogar höhnisch den Atem aus. Der Schwager äußerte mit künstlicher Harmlosigkeit: »Immer galant! So soll es sein.« Herr Göppel lächelte zärtlich zu Agnes hin, die nicht von ihrem Kompott aufsah. Diederich stemmte das Knie gegen die Tischplatte, daß sie anfing sich zu heben. Er dachte: ›Gott, o Gott, hätte ich nur das nicht getan!‹

Beim Mahlzeitsagen gab er allen die Hand, nur um Agnes drückte er

»Was studieren Sie denn, junger Mann?« fragte sie.

»Chemie.«

»Ach so, Physik?«

»Nein, Chemie.«

»Ach so.«

Und so imposant sie angefangen hatte, hierüber kam sie nicht hinweg. Diederich nannte sie im stillen eine dumme Gans. Die ganze Gesellschaft paßte ihm nicht. Von feindseliger Schwermut erfüllt, sah er darein, bis die letzten Verwandten aufgebrochen waren. Agnes und ihr Vater hatten sie hinausbegleitet. Herr Göppel kehrte zurück, erstaunt, den jungen Mann allein noch im Zimmer zu finden. Er schwieg forschend, einmal faßte er in die Tasche. Als Diederich unvermittelt, ohne um Geld gebeten zu haben, Abschied nahm, bekundete Göppel große Herzlichkeit. »Meine Tochter werd ich von Ihnen grüßen«, sagte er sogar, und an der Tür, nachdem er ein wenig überlegt hatte: »Kommen Sie doch nächsten Sonntag wieder!«

Diederich war fest entschlossen, das Haus nicht mehr zu betreten. Dennoch ließ er tags darauf alles stehen und liegen, um sich durch die Stadt bis zu einem Geschäft zu fragen, wo er für Agnes das Konzertbillett kaufen konnte. Vorher mußte er auf den Zetteln, die dort hingen, den Namen des Virtuosen herausfinden, den Agnes erwähnt hatte. War es der? Hatte er so geklungen? Diederich entschloß sich. Als er dann erfuhr, es koste vier Mark fünfzig, riß er vor Schrecken die Augen weit auf. So viel Geld, um einen zu sehen, der Musik machte! Wenn man nur einfach wieder fortgekonnt hätte! Als er bezahlt hatte und draußen war, entrüstete er sich zunächst über den Schwindel. Dann bedachte er, daß es für Agnes geschehen sei, und ward von sich selbst erschüttert. Immer weicher und glücklicher ging er durch das Gewühl. Es war das erste Geld, das er für einen anderen Menschen ausgegeben hatte.

Er legte das Billett in einen Umschlag, in den er nichts weiter legte,

»Mich nicht«, sagte Diederich noch geringschätziger. »Ich pfeife auch darauf.«

»Ihr Schade!« Mahlmann lachte tobend – worauf er vorschlug, einen Bummel zu machen. Daraus ward eine Bierreise. Die ersten Gaslichter sahen sie beide betrunken. Etwas später, in der Leipziger Straße, bekam Diederich ohne Anlaß von Mahlmann eine mächtige Ohrfeige. Er sagte: »Au! Das ist aber doch eine –« Vor dem Wort »Frechheit« schrak er zurück. Der Mecklenburger klopfte ihm auf die Schulter. »Recht freundlich, Kleiner! Alles bloß Freundschaft!« – und überdies nahm er Diederich die letzten zehn Mark ab … Vier Tage später fand er ihn schwach vor Hunger und teilte ihm von dem, was er inzwischen anderswo gepumpt hatte, großmütig drei Mark mit. Am Sonntag bei Göppels – mit weniger leerem Magen wäre Diederich vielleicht nicht hingegangen – erzählte Mahlmann, daß Heßling all sein Geld verlumpt habe und sich heute mal satt essen müsse. Herr Göppel und sein Schwager lachten verständnisvoll, aber Diederich hätte lieber nie geboren sein wollen, als von Agnes so traurig prüfend angesehen werden. Sie verachtete ihn! Verzweifelt tröstete er sich: ›Es ist alles eins, sie hat es schon immer getan!‹

»Unsinn! Wie sollte ich dazu wohl kommen«, entgegnete er so unliebenswürdig, daß sie ihm glaubten. Agnes zögerte ein wenig, bevor sie wegsah. Mahlmann bot den Damen Pralinés an und stellte die übrigen vor Agnes hin. Diederich kümmerte sich nicht um sie. Er aß noch mehr als das vorige Mal. Da doch alle meinten, er sei nur deswegen da! Als es hieß, der Kaffee solle im Grunewald getrunken werden, erfand Diederich sofort eine Verabredung. Er setzte sogar hinzu: »Mit jemand, den ich unmöglich warten lassen kann.« Herr Göppel legte ihm seine gedrungene Hand auf die Schulter, blinzelte ihn aus gesenktem Kopf an und sagte halblaut: »Keine Angst, Sie sind natürlich eingeladen!« Aber Diederich beteuerte entrüstet, daß es nicht daran liege. »Na, wenigstens kommen Sie wieder, sobald Sie Lust haben«, schloß Göppel, und Agnes nickte dazu. Sie schien sogar etwas sagen zu wollen, aber Diederich wartete es nicht ab. Er ging den Rest des Tages in selbstzufriedener Trauer umher, wie nach Vollziehung eines großen Opfers. Am Abend in einem überfüllten Bierlokal saß er, den Kopf aufgestützt, und nickte von Zeit zu Zeit auf sein einsames Glas hinab, als verstehe er jetzt das Schicksal.

Was war zu machen gegen die gewalttätige Art, in der Mahlmann seine Anleihen aufnahm? Am Sonntag hatte dann der Mecklenburger einen Blumenstrauß für Agnes, und Diederich, der mit leeren Händen kam, hätte sagen können: Der ist eigentlich von mir, Fräulein. Indessen schwieg er, mit noch mehr Groll gegen Agnes als gegen Mahlmann. Denn Mahlmann forderte zur Bewunderung heraus, wenn er des Nachts einem Unbekannten nachlief, um ihm den Zylinder einzuschlagen – obwohl Diederich keineswegs die Warnung verkannte, die solch ein Vorgang für ihn selbst enthielt.

Ende des Monats, zu seinem Geburtstag, bekam er eine unvorhergesehene Summe, die seine Mutter ihm erspart hatte, und erschien bei Göppels mit einem Bouquet, keinem zu großen, um sich nicht bloßzustellen und auch um Mahlmann nicht herauszufordern. Das junge

Die Gesellschaft rückte aus, nachdem Mahlmann sie abgezählt hatte: elf Personen. Alle Frauen unterwegs waren, wie Göppels Schwestern, vollständig anders angezogen als in der Woche: als seien sie heute von einer höheren Klasse oder hätten geerbt. Die Männer trugen Gehröcke: nur wenige in Verbindung mit schwarzen Hosen, wie Diederich, aber viele mit Strohhüten. Kam man durch eine Seitenstraße, war sie breit, gleichförmig und leer, ohne einen Menschen, ohne einen Pferdeapfel. Einmal doch tanzte ein Kreis kleiner Mädchen in weißen Kleidern, schwarzen Strümpfen und ganz behangen mit Schleifen, schrill singend, einen Ringelreihn. Gleich darauf, in der Verkehrsader, stürmten schwitzende Matronen einen Omnibus; und die Gesichter der Kommis, die unnachsichtlich mit ihnen um die Plätze rangen, sahen neben ihren heftig roten zum Umfallen blaß aus. Alles drängte vorwärts, alles stürzte einem Ziel zu, wo endlich das Vergnügen anfangen sollte. Alle Mienen sagten hart: Nu los, gearbeitet haben wir genug!

Diederich kehrte vor den Damen den Berliner heraus. In der Stadtbahn eroberte er ihnen mehrere Sitze. Einen Herrn, der im Begriff stand, einen wegzunehmen, hinderte er daran, indem er ihn heftig auf den Fuß trat. Der Herr schrie: »Flegel!« Diederich antwortete ihm im selben Sinn. Da zeigte es sich, daß Herr Göppel ihn kannte – und kaum einander vorgestellt, bekundeten Diederich und der andere die ritterlichsten Sitten. Keiner wollte sitzen, um den anderen nicht stehen zu lassen.

Am Tisch im Zoologischen Garten geriet Diederich neben Agnes – warum ging heute alles glücklich? –, und als sie gleich nach dem Kaffee zu den Tieren wollte, unterstützte er sie stürmisch. Er war voll Unternehmungslust. Vor dem engen Gang zwischen den Raubtierkäfigen kehrten die Damen um. Diederich trug Agnes seine Begleitung an. »Da nehmen Sie doch lieber mich mit hinein«, sagte Mahlmann. »Wenn wirklich eine Stange losgehen sollte –«

»Wirklich?« fragte Diederich, vor Freude gerührt.

»Heute sind Sie mal nett«, sagte Agnes; und er: »Ich möchte es eigentlich immer sein.«

»Wirklich?« – Und jetzt war es an ihrer Stimme, ein wenig zu schwanken. Sie sahen einander an, jeder mit einer Miene, als verdiente er das alles nicht. Das junge Mädchen sagte klagend: »Die Tiere riechen aber furchtbar.«

Und sie gingen zurück.

Mahlmann empfing sie. »Ich wollte nur sehen, ob Sie nicht ausreißen würden.« Dann nahm er Diederich beiseite. »Na? Was macht die Kleine? Geht es bei Ihnen auch? Ich hab es gleich gesagt, daß es keine Kunst ist.« Da Diederich stumm blieb: »Sie sind wohl scharf ins Zeug gegangen? Wissen Sie was, ich bin nur noch ein Semester in Berlin: dann können Sie mich beerben. Aber so lange warten Sie gefälligst –« Auf seinem ungeheuren Rumpf ward sein kleiner Kopf plötzlich tückisch anzusehen. »– Freundchen!«

Und Diederich war entlassen. Er hatte einen heftigen Schrecken bekommen und wagte sich gar nicht mehr in Agnes’ Nähe. Sie hörte nicht sehr aufmerksam auf Mahlmann, sie rief rückwärts: »Papa! Heute ist es schön, heute geht es mir aber wirklich gut.«

Herr Göppel nahm ihren Arm zwischen seine beiden Hände und tat, als wollte er fest zudrücken, aber er berührte sie kaum. Seine blanken Augen lachten und waren feucht. Als die Familie Abschied genommen hatte, versammelte er seine Tochter und die beiden jungen Leute um sich und erklärte ihnen, der Tag müsse gefeiert werden; sie wollten die Linden entlanggehen und nachher irgendwo essen.

Sie war fort mitsamt der Kette. Mahlmann sagte: »Wie lange sind Sie schon in Berlin, Herr Göppel?«

»Jawohl!« – und Göppel wendete sich an Diederich. »Dreißig Jahre bin ich hier, aber das ist mir denn doch noch nicht passiert.« Und stolz trotz allem: »Sehen Sie, das gibt’s in Netzig überhaupt nicht!«

Nun mußte man, statt zu essen, auf das Polizeirevier und ein Verhör bestehen. Und Agnes hustete. Göppel zuckte zusammen. »Wir wären jetzt doch zu müde«, murmelte er. Mit künstlicher Jovialität verabschiedete er Diederich, der Agnes’ Hand übersah und linkisch den Hut zog. Auf einmal, mit überraschender Geschicklichkeit und ehe Mahlmann begriff, was vorging, schwang er sich auf einen vorbeifahrenden Omnibus. Er war entkommen! Und jetzt fingen die Ferien an! Er war alles los! Zu Hause freilich warf er die schwersten seiner Chemiebände mit Krachen auf den Boden. Er hielt sogar schon die Kaffeekanne in der Hand. Aber bei dem Geräusch einer Tür begann er sofort, alles wieder aufzulesen. Dann setzte er sich still in die Sofaecke, stützte den Kopf und weinte. Wäre es nicht vorher so schön gewesen! Er war ihr auf den Leim gegangen. So machten es die Mädchen: daß sie manchmal mit einem so taten, und dabei wollten sie einen nur mit einem Kerl auslachen. Diederich war sich tief bewußt, daß er es mit so einem Kerl nicht aufnehmen könne. Er sah sich neben Mahlmann und würde es nicht begriffen haben, hätte eine sich für ihn entschieden. ›Was hab ich mir nur eingebildet‹, dachte er. ›Eine, die sich in mich verliebt, muß wirklich dumm sein.‹ Er litt große Angst, der Mecklenburger könne kommen und ihn noch ärger bedrohen. ›Ich will sie gar nicht mehr. Wäre ich nur schon fort!‹ Die nächsten Tage saß er in tödlicher Spannung bei verschlossener Tür. Kaum war sein Geld da, reiste er.

Diederich griff zu, als sie verlangte, er solle an eine kleine Universität, nicht wieder nach Berlin. Der Vater fand, daß es ein Für und Wider gäbe. Diederich mußte ihm viel von Göppels berichten. Ob er die Fabrik gesehen habe. Und war er bei den anderen Geschäftsfreunden gewesen? Herr Heßling wünschte, daß Diederich die Ferien benutzte, um in der väterlichen Werkstätte den Gang der Papierverfertigung kennenzulernen. »Ich bin nicht mehr der Jüngste, und mein Granatsplitter hat mich auch schon lange nicht so gekitzelt.«

Diederich entwischte, sobald er konnte, um im Wald von Gäbbelchen oder längs des Nuggebaches bei Gohse spazierenzugehen und sich mit der Natur eins zu fühlen. Denn das konnte er jetzt. Zum erstenmal fiel es ihm auf, daß die Hügel dahinten traurig oder wie eine große Sehnsucht aussahen, und was als Sonne oder Regen vom Himmel fiel, waren Diederichs heiße Liebe und seine Tränen. Denn er weinte viel. Er versuchte sogar zu dichten.

Als er einmal die Löwenapotheke betrat, stand hinter dem Ladentisch sein Schulkamerad Gottlieb Hornung. »Ja, ich spiel hier den Sommer über ’n bißchen Apotheker«, erklärte er. Er hatte sich sogar schon aus Versehen vergiftet und sich dabei nach hinten zusammengerollt wie ein Aal. Die ganze Stadt hatte davon gesprochen! Aber zum Herbst ging er nun nach Berlin, um die Sache wissenschaftlich anzufassen. Ob denn in Berlin was los sei. Hocherfreut über den Besitz seiner Überlegenheit, fing Diederich an, mit seinen Berliner Erlebnissen zu prahlen. Der Apotheker verhieß: »Wir beide zusammen stellen Berlin auf den Kopf.«

Und Diederich war schwach genug, zuzusagen. Die kleine Universität ward verworfen. Am Ende des Sommers – Hornung hatte noch einige Tage zu praktizieren – kehrte Diederich nach Berlin zurück. Er mied das Zimmer in der Tieckstraße. Vor Mahlmann und den Göppels flüchtete er bis nach Gesundbrunnen hinaus. Dort wartete er auf Hornung. Aber Hornung, der seine Abreise gemeldet hatte, blieb aus; und als er endlich kam, trug er eine grün-gelb-rote Mütze. Er war sofort von einem

»Aber nur einen«, sagte er fest.

Der eine dauerte, bis Diederich unter dem Tisch lag und sie ihn fortschafften. Als er ausgeschlafen hatte, holten sie ihn zum Frühschoppen; Diederich war Konkneipant geworden.

Und für diesen Posten fühlte er sich bestimmt. Er sah sich in einen großen Kreis von Menschen versetzt, deren keiner ihm etwas tat oder etwas anderes von ihm verlangte, als daß er trinke. Voll Dankbarkeit und Wohlwollen erhob er gegen jeden, der ihn dazu anregte, sein Glas. Das Trinken und Nichttrinken, das Sitzen, Stehen, Sprechen oder Singen hing meistens nicht von ihm selbst ab. Alles ward laut kommandiert, und wenn man es richtig befolgte, lebte man mit sich und der Welt im Frieden. Als Diederich beim Salamander zum ersten Male nicht nachklappte, lächelte er in die Runde, beinahe beschämt durch die eigene Vollkommenheit!

Und das war noch nichts gegen seine Sicherheit im Gesang! Diederich hatte in der Schule zu den besten Sängern gehört und schon in seinem ersten Liederheft die Seitenzahlen auswendig gewußt, wo jedes Lied zu finden war. Jetzt brauchte er in das Kommersbuch, das auf großen Nägeln in der Lache von Bier lag, nur den Finger zu schieben und traf vor allen anderen die Nummer, die gesungen werden sollte. Oft hing er den ganzen Abend mit Ehrerbietung am Munde des Präses: ob vielleicht sein Lieblingsstück darankäme. Dann dröhnte er tapfer: »Sie wissen den Teufel, was Freiheit heißt«, hörte neben sich den dicken Delitzsch brummen und fühlte sich wohlig geborgen in dem Halbdunkel des niedrigen altdeutschen Lokals, mit den Mützen an der Wand, angesichts des Kranzes geöffneter Münder, die alle dasselbe tranken und sangen, bei dem Geruch des Bieres und der Körper, die es in der Wärme

Gleichwohl gab ihm die meiste Sympathie der Harmloseste von allen ein, sein Nachbar, der dicke Delitzsch. Etwas tief Beruhigendes, Vertrauengestattendes wohnte in dieser glatten, weißen und humorvollen Speckmasse, die unten breit über die Stuhlränder quoll, in mehreren Wülsten die Tischhöhe erreichte und dort, als sei nun das Äußerste getan, aufgestützt blieb, ohne eine andere Bewegung als das Heben und Hinstellen des Bierglases. Delitzsch war, wie niemand sonst, an seinem Platz; wer ihn dasitzen sah, vergaß, daß er ihn je auf den Beinen erblickt hatte. Er war ausschließlich zum Sitzen am Biertisch eingerichtet. Sein Hosenboden, der in jedem anderen Zustand tief und melancholisch herabhing, fand nun seine wahre Gestalt und blähte sich machtvoll. Erst mit Delitzschs hinterem Gesicht blühte auch sein vorderes auf. Lebensfreude überglänzte es, und er ward witzig.

Ein Drama entstand, wenn ein junger Fuchs sich den Scherz machte, ihm das Bierglas wegzunehmen. Delitzsch rührte kein Glied, aber seine Miene, die dem geraubten Glase überallhin folgte, enthielt plötzlich den ganzen, stürmisch bewegten Ernst des Daseins, und er rief in sächsischem Schreitenor: »Junge, daß de mir nischt verschüttest! Was entziehst de mir überhaupt mein’ Läbensunterhalt! Das ist ’ne ganz gemeine, böswilliche Existenzschädichung, und ich kann dich glatt verklaachen!«

Dauerte der Spaß zu lange, senkten sich Delitzschs weiße Fettwangen, und er bat, er machte sich klein. Sobald er aber das Bier zurück hatte: welche allumfassende Aussöhnung in seinem Lächeln, welche Verklärung!

Nach einigen Stunden geschah es wohl, daß sein Stuhl sich mit ihm umdrehte und Delitzsch den Kopf über das Becken der Wasserleitung hielt. Das Wasser plätscherte, Delitzsch gurgelte erstickt, und ein paar andere stürzten, durch seine Laute angeregt, in die Toilette. Noch ein wenig sauer von Gesicht, aber schon mit frischer Schelmerei, rückte Delitzsch an den Tisch zurück.

»Na, nu geht’s ja wieder«, sagte er; und: »Wovon habt ’r denn geredt, während ich anderweitig beschäftigt war? Wißt ihr denn egal nischt wie Weibergeschichten? Was koof ich mir für die Weiber?« Immer lauter: »Nich mal ä sauern Schoppen kann ’ch mir dafür koofen. Sie, Herr Oberkörper!«

Diederich gab ihm recht. Er hatte die Weiber kennengelernt, er war mit ihnen fertig. Unvergleichlich idealere Werte enthielt das Bier.