Bei Föhn brummt selbst dem Tod der Schädel

Jörg Maurer

Bei Föhn brummt selbst dem Tod der Schädel

Alpenkrimi

FISCHER E-Books

Über Jörg Maurer

Jörg Maurer ist Nr.-1-Bestsellerautor und wurde als Autor von vierzehn Kriminalromanen wie auch als Kabarettist mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Kabarettpreis der Stadt München, dem Agatha-Christie-Krimi-Preis, dem Publikumskrimipreis MIMI und dem Radio-Bremen-Krimipreis. Jörg Maurer stammt aus Garmisch-Partenkirchen. Nach dem Studium der Germanistik und Theaterwissenschaften arbeitete er als Lehrer, dann als Kabarettist, bis er sich dem Schreiben zuwandte.

 

Weitere Titel von Jörg Maurer:

›Föhnlage‹, ›Hochsaison‹, ›Niedertracht‹, ›Oberwasser‹, ›Unterholz‹, ›Felsenfest‹, ›Der Tod greift nicht daneben‹, ›Schwindelfrei ist nur der Tod‹, ›Im Grab schaust du nach oben‹, ›Stille Nacht allerseits‹, ›Am Abgrund lässt man gern den Vortritt‹, ›Im Schnee wird nur dem Tod nicht kalt‹, ›Am Tatort bleibt man ungern liegen‹,sowie ›Stille Nacht allerseits‹ und ›Bayern für die Hosentasche: Was Reiseführer verschweigen‹

 

Die Webseite des Autors: www.joergmaurer.de

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Über dieses Buch

Diesmal, so glauben Kommissar Jennerwein und sein Team, haben sie es mit einem einfachen Fall zu tun. Ein Jogger ist bei seinem Waldlauf über die Leiche eines im Kurort wohlbekannten Industriellen gestolpert. Bei all den Fußabdrücken, Reifenspuren und abgeknickten Tannenzweigen im Gehölz, die der Täter großzügig hinterlassen hat, kann ihn das Team rasch hinter Schloss und Riegel bringen. Und keiner denkt sich etwas dabei, als Jennerwein die Polizeiwache verlässt, um sich die Beine zu vertreten. Als das Team zu einem neuen Mordfall ins Hotel »Barbarossa« gerufen wird, ist »der Chef«, wie ihn alle nennen, nicht erreichbar. Und dann behauptet ein Zeuge, er habe den Kommissar zur Tatzeit im Hotel gesehen… Mit Schrecken erkennt Jennerwein, dass er ganz auf sich allein gestellt ist. In schier auswegloser Lage muss er alles einsetzen, was er in seiner Laufbahn an Ermittlermethoden gelernt hat – womöglich sogar kriminelle Tricks?

Impressum

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

© 2021 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main

 

Covergestaltung und -abbildung: www.buerosued.de

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-10-491164-9

Fußnoten

Auf den ersten Blick sieht das nach übler Zeilenschinderei aus. Aber abgesehen davon, dass der Autor dieser Zeilen ein glühender Verehrer der großen Realisten wie Balzac, Mann, Dostojewski und Dickens ist, denen keine noch so kleine menschliche Äußerung unwichtig war, wäre diese Seite ohnehin leer geblieben. Was spricht also dagegen, sie mit ein wenig Realismus zu füllen?

Es wäre in diesen Zeiten herzlos, überhaupt kein Wort über die Corona-Krise zu verlieren. Deshalb hier eine kleine, aber vielleicht umso nützlichere Bemerkung zu COVID-19. Von vielen offiziellen Stellen wurde uns empfohlen, in die Armbeuge zu niesen. Wir schlagen an dieser Stelle eine Variation des Entrechat six vor. Man gehe dazu bei aufkommendem Niesreiz in die 5. Position, springe hoch (Saut de Basque), winkle dabei ein Bein stark nach oben an (Attitude), um am höchsten Punkt des Sprungs in die Kniekehle zu niesen. Mit einiger Übung gelingt es. Mit vielen Grüßen aus der Rotkreuzklinik.

Bitte nicht selbst ausprobieren! Weniger deshalb, weil es gefährlich wäre (die Illusion verschwindet nach ein paar Minuten wieder), sondern weil es sich absolut gruselig und verstörend anfühlt. Und um ganz ehrlich zu sein: Es ist auch nicht hundertprozentig sicher, dass sich die Marmorhand wieder in die gewohnte zurückverwandelt. Also nicht ausprobieren, sondern lieber weiterlesen.

Es ist ein alter literarischer Brauch (eigentlich eher ein gewöhnlicher erzählerischer Bauerntrick), eine verzwickte und verfahrene Handlung in einem Roman dadurch aufzulösen, dass der Autor den Leser damit zum Narren hält, dass bisher alles nur ein Traum gewesen sei. »Und er erwachte schweißgebadet«, heißt es dann oft am Schluss solcher Romane. Also vierhundertzehn Seiten durchgeschmökert, und alles war nur geträumt?! Der Autor der vorliegenden vierhundertzehn Seiten schwört, dass so etwas bei ihm nie vorkommen wird. Großes Erzählerehrenwort.

Die 12 klassischen Aufgaben des altgriechischen Halbgottes Herakles (auf gut altrömisch: Herkules) sind hinlänglich bekannt: die Rinderställe des Augias ausmisten, den kretischen Stier einfangen, menschenfressende Rosse zähmen usw. Wir haben nun Personen der Zeitgeschichte befragt, welche weiteren Aufgaben sie sich für den altgriechischen Halbgott und Muskelprotz vorstellen könnten. Ihre Antworten sollen die Kapitel dieses Buches einleiten.

»Wenn nur alle unsere Fälle so schnell und leicht zu lösen wären!«, seufzte Polizeiobermeister Franz Hölleisen.

Demonstrativ klappte er eine Mappe zu, auf der in Großbuchstaben FALL DRITTENBASS zu lesen war. Alle, die um den Besprechungstisch saßen, murmelten zustimmend. Solch ein unkomplizierter Kriminalfall, der innerhalb weniger Tage so gut wie aufgeklärt werden konnte, war in der Tat noch keinem von ihnen vorgekommen. Zum endgültigen Abschluss fehlten nur noch ein paar Protokolle, Unterschriften, B-Proben und Zweitgutachten. Die Spurenlage war üppig gewesen, das Motiv hatte von Anfang an in eine bestimmte Richtung gewiesen, fast zu einfach, zu gradlinig, zu simpel für das vielgerühmte Team. Allein mit der gusseisernen Indizienkette im Fall Drittenbass hätte man Prometheus am Kaukasus festschmieden können. Überdies war der Verdächtige ein blutiger Anfänger gewesen, er hatte ihnen den Gefallen getan, so viele brauchbare Spuren am Tatort zu hinterlassen, dass er einem schon fast wieder leidtun konnte.

 

»Ich geh mal ein paar Schritte«, sagte Kriminalhauptkommissar Hubertus Jennerwein, stand auf und warf sich sein altbekanntes hellbraunes Tweed-Sakko über. »Lassen Sie mich ein wenig alleine darüber nachdenken.«

Man hörte ihn noch den Korridor entlangschreiten, dann fiel die schwere Eingangstür des Polizeireviers ins Schloss, und weg war er. Maria Schmalfuß, die Polizeipsychologin, starrte gedankenverloren auf Jennerweins Sitzstuhl, den er beim Aufstehen nur flüchtig zurückgestoßen und anschließend nicht wieder an den Tisch gerückt hatte. Das war ein kleines bisschen untypisch für Hubertus, dachte Maria und schüttete drei Päckchen Zucker in ihren Kaffee. Alle aus dem Team wandten sich wieder ihren Unterlagen zu. Hölleisen, der wackere Polizeiobermeister, Kommissarin Nicole Schwattke, Maria Schmalfuß, schließlich noch die Gerichtsmedizinerin Verena Vitzthum und der Spurensicherer Hansjochen Becker.

 

Nicole warf einen Blick auf die Wanduhr.

»Wollte nicht der Jogger zum Unterschreiben seiner Zeugenaussage vorbeikommen?«

»Er wollte schon vor einer halben Stunde da sein«, sagte Nicole leicht verärgert. »Wenn er uns wieder versetzt, dann kann er was erleben. Dann werd ich ungemütlich.« Über ihr Gesicht huschte ein stahlharter Zug, der gar nicht so recht zu ihren sympathischen Lachfältchen passen wollte. Doch sofort hellte sich ihre Miene wieder auf. »Na, egal, der wird bestimmt noch auftauchen.«

»Sonst fahre ich halt auf dem Nachhauseweg bei ihm vorbei«, schlug Hölleisen vor. »Er wohnt nicht weit von mir entfernt.«

»So weit kommts noch«, brauste Nicole erneut auf. »Dass wir unseren Zeugen nachlaufen.«

Sie tippte etwas in ihr Notebook. Wenn Nicole schrieb, dann sah es immer so aus, als ob sie das Gerät massierte, wie um ihm die letzten Geheimnisse zu entlocken, die es sonst niemandem verriet. Ohne aufzublicken, fuhr sie fort:

»Ich habe mich mal über Bitcoin, Ripple und andere Kryptowährungen kundig gemacht und einiges dabei herausgefunden. Wenn das Geld auf ein solches Konto überwiesen wurde –«

»Sollten wir damit nicht warten, bis Hubertus wieder zurück ist?«, unterbrach Maria.

 

Die Tür sprang auf. Polizeioberrat Dr. Rosenberger steckte seinen massigen Kopf zur Tür herein, wie immer ohne anzuklopfen. Doch niemand nahm ihm das übel.

»Ist Jennerwein da?«

»Wenn er wiederkommt, richten Sie ihm bitte aus, dass er sich bei mir melden soll. Dringend. Heute noch.«

Dr. Rosenberger wandte sich um, was bei ihm immer so aussah, als würde ein Baukran über ein mittelgroßes Grundstück schwenken. Dabei stieß er fast mit dem Jogger zusammen, der mit einigem Schwung den Gang heruntergelaufen sein musste und nun an dem Oberrat klebte wie eine Fliege am Glas.

»Pardon, ich habe Sie gar nicht gesehen«, sagte er zu Dr. Rosenberger. »Ich bin spät dran, die Kölblstraße war gesperrt, ich musste einen Umweg laufen.«

Der Jogger wollte sich leicht tänzelnd an Dr. Rosenberger vorbeidrängen, doch der hielt ihn mit einem Finger an der Brust auf und musterte ihn verwundert.

»Aber sagen Sie mal: Wir kennen uns doch!«

Der Jogger lief weiter auf der Stelle, Nicole verdrehte die Augen.

»Ja, ich bin Zeuge in dem Mordfall Drittenbass«, sagte er zum Oberrat.

»Und was für ein Zeuge!«, warf Hölleisen halblaut ein, was ihm einen vorwurfsvollen Blick von Maria eintrug.

»Ich habe Herrn Drittenbass gefunden«, fuhr Urs Leber fort. »Leider zu spät.«

»Nein, ich meine: Wir kennen uns von früher«, fuhr Dr. Rosenberger fort. »Vor ein paar Jahren waren Sie doch schon mal Zeuge, in einem Fall von mir.«

»Oh ja – stimmt. Sie waren damals der leitende Ermittler.«

»Und Sie sind doch damals auch schon beim Joggen über eine Leiche gestolpert, wenn ich mich recht erinnere.«

»Das ist wahr. Sehen Sie, so lang jogge ich schon. Wenn Sie mich nicht hätten, was würden Sie da machen!«

»Sagen Sie, könnten Sie mal mit dem Getrampel aufhören?«

 

Der Jogger war die ganze Zeit auf der Stelle gelaufen, er glich einem tänzelnden Boxer, der auf eine Gelegenheit wartete, an dem massigen Körper von Dr. Rosenberger vorbeizukommen. Hatte der Oberrat nicht Angst, plötzlich eine linke Gerade abzubekommen? Nein, denn eine rechte Gegengerade von ihm hätte den Jogger atomisiert.

»Ich würde lieber weiterlaufen, wenns recht ist«, sagte der Jogger. »Sonst verliere ich meinen physiologisch wichtigen Steady State. Das ist der Gleichgewichtszustand im Körper, bei dem die Sauerstoffaufnahme gleich dem Sauerstoffbedarf ist.«

»Sie sind also einer dieser Ampeltrampler, die man an jeder Straßenecke sieht«, warf Hansjochen Becker, der Spurensicherer, ein.

Der Jogger wandte sich zu ihm.

»An den Ampeln mache ich Kniebeugen. Langsam in die Hocke – die Knie dürfen dabei nicht über die Fußspitzen ragen.« Er führte es vor, redete dabei unablässig weiter. »Oder den Knee Tuck Jump: Hände vor dem Körper verschränken. Ellenbogen zeigen nach außen. Mit Schwung so hoch wie möglich springen. Die Knie dabei anziehen, so dass sie die Arme berühren. Zehn Mal, dann wirds meistens grün.«

»Hören Sie auf!«, sagte Nicole. »Wir glauben es Ihnen ja!«

Doch der Jogger hüpfte unbeirrt weiter. Und hoch. Und hoch. Und nochmals hoch. Ohne die geringste Spur von Atemlosigkeit erläuterte er:

»Ich kann nicht damit aufhören. Wenn ich damit angefangen

»Reden Sie keinen Unsinn«, sagte die Gerichtsmedizinerin in scharfem Ton. »Von wegen übersäuern. Sie wollen uns wohl für dumm verkaufen?«

Murrend stellte der Jogger seine Trainingseinheit ein.

»Wollen Sie einen Schluck Wasser?«, fragte Maria.

»Habe ich selbst dabei«, antwortete er beleidigt.

Lässig griff er hinter sich und holte zielsicher eine Flasche aus dem Rucksack. Es sah aus, als ob Robin Hood einen Pfeil aus dem Köcher zog.

»Und jetzt bitten wir Sie, das Protokoll des Gesprächs mit Kommissar Jennerwein durchzulesen und es anschließend zu unterschreiben«, sagte Nicole Schwattke. »Das ist eine Sache von zwei Minuten. Wir haben keine Zeit für so ein Theater.«

»Klar. Verstehe ich.«

Alle betrachteten Urs Leber, der das ausgedruckte Protokoll in die Hand nahm, an seinem Energy-Drink nuckelte und es halblaut murmelnd und kopfschüttelnd las: Ich bin durch den Wald gelaufen, und plötzlich lag etwas auf dem Weg, was ich zunächst für ein totes Tier hielt. Seine Züge waren kantig, sportlich, durchtrainiert, er war Lehrer, wie sie wussten, und bei seinen Schülern wahrscheinlich sehr beliebt, noch beliebter bei den Eltern, die zu ihm in die Sprechstunde kamen, nur weil die Kids gesagt hatten: Den Typen musst du dir mal ansehen. Aber denk dir nichts: Der läuft die ganze Sprechstunde über auf der Stelle! Leber las weiter im Protokoll, die Beamten sahen ihm ungeduldig zu.

»Eines würde ich gern ändern«, sagte der Jogger und blickte auf.

»Ja, was?«

»Jaulen? Ich dachte, er hat gewinselt. Jetzt hat er auf einmal gejault!«

»Winseln und jaulen ist doch dasselbe. Aber geknurrt hat er jedenfalls nicht.«

»Ja, kein Problem, dann ändern wir das«, sagte Hölleisen.

»Es ist ja wahrscheinlich nicht so wichtig. Oder doch? Ich stelle mir gerade den Richter bei der Verhandlung vor, wenn er fragt: Hat der Hund nun geknurrt oder gewinselt? Nicht, dass meine Zeugenaussage insgesamt dann nichts wert ist wegen der kleinen Ungenauigkeit.«

Alle im Team sahen ihn entgeistert an. Sie waren kurz vorm Platzen. Oder vorm Winseln.

»Ja, ich muss dann weiter«, sagte Dr. Rosenberger und verließ mit einem Augenrollen den Raum.

»Also, ich unterschreibe dann hier, oder wie?«, fragte Leber.

Er unterzeichnete endlich, wobei er sich auf dem Besprechungstisch aufstützte und mit den Beinen schon wieder strampelnde Laufbewegungen machte. Er konnte sie einfach nicht stillhalten. Ein hyperaktiver ADHS-Jogger. Dann verabschiedete er sich und verschwand.

 

»Steady State«, sagte die Gerichtsmedizinerin, Verena Vitzthum. »Man lernt nie aus.«

Becker blickte auf die Uhr.

»Wo der Chef nur bleibt! Hat er nicht gesagt, dass er nur kurz über etwas nachdenken will?«

Der leere Platz mit dem leicht zurückgeschobenen Stuhl drückte die Nicht-Präsenz Jennerweins überdeutlich aus. Alle

»Komisch ist das schon«, sagte Nicole. »Ich rufe ihn mal auf seinem Handy an.« Sie drückte die Kurzwahltaste und ließ es tuten. Niemand hob ab.

»Ja, dann wird ihm schon etwas Wichtiges dazwischengekommen sein.«

»Das glaube ich auch.«

»Ich würde sagen, wir machen für heute Schluss«, sagte Nicole bestimmt. »Für die Protokolle brauchen wir den Chef, und mein Vortrag über Kryptowährungen kann warten. Ich schlage vor, wir treffen uns morgen früh wieder hier.«

 

Hölleisen hatte sich entschlossen, nicht gleich nach Hause zu gehen, sondern der Wäscherei Kratzmayr noch einen Besuch abzustatten. Er war sich nicht ganz hundertprozentig sicher, aber er glaubte gesehen zu haben, dass der Chef, kurz bevor er den Besprechungsraum verlassen hatte, einen Abholzettel für die Reinigung aus der Hosentasche gezogen und einen kurzen Blick darauf geworfen hatte, so als wollte er sich bloß vergewissern, dass der Zettel noch da war. Es gab nur zwei Wäschereien im Kurort, Kratzmayr und Böhse. Hölleisen hatte ihn einmal bei der Wäscherei Kratzmayr abgesetzt, aus deren Fenstern es den ganzen Tag dampfte wie bei einer Hongkonger Garküche. Deshalb fuhr er jetzt dorthin. Er betrat den Laden.

»Ja, bitte?«, fragte die junge Frau an der Theke.

»Mein Name ist Polizeiobermeister Hölleisen. Ist dieser Mann heute bei Ihnen gewesen?«

»Moment, ich muss mal eben meine Brille holen.«

Die junge Frau musterte das Foto mit einer extravaganten italienischen Brille.

»Der sieht ja aus wie Hugh Grant! Was hat er denn angestellt? Ist er es wirklich?«

Hölleisen musste lächeln.

»Nichts hat er angestellt. Und es ist auch nicht Hugh Grant. Wir suchen nur nach ihm.«

Ein verschwörerischer Schatten huschte über ihr Gesicht.

»Ich verstehe, ich verstehe. Das dürfen Sie mir wahrscheinlich gar nicht sagen, was er angestellt hat. Schauderhaft, dass so ein Verbrecher bei uns im Laden gewesen sein soll.«

Sie vergrößerte den Bildausschnitt mit zwei Fingern und studierte Jennerweins Gesicht genauer. Hölleisen glaubte ein wohliges Schaudern bei ihr auszumachen.

»Zuerst hat er mir gar nicht wie ein richtiger Verbrecher ausgesehen«, fuhr sie fort. »Aber jetzt, wo ich ihn mir genauer anschaue –«

»Er ist ja auch kein Verbrecher.«

»Klar, Sie bleiben bei Ihrer Version, Sie ziehen das durch. Wie dem auch sei, und wer der auch ist, er war heute nicht da.«

»Das wollte ich bloß wissen. Kennen Sie den Mann?«

»Was soll das denn wieder heißen? Natürlich kenne ich ihn nicht. Ich verkehre ganz bestimmt nicht in kriminellen Kreisen!«

»Das wollte ich ja nicht damit sagen.«

»Ich arbeite erst seit ein paar Tagen hier bei Kratzmayr, wissen Sie. Und dann gleich Schwierigkeiten mit zwielichtigen Typen.«

»Ich glaube, das darf ich Ihnen nicht sagen. Datenschutz, Sie wissen schon.«

»Ich bin Polizist, mir dürfen Sie das schon sagen.«

»Brauchen Sie dafür nicht einen – Durchsuchungsbefehl?«

Hölleisen verlor langsam die Geduld, aber er wollte kein großes Trara aus der Sache machen. So zog er einfach streng-väterlich eine Augenbraue hoch. Bei Kindern wirkte das komischerweise. Vielleicht auch bei dieser Brillenschlange? Tatsächlich. Seufzend tippelte Frau Müller nach hinten.

»Jennerwein … Jennerwein …«, hörte er sie aus dem anderen Raum. »Moment, ich habs gleich. Ja, eine Hose und zwei Jacken sind fertig. Wollen Sie die mitnehmen?«

»Nein, danke, es genügt mir schon, das zu wissen.« Hölleisen griff in die Tasche. »Hier ist übrigens mein Dienstausweis. Sie sollten jemanden, der behauptet, ein Polizist zu sein, immer nach seinem Ausweis fragen.«

»Ja, das hätte ich tun sollen. Sie sehen nämlich gar nicht aus wie ein Polizist.«

»Wie dann?«

Frau Müller überlegte. Dann lächelte sie. Hölleisen war sich sicher, dass ihr etwas eingefallen war, das sie ihm aber nicht sagen wollte.

»Keine Ahnung. Anders eben.«

Hölleisen lächelte zurück, bedankte sich und verließ die Wäscherei Kratzmayr. Wie sah er denn dann aus?

 

 

»Nein, der war nicht da«, sagte die Kallingerin von der Metzgerei Kallinger zu Franz Hölleisen.

Hölleisen wusste, dass sich Jennerwein hier öfter mal eine Leberkäsesemmel kaufte, bevor er nach Hause fuhr.

»Ganz bestimmt nicht?«

»Jetzt hör einmal zu, Hölli: Ich bin die ganze Zeit hier im

»Ja, ich glaubs dir schon. Aber manchmal gehts halt so zu in deinem Laden, vielleicht hast du ihn einfach übersehen.«

Hölleisen spielte auf die Unauffälligkeit seines Chefs an. Jennerwein war der unauffälligste Mensch, den er kannte. Manchmal hatte Jennerwein das schon genutzt. Es war nicht so, dass er ein verhuschtes Äußeres gehabt hätte, aber er hatte eine Art, ins Zimmer zu treten, dass man es manchmal gar nicht mitbekam. Man hätte nicht sagen können, wann er hereingekommen war. Diese Jacke, die er immer trug, passte auch dazu. Ein hellbraunes Tweed-Sakko. Es war schon fast so eine Art Tarnkappe, mit der er den Eindruck der Unsichtbarkeit noch verstärkte.

»Vielleicht war ja dein Laden gestopft voll, er ist hereingekommen, hat gesehen, dass der Leberkäse aus ist, und ist wieder gegangen.«

»Leberkäse ist doch bei uns nie aus«, schnaubte die Kallingerin. »Jetzt hör einmal, Hölli! Da kann passieren, was will, Leberkäse haben wir immer. Und wenn ein Komet auf die Erde zurasen würde, wir hätten bis zum Einschlag immer noch genug Leberkäsesemmeln für alle!«

»Und wahrscheinlich auch darüber hinaus.«

Auf dem Gesicht der Metzgerin erschien so etwas wie eine kleine Wut. Gerade ausreichend, um einen Plastikteller auf den Boden zu werfen, mehr nicht. Hölleisen verabschiedete sich. Komisch war das schon mit dem Chef. Sich gar nicht zu rühren. Er schaute auch noch bei den anderen vier Traditionsmetzgereien vorbei, die amtlich gute Leberkäsesemmeln anboten: Kernsdorf, Boberdinger, Moll und Bröckl. Ohne Ergebnis. Hölleisen beschloss, es für heute gut sein zu

 

Exakt zu dem Zeitpunkt, als Hölleisen zu Hause den Fernseher zur Tagesschau einschaltete und die Tüte mit den Leberkäsesemmeln aufriss, die ihm die Kallingerin ›aufgedrängt‹ hatte, blickte der Großinvestor Lukas Lohkamp in die Mündung einer Glock 22 mit Schalldämpfer.

»Was soll das? … Bist du verrückt geworden?! … Warum bedrohst du mich?«, fragte er noch entgeistert, da drückte der vierschrötige Mann, den sie Goody nannten, auch schon ab und traf ihn mit tödlicher Präzision mitten ins Herz. Lohkamp sank hinter dem Schreibtisch zusammen. Spielerisch und der Situation vollkommen unangemessen warf der Attentäter die Pistole von einer Hand in die andere, dann legte er sie sorgsam auf den Schreibtisch, hinter dem Lohkamp verschwunden war. Goody öffnete die Minibar, nahm eine Flasche Bier heraus, schlug sie an dem Metallrahmen des Fernsehers auf, so dass ein tiefer Riss im Bildschirm klaffte, und trank einen Schluck. Er warf die Flasche auf das unbenutzte Bett, dort entleerte sie sich langsam und ungut gluckernd, währenddessen trat er auf den Balkon und atmete tief durch. Wieder im Zimmer, hängte er noch ein Bild gerade, dann steckte er die Glock ein und verließ das Hotelzimmer. Auf dem Gang kamen ihm ein Mann und eine Frau entgegen, die durch ihre altertümlichen Uniformen als Hotelangestellte erkennbar waren. Er grüßte beide freundlich, blieb stehen, machte ihnen Platz. Dann ging er hinunter in die Lobby des Hotels Barbarossa. An der Rezeption stand eine junge Dame in knappem Dirndl und unbequemen Schuhen. Man sah, dass die bayrische Aufmachung nicht so ganz ihrs war. Selbst die sorgsam

»Schon fertig?«, sagte sie und zupfte am weißblauen Kropfband. Das Kropfband schrie nach Weggelassenwerden. »Kann ich noch etwas für Sie tun?«

Der Mann, den sie Goody nannten, überlegte kurz, ob er die junge Frau nicht ebenfalls erschießen sollte. Weit und breit war niemand zu sehen. Stattdessen sagte er:

»Herr Lohkamp von Zimmer 36 lässt ausrichten, dass er nicht gestört werden will. Auch morgen früh nicht. Nicht vor zehn. Können Sie das aufschreiben?«

Die Dirndlträgerin nickte.

»Nicht vor zehn, habe ich notiert«, sagte sie rezeptionell eifrig. »Kommt er denn zum Mittagessen?«

»Warten Sie nicht auf ihn.«

»Morgen gibt es Rehgulasch mit Gin, Walnussspätzle und Spitzkohl-Birnen-Gemüse. Das sollte sich Herr Lohkamp nicht entgehen lassen.«

Die Quasselstrippe doch erschießen?, fragte sich Goody. In der Innentasche seines Jacketts steckte die Glock. Der Lauf war noch warm vom Schuss. Es juckte ihn in den Fingern. Aber er durfte es nicht übertreiben, er musste sich streng an seinen Auftrag halten. Der Holländer hatte es so bestimmt. Ausschließlich Lohkamp sollte das Ziel sein.

»Geht das in Ordnung? Auf keinen Fall vor zehn?«

Die Dirndlfrau nickte diensteifrig.

Wenn du wüsstest, dachte Goody, als er das Hotel verließ und in das bereitstehende Taxi stieg.

»Wo solls denn hingehen?«, fragte der Taxifahrer.

»Zum Parkplatz am Bahnhof. Und schalten Sie die Musik aus. Die ist ja grässlich.«

 

Als Hölleisen ins Bett ging, ließ er nochmals die Szene Revue passieren: Jennerwein steht auf, zieht einen Wäschezettel aus der Tasche, schaut ihn kurz an und steckt ihn wieder ein. Aber vielleicht war es gar kein Wäschezettel. Wie blöd war er eigentlich! Warum hatte er sich bei der Wäscherei Kratzmayr von der Brillenschlange nicht so einen Wäschezettel zeigen lassen! Morgen, morgen würde er das nachholen. Darüber schlief Hölleisen ein. Was er träumte, wissen wir nicht. Er erwachte auch nicht schweißgebadet, sondern er schlug die Augen auf, als der Wecker klingelte. Sein erster Gedanke galt der Wäscherei Kratzmayr. Dort wollte er vor Dienstbeginn nochmals vorbeischauen.

Der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Post AG:

Herakles sollte bei uns in der Abteilung ›Unzustellbare Briefe‹ arbeiten. Ställe des Augias ausmisten, schön und gut, aber die Sauklauen mancher Kunden entziffern – das wäre mal eine wirklich nützliche Arbeit.

Kommissar Jennerwein reckte sich. Er spürte, dass er unbequem lag, deshalb drehte er sich leicht zur Seite und versuchte eine komfortablere Position einzunehmen. Vergeblich. Das Bett war verdammt hart. Hart wie ein Holzbrett. Es musste gegen fünf Uhr morgens sein, das schloss Jennerwein aus dem Zwitscherkonzert der ersten Buchfinken, sie saßen wahrscheinlich schon unverschämt fröhlich auf der tautropfenden Goldligusterhecke, die vor seinem Schlafzimmerfenster wucherte. Jennerwein versuchte wieder in den wattigen Zustand eines verlorengegangenen Traums einzutauchen, aber irgendetwas hielt ihn davon ab. Ein leichter Kälteschauer kroch durch seinen Körper, seufzend versuchte er die Decke über die Beine zu ziehen. Doch er bekam sie nicht zu fassen, sie musste vom Bett gefallen sein. Egal, er war viel zu schläfrig, um sich weiter damit abzumühen. Die Sommernacht war ohnehin lau und warm, durch das Fenster, das er nachts immer geöffnet hielt, spürte er den milden Wind, der seine Wangen streifte. Wenn er sich jetzt dazu durchrang, die Augen zu öffnen, konnte er den üppig besternten Himmel durch das Fenster sehen. Vor ein paar Tagen war dort oben ein Wölkchen in Form eines verschmitzten Popeye-Gesichts vorbeigezogen, selbst die

 

Doch heute war wohl nicht der Morgen für einfache Lösungen. Ein blechernes Knarren ganz in seiner Nähe ließ ihn aufschrecken. Nach ein paar Sekunden wiederholte sich das Geräusch. Jennerwein fluchte lautlos. Und noch ein drittes Mal: Roiiiiig-rojjiiiing. Erst beim vierten Mal begriff er, dass es sich um den albernen Klingelton eines Smartphones handelte, das sich ganz in seiner Nähe befinden musste. Reflexartig streckte er die Hand zum Nachtkästchen aus, auf dem er sein Mobiltelefon normalerweise ablegte. Doch aus dieser Richtung kam das Geräusch nicht. Genervt zog er die Hand wieder zurück. Es war auch nicht der gewohnte Weckton, es war ein fremder Klingelton von einem fremden Handy aus einer ungewohnten Richtung. Und nochmals: Roiiiiig-rojjiiiing. Lag er in einem

 

Er saß auf keiner Bettkante. Er saß auf einer grob gezimmerten Holzbank – und die Bank stand auf einer Wiese mitten in freier Natur! Über ihm spannte sich der Nachthimmel, in der Ferne waren die bleichen Gerippe einiger Berge zu sehen. Was um

 

Einen Augenblick saß er starr da, dann sprang er aus einem plötzlichen panischen Impuls heraus auf, die Hände unwillkürlich zu abwehrbereiten Fäusten geballt – und ließ sich sofort wieder nieder. Ein tückisches Streichquartett von Kopf-, Kreuz-, Glieder- und Nackenschmerzen war durch seinen Körper gefahren, kein Wunder nach einer Nacht auf einer unebenen, groben Holzbank. Ein migräneähnliches, tobendes Pochen durchzog seinen Schädel. Er versuchte seinen Oberkörper zu recken und zu dehnen, aber auch dabei spürte er jeden Knochen einzeln im Leib. Zu allem Überfluss überkam ihn jetzt auch noch ein hartnäckiger Hustenanfall. Als sich seine Bronchien einigermaßen beruhigt hatten, machte er einen zweiten, vorsichtigeren Versuch aufzustehen, diesmal gelang es besser. Soweit er in der Dunkelheit erkennen konnte, befand sich niemand sonst in seiner Nähe. Was war da gestern los gewesen?

»Sie denken an Fremdeinwirkung, Chef?«

»Achten Sie auf die Spuren, Verena: Schleifspuren, die zum Körper hinführen, auf der anderen Seite Reifenspuren, die von ihm wegführen.«

Jennerwein sah die Stelle in dem kleinen Waldstück vor sich, an der sie die Leiche gefunden hatten. Die Kleidung des Opfers war an mehreren Stellen eingerissen, als ob ein Kampf

 

 

Seine Gedanken rasten. Das war nicht sein Gesicht. Das waren nicht seine Hände.

 

Das war auch nicht sein Körper.

Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche:

Herakles soll die Werke von James Joyce, Charles Bukowski und Michel Houellebecq in einfache, gerechte und achtsame Sprache übersetzen.

Die Fichten am Waldrand sahen aus wie eine mittelalterliche Geheimgesellschaft von Gottesleugnern und Ketzern, so verschworen und scharf zischend tuschelten sie miteinander. Die kleine Siedlung war ein gutes Stück entfernt vom Kurort, sie hieß aus unerfindlichen Gründen ›Der Knick‹. Das Gelände gehörte dem Freistaat, hier wohnten hauptsächlich Staatsanwälte, Richter und andere Staatsdiener, und eben auch einige Polizisten. Pensionierte Polizisten, aktive Polizisten, Polizisten aus allen Fachbereichen. Nicht viele wussten, dass Jennerwein und auch Becker ebenfalls dort residierten. Der Kurort lag eine Dreiviertelstunde Bahnfahrt vom Knick entfernt, bei Ermittlungen mietete sich Jennerwein deshalb oft in der dortigen Pension Edelweiß ein.

 

Nicole Schwattke war mit dem Auto unterwegs zum Knick. Sie war früh aufgestanden, sehr früh, was gar nicht ihre Art war, sie war vom Wesen her eine Volleule. Die Geschichte mit Jennerwein hatte ihr jedoch keine Ruhe gelassen. Das war überhaupt nicht sein Stil, einfach so abzuhauen. Mitten im Dienst. Sie rief ihn nochmals unter beiden Nummern an: Anrufbeantworter. In der Pension Edelweiß war er ebenfalls nicht zu erreichen. Gemailt hatte sie ihm auch schon

»Wenn mal was ist«, hatte er gesagt.

Und jetzt war was, so viel stand fest. Sie parkte hundert Meter von seinem Haus entfernt. Die Dunkelheit hatte etwas von ihrer Kraft verloren, aber das Haus selbst lag zappenduster da. Sie umkreiste es zunächst langsam und umsichtig, das gebot ihr der Instinkt. Sie wollte in keine Falle tappen. Dann aber schloss sie die Hintertür auf und betrat Jennerweins Reich. Dumpfe Beklommenheit stieg in ihr auf, sie musste sich zusammenreißen, um nicht auf der Stelle umzukehren. Sie war das erste Mal hier und kannte auch sonst niemanden, der je in Jennerweins Wohnung gewesen war. Sie rief mit lauter Stimme, überprüfte jedes Zimmer, immer peinlich auf Selbstschutz bedacht. Doch das Haus war leer. Keine Kampfspuren, keine Fluchtspuren, überhaupt keine Spuren von außergewöhnlichen Vorgängen. Sie stieg in den Speicher, der komplett mit Pappkisten vollgestellt war, sie durchsuchte den Keller, in dem ebensolche Unordnung herrschte.

»Entschuldigung, Chef«, sagte sie halblaut, als sie zögerlich Jennerweins Schlafzimmer betrat. Ein Griff aufs Bett. Ein Griff aufs Sofa. Hier hatte er jedenfalls nicht übernachtet. Je weiter sie bei ihrer Hausdurchsuchung vorankam, je weniger sie Grund hatte, beunruhigt zu sein, desto mehr hatte Nicole das Gefühl, sich zu sehr eingemischt zu haben. Sie war sich sicher, dass der Chef heute Nacht nicht hier gewesen war. Sie verließ das Haus, schloss wieder ab, überprüfte noch einmal Garten, Garage und Geräteschuppen, machte sich dann auf den Weg ins Revier. Nicole glaubte ein paar intime Dinge gesehen zu haben, die sie nichts angingen. Zum Beispiel im

 

Franz Hölleisen stand wie jeden Tag um sechs Uhr auf. Bei seinen Freiübungen und Rumpfbeugen auf der Terrasse (seine Frau sprach von den ›Turnvater-Jahn-Gedächtnis-Minuten‹) war ihm der Jogger wieder eingefallen. Kommissar Jennerwein hatte Urs Leber befragt und die Vernehmung per Audio aufgenommen, er selbst hatte die Aussage dann abgetippt. Hölleisen setzte sich an seinen Computer und nahm sich die Zeugenaussage noch einmal vor, die der Ampeltrampler gestern unterschrieben hatte. Vielleicht fand er da ja irgendetwas, was mit dem Verschwinden des Chefs zu tun hatte.

 

»Guten Tag, Herr Leber.«

»Hallo, Herr Kommissar.«

»Warum laufen Sie auf der Stelle? Hören Sie bitte auf damit.«

»Entschuldigung«, sagte Leber kleinlaut.

Die Schrittgeräusche verstummten schlagartig. Der Chef hatte Leber wohl auf eine Weise angesehen, dass der auf jede Widerrede verzichtete. Es lag nicht am Dienstgrad, Jennerwein hatte eben diesen gewissen Blick. Den lernte man nicht auf der Polizeischule. Der war angeboren.

»Herr Leber, bitte erzählen Sie mir, wie Sie die Leiche aufgefunden haben.«

»Ich bin durch den Wald gelaufen, und plötzlich lag etwas auf dem Weg, was ich zunächst für ein totes Tier hielt. Zunächst.«

»Ja, genau von da. Ich wollte zu dem kleinen Forstweg, auf dem ich dann später das Auto habe wegfahren hören.«

»Sie sind also über das vermeintlich tote Tier drübergesprungen und weitergelaufen?«

»Ja, aber nur ein paar Schritte. Ein totes Tier mit Pullover?, dachte ich. Da stimmt doch was nicht. Also bin ich noch mal zurück. Ich habe gleich auf den ersten Blick gesehen, dass es Drittenbass war.«

»Sie haben sein Gesicht erkennen können?«

»Ja. Und da wusste ich gleich, dass er das Land nach oben verlassen hat.«

»Woher kennen Sie Herrn Drittenbass?«

Leber machte hier eine kleine Pause. Er kratzte mit dem Stuhl, murmelte etwas, räusperte sich.

»Keine Ahnung. Den kennt man halt. Ein Aktienguru. Sein Bild war ja öfter in der Zeitung. Ich habe sofort Erste Hilfe geleistet, aber ich habe schon befürchtet, dass es zu spät ist. Dann war da plötzlich ein Winseln und Knurren. Und ich habe aufgeblickt. Ein kleiner Hund ist aus dem Gebüsch gesprungen. Hat an der Leiche geschnüffelt. Dann habe ich Sie angerufen. Den Rest kennen Sie ja selbst.«

»Haben Sie die Leiche bewegt?«

»Nein.«

»Haben Sie die Leiche berührt?«

»Die mutmaßliche Leiche. Ich habe zu dem Zeitpunkt ja noch nicht gewusst, dass Drittenbass tot ist.«