Die Träume der Bienen

Patricia Koelle

Die Träume der Bienen

Ein Inselgarten-Roman

Roman

FISCHER E-Books

Inhalt

Über Patricia Koelle

Patricia Koelle ist eine Berliner Autorin mit Leidenschaft fürs Meer – und fürs Schreiben, in dem sie ihr immerwährendes Staunen über das Leben, die Menschen und unseren sagenhaften Planeten zum Ausdruck bringt. Bei FISCHER Taschenbuch erschienen ist die Ostsee-Trilogie mit den Bänden ›Das Meer in deinem Namen‹, ›Das Licht in deiner Stimme‹ und ›Der Horizont in deinen Augen‹, außerdem der alleinstehende Roman ›Die eine, große Geschichte‹. ›Wenn die Wellen leuchten‹, ›Wo die Dünen schimmern‹ und ›Was die Gezeiten flüstern‹ sind die drei Bände ihrer Nordsee-Trilogie, die auf Amrum spielt. ›Ein Engel vor dem Fenster‹ ist eine Sammlung von Wintergeschichten, ›Der Himmel zu unseren Füßen‹ ein Weihnachtsroman und ›24 Stück vom Glück‹ eine Sammlung von stimmungsvollen Geschichten zur Weihnachtszeit. ›Die Zeit der Glühwürmchen‹, ›Das Lächeln der Libellen‹ sowie ›Die Träume der Bienen‹ gehören zu ihrer Inselgärten-Reihe.

 

Weitere Informationen finden Sie unter www.fischerverlage.de

Über dieses Buch

Sila Beer, 44 Jahre alt, arbeitet als Tischlerin in Berlin. Als sie erfährt, dass sie im Oderbruch einen alten Hof geerbt hat, macht sie sich nicht nur auf eine Reise in ihre alte Heimat, sondern auch auf eine Reise in die Vergangenheit, in der schmerzhafte Erinnerungen wach werden, an die Kindheit in der DDR und die Flucht in den Westen. Doch auch die guten Erinnerungen kommen zurück: an die Bienen und Pflanzen, die sie als Kind begleitet haben. Aber Sila ist sich nicht sicher, ob sie im Hier und Jetzt einen Neustart wagen soll, und ob der Oderbruch für sie wirklich der richtige Ort ist, um glücklich zu werden. Als sie über einen Gartenblog die 27-jährige Lehrerin Lexi Rehling kennenlernt, die auf Fehmarn einen Garten betreut und ihren Schulkindern dort die Natur näherbringt, entsteht eine Freundschaft, die beide gleichermaßen inspiriert.

Impressum

Originalausgabe

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

© 2021 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main

 

Lektorat: Susanne Kiesow

Covergestaltung: www.buerosued.de

Coverabbildung: mauritius images/Chris Seba und www.buerosued.de

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-10-491150-2

Für alle, die das schon immer gewusst haben.

Und für alle, denen dieses Geschenk eines Tages vielleicht noch auf andere Weise begegnet.

Berlin

2017

Sila

»Da ist ein Brief für dich. Von einem Anwalt. Hast du etwas angestellt?« Devin stand mit einem Stapel Post in der Tür. Er trug noch Jacke und Mütze und roch nach Frühlingsregen. Den obersten Umschlag drehte er hin und her und sah dann zu Sila hinüber, wobei er die eine Augenbraue hochzog.

Früher einmal hatte sie das attraktiv gefunden. Sie schmirgelte noch heftiger mit dem Sandpapier über das Holz. Staub flog auf, und Sila musste niesen, was ihr erst einmal die Notwendigkeit einer Antwort ersparte.

»Oder hast du eine Erbtante, von der ich nichts weiß?« Er legte den Stapel auf das Fensterbrett, den verdächtigen Brief oben.

»Nicht dass ich wüsste. Die Überschaubarkeit meiner Familie ist dir ja bekannt.«

»Gut. Zu viel Geld verdirbt nur den Charakter.« Jetzt lächelte er sie verhalten an. Dieses Lächeln mochte sie immer noch. Meistens jedenfalls. Heute nicht so sehr. Es ärgerte sie, wenn er so gönnerhaft überlegen tat, nur wegen der acht Jahre, die er ihr voraushatte. In letzter Zeit war das häufiger vorgekommen. Am Wochenende hatten sie gerade erst seinen Zweiundfünfzigsten gefeiert. Am Fenster stand noch eine leere Sektflasche, eine halbleere Schachtel Pralinen lag geöffnet davor. Ihm war wohl selbst aufgefallen, dass sein Tonfall etwas daneben gewesen war, denn er wählte eine Praline mit Nougat, kam zu Sila

»Na, ob das als Ausrede taugt?«, sagte sie um die Praline herum. Warum hatte er auch gesagt? Die zunehmend grauen Schläfen standen ihm hervorragend, aber das hatte sie ihm irgendwann schon mal gesagt.

»Kommst du voran?«, fragte er. »Willst du den Brief nicht aufmachen?«

»Später. Ich möchte das hier erst fertig machen. Da waren noch Splitter.«

»Splitter? Ich hinterlasse keine Splitter an den Möbeln, die ich mache.«

»Das Holz hat gearbeitet.«

»Wie auch immer. Ich muss wieder los«, sagte er. »Bis später.«

 

Eine angenehme Stille senkte sich über die Werkstattetage. Die anderen waren noch nicht da, sie arbeiteten meist lieber nachmittags. Sila widmete sich wieder dem Möbelstück. Sorgfältig glättete sie auch noch die letzten Unebenheiten an dem breiten Schaukelstuhl, den Devin gestern fertiggestellt hatte. Der Kunde hatte ihn so gewollt. Extra groß und bequem. Dadurch hatte Sila besonders viel Platz, um auf der Rückenlehne das gewünschte Dekor unterzubringen. Sie freute sich darauf. Aber ohne gründliche Vorbereitung ging das nicht. Schließlich waren Devin und sie für ihre sorgfältige Arbeit bekannt. Ein gutes Team.

Sila vergaß alles um sich herum, auch den Brief. Erst als sie fertig war, das Sägemehl aufgesaugt und die Stuhllehne feucht

Sila ging ans Fenster und öffnete beide Flügel. Die Sonne war herausgekommen, und der Regen, der vorhin Devins Jacke durchfeuchtet hatte, funkelte jetzt auf Autodächern, Geländern und in den Zweigen der Birken. Sila beugte sich hinaus und sog begierig die Luft ein, die nach Gras und nach April roch und leider auch nach Großstadt. Das Licht streute Silber auf die Spree, die träge dahinfloss. Dass man sie hier zwischen begradigte Mauern gezwängt hatte, fiel nun nicht mehr so auf wie im Winter, denn die Weiden an den Ufern trieben junge grüne Blätter und legten eine versöhnliche Weichheit über die Szene. Von hier oben im fünften Stockwerk aus fiel Silas Blick direkt auf die Lessingbrücke, die das Westfälische mit dem Hansaviertel verband.

 

Die Brücke hatte wie Sila eine wechselvolle Geschichte hinter sich. Sie war im Krieg halb zerstört worden, dann provisorisch wieder aufgebaut und schließlich nach altem Vorbild ganz erneuert. Die metallenen Bögen der Trägerkonstruktion schwangen sich elegant und selbstbewusst in den Himmel, während unten solide Sandsteinbögen das Wasser durchquerten. Wann

Schon lange bevor sie hier gelandet war, war ein Strom ihr Freund gewesen, ihr Trost und ihre Hoffnung und ein Versprechen auf die Zukunft. An einem anderen Ort in dieser riesigen Stadt, an dem sie keinen Blick auf die Spree gehabt hätte, wäre sie bestimmt nicht glücklich geworden. Doch hier ging es ihr gut, hier bei Devin und den anderen, die jetzt ihre Familie waren.

 

Sila streckte sich. Sie hatte vorhin beim Schleifen zu lange zusammengekauert gesessen. Ein Spaziergang wäre jetzt gut, ehe die Aprilsonne sich wieder verzog. Die Enten unten schnatterten aufgeregt, als riefen sie nach ihr. Und Jims Café unten auf dem alten Dampfer hatte vor ein paar Tagen wieder die Saison eröffnet. Vielleicht gab es dort schon diese leckeren Brownies? Jetzt hatte sie es auf einmal eilig. Sie würde rasch die Post durchsehen und dann hinuntergehen. Eine Mittagspause hatte sie sich verdient.

Sie öffnete eine Rechnung für Holzbeize, eine Werbung für Lötkolben, eine Einladung zu einer Vernissage. Die erste legte sie auf den Schreibtisch zu den anderen Rechnungen, die beiden letzteren vertraute sie ohne Bedenken dem Papierkorb an. Blieb der Brief. Sie sah genauer auf den Absender. Ein Anwalt aus Bad Freienwalde? Irgendwo hatte sie den Namen schon mal gehört. Wo war das denn? Noch bevor sie den Brief öffnete, googelte Sila es rasch auf dem Handy.

Oderbruch. Bad Freienwalde lag am Rande des Oderbruchs!

Sila beschloss, sich lieber hinzusetzen. Der Schaukelstuhl knarrte nur ein wenig. Devin baute solide. Doch der Stuhl war

Als sie schließlich verstanden hatte, was da stand, war die Sonne längst wieder verschwunden. Sila schnappte sich trotzdem eine Jacke und ihre Tasche, stopfte den Brief hinein und stürmte die Treppen hinunter, weil sie hier oben auf einmal nicht mehr genug Luft zu bekommen schien.

 

Sila stapfte am Ufer des Flusses entlang, beobachtete die Enten und versuchte, an gar nichts zu denken. »Hallo, Nepomuk!«, sagte sie zu dem schwarzen Schwan, der ihr spezieller Freund war und wie meist in der Nähe herumdümpelte. Heute war er verschlafen und nahm den Kopf erst nach einer Weile unter dem Flügel hervor, um Sila einen Blick zuzuwerfen. Da sie wusste, wie schädlich altes Brot und dergleichen für die Vögel war, hatte sie immer ein paar Getreidekörner oder Entenfutter für ihn in der Tasche. Die holte er sich dann auch gleich ab.

Irgendwann kam sie an der Treppe an, die durch einen Laubengang zur Brücke hinaufführte. Im Gang blieb sie einen Augenblick stehen und genoss das grüne Dämmerlicht, betrachtete die Knospen des Blauregens, die auf wärmeres Wetter hoffen ließen, und stieg schließlich vollends hinauf.

Auf das Brückengeländer gelehnt, blickte sie in den klaren Fluss, während hinter ihr der Verkehr vorbeirauschte. In den Teil des Geländers, der aus Sandstein bestand, waren Figuren eingelassen. Reliefs, die so lebendig wirkten, dass Sila als Kind mit ihnen gesprochen hatte, wenn ihr sonst niemand zuhörte. Das war, bevor sie Devin kannte. Er hatte ihr immer zugehört. Auf dem einen Relief war ein Frosch mit einer brennenden Fackel in der Hand zu sehen, der auf einem übellaunigen Wels

»Ich glaub das einfach nicht«, sagte Sila zu dem Frosch. Heutzutage fiel es ja nicht mehr auf, wenn einer sprach, ohne ein Gegenüber zu haben. Alle Leute liefen herum und telefonierten mit irgendjemanden, und es sah aus, als sprächen sie mit sich selbst. Der Frosch sah sie immerhin verständnisvoll an.

»Von wegen, Wanda wäre nach Polen zu ihrer Schwester gezogen und niemand wüsste, wo das ist!«, sagte Sila. »Das haben sie mir damals erzählt. In Wahrheit war sie all die Jahre auf dem Hof gewesen! Ich hätte ihr schreiben können, nach der Wende.«

Hättest du es denn auch getan, wenn du es gewusst hättest?, schien der Frosch sie zu fragen. Du wolltest doch an die Zeit gar nicht mehr denken.

»Doch, wollte ich. Habe ich auch. Immerzu. Jahrelang. Es hat nur zu weh getan. Ich hab’s mir schließlich abgewöhnt, weil es keinen Zweck hatte. Du hast gut reden, du kannst auf deinem schlecht gelaunten Wels reiten, wohin du willst, und jederzeit abtauchen!«

Jetzt war es passiert. Der Brief hatte alte Erinnerungen geweckt.

 

Sila dachte an den Delfin, den sie als kleines Mädchen erfunden hatte. Ein Flussdelfin, kein chinesischer allerdings, sondern ein Brandenburger, der Einzige seiner Art. Ihr Phantasiegefährte, auf dem sie einmal bis zum Meer hatte reiten wollen. Dann, wenn es keine Grenzen und keine Gefahr mehr geben würde. Aber als das endlich passiert war, lebte sie längst an einem anderen Fluss, und der Freund ihrer Kindheit war im Strom der Zeit versunken.

Sosehr sie den Blick von hier aus auch mochte, auf einmal wünschte sie sich, man würde keine Häuser sehen. Sie dachte an jenen anderen Fluss im Frühling, an endlose, geflutete Ebenen, an alte Weiden und Erlen, die mitten im flachen Wasser standen. Wie ein riesiger Spiegel reflektierte es zwischen sonnenblondem Schilf und hellgrünen grasigen Erhebungen den Himmel. Weit und breit kein Gebäude, kein Mensch, nur Vogelschwärme und Stille und der warme Wind, der den Sommer ankündigte … Plötzlich überkam Sila eine seltsame Panik. Was, wenn sie hier den Rest ihres Lebens sitzen würde? Wenn alles immer so weiterging? Häuser. Benzingestank. Verkehr. Die Spree mit den engen, künstlichen Ufern. Devin.

»Hallo! Was machst du denn hier?«, fragte eine Stimme hinter ihr, und eine lange dünne Gestalt in sehr bunten Turnschuhen setzte sich neben sie.

»Nura! Hast du keine Schule?«

»Es ist doch Samstag. Geht es dir nicht gut?« Nura musterte Sila interessiert. »Du siehst komisch aus.«

»Danke. Du auch ein bisschen.« Nuras lange Locken, so schwarz wie Silas eigene, waren schon seit einer Weile unten herum blau. Aber jetzt waren sie oben zusätzlich weiß, und an einem Ohr trug sie eine Klemme in Form eines ziemlich beachtlichen Drachens.

Nura fasste danach. »Ach, das. Den hat mir Luca geschenkt. Der soll auf mich aufpassen.«

»Fein. Taugt in der Stadt sicher besser dafür als ein Delfin«, sagte Sila.

»Nein. Ich musste nur gerade an früher denken. Als ich halb so alt war wie du, hatte ich einen imaginären Freund in Form eines Delfins.«

»Du erzählst nie von früher.«

»Mach ich doch gerade.« Nura war nicht nur die Tochter ihrer jüngeren Cousine, sondern auch Silas Patenkind. Wann war die eigentlich so erwachsen geworden? Sie war doch erst fünfzehn. Vielleicht lag es an den weißen Strähnen, die sie so merkwürdig weise aussehen ließen. »Ist das gerade modern? Weiße Haare?«

»Ja. Total in. Aber keine Sorge, wäscht sich raus.«

»Bei mir nicht.«

Nura betrachtete Sila kritisch. »Das sind ja nur ein paar. Steht dir total gut, finde ich. Gerade weil der Rest so schwarz ist. Wir sehen uns viel ähnlicher als Mama und ich. Lustig.«

»Früher haben sie mich deswegen ausgelacht.«

»Wegen der schwarzen Haare? Warum das denn? Sehen doch viele so aus.« Nura wedelte mit einer langen Strähne und begann, einen dünnen Zopf hineinzuflechten.

»In Berlin-Moabit ja. In der DDR nicht. Da fiel das auf.«

»Mmh. Wir hatten das in der Schule. Das mit der Mauer. Ich kann mir das aber überhaupt nicht vorstellen. Da kann sich ja nicht mal Mama mehr dran erinnern. Und Oma redet nicht darüber.«

»Ist ja auch vorbei. Hast du Lust auf einen Brownie von Jims Café? Ich lad dich ein.«

»Sehr gerne. Ich kann uns aber auch welche holen, wenn du lieber hier sitzen möchtest«, bot Nura an.

Nura machte diskreten Gebrauch von ihren Grübchen. »Na ja, da ist diese Interpretation in Deutsch. Ich dachte, du hast vielleicht eine Idee … aber das eilt nicht. Warum bist du eigentlich so gerne hier?«

»Der Laubengang erinnert mich an einen ähnlichen, in dem ich als Kind gern gesessen habe. Da gab es allerdings keine Treppe, dafür eine Bank. Aber da wuchs Blauregen wie hier und außerdem eine Klematis, die hatte große Blüten wie weiße Sterne. Und im Sommer die Schwarzäugige Susanne und duftende Wicken in allen Farben.«

»Das klingt schön.« Nura machte große Augen. »Warum erzählst du denn heute auf einmal so viel von früher?«

»Das kommt in unserer Familie wirklich nicht oft vor, was?«

»Nee. Das ist irgendwie unheimlich. So, als wärt ihr einfach mal irgendwann als Erwachsene mit einem Ufo hier gelandet. Was ist denn heute los mit dir?«

»Ich habe einen Brief bekommen. Von Wanda.«

»Und wer ist Wanda? Ist die auch von früher? Wie dein Delfin?«

Sila stand auf. »Lass uns zu Jims Café gehen. Dann können wir über deine Deutschaufgabe reden.«

Nura beeilte sich, ihr zu folgen. »Aber erst sagst du mir, wer Wanda ist.«

Aber Sila schwieg, bis sie auf dem alten Dampfer, der unter den Weiden vertäut lag und nur noch als Café diente, an einem der Tische mit den blaukarierten Decken saßen. Der Besitzer hieß nicht Jim. Er hieß Eddie. Sein Café hatte er nach dem Sklaven Jim in »Huckleberry Finn« benannt, weil er sagte, der Betrieb sei seine Art von Abenteuer und das Schiff befände sich

»Ich muss ja vor nichts weglaufen«, hatte er erklärt, und Sila fand, das klang unglaublich zufrieden. Vielleicht trank sie hier deswegen so gern ihren Kaffee. Und wegen der Brownies natürlich.

»Was möchtest du haben?«, erkundigte sich Sila. Aber Nura sah über ihre Schulter hinweg die Böschung hinauf. Sila folgte ihrem Blick. Oben auf der Stromstraße schlenderte Devin in angeregtem Gespräch mit einem roten Lockenkopf. Man konnte die beiden nur von den Schultern aufwärts sehen, aber sie hatten die Köpfe sehr dicht beieinander.

»Ist Devin wieder mit dieser Nicole zusammen?«, fragte Nura.

Sila zuckte mit den Schultern. »Möglich. Keine Ahnung.«

»Mama sagt, aus euch beiden wird man nicht schlau. Ich nehm ’ne Cola.«

»Das trifft es genau. Ich werde auch nicht schlau aus uns. Hallo, Eddie! Eine Cola und einen Cappuccino, bitte.«

»Jeht klar. Tach och, die Damen. Jut übern Winter jekommen?«, fragte Eddie und stellte ihnen ungefragt zwei Brownies hin. Er kannte seine Kunden. »Juten Appetit!«

»Wer ist denn nun Wanda?«, bohrte Nura mit vollem Mund nach, als er fort war.

Es war so schwer, Wanda zu beschreiben. Sila musste tief in ihrer Erinnerung graben. Das Bild war zugleich verschwommen und ganz klar. Wie konnte das sein? Vielleicht, weil es mehr ein Gefühl von Geborgenheit war, der Klang einer Stimme, die Geste einer Hand, der Geschmack frischen Kompotts mit Kuchen, der Refrain eines Volkslieds in einer fremden Sprache.

»In der DDR

»Ja. Es war kein richtiger Hof mehr. Die Felder gehörten uns nicht, nur das Stück Land um das Haus herum. Meine Mutter hatte nicht viel Zeit für mich …«

»Wie meine auch«, stellte Nura fest.

»Na ja. Nicht ganz. Deine Mutter gibt sich Mühe. Sie hat eben viel Arbeit.«

»Ich weiß. Erzähl mir lieber mehr von Wanda. Hatte sie denn Zeit für dich?«

»Wanda war immer da. Schon seit ich ganz klein war. Ich kann mich jedenfalls nicht erinnern, dass sie mal nicht da gewesen wäre. Ja, sie hatte immer Zeit für mich, obwohl sie noch eine andere Arbeit hatte, als Sekretärin in der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft. Bei uns war sie so eine Art Hauswirtschafterin. Dafür durfte sie bei uns wohnen. Aber in Wirklichkeit war sie viel mehr als nur eine Hauswirtschafterin.«

»Die hätte ich auch gerne kennengelernt«, sagte Nura und schlürfte genüsslich ihre Cola. Sila horchte auf und nahm sich vor, sich mehr um Nura zu kümmern. Wobei die ja eigentlich in einem Alter war, in dem einem so was eher peinlich ist. Aber Nura war eben immer ein bisschen anders. Genau wie Sila damals.

»Ja, Wanda hätte dir gefallen. Sie tröstete mich, wenn ich hingefallen war, und brachte mir bei, sofort wieder aufzustehen. Sie hatte einmal eine Elster aufgezogen, die saß auch später noch oft auf Wandas Schulter. Heinrich hieß der Vogel und brachte mich immer zum Lachen. Wanda trug einen sehr langen

»Und dann hattet ihr nie wieder Kontakt? Wie lange ist das her? Magst du deinen Brownie nicht aufessen?«

Silas Appetit war vergangen. Ihr Kopf war so voller Erinnerungen. »Du kannst ihn gern haben.« Sie musste nicht nachrechnen. So ein Datum vergisst man nicht. »Das ist tatsächlich vierunddreißig Jahre her.«

»Ui, so lange. Und warum hat sie dir dann jetzt auf einmal geschrieben? Und was?«

Wanda

Liebe Sila, ich bin Wanda. Ich denke, Du wirst Dich an mich erinnern. Wenn nicht an mich, dann an den Garten.

Damals habe ich es sehr bedauert, dass ihr fortgegangen seid.

Ich war nie ein Familienmensch und wollte nach meinen Erlebnissen im Krieg um jeden Preis unabhängig sein, aber Du hast Dich dann doch in mein Herz gearbeitet wie eine Hummel in ihre Neströhre. Ich habe Dich sehr vermisst.

Dass Du Dich nicht gemeldet hast, hat mich nicht gewundert. Ich hatte mit Deiner Mutter ja verabredet, dass sie Dir erzählt, ich sei zu meiner Schwester nach Polen gezogen. Nimm es ihr also bitte nicht übel. Du hättest nicht verstanden, warum Du mir nicht schreiben sollst. Damals hat man Ärger bekommen, wenn man Post aus dem Westen erhielt, von Menschen wie euch, die geflüchtet sind. In meinem Fall wäre es besonders gefährlich gewesen, weil ich nicht auffallen durfte.

Wir waren uns nicht sicher, ob das mit dem Verkauf des Hofes an mich alles wasserdicht war. Ich habe Deiner Mutter ja nur ein paar symbolische Mark dafür gezahlt, und es ging alles so schnell. Sie war einfach nur erleichtert, den Hof loszuwerden, und niemand außer mir wollte ihn haben. Außerdem hing Dorothea doch irgendwie daran, auch wenn sie das Gegenteil behauptete. Ich denke, sie war ganz froh, den Wickenhof in guten und vertrauten Händen zu wissen. Wie ich sie kenne, hat sie danach nie wieder einen Gedanken daran verschwendet.

 

Inzwischen hilft mir zum Glück ein erfahrener Anwalt. Als ich mein Testament gemacht habe, hat er alles nach heutigem Gesetz geprüft. Der Hof gehört rechtens mir, zumindest auf dem Papier. Moralisch gesehen aber gehört er auf jeden Fall Dir, liebe Sila! Du bist Anna Beers Enkelin, und Anna hing viel mehr an dem Hof als ihre Tochter, Deine Mutter. Vor Anna gehörte der Wickenhof bereits seit Generationen ihrer Familie. Wie Du weißt, habe ich selbst keine Kinder. Meine Schwester in Polen gab es zwar, aber sie ist jung gestorben und hat ebenfalls keine Nachkommen. So ist es ganz klar, dass der Hof an Dich gehen soll, nachdem er so lange mein Glück und mein Leben gewesen ist. Ich hätte es nicht besser treffen können.

 

Du kannst meinem Anwalt vertrauen, er ist ein guter Mann. Tatsächlich habe ich mich in den letzten Jahren meines Lebens doch noch einmal verliebt, und zwar in ihn. Er heißt Harald. Mit 78, kannst Du Dir das vorstellen? Seit zwei Jahren sind wir glücklich miteinander. Es ist jetzt 2010, und ich denke, wir werden noch ein paar schöne Jahre zusammen haben. Er ist jünger als ich. Wenn Du das hier liest, wirst Du ihn wahrscheinlich bald kennenlernen. Er wird Dir die Schlüssel und Papiere übergeben.

 

Sila, ich hoffe, dass es Dir in Berlin besser ergangen ist und Du Freunde gefunden hast. Ich weiß, wie schwer Du es hier hattest. Harald hat mir auf einem Bildschirm gezeigt, was Du jetzt machst. Ich habe es gesehen und gedacht, es ist wohl noch viel von Deiner alten Gegend in dir. Andrena. Die Sandbiene.

Es bleibt natürlich völlig Dir überlassen, was Du mit dem Hof anstellst. Du weißt, wie sehr ich an dem Garten gehangen habe, und ich weiß, nachdem ich Deine Bilder gesehen habe, dass er auch Dir damals etwas bedeutet hat. Aber nichts ist für die Ewigkeit! Du wirst gewiss die richtige Entscheidung treffen.

 

Ich weiß nicht, was Dir Deine Mutter über den Hof erzählt hat. Sie hat ihn geerbt, als sie noch viel zu jung dafür war. Dein Großvater ist im Krieg geblieben, und Deine Großmutter Anna aufgrund einer Krankheit, die sie während des Krieges erlitten hat, früh gestorben. Ich habe sie noch gut gekannt. Ich kam nach Kriegsende als verstörtes fünfzehnjähriges Flüchtlingskind auf den Hof. Anna hat mich aufgenommen und mir beigebracht, hier zu helfen. Da war sie mit Deiner Mutter schwanger, nach dem letzten Fronturlaub ihres Mannes, bevor er fiel. Anna ging es nicht gut, und sie hatte es auch aufgrund des Krieges und der Zeit danach extrem schwer. Trotzdem ist sie immer nett zu mir gewesen. Ich war allein durch das zertrümmerte Land geflohen, und der Wickenhof mittendrin erschien mir wie eine Insel, ein Paradies.

Gewiss, es hatten dort schlimme Kämpfe stattgefunden, in der letzten Schlacht um Berlin. Jede Menge russische und deutsche Soldaten sind damals im Oderbruch gefallen. Ich sah noch einige am Wegrand liegen … Aber das Haus stand ungerührt, es war Frühling, als ich es das erste Mal erblickte. Die Obstbäume blühten, um das Haus herum tanzten Margeriten im Wind, und in meiner ersten Zeit dort blühten gerade die Wicken auf. Vielleicht kannst Du Dich daran erinnern. Sie gaben den Hof seinen Namen, weil rundherum an den Zäunen die mehrjährigen Staudenwicken rankten, und auch die bunte einjährige Sorte säte sich in allen Farben überall aus.

Du hast immer dicke Sträuße gepflückt und in allen verfügbaren Vasen verteilt. So duftete auch das Haus danach. Ich fand immer, sie waren ein bisschen wie Annas Persönlichkeit.

 

Liebe Sila, nimm es Deiner Mutter nicht krumm, dass sie von Annas liebenswürdigem Wesen so wenig geerbt hat. Vielleicht liegt es daran, dass sie in so schweren Zeiten groß geworden ist, ohne Vater und mit einer kränkelnden Mutter. Ich war selbst noch zu jung, um ihr richtig helfen zu können. Ich habe mich um Haus und Garten gekümmert und später um Dich, so gut ich konnte. Nachdem ihr fort wart, habe ich alles wieder so hergerichtet, wie es zu Annas Zeiten war. Ein bisschen moderner natürlich, aber vor allem den Garten habe ich wiederhergestellt, so wie er vor dem Krieg gewesen ist. Sie hatte mir so oft davon erzählt.

Nur der Gemüsegarten, der ist größer geblieben, weil wir im Krieg gelernt haben, wie wichtig es ist, sich in der Not vom eigenen Grund und Boden ernähren zu können. Für mich ist es eine sehr befriedigende Tätigkeit geworden, das Gemüse zu ziehen, es keimen und wachsen zu sehen und schließlich zu ernten. Ich habe es dann an diejenigen verteilt, die es gebraucht haben, manchmal auch ein wenig getauscht, wenn es nötig war. In letzter Zeit konnte ich mich nicht mehr so gut darum kümmern. Harald hat mir geholfen, aber es fehlt ihm an Kraft.

 

Was mit dem Wickenhof geschieht, liegt nun in Deinen Händen. Fühl dich ihm bitte nicht verpflichtet! Er war Annas Leben und meines, aber aufgrund der Umstände eben nicht Deines. Ich denke, Du wirst ihn verkaufen, und ich wünsche Dir Glück dabei. Es könnte ein wenig schwierig werden, hier einen Käufer zu finden. Die meisten Menschen heute würden sagen, hier ist ja nichts. Nichts da und nichts los. Gar nichts. Das kann ich verstehen. Es stimmt nicht, doch man muss schon sehr genau hinsehen, um es zu finden. Aber ich denke, so weit kannst Du Dich noch erinnern, dass Du ahnst, was ich meine.

Um die Bienen jedoch mache ich mir Sorgen, Sila. Es werden immer weniger! Nicht nur auf dem Hof, sondern in der ganzen Gegend. Dafür gibt es natürlich Gründe. Verhindern kann das wahrscheinlich niemand mehr. Aber solltest Du tatsächlich hierherkommen, wirst Du wohl noch einigen dieser alten Freunde begegnen. Wer weiß, wie lange das noch möglich ist.

Vielleicht erinnerst Du Dich ja an das, was die Bienen tun, wenn sie gerade nicht unterwegs sind? Nun haben sie umso mehr Grund dazu. Es ist das, was auch in den dunkelsten Stunden immer noch bleibt.

 

Alles Liebe für Dich, Sila!

Deine Wanda

 

PS: Die letztjährigen Samen von den Wicken stehen in der Werkstatt im Regal.

 

Sila schluckte, obwohl sie den Brief nun schon zum zweiten Mal las.

 

Sehr geehrte Frau Beer,

 

ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Wanda verstorben ist. Mitten im Winter, Anfang Februar. Sie ist vorher noch einmal durch den Garten gegangen, hat sich dann am Kamin in den alten Ohrensessel gesetzt und ist friedlich eingeschlafen. Sie hatte Winterportulak in der Hand, den sie im Gemüsegarten geerntet hatte, und sie lächelte.

Auch wenn wir uns sehr spät im Leben gefunden haben, ich habe Wanda sehr geliebt und bin unendlich dankbar für die gemeinsamen Jahre. Gerne hätte ich Ihnen das Testament persönlich gebracht, aber ich bin stark gehbehindert. Wenn Sie mich an meiner unten angegebenen Adresse in Bad Freienwalde aufsuchen, wann immer es Ihnen passt, übergebe ich Ihnen den Schlüssel und die Papiere für den Hof. Ich bin nach Wandas Tod in ein Seniorenheim gezogen, da ich alleine nicht zurechtkam und auch ohne sie dort draußen nicht mehr sein möchte. Ich freue mich darauf, Sie kennenzulernen.

 

Mit herzlichen Grüßen

 

Harald Hoffmann

 

Auf Nuras Frage, warum Wanda ihr jetzt nach all den Jahren geschrieben hätte, hatte Sila nur gesagt: »Weil sie gestorben ist. Ein Anwalt hat mir den Brief geschickt.«

»Krass! Ein Abschiedsbrief also. Das tut mir leid, Sila.«

»Danke. Schon gut. Sie war alt und anscheinend glücklich, und ich habe sie seit Jahrzehnten nicht gesehen. Wie war das jetzt mit deiner Hausaufgabe?«

»Schon gut, das ist genau das Richtige, damit mein Kopf wieder klarwird. Zeig her. Worum geht es?«

 

Zum Einkaufen oder Kochen hatte Sila aber hinterher keine Kraft mehr. Es war plötzlich undenkbar, in einer anonymen Menschenmenge an der Kasse zu stehen, nachdem all die alten Bilder in ihr immer lebendiger wurden. Sie hatte auf einmal den Wickenduft in der Nase, sah die fröhlichen Farben in sämtlichen Rosa-, Violett- und Blautönen, die weißen Blüten nicht zu vergessen. Und die weinroten! Sie hörte das Summen der Bienen. Nicht die Honigbienen. Die anderen. Die Wildbienen. Sie hatte die verschiedenen Arten am Summen unterscheiden können …

Devin würde inzwischen zurück sein und Hunger haben. Wenn er nicht mit Nicole essen gewesen war. Da Sila den Brownie nicht herunterbekommen hatte, knurrte ihr eigener Magen jetzt auch. Kurzentschlossen nahm sie unten an der Ecke etwas vom Chinesen mit.

Devin musste sie aus dem Fenster gesehen haben, denn er stand schon in der Tür. »Ich habe mir Sorgen gemacht. Ging es in dem Brief doch um etwas Schlimmes?«

Er würde sich immer um sie sorgen. Wie seit beinahe dreißig Jahren schon. Ihr würde es umgekehrt nicht anders gehen, nur hatte es noch nie einen Grund gegeben, sich um ihn Sorgen zu machen.

»Nein. Nichts Schlimmes. Hast du Lust auf Chinesisch?«

Er nahm ihr die Tüten ab. »Perfekt.«

Nach dem Essen schob sie ihm den Brief hin.

»Hier. Ich mache uns solange einen Espresso.«

Meinungen

Das Gluckern der Espressomaschine beruhigte Sila ein wenig. Es war so vertraut. Zusammen nach dem Essen Espresso zu trinken und dabei über wichtige Dinge zu reden war eine liebgewordene Gewohnheit zwischen Devin und ihr. Ganz unabhängig von irgendwelchen Nicoles oder ihren eigenen Freundschaften.

Als sie aus der winzigen Kaffeeküche ins Zimmer zurückkehrte, steckte er die Papiere gerade sorgfältig zurück in den Umschlag. Er sah nachdenklich aus. »Danke.« Mit Genuss schnupperte er an seiner Tasse, auch eine Geste, die sie mochte. Devin verstand es zu leben, die kleinen Dinge zu genießen.

Genauso, wie Sila es zuerst von Wanda gelernt hatte. Das wusste sie jetzt wieder. In der schweren Zeit hatte sie es nur vergessen. Oder einfach nicht gekonnt. Sie war Devin dankbar, dass er sie immer wieder daran erinnerte.

»Und wie geht es dir jetzt?«, erkundigte er sich und sah sie forschend an.

»Ich weiß nicht.«

»Wenn es dir zu viel ist, könnte ich mich darum kümmern. Oder du bittest Wandas Anwalt, diesen Herrn Hoffmann, es zu tun. Auch wenn er gehbehindert ist, kennt er bestimmt jemanden, den wir beauftragen können, den Hof herzurichten und so bald wie möglich zu verkaufen. Oder zu verpachten, wenn dir das lieber ist.«

Devin nahm einen Schluck. »Ich denke aber, es ist besser für dich, das selbst zu tun. Es könnte dir dabei helfen, mit alldem abzuschließen. Du konntest dich damals gar nicht richtig verabschieden. Und diese Wanda hat dir etwas bedeutet, stimmt’s? Ich merke es dir doch an.«

»Ja.« Wie gut er sie kannte! »Würdest du mir das denn zutrauen? Das alles hinzukriegen?«

»Ja, sicher. Du dir nicht?«

»Na ja. Geschäftstüchtigkeit ist nicht gerade meine Stärke. Und ich werde nicht objektiv sein können. Dafür ist es dann doch zu persönlich. Auch nach all den Jahren. Nein, gerade nach all den Jahren«, verbesserte sie sich.

»Das kann auch von Vorteil sein. Und was das Geschäftliche angeht, kannst du dich von dem Herrn Hoffmann beraten lassen. Der kennt sich da aus mit Grundstückswerten und Immobilien, wenn er dort lebt.«

Sila musste lächeln. »Immobilie! Das ist ein merkwürdig unpassendes Wort für den Wickenhof.«

»Wenn es dich wieder zum Lächeln bringt, passt es doch.« Er schmunzelte selbst. Wenn er so aussah, wirkte er liebenswert lausbubenhaft. Dann kam Sila sich manchmal vor, als wäre sie die Ältere von ihnen beiden.

Dennoch – sie war so große Entscheidungen nicht gewöhnt. Tatsächlich hatte sie sich viel zu lange vor allerlei Derartigem gedrückt. Wahrscheinlich war es richtig gewesen von Wanda, Sila endlich aus ihrer Komfortzone herauszuzwingen. Das hatte sie früher auch immer getan. Sila war es, als hörte sie Wandas Stimme. Eine Altstimme, warm und etwas kratzig. Natürlich kannst du über den Zaun klettern, Mädchen, streng dich an! Oder:

»Würde es dir helfen, wenn wir zusammen hinfahren?«, fragte Devin.

»Ich weiß nicht. Das ist lieb von dir. Ich muss darüber nachdenken.«

»Natürlich. Aber vermutlich besser nicht zu lange. Dieser Herr Hoffmann ist alt. Sicher ist das eine Belastung für ihn. Er will den Wunsch Wandas erfüllen und dir die Sache übergeben, und es ist nicht gut für ein Haus, wenn es lange leer steht. Es verkommt rasch und verliert schnell an Wert. Also, wenn du meinen Rat möchtest, schieb es nicht zu lange auf. Das hilft nicht und belastet dich nur. Vielleicht magst du mit deiner Cousine darüber sprechen. Mein Angebot steht jedenfalls.«

»Danke. Du hast recht, ich werde mit Mine darüber reden.« Nuras Mutter war im Gegensatz zu Sila tatsächlich eine Geschäftsfrau. Eine gute. Schließlich führte sie den Feinkostladen ihres Vaters inzwischen als gleichberechtigte Partnerin mit und war sozusagen darin aufgewachsen. »Dann kann ich auch gleich einkaufen. Der Kühlschrank ist leer.«

 

»Geschäftsfrau vielleicht, aber von Immobilien habe ich absolut keine Ahnung«, erklärte Mine später, während sie die Oliven abwog. »Danke übrigens, dass du Nura mal wieder mit den Hausaufgaben geholfen hast. Wie mir früher. Ohne dich wäre gar keine Geschäftsfrau aus mir geworden.«

»Glaub ich nicht. Du bist so tüchtig. Anders als ich weichst du nie einer Entscheidung aus oder schiebst sie auf.«

»Diesen Käse hier kann ich heute empfehlen. Koste mal.« Mine hielt Sila ein Stück auf einer Gabel entgegen. »Also, in

»Anwesen! Wieder so ein Wort, das überhaupt nicht zum Wickenhof passt. Der Käse ist megalecker. Gib mir bitte das größere Stück da.«

»Sila, ich kann das nicht beurteilen. Das war vor meiner Zeit. Ich war nie dort.« Das stimmte. Mine war zehn Jahre jünger als Sila. »Ich kann höchstens Vater fragen, ob er einen Immobilienmakler kennt«, bot Mine an.

»Danke. Vielleicht komme ich darauf zurück.«

 

Für den Käse hatte sich das Gespräch schon gelohnt, dachte Sila auf dem Heimweg, aber ansonsten hatte es nicht viel gebracht. Sie würde besser die beiden Menschen fragen, die ihr über die Jahre so etwas wie ein Elternersatz geworden waren. Die zwei hatten immer einen Rat für sie. Sie waren so etwas wie ihre guten Geister. Vielleicht waren sie inzwischen oben bei der Arbeit.

Aber die Werkstattetage war immer noch verwaist, und auch Devin war fort. Bin bei einem Kunden, dann beim Skat. Heute Abend spät zurück, stand auf einem Zettel.

 

In dieser und manch anderen Gegenden der Stadt kam es häufig vor, dass mehrere Künstler oder kleine Gewerbe sich eine Etage teilten, um dort zu arbeiten. Jeder hatte seinen Platz, mal abgeteilt, mal nicht. Man half einander, regte sich an und trank zusammen Kaffee. Ideen verschiedenster Menschen in verschiedenem Alter und von verschiedener Herkunft befruchteten sich gegenseitig. So war es auch in diesem Haus am Ufer der Spree. Hier war es Devin gewesen, der vor Jahrzehnten die

Und als Sila dazukam, hatte es von Beginn an gepasst, als wäre sie das fehlende Puzzleteil gewesen.

 

Sila räumte die Lebensmittel weg. Die Sonne hatte die Räume erhitzt. Sie öffnete die schmale Tür und trat hinaus auf den engen Balkon. Der Lerchensporn und die Narzissen, die sie in die Kästen gepflanzt hatte, blühten jetzt. Ebenso der Löwenzahn, den sie absichtlich nicht aus den Rissen in den Fliesen gezogen hatte. Sie beobachtete die Bienen, die sich eifrig am Nektar bedienten, und stellte erfreut fest, dass sich unter den zahlreichen Honigbienen eine Weidensandbiene befand. Sie sonnte sich auf dem warmen Geländer. Unten am Ufer standen genug Weiden, bestimmt kam sie von dort und ruhte sich hier nur aus. Der Hinterleib des zarten Wesens war von elegantem Schwarz, obenherum glänzte ihr weißer Pelz in der Sonne.

Es gab neuerdings viel zu viele Honigbienen in der Stadt, seit es unter größeren Firmen und Hotels Mode geworden war, Bienenvölker auf dem Dach zu halten und eigenen Honig zu produzieren. Der wurde dann als Werbegeschenk auf

Auf dem Land war es noch viel schlimmer, aufgrund von Monokulturen, Überdüngung und Pestiziden. Natürlich gaben sich bereits viele Betriebe große Mühe, Blühstreifen anzulegen und möglichst naturnah zu wirtschaften. Aber es waren noch längst nicht genug. Kein Wunder, dass Wanda sich Sorgen gemacht hatte.

Auf dem Balkon ein Stockwerk tiefer klirrten leise Gläser. Der Klang erinnerte Sila an das Windspiel, das Wanda damals gebaut und in den Birnbaum gehängt hatte. Wanda hatte übriggebliebene Metallröhren zurechtgeschnitten, Löcher hineingebohrt und in zwei ineinanderliegenden Kreisen an ein altes Wagenrad gehängt. Ein schweres Zahnrad diente als Klöppel, an dem unten ein großer Windfänger aus Blech baumelte. Alle behaupteten, das Ganze wäre zu groß, um zu funktionieren. Doch Wanda lächelte nur. Sie behielt recht. Der Wind fegte oft genug über die offenen Flächen des Oderbruchs und brachte den kleineren, inneren Kreis der Röhren mit Leichtigkeit zum Klingen. Wenn im Frühjahr und im Herbst die Stürme kamen oder im Sommer Gewitterböen, dann sangen auch die äußeren, langen Röhren in tieferen Tönen ein Lied von der einsamen, weiten Landschaft. Die Klänge erzählten wortlos von den bizarren Kopfweiden und dem Fluss, der die Wiesen im Frühling mit

Sila hatte ein kleines Windspiel hier auf dem Balkon aufgehängt, als sie neu dazugekommen war. Doch die Nachbarn beschwerten sich. Zu laut. Sie musste es entfernen. Nun hatte sie seit Jahrzehnten nicht mehr daran gedacht.

Wandas Brief aber hatte die Erinnerung an jene Klänge in ihr geweckt, so frisch und lebendig wie einst. Sila war es, als müsste sie sich nur umdrehen und könnte hören, wie Wanda von draußen rief: »Kommst du, Kind? Wir müssen uns um die Erdbeerpflanzen kümmern, es wird Zeit …«

»Bist du da draußen, Sila?«, kam tatsächlich eine Stimme. »Es zieht! Sollen wir heute grünen oder weißen Tee kochen?«

Sila fuhr zusammen und musste einen Augenblick lang ihre Gedanken sortieren. Es war nicht Wanda, natürlich nicht. Es war Indra, die jetzt in der Werkstatt stand und Sila fragend ansah. Indra, die selbst mit ihren zweiundneunzig Jahren noch eins achtzig maß und mit ihrem schneeweißen Igelhaarschnitt stets hellwach und unternehmungslustig wirkte. Der Rollator, den sie benutzte, hauptsächlich weil sie ihn bei der Arbeit zum Sitzen praktisch fand, passte überhaupt nicht zu ihr. Er sah in ihren Händen aus wie ein Spielzeug. Indra hatte Sila bei der ersten Begegnung tatsächlich ein wenig an Wanda erinnert, nicht nur ihrer Größe und Haltung und Energie wegen.

Indra arbeitete ebenfalls mit Metall, allerdings auch mit Peddigrohr, Reispapier, Kunststoff und Kabeln. Sie konstruierte hauptsächlich humorvolle Stehlampen, die aussahen wie menschliche Gestalten oder Comicfiguren. Sie verkauften sich glänzend, denn sie waren funktional und strahlten dabei eine Art schwerelosen Humor aus. Ihr neuestes Werk war eine Figur,

»Grünen Tee. Ich bring ihn dir gleich«, entschied Sila. Indra brauchte ihren Tee bei der Arbeit, und sie hatten es zum Ritual gemacht, dass Sila ihn zubereitete und eine Tasse mittrank. »Geht es dir gut?« Unvorstellbar, dass Indra eines Tages nicht mehr da sein würde.

»Was denn sonst? Kennst mich doch. Aber was ist mit dir?« Indra musterte Sila mit ihrem scharfen Blick unter buschigen Brauen. »Du hast Wolken auf der Stirn.«

Auf die Füllung kommt es an

Vor Indra konnte niemand etwas verbergen. »Kommt Oswin heute auch?«, erkundigte sich Sila. »Ich wollte euch beide um Rat fragen.«

»Oha!«, sagte Indra. »Wie interessant. Ich denke schon, dass der alte Knilch noch erscheinen wird. Spätestens wenn der Tee fertig ist«, fügte sie betont hinzu.

»Ich mach ja schon.« Sila verschwand und setzte schmunzelnd das Wasser auf. Oswin war fünfzehn Jahre jünger als Indra, doch das hielt sie nie davon ab, ihn als alten Knilch zu betiteln.

Als Bea vor drei Jahren starb, kam ihr Mann Oswin irgendwann zu ihnen, um ihren Teil der Werkstatt auszuräumen. Verloren hatte er dagestanden und sich ratlos umgesehen.

»Können wir dir helfen, Oswin?«, hatten sie ihn gefragt.

»Ich brauche ein Geschenk für meinen Enkel«, hatte Oswin leise geantwortet. Ohne seine Frau wusste er nicht weiter. Indra hatte ihn sanft auf Beas alten Stuhl geschoben und ihm Nadel und Faden in die Hand gedrückt, während sie auf all die Stoffreste und begonnenen Stücke diverser Quilts deutete. »Mach was draus«, sagte sie und widmete sich dann wieder ihrer eigenen Arbeit. Mit einer Handbewegung und einem Augenzwinkern wies sie Devin und Sila an, dasselbe zu tun. So herrschte in dem Raum unterm Dach bis auf die Klänge von Hämmern, Feilen und Sägen eine kameradschaftliche Stille. Die