Stephan Harbort
Der klare Blick
Mit dem Wissen des Profilers
Lügen entlarven
Knaur e-books
Stephan Harbort, Jahrgang 1964, ist Kriminalhauptkommissar und führender Serienmordexperte. Er sprach mit mehr als 50 Serienmördern, entwickelte international angewandte Fahndungsmethoden zur Überführung von Gewalttätern und ist Fachberater bei TV-Dokumentationen und Krimi-Serien. Stephan Harbort lebt in Düsseldorf.
© 2016 der eBook-Ausgabe Knaur eBook
© 2016 Knaur Verlag
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit
Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Redaktion: Nadine Lipp
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Coverabbildung: FinePic®, München
ISBN 978-3-426-43369-0
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Wir freuen uns auf Sie!
Zit. nach Hansjacob, T. / Walder, H.: Kriminalistisches Denken, 2012, S. 169.
Die inhaltliche Darstellung der Fallanalyse stützt sich insbesondere auf Erpenbach, H.: Operative Fallanalyse: Ein kriminalistisches Werkzeug zur Ermittlungsunterstützung im interdisziplinären Netzwerk. Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie 2010, 107 ff.
Vgl. Marshall, A.: Kann ich dir jemals wieder vertrauen? So bewältigen Sie den Seitensprung Ihres Partners, 2011, S. 110 ff.
Alle Aussagen zitiert nach Gaevert, T.: »Eher regnet es Tinte …« Der Fall Hagedorn und ein Filmverbot. SWR2-Feature, 03.11.2010; Die großen Kriminalfälle: Erwin Hagedorn – Tod einer Bestie. ARD, 17.05.2001, die inhaltliche Darstellung ist angelehnt an Wirth, I. et al.: Ein sadistischer Knabenmörder. Kriminalistik 1996, 726 ff.
Melanie Giza, www.zeit.de/karriere/beruf/2014-04/sinnsuche-universitaetsabschluss-krise.
Inhaltlich angelehnt an Aebi, G.: Kriminalpsychologie – einmal konkret! Der Beitrag des Kriminalpsychologen zur Lösung des Falles M. E. in Bern. Kriminalistik 2003, 775 ff.
Inhaltlich angelehnt an: Niehaus, S.: Die Wahrheit über die Lüge. Kriminalistik 2009, 381 ff.
Steller, M. / Köhnken, M.: Criteria-based statement analysis, in: Raskin, D. (Hrsg.): Psychological methods for investigation and evidence. Springer: New York 1989, S. 217-245.
Für David Harbort.
Du bist das Licht in unserem Leben.
Die in diesem Buch geschilderten Verbrechen sind authentisch und entsprechen dem Ergebnis der kriminalpolizeilichen Ermittlungen bzw. der prozessualen Wahrheit. Als Quellen für die Rekonstruktion und Dokumentation der Kriminalfälle dienten insbesondere die Gerichtsakten.
Die Namen der handelnden Personen sind pseudonymisiert. Auch biographische Angaben oder örtliche und zeitliche Bezüge wurden mitunter verfremdet. Diese Verfahrensweise ist dem Schutz der Persönlichkeitsrechte geschuldet.
»Um klar zu sehen,
genügt oft ein Wechsel der Blickrichtung.«
Antoine de Saint-Exupéry,
Die Stadt in der Wüste
»Überzeugt sein heißt aber nichts anderes
als etwas für wahr halten, ohne zu zweifeln
oder nach überwundenem Zweifel.«
Hans Walder,
Kriminalistisches Denken
Jeder Mensch verfügt über eine bestimmte Alltagspsychologie, die ihn dazu befähigt, eigenes Erleben und fremdes Verhalten zu beschreiben, zu erklären und zu prognostizieren. So gelingt es uns beispielsweise, Menschen, die wir kennenlernen, schnell einzuschätzen, oder uns in neuen, vergleichbaren Situationen ad hoc zurechtzufinden, weil es tatsächlich entsprechende Gesetzmäßigkeiten und Häufigkeitsverteilungen gibt. Diese unbestreitbaren Kompetenzen basieren im Wesentlichen auf überlieferten Erfahrungen, Verallgemeinerungen und persönlichen Überzeugungen, die durch lebenslange Lern- und Anpassungsvorgänge erworben und verfeinert werden. Bewusst sind uns diese Abläufe vielfach nicht, wir handeln eher intuitiv, systematisch und fühlen uns dadurch auch sicher.
Nur hat die Sache einen Haken. Teile des Alltagswissens gelten zwar allgemein als gesichert bzw. zutreffend, sie sind es aber nicht, jedenfalls dann nicht, wenn man sie kritisch hinterfragt. Glauben Sie auch, dass Frauen mehr reden als Männer? Stimmt nicht. Wissenschaftler haben herausgefunden, dass Mann und Frau etwa gleich viel reden. Oder meinen Sie nicht auch, dass Pubertierende zu befremdlichen Verhaltensweisen neigen und gegen Autoritäten chronisch aufbegehren? Falsch. Nachgewiesen ist, dass nur etwa 20 Prozent der pubertierenden Kinder und Jugendlichen sich so oder so ähnlich verhalten. Und nehmen nicht auch Sie an, Hochbegabte seien verhaltensauffällige, soziale Außenseiter? Irrtum. Mittlerweile belegen wissenschaftliche Studien, dass sich hochbegabte von normal begabten Schülern weder durch ihre Persönlichkeit noch durch ihr Sozialverhalten signifikant unterscheiden.
Überhaupt zweifeln immer mehr Menschen an der Verbindlichkeit wissenschaftlicher Erkenntnis und vertrauen eher bunten, pseudoplausiblen Behauptungen oder entwickeln Meinungen auf der Grundlage von Vorurteilen bzw. Vorverurteilungen, die heutzutage im Internet rasend schnell und besonders wirksam verbreitet werden. Dort steht jedoch der gröbste Unfug gleichrangig neben der profunden Expertenmeinung. Im Netz konkurrieren Erkenntnis und Unkenntnis unerbittlich miteinander, Genie und Wahnsinn sind mitunter nicht mehr zu unterscheiden. Kehren wir in die computerfernen Niederungen des alltäglichen Daseins und Soseins zurück, drohen wir auch hier tagtäglich Opfer unserer eigenen Alltagspsychologie zu werden, die uns zwar einerseits handlungsfähig und handlungssicher macht, aber im Einzelfall dramatisch scheitern lässt. Denn die so vertrauten und liebgewonnenen stereotypen Denkstrukturen bedingen immer auch eine subjektiv eingefärbte Wahrnehmung, die eigene Person wird zum alleingültigen Maßstab verklärt und produziert Selbsttäuschungen, die vielfach als falsche Einschätzung bzw. Entscheidung nicht erkannt werden (können), weil es (zunächst) keine korrigierenden Rückmeldungen gibt. Ob wir beispielsweise das richtige Auto gekauft, die richtige Frau geheiratet, den richtigen Beruf ergriffen oder unser Geld richtig angelegt haben, erkennen wir häufig erst, wenn es zu spät ist – aber bis dahin sind wir fest davon überzeugt, das Richtige getan zu haben, weil wir unserer eigenen Disposition bzw. Erwartungshaltung entsprechend vorgegangen sind.
Es wird schon gutgehen, hoffen viele, und rechtfertigen damit stereotype Verhaltens- und Entscheidungsmuster. Der persönliche Misserfolg wird so häufig zum verlässlichen und unbequemen Wegbegleiter. Doch erstaunlicherweise ist kaum jemand zu Veränderungen seiner Einstellungen und seines Tuns bereit, sich selbst in Frage zu stellen, wenn der Erfolg ausbleibt, wenn immer wieder Fehleinschätzungen und Fehlschläge passieren. Es hat den Anschein, als sitze man in einer Art Erfahrungsfalle fest; mangelnde Vorstellungskraft für Innovatives und die damit einhergehende Verunsicherung sind hohe Hürden, vor denen viele Menschen zurückschrecken. Es fehlt an Perspektiven und Alternativen, an einer bewährten Methodik, um die Dinge des Lebens auch einmal aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten.
Während wir in der wissenschaftlichen Psychologie auf gesicherte Erkenntnisse und ausgefeilte Methoden zurückgreifen dürfen, können wir dies bei der Profilierung des Alltags nicht; genau dieses Manko ist einer der wesentlichen Gründe dafür, warum wir uns bei der Bewältigung von Alltagsproblemen so häufig irren und so viele falsche Entscheidungen treffen. Allein Erfahrung und Intuition reichen eben nicht aus, um sich in der bunten Welt der Werbung, des Verkaufs, der Versicherungen oder der Banken behaupten zu können. Gleiches gilt auch für alle anderen Lebensbereiche. Unsere Vita gleicht aus diesen Gründen häufig einem schlängelnden Weg, einer beliebig anmutenden Verkettung von glücklichen und unglücklichen Umständen. Dabei könnten wir uns viel Leid, großen Ärger und so manche Peinlichkeit ersparen, wenn wir uns der eigenen Limitiertheit bewusster und tradierte Handlungs- und Entscheidungsstrukturen in Frage stellen würden.
Kriminalisten haben weltweit über Jahrhunderte hinweg mit vergleichbaren Problemen zu kämpfen gehabt. Denn im Vordergrund stand bei der Verbrechensaufklärung traditionell der gerichtsverwertbare Tatnachweis und eben nicht die vollständige geistige Durchdringung eines Kriminalfalls, insbesondere des Täter- und Opferverhaltens. Erst als eine Handvoll Beamter des nordamerikanischen Federal Bureau of Investigation (FBI) Mitte der 1980er-Jahre das »Crime Profiling« entwickelten, änderte sich etwas Grundlegendes: Die kriminalpsychologisch angelegte Fallanalytik wurde als Methode eingeführt und existierte fortan gleichberechtigt neben der naturwissenschaftlich geprägten Fallbearbeitung. Mittlerweile haben sich viele Skeptiker überzeugen lassen, und das »Profiling« gehört mittlerweile nicht zuletzt aufgrund spektakulärer Erfolge zum Standardrepertoire moderner Verbrechensbekämpfung.
Diese noch relativ junge wissenschaftlich ausgerichtete Disziplin hat auch mich vollends überzeugt, nachdem ich sie in diversen Kriminalfällen mit zum Teil verblüffendem Erfolg anwenden konnte. Dabei habe ich gelernt, ein inkriminiertes Ereignis aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten und mir eine neue Denk- und Vorgehensweise anzugewöhnen. Ich habe aber auch verinnerlicht, dass sich Erfahrungswissen nur im gegenwärtigen Handeln entwickeln lässt, nicht notwendigerweise im vergangenen. Nicht es musste sich ändern, ich musste mich ändern.
Irgendwann begann ich, die Grundsätze des »Profilings« auch außer Dienst auszutesten: in meinem Privatleben. Zunächst war ich eher skeptisch. Warum sollten sich Methoden der Kriminalitätsbekämpfung auch in anderen Lebensbereichen bewähren? Schließlich dreht es sich im Privaten nicht um Verbrechen, auch nicht um verbrecherisches Verhalten. Doch die Aufgabenstellungen und die sich daraus ergebenden Fragen bzw. Anforderungen sind sowohl bei der Bekämpfung der Kriminalität als auch bei der Problemlösung in alltäglichen Angelegenheiten durchaus vergleichbar: Was ist wahr und was ist falsch? Was steckt hinter der Fassade? Ist ein Verdacht berechtigt? Wie enttarne ich einen Lügner? Welche Entscheidung ist die richtige? Wie komme ich zu einer seriösen Prognose?
Genau an dieser Schnittstelle versuche ich mit dem vorliegenden Buch bestimmte Methoden der Verbrechensbekämpfung alltagstauglich werden zu lassen: »Private Profiling«. Viele kriminalistisch-kriminalpsychologische Verfahren, mit denen ich Sie vertraut machen werde, zählen zum Handwerkszeug des »Crime Profilers« (»Fallanalytikers«). Allerdings ist das private Profilieren im Sinne eines Baukastensystems zu verstehen, das auf den Einzelfall zugeschnitten und ggf. zu modifizieren ist. Im Kern geht es darum, mehr zu erkennen als nur die Oberfläche einer Persönlichkeit oder Situation und sich nicht allein auf fragwürdig starre Bewertungsschemata zu verlassen, sondern bei Lebenssachverhalten auf der Grundlage objektiver Daten ein neues Fallverständnis zu entwickeln und sinnlogische Strukturen zu erkennen: die Besonderheit des Einzelfalls. Dabei möchte ich Sie keinesfalls belehren, sondern aufklären, inspirieren, sensibler machen und Ihre bereits vorhandenen Problemlösungskompetenzen stärken.
Ich habe mich bei meinem Angebot für Sie auf solche Lebensbereiche beschränkt, die für jedermann interessant und relevant sind: Familie, Ehe, Beruf. Damit Sie nachvollziehen können, woher die Methoden ursprünglich stammen und dass sie erfolgreich Anwendung finden, habe ich jedem Kapitel einen entsprechenden Kriminalfall vorangestellt. Abgerundet wird meine Offerte mit Checklisten, die ich Sie bitte als Orientierungshilfe und Handlungsanleitung zu verstehen, aber auch als Qualitätsstandard.
Sie müssen als »Private Profiler« weder besonders gebildet noch besonders intelligent sein. Allerdings warne ich vor übertriebener Hoffnung auf schnellen Erfolg. Sie werden sich zunächst mit den Themen intensiv auseinandersetzen müssen und gelegentlich Schiffbruch erleiden. Beharrlichkeit und Methodentreue sind zwei wesentliche Voraussetzungen, die Sie zu erfüllen haben werden. Und dann müssen Sie sich nur noch trauen!
Stephan Harbort
Düsseldorf, im September 2015
»Der Mensch hat drei Wege, klug zu handeln.
Erstens durch Nachdenken: Das ist der edelste.
Zweitens durch Nachahmen: Das ist der leichteste.
Drittens durch Erfahrung: Das ist der bitterste.«
Konfuzius
»Eine logische, rational rekonstruierbare Methode,
etwas Neues zu entdecken, gibt es nicht.«
Karl Popper,
Logik der Forschung
»Man kombiniere!«
Sherlock Holmes
Eine kleinstädtische Idylle irgendwo in Deutschland. 22. Dezember 1984. 23.39 Uhr.
Klarer Himmel. Klirrende Kälte. Kein Niederschlag. Es geht ein eisiger Wind. Plötzlich zerreißt ein gellender Schrei die Dunkelheit. Dann noch einer – markerschütternd. Und einen Herzschlag später wieder! Doch niemand ist auf den Straßen zu sehen, der mit den erbärmlich anmutenden Schreien in Verbindung gebracht werden könnte. Eine gespenstisch anmutende Szenerie. Ein Hund schlägt an und verstummt bald. Danach ist es wieder so still, als wäre nichts passiert, als hätte es die Schreie gar nicht gegeben.
Knapp zwei Stunden später am selben Ort, wenige Schritte vom Eingang einer Metzgerei entfernt. Eine apathisch wirkende Frau berichtet den soeben eingetroffenen Polizisten, was sie vor etwa zehn Minuten erlebt hat und niemals wird vergessen können. »Das Hoftor war aufgezogen, und der Wagen meiner Eltern war weg«, erzählt die 32-Jährige mit stockender Stimme. »Ich bin rein ins Haus und sah sofort, dass eingebrochen worden war. Die Tür zum Verkaufsraum stand offen. Das war ein furchtbarer Anblick. Ich bin sofort zum Telefon und habe die Polizei angerufen.«
Die Beamten betreten das zweigeschossige Haus und machen kurz darauf eine grauenhafte Entdeckung. Später werden sie in ihrem Bericht vermerken: »Soweit von außen feststellbar, sind sämtliche Fenster im Haus geschlossen. Die Eingangstür zum Laden war offensichtlich aufgehebelt (Brechwerkzeugabdruck am linken Türrahmen). Die Spuren im Verkaufsladen (aufgebrochene Kassenschublade) lassen auf einen Einbruch schließen. Über eine Treppe hinter der aufgehebelten Ladentür erreicht man das Obergeschoss. Nach einer ersten Besichtigung wurden alle Räume durchsucht.
Die Wohnzimmertür rechts von der Treppe steht offen. An dem Türgriff (Außenseite) ist mittels eines Elektrokabels eine männliche Person in Bauchlage aufgehängt. Die Person ist mit einem Schlafanzug bekleidet. Unterhemd und Schlafanzugjacke sind über den Kopf gezogen und hängen in Ellenbogenhöhe über den Armen. Die Leiche weist äußerlich Flecke im Nackenbereich und Gesicht auf, die an stumpfe Gewalteinwirkung denken lassen.
Im linken Teil des Wohnzimmers, das auch als Küche genutzt wird, hängt am Verriegelungsgriff des Fensters über dem Heizkörper eine ältere Frau. Sie ist unvollständig bekleidet, der Rock fehlt. Um den Hals der Frau ist ein Kabel befestigt. Auch aufgrund weiterer Spuren im Wohn- und Küchenbereich (Werkzeuge auf dem Boden, Schlüssel auf dem Küchentisch, nur angelehntes Fenster im rechten Teil des Wohnzimmers) ist von einem Einbruch auszugehen. Hinter dem nicht verriegelten Fenster befindet sich ein Anbau (Rohbau), an dem eine Leiter zum Erreichen des Obergeschosses lehnt. Um 03.11 Uhr wurde die Mordkommission verständigt.«
Die ersten Ermittlungen der Kripo ergeben, dass es sich bei den augenscheinlich Getöteten um Maria Krauss, 68, und ihren zwei Jahre älteren Ehemann Hans handelt, die ehemaligen Inhaber der Metzgerei »Herkules«.
Sie lebten zurückgezogen in ihrer kleinen Wohnung über der Metzgerei und waren allgemein geachtet und beliebt; das Geschäft hatten sie vor drei Jahren an ihre beiden Töchter übergeben. Wie üblich wollte man Weihnachten gemeinsam verbringen. Noch vor wenigen Tagen hatte Hans Krauss bei seinem Stammtisch geäußert, dass er sich auf die Feiertage im Kreise der Familie freue.
Die 15-köpfige Mordkommission nimmt ihre Arbeit auf. Um erste Arbeitshypothesen bilden zu können, müssen der Tatort und seine nähere Umgebung inspiziert und nach Spuren abgesucht werden, die im Idealfall auf die Fährte des Täters führen.
Das Ergebnis: Die Metzgerei liegt an der Hauptstraße, die durch das Dorf führt und die benachbarten Ortschaften verbindet. An der Rückfront des Anwesens schließt sich ein Neubau an, in dem später eine Backstube eingerichtet werden soll. An den Anbau ist eine etwa fünf Meter lange Leiter aus Metall angestellt. 140 Zentimeter von der Leiter entfernt ist im Erdreich ein Schuhabdruck zu erkennen, die Schuhspitze zeigt in Richtung des Anbaus. Auf dem Dach sind Porotonsteine (durchlochte Mauersteine) aufgeschichtet. Etwa fünf Meter weiter befindet sich das angelehnte Küchenfenster der Dachgeschosswohnung Krauss. Auf einem Porotonstein vor dem Fenster kann ein Schuhabdruck fotografisch gesichert werden, zwei gleichartige Spuren befinden sich auf zwei Dachziegeln, etwa einen halben Meter entfernt. Alle gesicherten Schuhspuren sind nach Größe und Profil identisch.
Die Dachgeschosswohnung besteht aus Küche, Bad, Toilette sowie Schlaf- und Nähzimmer. In allen Räumlichkeiten sind Schränke durchwühlt, Schubfächer herausgezogen und diverse Gegenstände auf dem Boden verteilt worden. Das Stromkabel des Staubsaugers fehlt, vermutlich wurde es abgeschnitten. Vom Gehäuse aus führt über den oberen Haltebügel nur noch ein 70 Zentimeter langes Reststück. An der Innenseite des Küchenfensters, auf der Fensterbank, aber auch auf dem Griffstück des Backofens, das auf dem Boden der Küche liegt, befinden sich Schuhabdruckspuren. Sie ähneln stark jenen, die vor der Leiter und auf dem Dach in unmittelbarer Nähe zum Küchenfenster entdeckt worden sind.
Dieser sogenannte Tatortbefund muss nun durch die Kriminalisten akribisch bewertet und interpretiert, Hypothesen sollen abgeleitet werden.
Unter Hypothese versteht man allgemein eine Aussage, die nicht unbedingt wahr sein muss, aber wahr sein könnte. Wir bewegen uns demnach im Bereich der Wahrscheinlichkeiten. Die kriminalistische Hypothese hingegen ist eine auf Tatsachen – wichtig! – begründete Vermutung, also am Sachverhalt anknüpfend, theoretisch fundiert, empirisch naheliegend, aber eben noch nicht bewiesen. Sie ist demnach das andernfalls fehlende Bindeglied zur wissenschaftlich haltbaren Theorie.
In einem Mordfall stellen sich den Kriminalisten regelmäßig gleichartige Fragen, beispielsweise diese: Was ist passiert? Wie ist es passiert? Wem ist es passiert? Wann ist es passiert? Wo ist es passiert? Warum ist es passiert? Und natürlich: Wer hat das getan?
Um in diesem Zusammenhang zu belastbaren Hypothesen zu gelangen, muss zunächst herausgearbeitet werden, wie die Überlegungen strukturiert sein können und wo sie im Sachverhalt anknüpfen dürfen. Dabei ergeben sich im Regelfall vier Grundmodelle der Einordnung bzw. Bewertung von Daten.[1]
Gewisse vorhandene Daten werden als wahr angesehen, bestimmte andere als falsch.
Zwischen vorhandenen, als richtig angesehenen Daten werden bestimmte Beziehungen angenommen.
Noch unbekannte Daten werden neben bereits vorhandenen, richtigen als gegeben vorausgesetzt.
Zwischen vorhandenen, richtigen Daten und bloß angenommenen werden bestimmte Beziehungen vorausgesetzt.
Auf diese Weise gelingt es, Leerstellen des Verbrechens hypothetisch auszufüllen, die Tat zu strukturieren, Zusammenhänge zu erkennen und geeignete Ermittlungshandlungen zu generieren. Nach und nach entsteht ein Bild über den Tatverlauf, den Täter und das Opfer – im Idealfall ein Tatverdacht. Bei diesem schematisch schwer zu fassenden Analyseprozess verdienen alle Einzelaspekte Beachtung, um letztlich eine erfolgreiche Ermittlungsrichtung vorgeben zu können und nicht sprichwörtlich im Nebel stochern bzw. auf die gütige Mithilfe von Kommissar Zufall hoffen zu müssen.
Allein das theoretische Wissen wird nicht ausreichend sein, um bei der Verbrechensbekämpfung profunde Hypothesen bilden zu können. Wesentliche Voraussetzungen sind überdies: ein spezifisches Fachwissen, große praktische Erfahrung, unverbrauchte Kreativität und die Fähigkeit, Phantasien zuzulassen bzw. ungebremst zu entwickeln. Und diejenigen, die ein Verbrechen aufzuklären haben, müssen zudem genau hinsehen, zuhören und beobachten können. Fehlt es an einer dieser Voraussetzungen, sind Fehlannahmen vorprogrammiert, die dem Täter in die Hände spielen und den Ermittlungserfolg gefährden.
Zurück zum Fall Krauss. Aufgrund des Tatortbefundes und der gesicherten Spuren werden von den Kriminalisten zu verschiedenen Aspekten der Tat erste Hypothesen aufgestellt:
Hypothesen
Tatzeit
»Alleine von den Schuhspuren kann abgeleitet werden, dass der oder die Täter zu einem Zeitpunkt in das Tatanwesen eingestiegen sind, als am Boden noch kein Frost herrschte. Nur so sind die teils tiefen Fußabdrücke zu erklären. Geht man davon aus, dass die Bodenfrostgrenze um die Mitternachtszeit gelegen hat, so muss der Täter vorher die Mauer überstiegen und zum Tatanwesen gelangt sein.«
Zugang zum Tatort
»Der Täter näherte sich vom Nachbargrundstück. Vermutlich ging er zu Fuß bis zum Anwesen, um dann etwa in dieser Höhe die Mauer zu überwinden. Die verschiedenen auf dem Erdreich zurückgelassenen Schuheindrücke lassen erkennen und vermuten, dass der Täter zunächst den Schaltkasten als Aufstiegshilfe suchte, sich dann aber auf den aus dem Boden herausragenden Eisenpfosten stellte und auf die Mauer stieg. Der Täter ließ sich etwa zwei Meter weiter an der Mauer herab, ging von dort zu dem Neubau, bestieg die Leiter, die er möglicherweise selbst angestellt hatte, nahm den Porotonstein, stellte ihn vor das Giebelfenster und stieg in die Küche ein. Zuvor wird er das vermutlich offen stehende Fenster vorsichtig aufgedrückt und die auf der Fensterbank innen stehenden Schüsseln weggenommen haben. Aller Wahrscheinlichkeit nach hat der Täter die Wohnung auf dem gleichen Weg wieder verlassen. Denkbar wäre natürlich auch, dass er mit den in der Wohnung Krauss gefundenen Schlüsseln der Metzgerei den Hinterausgang im Erdgeschoss aufschloss. Der Täter öffnete das Hoftor und flüchtete mit dem Pkw der Getöteten.«
Anzahl der Täter
»Nach den Schuhspuren zu urteilen, hat aller Wahrscheinlichkeit nach nur ein Täter die Mauer überstiegen und ist durch das Giebelfenster in die Tatortwohnung gelangt. Inwieweit ein oder mehrere Täter außerhalb des Anwesens Krauss eine Rolle gespielt haben, kann nicht beurteilt werden.«
Tatwerkzeug
»Über ein mitgeführtes Tatwerkzeug kann zu diesem Zeitpunkt keine konkrete Aussage gemacht werden. Der Täter kann auch am Tatort selbst, in der Wohnung Krauss, ausreichend Werkzeuge für den Einbruch und die Tötungshandlungen erlangt haben.«
Tatausführung
»Bezogen auf den Raub und die Suche nach Wertgegenständen fällt auf, dass auf dem Boden der Küche und des Verkaufsraums im Erdgeschoss Einbruchswerkzeug herumliegt. Es könnte aus dem Haushalt der Opfer stammen, aber auch vom Täter mitgebracht und zurückgelassen worden sein. Aufgrund der angetroffenen Situation in der Wohnung Krauss, hier insbesondere das heillose Durcheinander, kann davon ausgegangen werden, dass der oder die Täter völlig planlos vorgegangen ist oder sind. Das vorgefundene Durcheinander lässt nicht auf ein gezieltes Suchen schließen.«
Raubgut
»Derzeit ist bekannt, dass aus der Ladenkasse ca. 300 Mark Wechselgeld fehlen. Andere Gegenstände dürften aus dem Verkaufsraum nicht geraubt worden sein.«
Täterhinweise
»Der angenommene Weg des Täters und auch die Vorgehensweise in der Tatortwohnung lassen den Schluss zu, dass der Täter über Ortskenntnisse verfügt haben dürfte. Man kann ein äußerst gezieltes Agieren erkennen.«
Die aus dem Tatortbefund und den entdeckten Spuren hergeleiteten Hypothesen lassen nach Auffassung der Ermittler erste Konturen eines Bildes von Tat und Täter erkennen: Demnach dürfte von einem Raubmord auszugehen sein, verübt von einem Einzeltäter, der einerseits zielstrebig vorging (Annäherung), andererseits in der Wohnung der Opfer wahllos nach Raubgut suchte und dabei ein wenig planvolles Verhalten erkennen lässt. Wahrscheinlich sind die Eheleute Krauss nicht zufällig Opfer dieses Verbrechens geworden, weil die Auswahl des Tatortes wohl nur über bereits vorhandene Ortskenntnisse realisierbar gewesen sein dürfte.
Anknüpfungspunkt für weitere Hypothesen sind die den Opfern zugefügten Verletzungen, die sehr ähnlich ausgeprägt sind: Das aufgedunsene Gesicht und der Hals sind blau-rötlich verfärbt; das zweifach um den Hals geschlungene Elektrokabel hat eine deutlich sichtbare Strangulationsfurche hinterlassen; Platzwunden bzw. Hautdefekte im Gesichts- und Nackenbereich; punktförmige Einblutungen in die Bindehäute der Augen.
Bei der Tatortarbeit sind den Kriminalisten einige Besonderheiten aufgefallen, die ebenfalls von Bedeutung sein dürften. So fand man in der rechten Hand von Hans Krauss ein Büschel schwarze Haare, die teils um den Daumen gewickelt waren und in der Länge bis zum Oberkörper reichten. Etwa einen Meter vor seinem Kopf wurden nebeneinander auf dem Fußboden zwei Unterkiefer-Zahnprothesen gefunden. In Höhe seines Unterschenkels lag ein gebogener Haarkamm. Auf dem Teppich des Wohnzimmers waren im unteren Bereich in Richtung Tür mehrere großflächige Blutspuren erkennbar, in entgegengesetzter Richtung fand man in Höhe des Kopfes von Maria Krauss noch eine Blutspur.
Aufgrund dieser Befunde schlussfolgern die Ermittler, der Täter dürfte durch stumpfe Gewalt massiv auf Gesicht und Nacken der Opfer eingewirkt haben. Die Stauungsblutungen im Kopf- und Halsbereich sprechen für die Annahme eines Erstickungstodes. Die dokumentierten Leichenerscheinungen und die Messungen der Körpertemperatur bei den Opfern lassen als Tatzeit 22.00 bis 0.30 Uhr vermuten.
Eine Bestätigung erfahren diese Annahmen durch das Ergebnis der Obduktionen: »Sämtliche Verletzungszeichen waren vitaler Art«, steht in den Untersuchungsbefunden. »Demnach sind Frau und Mann mit einem Elektrokabel erhängt worden. Der Schlingenverlauf war frei, eine Verknotung lag folglich nicht vor. Somit lässt sich nicht sagen, wie die Kabel um den Hals der Opfer kamen. (…) Das gesamte Spurenbild am Leichenfundort sowie die Verletzungsmuster sprechen am ehesten für ein Fremdverschulden. (…) Möglicherweise wurden dem Mann mit einem in der Wohnung aufgefundenen Hammer die Verletzungen im Gesicht beigebracht. Auch an Schläge mit der flachen Hand und der Faust ist zu denken. (…) Den Verletzungen ist zu entnehmen, dass sie durchaus geeignet waren, eine Bewusstlosigkeit herbeizuführen. Möglicherweise wurden die Opfer in diesem Zustand erhängt. Abwehr- und Kampfspuren konnten an den Leichen nicht gefunden werden. Insgesamt handelt es sich um einen gewaltsamen Tod. Die Todesursache liegt in einem Erstickungstod durch Erhängen.«
Nach intensiv geführten Ermittlungen sind die Kriminalisten bereits am Tag zwei der Kommissionsarbeit in der Lage, den Tatablauf zu rekonstruieren: Der Täter dürfte demnach durch das Küchenfenster in die Wohnung eingedrungen sein (Schuhabdruckspuren) und zeitnah mit der Suche nach Diebesgut begonnen haben (kriminologischer Erfahrungswert). Wahrscheinlich wird er dabei von einem Opfer oder beiden überrascht worden sein (keine Blutspuren der Opfer im Verkaufsladen, Fundort der Leichen), möglicherweise verursacht durch Geräusche des Täters (Zeugenaussage: Eheleute Krauss gingen regelmäßig erst nach 23 Uhr ins Bett). Daraufhin könnte sich der Täter spontan dazu entschlossen haben, die Opfer anzugreifen und übergangslos massive stumpfe Gewalt anzuwenden (fehlende Abwehrverletzungen bei den Opfern, diagnostizierte Verletzungsbilder).
Möglicherweise erst danach könnte der Täter zu dem Entschluss gekommen sein, die Eheleute Krauss zu töten (Tatwerkzeug: Elektrokabel vom Staubsauger in der Wohnung). Erst als die Opfer widerstandsunfähig bzw. bewusstlos gewesen sein dürften, wird der Täter sie erhängt haben (Tatortbefund). Vielleicht wollte er hierdurch eine Selbsttötung vortäuschen (kriminologischer Erfahrungswert). Für die Durchsuchung der Wohnung dürfte er sich Zeit gelassen haben (alle Räumlichkeiten wurden durchsucht, in der Küche fand man auf den Täter hinweisende Nahrungsmittelreste). Anschließend wird er den Pkw der Opfer gestohlen haben und damit geflüchtet sein (Pkw nicht mehr auffindbar). So – oder so ähnlich – könnte sich die Tat nach Einschätzung der Ermittler – zunächst grobkörnig betrachtet – zugetragen haben.
Auch zur Motivation des Täters und zum Verbleib des geraubten Pkws haben die Ermittler unterdessen Hypothesen formuliert. »Das Durchsuchen der gesamten Wohnung, auch zwischen Bettwäsche und unter den Matratzen, lässt den Schluss zu, dass der Täter insbesondere Geld gesucht hat«, schreibt der Kommissionsleiter in seiner »Analyse des objektiven und subjektiven Tatgeschehens«. Und weiter überlegt er:
»Für diese Annahme spricht auch, dass der Täter die Zwischentür zur Metzgerei im Parterre aufbrach und versuchte, die Ladenkasse gewaltsam zu öffnen. Auch das Durchsuchen von Schränken und Schubladen im Verkaufsladen untermauert diese Hypothese.
Noch ist nicht genau zu erkennen, inwieweit das Töten der Eheleute Krauss geplant war. Das Tatwerkzeug, das Elektrokabel einerseits, von einem Staubsauger abgeschnitten, und andererseits das wahrscheinlich dazugehörende Verlängerungskabel, beides aus der Wohnung der Opfer, lässt vermuten, dass der Täter nach einem Tatmittel erst in der Wohnung gesucht hat. Dies bedeutet jedoch nicht, dass er überhaupt kein Tatwerkzeug mitgebracht hatte. Möglicherweise erfolgte die Tötung zur Verdeckung des Einbruchsdiebstahls.
Das Mitnehmen des Fahrzeugs der getöteten Eheleute lässt den Schluss zu, dass der Täter (den Schuhspuren nach zu urteilen ein Einzeltäter) zu Fuß zum Tatobjekt gelangte und nach Vollendung der Tat die hiesige Region verlassen oder wegen eines größeren Gegenstandes aus der Tatortwohnung das Fahrzeug zum Abtransport benutzt haben könnte.«
Die Überlegungen des Ermittlungsführers, aber auch seiner Mitarbeiter, sind einer bestimmten Denkweise geschuldet. Wer wie ein Kriminalist denken und danach handeln will, der muss sich einem ihn ständig begleitenden intellektuellen Prozess unterwerfen, dessen oberste Maxime die Erforschung der Wahrheit ist. Dabei muss den Denkgesetzen der Logik gefolgt, es muss also folgerichtig, geschlossen und vernünftig überlegt werden – bloßes Wunschdenken oder nackte Spekulationen haben hier keinen Platz.
Kriminalistisches Denken ist vornehmlich darauf ausgerichtet, fallbezogen und etappenweise neue Erkenntnisse zu generieren, indem alle zur Verfügung stehenden Quellen (beispielsweise Spurenträger, Zeugenaussagen, Gutachten oder Beweismittel) berücksichtigt und auf ihre Tatrelevanz bzw. Beweisqualität geprüft werden. Im Wesentlichen geht es darum, möglichst realitätsnahe Gedanken- und Sinnzusammenhänge herzustellen. Erst das variantenreiche gedankliche Durchdringen potenzieller Beziehungsgeflechte und deren Ursprünge ermöglicht die widerspruchsfreie Verknüpfung von zwei oder mehr Aspekten, die bis dahin beziehungslos erschienen. Oder umgekehrt: Es soll herausgefiltert werden, was nicht zusammenpasst. Gefordert ist der sachbezogene und kühle Logiker; Jagdmentalität, Tunnelblick oder Affekte führen gewiss nicht ans Ziel. Ein erstes Zwischenergebnis dieses stets dynamischen Prozesses sind tat- bzw. täterorientierte Schlussfolgerungen, die allerdings an zuvor ermittelten Tatsachen oder anderen unzweifelhaften Befunden anknüpfen müssen, um bloße Beliebigkeiten und Zufälle kategorisch auszuschließen.
So wird es auch im Fall Krauss gemacht. Die Mordkommission formuliert schließlich mehrere Täterhypothesen, um den Ermittlungen eine Struktur und Richtung zu geben.
Täterhypothesen
Täter-Opfer-Beziehung allgemein
»Der Täter dürfte Ortskenntnisse gehabt haben. Somit ist das soziale Umfeld der Getöteten für die Täterermittlung von großem Interesse.«
Tatverdacht – berufsbedingt
»Die im Parterre gelegene Metzgerei, die früher den Eheleuten Krauss gehörte, ist offensichtlich in Erbpacht vergeben. Pächter, auch frühere Pächter, Bedienstete etc. sind unbedingt in den engeren Kreis der möglichen Täter einzubeziehen.«
Tatverdacht – anlassbezogen
»Im Anwesen der Eheleute Krauss befindet sich am rückwärtigen Ende des Hauses ein größerer Neubau, der bis zum Balkenlager des Daches bereits fertiggestellt ist. Deshalb muss zumindest ein Teil der dort tätigen oder tätig gewesenen Handwerker überprüft werden. Zu berücksichtigen sind insbesondere Maurer, Einschaler, Zimmerleute und Fahrer der Materialfahrzeuge, die sich beim Aufenthalt im und am Neubau Ortskenntnisse verschafft haben könnten.«
Tatverdacht – erfahrungsgemäß
»Nach Zeugenaussagen ist der Enkel der Getöteten polizeibekannt und verkehrt in Rauschgiftkreisen. Er selbst und sein Umfeld sind in den Bereich der potenziell Tatverdächtigen mit einzubeziehen. Dies gilt auch für die regionale Einbrecherszene. Besonders überprüfungsbedürftig erscheinen jedenfalls gewohnheitsmäßige Wohnungs-, Büro- und Geschäftseinbrecher, die eine ähnliche Vorgehensweise wie im vorliegenden Fall erkennen lassen.«
Für jede als Täter in Frage kommende Person wird nun von der Mordkommission eine »Spur« angelegt, die jeweils eine Nummer erhält, beginnend mit »1«, und zwei Kriminalbeamten zugeschrieben wird, die dann so lange in dieser Sache ermitteln müssen, bis unzweifelhaft ist, dass die verfolgte Spur nicht tatrelevant, also »tot« ist – andernfalls wird sie »heiß«.
»Spur 11«: Wolfgang Kessler, 48 Jahre alt, verheiratet, ehemaliger Pächter der Metzgerei »Herkules«. Bisher spricht lediglich gegen ihn, dass die Merkmale der Arbeitshypothese »Tatverdacht – berufsbedingt« auf ihn zutreffen, wie auf zwei andere Männer und eine Frau auch.
Kessler ist für die Kripo kein Unbekannter. Es existiert über ihn eine Kriminalakte, die nun unter kriminalistischen und kriminalpsychologischen Aspekten ausgewertet und mit der Arbeitshypothese abgeglichen wird. Allerdings liegen seine Verfehlungen elf Jahre zurück. Dennoch erbringt die Analyse durchaus beachtliche Ergebnisse:
»Kessler hat anscheinend bei allen von ihm 1972/73 begangenen Einbrüchen Ortskenntnisse gehabt.«
»Zumindest teilweise hat er bei den geschädigten Wohnungs- oder Geschäftsinhabern gearbeitet bzw. hatte anderweitig zu diesen Kontakt, so dass er sich auf diesem Wege gewisse Ortskenntnisse und das Wissen um sonstige Gepflogenheiten aneignen konnte.«
»Kessler hat zumindest in zwei oder drei Fällen Schlüssel zu den Objekten oder Fahrzeugschlüssel am Ort des Geschehens mitgenommen, teilweise bei seinen persönlichen Sachen aufbewahrt oder an einem anderen Ort des Geschehens wieder zurückgelassen.«
»Er hat beim Zugang zu den Tatobjekten Mauern überstiegen oder Leitern am Grundstück zum Einstieg verwendet.«
»Anscheinend arbeitet Kessler bei Straftaten mit Handschuhen, denn in fast allen bekannten Fällen ist es nicht gelungen, ihn mittels Fingerspuren als Täter zu überführen.«
Unbestreitbar ist, dass die festgestellten Parallelen zwischen dem Täterverhalten im vorliegenden Fall und der von Kessler bevorzugten Vorgehensweise bei seinen Einbrüchen elf Jahre zuvor einen ihn belastenden Charakter haben. Nur ist diese Verhaltensschablone keineswegs so individuell ausgeprägt, dass sie nur auf Kessler passen kann. Denn die beschriebenen Tatbegehungsmerkmale werden auch von anderen Einbrechern favorisiert bzw. im Erfolgsfall immer wieder angewandt. Und den Ermittlern ist ein weiterer wichtiger Aspekt nicht entgangen: Bei seinen Vorstrafen hat Kessler in keinem Fall körperliche Gewalt angewandt. Aus dieser Tatsache darf jedoch nicht ohne weiteres geschlussfolgert werden, Kessler sei zu einem Gewaltverbrechen nicht fähig. Es muss also weiter ermittelt werden.
Bei einem Notar erfahren die Kriminalbeamten, dass die Eheleute Krauss aus dem Pachtvertrag mit Kessler kürzlich noch Forderungen geltend gemacht hatten, die gerichtlich eingetrieben werden sollten. Dazu passt: Kessler war vor einem Dreivierteljahr letztmalig als Maschinenschlosser angestellt gewesen, verlor seine Stelle jedoch, als er von seinem Jahresurlaub ohne Angabe von Gründen nicht zurückgekehrt war. Derzeit ist er arbeitslos gemeldet, gegen ihn bestehen zudem Steuerpfändungsbeschlüsse.
Mit diesen Erkenntnissen kann die Arbeitshypothese »Ehemalige Pächter könnten als Täter in Frage kommen« nicht widerlegt werden. Denn Kessler lag mit den Getöteten in einem Rechtsstreit, er hat aktuell zumindest offiziell kein geregeltes Einkommen, und es deuten sich finanzielle Probleme an. Gleichwohl reichen diese Informationen nicht aus, um allein auf dieser Grundlage einen Mordverdacht auszusprechen, denn im Familien-, Freundes- und Bekanntenkreis der Opfer existieren nach intensiven Recherchen der Kripo mehrere Personen, die ein ähnliches Profil aufweisen. Deshalb müssen die Ermittler weitere Nachforschungen anstellen.
Als die Fahnder Kessler an seiner aktuellen Wohnanschrift aufstöbern und befragen wollen, erfahren sie von Nachbarn, der Gesuchte sei vor zwei Wochen mit seiner Frau Gertrud ausgezogen, wohin, wisse man nicht.
Schließlich gelingt es den Ermittlern, zumindest mit Gertrud Kessler in Kontakt zu treten. Sie versichert den Beamten glaubhaft, sie habe sich von ihrem Mann inzwischen getrennt und wolle sich zeitnah scheiden lassen. Der jetzige Aufenthaltsort ihres Mannes sei ihr nicht bekannt.
Die finanziellen Verhältnisse Kesslers sind unerfreulich: Bei der Sparkasse hat er Schulden in Höhe von ca. 25000 Mark, derzeit dürfte es für ihn nicht möglich sein, andernorts ein Konto zu eröffnen oder eine Euroscheckkarte zu erhalten. Die letzten Kontobewegungen bei der Sparkasse haben vor drei Monaten stattgefunden. Die der Bank mitgeteilte Adresse in Hamburg ist nicht existent.
Diese Ermittlungsergebnisse zeichnen das Bild eines Mannes, der offenkundig in einer akuten Lebenskrise steckt: Frau weg, Job weg, Wohnung weg. Nur bedeuten diese besonderen Umstände keineswegs, dass Kessler schon deswegen mit dem Doppelmord in Verbindung gebracht werden muss, weil viele Menschen Ähnliches durchmachen und überwiegend dabei nicht kriminell werden. Allerdings spricht die Gesamtschau der durch die Kripo ermittelten Fakten eher für die Richtigkeit der Arbeitshypothese – doch nach wie vor fehlen belastbare Beweise, um aus der Annahme ein Urteil ableiten zu können.