Für P.K.
Ein Kind will sehen. So fängt es immer an, und auch damals fing es so an. Ein Kind wollte sehen.
Der Junge konnte laufen, und er konnte an eine Türklinke heranreichen. Es steckte keinerlei Absicht dahinter, nur der instinktive Tourismus des Kindesalters. Eine Tür war dazu da, aufgestoßen zu werden; er ging hinein, blieb stehen, schaute. Da war niemand, der ihn beobachtet hätte; er drehte sich um und ging fort, wobei er sorgsam die Tür hinter sich zumachte.
Was er dort sah, wurde seine erste Erinnerung. Ein kleiner Junge, ein Zimmer, ein Bett, geschlossene Vorhänge, durch die ein wenig Nachmittagssonne hereinsickert. Sechzig Jahre sollten vergehen, ehe er das öffentlich schilderte. Wie viele Wiederholungen im Geiste hatten die klaren Worte, die er schließlich gebrauchte, geschliffen und in eine Ordnung gebracht? Zweifellos sah er alles noch so deutlich vor sich wie am ersten Tag. Die Tür, das Zimmer, das Licht, das Bett und das, was auf dem Bett lag: ein »weißes, wächsernes Ding«.
Ein kleiner Junge und ein Leichnam: Das war im Edinburgh seiner Zeit sicher kein seltenes Zusammentreffen. Hohe Sterblichkeitsraten und beengte Verhältnisse sorgten für frühe Erfahrungen. Die Familie war katholisch und der Leichnam der von Arthurs Großmutter, einer gewissen Katherine Pack. Vielleicht hatte man die Tür mit Bedacht angelehnt gelassen. Womöglich wollte man dem Kind den Schrecken des Todes vor Augen führen oder ihm, optimistischer, zeigen, dass es den Tod nicht zu fürchten braucht. Die Seele der Großmutter war offensichtlich in den Himmel geflogen und hatte nur die abgestreifte körperliche Hülle zurückgelassen. Der Junge will sehen? Dann soll er sehen.
Ein Zusammentreffen in einem Raum mit geschlossenen Vorhängen. Ein kleiner Junge und ein Leichnam. Ein Enkelkind, das durch die Aneignung von Erinnerung eben erst aufgehört hatte, ein Ding zu sein, und eine Großmutter, die durch den Verlust der Eigenschaften, die das Kind gerade entwickelte, in jenen Zustand zurückgekehrt war. Der kleine Junge schaute gebannt; und mehr als ein halbes Jahrhundert später schaute der erwachsene Mann noch immer gebannt. Was ein »Ding« eigentlich war – besser gesagt, was eigentlich geschah, wenn sich die ungeheure Verwandlung vollzog und nur ein »Ding« zurückblieb –, sollte für Arthur von wesentlicher Bedeutung werden.
George hat keine erste Erinnerung, und als die Idee aufkommt, es könnte normal sein, eine solche zu haben, ist es zu spät. Er hat kein Bild in sich, das eindeutig allen anderen vorausgegangen wäre – etwa davon, wie er hochgehoben, liebkost, angelächelt oder bestraft wurde. Ihm ist bewusst, dass er einmal das einzige Kind war, und er weiß, dass jetzt auch Horace da ist, doch gibt es kein Urerlebnis der Verstörung, als man ihm ein Brüderchen darbot, keine Vertreibung aus dem Paradies. Weder einen ersten Anblick noch einen ersten Geruch, ob von einer parfümduftenden Mutter oder von einem karbolischen Hausmädchen.
Er ist ein schüchterner, ernster Junge mit einem feinen Gespür für die Erwartungen anderer. Bisweilen meint er, seine Eltern zu enttäuschen: Ein pflichtbewusstes Kind sollte sich doch erinnern, dass es von Anfang an umsorgt wurde. Doch seine Eltern machen ihm diese Unzulänglichkeit nie zum Vorwurf. Und während andere Kinder womöglich das Fehlende ersetzt – etwa gewaltsam ein liebevolles mütterliches Gesicht oder einen stützenden väterlichen Arm in ihre Erinnerungen eingebaut – hätten, tut George das nicht. Dazu fehlt es ihm allein schon an Fantasie. Ob er sie nie hatte oder ob ihre Entwicklung durch elterliche Einwirkung gehemmt wurde, ist eine Frage für einen Zweig der psychologischen Wissenschaft, der noch nicht erfunden war. George kann dem, was andere sich ausgedacht haben – den Geschichten von der Arche Noah, von David und Goliath, von den Heiligen Drei Königen – sehr wohl folgen, hat aber selbst wenig Erfindungsgabe.
Er schämt sich dafür nicht, da seine Eltern das nicht als Mangel betrachten. Wenn sie von einem Kind im Dorf sagen, es habe »zu viel Fantasie«, dann ist das eindeutig ein Ausdruck der Missbilligung. Noch tadelnswerter sind Kinder, die »großartige Geschichten erzählen« und »flunkern«; am schlimmsten ist es, wenn ein Kind »durch und durch verlogen« ist – mit so einem darf man sich auf gar keinen Fall abgeben. George selbst wird nie gedrängt, die Wahrheit zu sagen: Das würde unterstellen, dass er dazu ermahnt werden muss. Es ist einfacher: Man erwartet von ihm, dass er die Wahrheit sagt, denn im Pfarrhaus ist gar nichts anderes möglich.
»Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben«: Das soll er noch oft aus dem Mund seines Vaters hören. Der Weg, die Wahrheit und das Leben. Man geht seinen Weg durch das Leben, indem man die Wahrheit sagt. George weiß, dass das in der Bibel nicht unbedingt so gemeint ist, doch so hört es sich für ihn an, als er heranwächst.
Für Arthur bestand eine natürliche Distanz zwischen dem Elternhaus und der Kirche; doch beide Orte waren voller Erscheinungen, Geschichten und Vorschriften. In der kalten Steinkirche, die er einmal in der Woche aufsuchte, um dort niederzuknien und zu beten, waren Gott und Jesus Christus und die zwölf Apostel und die Zehn Gebote und die sieben Todsünden. Alles war genau geordnet, stets in Registern erfasst und nummeriert wie die Kirchenlieder und Gebete und Bibelverse.
Er wusste, was er dort lernte, war die Wahrheit; seine Fantasie aber hielt sich lieber an die andere, parallele Version, die man ihm zu Hause beibrachte. Die Geschichten seiner Mutter handelten gleichfalls von fernen Zeiten und dienten gleichfalls dazu, ihm den Unterschied zwischen Gut und Böse beizubringen. Gewöhnlich stand die Mutter am Küchenherd, rührte das Porridge um und steckte sich dabei die Haare hinter die Ohren, und er wartete auf den Augenblick, wenn sie mit dem Rührholz an den Topf schlug, innehielt und ihm ihr rundes, lächelndes Gesicht zuwandte. Ihre grauen Augen ließen ihn nicht los, während ihre Stimme in der Luft einen bewegten Bogen beschrieb, auf und ab schnellte und dann langsamer wurde, bis sie fast zum Stillstand kam, denn nun war die Mutter an der Stelle ihrer Erzählung angelangt, die er kaum ertragen konnte, der Stelle, wo nicht nur dem Held und der Heldin, sondern auch dem Zuhörer unsägliche Qualen oder Freuden bevorstanden.
»Und dann hing der Ritter über der Grube mit züngelnden Schlangen, welche zischten und spuckten, während ihre zuckenden Leiber sich um die bleichenden Knochen ihrer früheren Opfer wanden …«
»Und dann zog der gemeine Schurke mit einem grässlichen Fluch einen verborgenen Dolch aus dem Stiefel und wollte ihn der wehrlosen …«
»Und dann nahm die Maid eine Nadel aus ihrem Haar, und die goldenen Flechten fielen vom Fenster herab, tiefer und tiefer, und sie strichen sanft an den Mauern des Schlosses entlang, bis sie beinahe auf das frische grüne Gras reichten, in dem er stand …«
Arthur war ein lebhafter, eigenwilliger Junge, der nicht gern still saß; doch sobald die Mama das Rührholz hob, blieb er in stummer Verzauberung gefangen, als hätte ein Bösewicht aus einer ihrer Geschichten ihm heimlich ein Kräutlein ins Essen getan. Dann schritten Ritter und ihre Damen durch die winzige Küche; Kampfansagen wurden gerufen, Abenteuer auf wundersame Weise bestanden; Rüstungen klirrten, Kettenhemden rasselten, und stets wurde die Ehre hochgehalten.
Diese Geschichten waren auf eine Art, die er anfangs nicht verstand, mit einer alten Holztruhe verbunden, die neben dem Bett seiner Eltern stand und Dokumente über die Abstammung der Familie enthielt. Hier schlummerten wieder andere Geschichten, die eher den Hausaufgaben in der Schule glichen und von dem Herzoghaus von Brittany und dem irischen Zweig der Percys von Northumberland handelten und von einem Mann, der Packs Brigade bei Waterloo angeführt hatte und der Onkel des weißen, wächsernen Dinges war, das Arthur nie vergaß. Und damit wiederum verbunden waren die Privatstunden in Heraldik, die seine Mutter ihm gab. Aus dem Küchenschrank zog sie große Papptafeln hervor, die ein Onkel in London gemalt und koloriert hatte. Sie erklärte ihm die einzelnen Schilde und verlangte dann von ihm: »Blasoniere mir dieses Wappen!« Und er musste antworten, wie beim Einmaleins: Sporenrädlein, Sparren, sechsstrahliger Stern, Fünfblatt, Mondschein und dergleichen wunderliche Dinge mehr.
Zu Hause lernte er zusätzliche Gebote zu den zehn, die er aus der Kirche kannte. »Sei furchtlos gegen die Starken, sanftmütig gegen die Schwachen«, lautete eins, ein anderes: »Übe Ritterlichkeit gegen die Frauen, ob von hohem oder niederem Stand.« Diese Gebote schienen ihm die wichtigeren zu sein, da sie direkt von der Mama kamen; außerdem verlangten sie nach praktischer Umsetzung. Arthurs Blick ging nicht über seine unmittelbare Umgebung hinaus. Die Wohnung war klein, das Geld knapp, die Mutter überarbeitet, der Vater ein Flattergeist. Schon früh leistete er einen kindlichen Schwur – und ein Schwur, das wusste er, war ewig bindend: »Wenn du alt bist, Mami, sollst du ein samtenes Kleid und eine goldene Brille haben und behaglich am Kamin sitzen.« Arthur sah den Anfang der Geschichte – dort, wo er jetzt war – und ihr glückliches Ende vor sich; nur die Mitte fehlte einstweilen noch.
Hinweise darauf wollte er bei seinem Lieblingsschriftsteller Captain Mayne Reid finden. Er suchte in Die Grenzschützen oder Abenteuer in Mexiko. Er las Jagdzüge im Dschungel und Der Kriegspfad und Der Reiter ohne Kopf. In seiner Vorstellung tummelten sich nun Büffel und Indianer neben Rittern in Kettenhemden und den Infanteristen von Packs Brigade. Sein liebstes Mayne-Reid-Buch war Die Skalpjäger: Eine Abenteuererzählung aus Arizona und Neumexiko. Noch wusste Arthur nicht recht, wie er die goldene Brille und das samtene Kleid beschaffen sollte, doch vermutlich war dazu eine gefahrvolle Reise nach Mexiko notwendig.
Einmal in der Woche geht er mit seiner Mutter Großonkel Compson besuchen. Der wohnt ganz in der Nähe hinter einer niedrigen Granitschwelle, die George nicht übertreten darf. Jede Woche erneuern sie die Blumen in seinem Krug. Great Wyrley war sechsundzwanzig Jahre lang Onkel Compsons Pfarrei; nun ist seine Seele im Himmel, während sein Körper im Kirchhof geblieben ist. Das erklärt ihm die Mutter, während sie die verdorrten Stiele aus dem Krug nimmt, das übel riechende Wasser fortschüttet und die frischen, weichen Blumen hineinstellt. Manchmal darf George ihr helfen, sauberes Wasser einzugießen. Sie sagt, übermäßige Trauer sei unchristlich, aber das kann George nicht verstehen.
Nachdem der Großonkel in den Himmel aufgebrochen war, trat der Vater an seine Stelle. In einem Jahr heiratete er die Mutter, im nächsten bekam er seine Pfarrei, und im übernächsten wurde George geboren. So hat man es ihm erzählt, und das ist eine klare und wahre und glückliche Geschichte, wie eigentlich alles sein sollte. Da ist die Mutter, die in seinem Leben ständig gegenwärtig ist, die ihm die Buchstaben beibringt und ihm einen Gutenachtkuss gibt; und der Vater, der oft nicht da ist, weil er Alte und Kranke besucht oder seine Predigten schreibt und hält. Da ist das Pfarrhaus, die Kirche, das Haus, in dem die Mutter die Sonntagsschule abhält, der Garten, die Katze, die Hühner, die Rasenfläche, über die man vom Pfarrhaus zur Kirche geht, und der Kirchhof. Das ist Georges Welt, und er kennt sie gut.
Im Innern des Pfarrhauses ist alles still. Es gibt Gebete, Bücher, Handarbeit. Man schreit nicht, man rennt nicht, man beschmutzt sich nicht. Manchmal ist das Feuer zu hören und auch das Besteck, wenn man es nicht richtig hält; und als sein Bruder Horace kommt, hört man den auch. Doch das sind Ausnahmen in einer Welt, die ebenso friedlich wie verlässlich ist. Die Welt jenseits des Pfarrhauses ist für George voller unerwarteter Geräusche und unerwarteter Geschehnisse. Als er vier Jahre alt ist, nimmt man ihn zu einem Spaziergang auf den Feldwegen mit und zeigt ihm eine Kuh. Die Größe des Tiers kann ihn nicht schrecken, auch nicht das pralle Euter, das vor seinen Augen wabbelt, wohl aber das jähe heisere Brüllen, das das Tier ohne ersichtlichen Grund von sich gibt. Es muss wohl sehr missgelaunt sein. George bricht in Tränen aus, während sein Vater die Kuh straft, indem er sie mit einem Stock schlägt. Dann dreht sich das Tier zur Seite, hebt den Schwanz und beschmutzt sich. George erstarrt, als dieser Erguss hervorbricht, als er mit einem merkwürdig platschenden Geräusch im Gras landet, als plötzlich alles außer Kontrolle geraten ist. Doch ehe er weiter darüber nachdenken kann, zieht ihn die Hand der Mutter fort.
Nicht nur die Kuh oder die vielen Freunde der Kuh – wie das Pferd, das Schaf und das Schwein – machen George die Welt jenseits der Pfarrhausmauer verdächtig. Fast alles, was er darüber hört, flößt ihm Furcht ein. Diese Welt ist voller Menschen, die alt und krank und arm sind, und das ist alles nicht schön, wie die Haltung und die leise Stimme des Vaters bei seiner Rückkehr erkennen lassen; und voller Menschen, die Grubenwitwen heißen, ein Wort, das George nicht versteht. Jenseits der Mauer gibt es Jungen, die flunkern oder, schlimmer noch, durch und durch verlogen sind. Außerdem gibt es ganz in der Nähe etwas, das Zeche heißt, und dort kommen die Kohlen im Kamin her. Er weiß nicht recht, ob er die Kohlen mag. Sie riechen und stauben und machen Geräusche, wenn man sie schürt, und von ihren Flammen soll man sich fernhalten; obendrein werden sie von großen, grimmigen Männern mit bis auf den Rücken reichenden Lederhauben ins Haus gebracht. Wenn die Außenwelt den Türklopfer betätigt, bekommt George gewöhnlich einen Schreck. Alles in allem würde er lieber hier drinnen bleiben, bei der Mutter, bei seinem Bruder Horace und der neugeborenen Schwester Maud, bis es an der Zeit ist, zu seinem Großonkel Compson in den Himmel zu fahren. Aber das ist wahrscheinlich nicht erlaubt.
Sie zogen ständig um: ein halbes Dutzend Mal in Arthurs ersten zehn Lebensjahren. Die Wohnungen schienen immer kleiner zu werden, während die Familie größer wurde. Außer Arthur gab es noch seine ältere Schwester Annette, die jüngeren Schwestern Lottie und Connie, den kleinen Bruder Innes und später dann die Schwestern Ida und Julia, genannt Dodo. Sein Vater konnte zwar gut Kinder zeugen – es gab noch zwei weitere, die nicht am Leben geblieben waren –, aber nicht für sie sorgen. Diese frühe Erkenntnis, dass sein Vater die Mama nie mit den gehörigen Annehmlichkeiten des Alters umgeben würde, trug noch zu Arthurs Entschlossenheit bei, sich selbst darum zu kümmern.
Sein Vater stammte – der Herzöge von Brittany ungeachtet – aus einer Künstlerfamilie. Er hatte Talent und ein instinktives Gespür für die Religion, doch er war reizbar und von schwacher Konstitution. Mit neunzehn war er aus London nach Edinburgh gezogen; als Inspektorengehilfe im schottischen Bauamt geriet er in allzu jungen Jahren in eine Gesellschaft, die zwar fröhlich, aber oft auch raubeinig und trinkfreudig war. In der Behörde kam er so wenig voran wie in der lithografischen Anstalt George Waterman & Sons. Er war ein sanfter Versager mit einem weichen Gesicht hinter einem weichen Vollbart; er nahm Pflichten nur von ferne wahr und hatte seinen Lebensweg verloren.
Er wurde nie gewalttätig oder aggressiv; er war ein Trinker der sentimentalen, freigebigen, selbstmitleidigen Art. Oft wurde er, in seinen Bart sabbernd, von Droschkenkutschern nach Hause gebracht, die mit ihrem Beharren auf Bezahlung die Kinder weckten; am nächsten Morgen erging er sich dann in weinerlichen Klagen über seine Unfähigkeit, für die innig geliebte Familie zu sorgen. Arthur wurde irgendwann in Logis gegeben, damit er kein weiteres Stadium des väterlichen Verfalls miterleben musste; doch er hatte genug gesehen, um sein keimendes Verständnis davon zu untermauern, was ein Mann sein konnte und sein sollte. In den Erzählungen seiner Mutter von Rittertum und Liebe gab es nur wenig Platz für betrunkene Illustratoren.
Arthurs Vater malte Aquarelle und hatte stets die Absicht, sein Einkommen durch den Verkauf seiner Werke aufzubessern. Doch dann kam immer wieder seine Großzügigkeit dazwischen; er verschenkte seine Bilder an alle und jeden oder nahm höchstens ein paar Pence dafür an. Seine Sujets waren bisweilen wild und furchterregend und zeugten oft von seinem angeborenen Humor. Sein Lieblingsmotiv aber, das anderen am nachdrücklichsten in Erinnerung blieb, waren Elfen.
George wird in die Dorfschule geschickt. Er trägt einen gestärkten Umlegekragen mit einer lockeren Halsschleife über dem Kragenknopf, eine Weste, die bis eben unter die Schleife geknöpft wird, und eine Jacke mit hohen, fast schon waagerechten Revers. Andere Jungen sind nicht so adrett gekleidet: Manche tragen raue, selbst gestrickte Pullover oder schlecht sitzende Jacken, die sie von ihren älteren Brüdern geerbt haben. Einige wenige haben gestärkte Kragen, aber nur Harry Charlesworth trägt eine Schleife wie George.
Seine Mutter hat ihm die Buchstaben beigebracht, sein Vater ein bisschen Rechnen. In der ersten Woche muss er in den hinteren Reihen der Klasse sitzen. Am Freitag wird man die Schüler prüfen und je nach Intelligenz umsetzen: Die gescheiten Jungen sitzen dann vorn, die dummen hinten; wer gut lernt, wird mit größerer Nähe zum Lehrer, zur Quelle der Unterweisung, zum Wissen, zur Wahrheit belohnt. Dies alles verkörpert Mr Bostock, der ein Tweedjackett trägt, eine wollene Weste und einen Hemdkragen, dessen Spitzen mit einer goldenen Nadel hinter der Halsbinde festgesteckt sind. Mr Bostock geht nie ohne einen braunen Filzhut aus, und während des Unterrichts legt er ihn auf dem Katheder ab, als fürchtete er, ihn aus den Augen zu lassen.
In der Pause zwischen den Unterrichtsstunden gehen die Jungen nach draußen; was sich Hof nennt, ist aber nur ein zertrampelter Rasenplatz mit Ausblick über offene Felder zu der fernen Zeche hin. Manche Jungen kennen sich bereits und fangen aus reiner Langeweile umgehend eine Rauferei an. George hat nie zuvor gesehen, wie Jungen raufen. Während er sich das anschaut, stellt sich Sid Henshaw, einer von den ruppigen Jungen, vor ihn hin. Henshaw schneidet Grimassen; er zieht mit den kleinen Fingern die Mundwinkel auseinander und drückt gleichzeitig mit den Daumen die Ohren nach vorn.
»Guten Tag, ich heiße George«, sagt er, wie man es ihm beigebracht hat. Doch Henshaw gibt nur weiter gurgelnde Laute von sich und lässt die Ohren flattern.
Einige Jungen kommen von einem Bauernhof, und George meint, sie röchen nach Kuh. Andere sind Bergarbeiterkinder und reden anscheinend anders. George erfährt die Namen seiner Klassenkameraden: Sid Henshaw, Arthur Aram, Harry Boam, Horace Knighton, Harry Charlesworth, Wallie Sharp, John Harriman, Albert Yates …
Sein Vater sagt, er werde bald Freunde finden, aber er weiß nicht recht, wie man das anstellt. Eines Morgens schleicht Wallie Sharp sich auf dem Hof von hinten an ihn heran und flüstert:
»Du bist kein rechter Kerl.«
George dreht sich um. »Guten Tag, ich heiße George«, sagt er sein Sprüchlein auf.
Am Ende der ersten Woche prüft Mr Bostock sie im Lesen, Schreiben und Rechnen. Am Montagmorgen gibt er die Ergebnisse bekannt, und dann werden sie umgesetzt. George kann gut aus dem vor ihm liegenden Buch lesen, versagt aber im Schreiben und Rechnen. Er soll in den hinteren Reihen bleiben. Am nächsten Freitag schneidet er nicht besser ab, und am übernächsten auch nicht. Sein Platz ist jetzt zwischen Bauernjungen und Bergarbeitersöhnen, denen es gleichgültig ist, wo sie sitzen, ja, die es für einen Vorteil halten, weiter von Mr Bostock entfernt zu sein, damit sie ungezogen sein können. George hat das Gefühl, er werde langsam von dem Weg, der Wahrheit und dem Leben vertrieben.
Mr Bostock sticht mit einem Stück Kreide an die Tafel. »Das, George, plus das« (Stich) »ergibt – was?« (Stich, Stich).
In Georges Kopf verschwimmt alles, und er rät wild drauflos. »Zwölf«, sagt er, oder »siebeneinhalb«. Die Jungen in den vorderen Reihen lachen, und sobald die Bauernjungen begreifen, dass George etwas Falsches gesagt hat, stimmen sie in das Gelächter ein.
Mr Bostock seufzt und schüttelt den Kopf und ruft Harry Charlesworth auf, der immer in der ersten Bank sitzt und ständig den Finger hebt.
»Acht«, sagt Harry oder »dreizehneinviertel«, und Mr Bostock schaut zu George hin, um ihm zu zeigen, wie dumm er war.
Eines Nachmittags beschmutzt sich George auf dem Heimweg ins Pfarrhaus. Seine Mutter zieht ihn aus, stellt ihn in die Wanne, schrubbt ihn ab, kleidet ihn wieder an und bringt ihn zum Vater. Doch George kann seinem Vater nicht erklären, warum er sich, obwohl er fast sieben Jahre alt ist, benommen hat wie ein Wickelkind.
Das passiert noch einmal und dann noch einmal. Die Eltern bestrafen ihn nicht, doch sie sind offensichtlich enttäuscht von ihrem Erstgeborenen – dumm in der Schule, ein Baby auf dem Heimweg –, und das ist ebenso schlimm wie eine Strafe. Sie reden über seinen Kopf hinweg über ihn.
»Das Kind hat deine Nerven, Charlotte.«
»Zähne bekommt er jedenfalls nicht.«
»Kälte können wir ausschließen, wir haben doch September.«
»Und schwer verdauliche Nahrung auch, denn Horace fehlt nichts.«
»Was bleibt dann noch?«
»In dem Buch steht nur eine andere mögliche Ursache, nämlich Angst.«
»George, hast du vor irgendetwas Angst?«
George sieht seinen Vater an, den glänzenden Priesterkragen, das breite, nicht lächelnde Gesicht darüber, den Mund, der von der Kanzel in St. Mark’s die so häufig unverständliche Wahrheit verkündet, und die schwarzen Augen, die nun die Wahrheit von ihm fordern. Was soll er sagen? Er hat Angst vor Wallie Sharp und Sid Henshaw und einigen anderen, aber er will ja nicht petzen. Und vor denen hat er auch nicht die größte Angst. Schließlich sagt er: »Ich habe Angst davor, dumm zu sein.«
»George«, antwortet sein Vater, »wir wissen, dass du nicht dumm bist. Deine Mutter und ich haben dir Schreiben und Rechnen beigebracht. Du bist ein gescheiter Junge. Zu Hause kannst du rechnen, aber in der Schule nicht. Kannst du uns sagen warum?«
»Nein.«
»Bringt Mister Bostock euch das Rechnen anders bei?«
»Nein, Vater.«
»Gibst du dir keine Mühe mehr?«
»Doch, Vater. Im Buch kann ich rechnen, aber an der Tafel nicht.«
»Charlotte, ich glaube, wir sollten mit ihm nach Birmingham fahren.«
Arthur hatte Onkel, die den Verfall ihres Bruders sahen und Mitleid mit seiner Familie hatten. Sie kamen auf die Idee, Arthur nach England zu schicken, wo er von den Jesuiten unterrichtet werden sollte. Mit neun Jahren wurde er in Edinburgh in den Zug gesetzt und hörte nicht auf zu weinen, bis er in Preston ankam. Die nächsten sieben Jahre verbrachte er in Stonyhurst und kehrte nur sechs Wochen in jedem Sommer zu seiner Mutter und dem hin und wieder auftauchenden Vater zurück.
Diese Jesuiten waren aus Holland herübergekommen und hatten ihren Lehrplan und ihre Züchtigungsmethoden mitgebracht. Der Unterricht umfasste sieben Ausbildungsklassen – Elemente, Figuren, Rudimente, Grammatik, Syntax, Poetik und Rhetorik –, die jeweils ein Jahr dauerten. Auf dem Lehrplan standen wie in jeder Internatsschule Geometrie, Algebra und die Klassiker, deren Wahrheiten durch emphatische Prügel Nachdruck verliehen wurde. Das dabei verwendete Instrument – ein Stück Gummi von der Größe und Dicke einer Stiefelsohle – war gleichfalls aus Holland herübergekommen und wurde Tolley genannt. Schon nach einem mit allem jesuitischen Eifer verabreichten Schlag auf die Hand schwoll die Handfläche an und verfärbte sich. Die übliche Strafe für größere Jungen bestand aus neun Schlägen auf jede Hand. Danach konnte der Sünder kaum noch den Türknauf der Studierstube drehen, in der er gezüchtigt worden war.
Der Name Tolley, so erklärte man Arthur, rührte von einem lateinischen Wortspiel her. Fero, ich trage oder ertrage. Fero, ferre, tuli, latum. Tuli, ich habe ertragen, der Tolley ist das, was wir ertragen haben, ja?
Der Humor war ebenso rau wie die Strafen. Auf die Frage, wie er seine Zukunft sehe, gestand Arthur, er denke daran, Baumeister zu werden.
»Nun ja, in den Bau wirst du wohl gehen«, erwiderte der Priester, »aber ich glaube kaum, dass dadurch ein Meister aus dir wird.«
Arthur entwickelte sich zu einem hochgewachsenen, ungestümen Jüngling, der in der Schulbibliothek Trost fand und auf dem Kricketplatz glücklich war. Einmal die Woche sollten die Jungen nach Hause schreiben, was für die meisten eine zusätzliche Strafe, für Arthur aber eine Belohnung war. In dieser Stunde schüttete er der Mutter sein Herz aus. Zwar mochte es Gott, Jesus Christus, die Bibel, die Jesuiten und den Tolley geben, doch die höchste Autorität, an die er glaubte und der er gehorchte, war seine kleine, Achtung gebietende Mama. Sie war Expertin auf allen Gebieten, von der Unterwäsche bis zum Höllenfeuer. »Trage Flanell auf der Haut«, riet sie ihm, »und glaube nicht an ewige Strafe.«
Ohne es recht zu wollen, hatte sie ihm auch beigebracht, wie man sich beliebt macht. Er fing schon bald an, seinen Mitschülern die Geschichten von Rittertum und Liebe zu erzählen, die er erstmals unter einem erhobenen Porridgerührholz gehört hatte. An verregneten freien Nachmittagen stellte er sich auf ein Pult, und seine Zuhörer hockten sich um ihn herum. Eingedenk des Geschicks seiner Mama wusste er, wie man die Stimme senkt, wie man eine Geschichte in die Länge zieht, wie man bei einer gefahrvollen, unerträglich spannenden Stelle abbricht mit dem Versprechen, die Fortsetzung folge am nächsten Tag. Da er groß und hungrig war, nahm er eine Pastete als Grundpreis für eine Geschichte. Doch manchmal verstummte er auch jäh im spannendsten Moment einer Krise und konnte nur um den Preis eines Apfels zum Weitererzählen bewegt werden.
So entdeckte er den inneren Zusammenhang zwischen Erzählung und Lohn.
Der Okulist rät bei kleinen Kindern von einer Brille ab. Die Augen des Jungen sollen sich mit der Zeit lieber auf natürlichem Wege regulieren. Bis dahin soll er in der Klasse vorne sitzen. George lässt die Bauernjungen hinter sich und wird neben Harry Charlesworth gesetzt, der bei allen Prüfungen regelmäßig als Bester abschneidet. Nun bekommt die Schule für George einen Sinn; er sieht, wohin Mr Bostocks Kreide sticht, und beschmutzt sich auf dem Heimweg nie wieder.
Sid Henshaw schneidet weiter Grimassen, doch George nimmt das kaum wahr. Sid Henshaw ist nichts als ein dummer Bauernjunge, der nach Kuh riecht und dieses Wort wahrscheinlich nicht einmal richtig schreiben kann.
Eines Tages fällt Henshaw auf dem Hof über George her und rempelt ihn mit der Schulter an, und ehe George sich noch von seinem Schreck erholt hat, reißt er ihm die Schleife ab und läuft damit fort. George hört Gelächter. In der Klasse fragt Mr Bostock dann, wo seine Halsbinde geblieben sei.
Nun steht George vor einem Problem. Er weiß, dass man einen Klassenkameraden nicht anschwärzen darf. Aber er weiß auch, dass man erst recht nicht lügen darf. Daran lässt sein Vater keinen Zweifel. Wer einmal anfängt zu lügen, der gerät auf den Pfad der Sünde, und nichts kann ihn aufhalten, bis ihm der Henker eine Schlinge um den Hals legt. So direkt hat das niemand gesagt, aber so hat George es verstanden. Also kann er Mr Bostock nicht anlügen. Er sucht nach einem Ausweg – was man vielleicht auch nicht darf, weil es der Anfang einer Lüge ist – und beantwortet dann einfach die Frage.
»Sid Henshaw hat mich gestoßen und sie mir weggenommen.«
Mr Bostock zieht Henshaw an den Haaren hinaus, schlägt ihn, bis er schreit, kommt mit Georges Halsschleife zurück und erteilt der Klasse eine Lektion über Diebstahl. Nach der Schule stellt Wallie Sharp sich George in den Weg, und als der um ihn herumgeht, sagt er: »Du bist kein rechter Kerl.«
George schließt Wallie Sharp als möglichen Freund aus.
Was er nicht hat, erscheint ihm selten als Mangel. Die Familie nimmt nicht am gesellschaftlichen Leben des Ortes teil, doch George kann sich nicht vorstellen, was das bedeutet, geschweige denn, warum sie das nicht will oder kann. Er selbst besucht nie andere Jungen zu Hause und kann daher nicht beurteilen, wie es anderswo zugeht. Sein Leben ist sich selbst genug. Er hat kein Geld, aber auch keinen Bedarf daran, erst recht nicht, als er erfährt, dass die Liebe zum Geld die Wurzel allen Übels ist. Er hat kein Spielzeug, aber er vermisst es nicht. Für sportliche Spiele mangelt es ihm an Geschicklichkeit und Sehvermögen; nie hat er auch nur »Himmel und Hölle« gespielt, und ein geworfener Ball erschreckt ihn. Er ist schon zufrieden, wenn er brüderlich mit Horace spielen kann und vorsichtiger mit Maud und noch vorsichtiger mit den Hühnern.
Er weiß wohl, dass die meisten Jungen Freunde haben – in der Bibel gibt es David und Jonathan, und er hat gesehen, wie Harry Boam und Arthur Aram in einer Hofecke zusammenstehen und sich gegenseitig Sachen aus ihren Hosentaschen zeigen –, doch bei ihm ergibt sich das nie. Soll er etwas unternehmen, oder sollen die anderen etwas unternehmen? Überhaupt möchte er zwar Mr Bostock gefällig sein, aber ihm liegt nicht sonderlich daran, den Jungen gefällig zu sein, die hinter ihm sitzen.
Wenn Großtante Stoneham wie jeden ersten Sonntag im Monat zum Tee kommt, lässt sie die Tasse geräuschvoll über die Untertasse scharren und fragt ihn mit faltigem Mund nach seinen Freunden.
»Harry Charlesworth«, antwortet er dann immer. »Er sitzt neben mir.«
Als er der Tante zum dritten Mal dieselbe Antwort gibt, stellt sie die Tasse geräuschvoll auf die Untertasse zurück, runzelt die Stirn und fragt: »Und sonst?«
»Alle anderen sind bloß stinkende Bauernjungen«, erwidert er.
An der Art, wie Großtante Stoneham den Vater ansieht, erkennt er, dass er etwas Falsches gesagt hat. Vor dem Abendessen wird er ins Studierzimmer gerufen. Sein Vater steht hinter dem Schreibtisch, und in den Regalen hinter ihm ist die ganze Autorität des Glaubens aufgereiht.
»George, wie alt bist du?«
So fängt ein Gespräch mit dem Vater häufig an. Beide kennen die Antwort bereits, aber George muss sie dennoch geben.
»Sieben, Vater.«
»In dem Alter kann man mit Fug und Recht eine gewisse Intelligenz und Urteilskraft erwarten. Darum möchte ich dir folgende Frage stellen, George. Meinst du, du seist in den Augen Gottes mehr wert als Jungen, die auf einem Bauernhof leben?«
George merkt wohl, dass die richtige Antwort nein heißt, zögert aber dennoch. Für Gott ist ein Junge, der im Pfarrhaus wohnt, dessen Vater der Pfarrer ist und dessen Großonkel gleichfalls Pfarrer war, doch gewiss mehr wert als ein Junge, der nie zur Kirche geht und dumm ist und noch dazu grausam, wie Harry Boam.
»Nein«, sagt er.
»Und warum sagst du, dass diese Jungen stinken?«
Die richtige Antwort auf diese Frage ist weniger klar. George überlegt. Die richtige Antwort, hat man ihm beigebracht, ist die wahrheitsgemäße.
»Weil es so ist, Vater.«
Sein Vater seufzt. »Und wenn es so ist, George, warum ist es so?«
»Warum ist was so, Vater?«
»Dass sie stinken.«
»Weil sie sich nicht waschen.«
»Nein, George, wenn sie stinken, dann liegt das daran, dass sie arm sind. Wir haben das Glück, uns Seife und frische Wäsche leisten zu können und ein Bad zu besitzen und nicht in nächster Nähe zum Vieh zu leben. Sie sind die Elenden im Lande. Und sage mir, wen liebt Gott mehr, die Elenden im Lande oder die, welche voll falschen Stolzes sind?«
Diese Frage ist leichter, auch wenn George mit der Antwort nicht recht einverstanden ist. »Die Elenden im Lande, Vater.«
»Selig sind die Sanftmütigen, George. Du kennst die Stelle.«
»Ja, Vater.«
Doch etwas in Georges Innerem sträubt sich gegen diese Folgerung. Er glaubt nicht, dass Harry Boam und Arthur Aram sanftmütig sind. Auch kann er nicht glauben, dass nach Gottes ewigem Ratschluss für Seine Schöpfung Harry Boam und Arthur Aram am Ende das Erdreich besitzen sollen. Das würde Georges Gerechtigkeitsgefühl nun gar nicht entsprechen. Schließlich sind sie bloß stinkende Bauernjungen.
Stonyhurst bot an, Arthur das Schulgeld zu erlassen, falls er sich zum Priester ausbilden lassen würde; doch die Mama lehnte das Angebot ab. Arthur war strebsam und konnte sehr wohl Verantwortung tragen; er galt bereits als künftiger Kricket-Kapitän. Doch sie hatte keins ihrer Kinder zum geistlichen Ratgeber ausersehen. Arthur wiederum wusste, dass er unmöglich für die versprochene goldene Brille, das samtene Kleid und den Platz am Kamin sorgen konnte, wenn er sich einem Leben in Armut und Gehorsam weihte.
Seiner Ansicht nach waren die Jesuiten gar nicht so dumm. Sie hielten den Menschen für dem Wesen nach schwach, und ihr Misstrauen schien Arthur gerechtfertigt: Man schaue sich nur seinen eigenen Vater an. Sie hatten auch erkannt, dass Sündhaftigkeit schon früh beginnt. Die Jungen durften nie miteinander allein bleiben; auf Spaziergängen wurden sie stets von einem Lehrer begleitet, und jede Nacht wanderte eine schattenhafte Gestalt durch die Schlafsäle. Mochte die ständige Aufsicht auch Selbstachtung und Selbstständigkeit untergraben, so hielt sie doch die an anderen Schulen grassierende Unmoral und Verrohung in engen Grenzen.
Arthur glaubte ganz allgemein daran, dass es Gott gab, dass Jungen von der Sünde versucht wurden und dass die Patres recht daran taten, sie mit dem Tolley zu schlagen. Über einzelne Glaubenssätze disputierte er dann unter vier Augen mit seinem Freund Partridge. Partridge hatte großen Eindruck auf ihn gemacht, als er einmal unmittelbar hinter dem Wicket stand, einen von Arthurs schnellsten Würfen direkt aus der Luft fing, den Ball schneller fest in den Händen hielt, als man überhaupt gucken konnte, und sich dann umdrehte und so tat, als schaue er dem zur Boundary entschwindenden Ball hinterher. Partridge war stets zu Possen aufgelegt, und das nicht nur auf dem Kricketplatz.
»Ist dir klar, dass die Doktrin von der Unbefleckten Empfängnis erst 1854 zum Glaubenssatz erhoben wurde?«
»Etwas spät, würde ich meinen, Partridge.«
»Denk nur: Die Kirche debattiert seit Jahrhunderten darüber, und es war nie Ketzerei, dieses Dogma zu leugnen. Jetzt plötzlich doch.«
»Hmm.«
»Warum beschließt Rom so lange nach dem Ereignis, die Beteiligung von Marias leiblichem Vater herunterzuspielen?«
»Sachte, sachte, mein Freund.«
Doch Partridge war bereits bei der Doktrin von der Päpstlichen Unfehlbarkeit, die erst fünf Jahre zuvor verkündet worden war. Warum sollten damit sämtliche Päpste der vergangenen Jahrhunderte implizit für fehlbar erklärt werden und alle gegenwärtigen wie auch künftigen Päpste zum Gegenteil? Ja, warum wohl, echote Arthur. Weil es, wie Partridge erwiderte, hier eher um Kirchenpolitik als um theologischen Fortschritt gehe. Es hänge alles damit zusammen, dass jetzt einflussreiche Jesuiten ganz oben im Vatikan säßen.
»Du bist gesandt, um mich zu versuchen«, wehrte Arthur manchmal ab.
»Im Gegenteil. Ich bin hier, um deinen Glauben zu stärken. Der Weg des wahren Gehorsams ist eigenständiges Denken innerhalb der Kirche. Immer, wenn die Kirche sich bedroht fühlt, verschärft sie die Regeln der Disziplin. Kurzfristig tut das seine Wirkung, auf Dauer aber nicht. Es ist dasselbe wie mit dem Tolley. Wenn man dich heute schlägt, lässt du dir morgen oder übermorgen nichts zuschulden kommen. Doch dass man sich sein Leben lang nichts mehr zuschulden kommen lässt, weil man noch an den Tolley denkt, das ist doch Unsinn, nicht wahr?«
»Nicht, wenn es wirkt.«
»Aber in ein, zwei Jahren sind wir dieser Anstalt entronnen. Dann gibt es keinen Tolley mehr. Wir müssen gerüstet sein, der Sünde und dem Verbrechen aus Vernunftgründen zu widerstehen, nicht aus Angst vor körperlichem Schmerz.«
»Ich bezweifle, dass Vernunftgründe bei einigen Jungen etwas bewirken.«
»Dann muss unbedingt der Tolley her. Und für die Außenwelt gilt dasselbe. Natürlich sind Gefängnisse und Zwangsarbeit und Henker nötig.«
»Aber wovon wird die Kirche denn bedroht? Mir erscheint sie stark.«
»Von der Wissenschaft. Von der Ausbreitung der Lehren des Skeptizismus. Vom Verlust des Kirchenstaates. Vom Verlust an politischem Einfluss. Von dem herannahenden zwanzigsten Jahrhundert.«
»Dem zwanzigsten Jahrhundert.« Darüber sann Arthur eine Weile nach. »So weit kann ich nicht denken. Wenn das nächste Jahrhundert beginnt, bin ich schon vierzig.«
»Und Kapitän der englischen Kricket-Mannschaft.«
»Da habe ich meine Zweifel, Partridge. Aber jedenfalls kein Priester.«
Arthur nahm nicht bewusst wahr, wie sein Glaube nachließ. Doch von eigenständigem Denken innerhalb der Kirche war es nur ein kleiner Schritt zu eigenständigem Denken außerhalb der Kirche. Er stellte fest, dass sein Verstand und sein Gewissen nicht immer akzeptieren konnten, was ihnen vorgesetzt wurde. In Arthurs letztem Schuljahr hielt Pater Murphy die Predigten. Grimmig und rotgesichtig stand er hoch oben auf der Kanzel und drohte allen, die der Kirche fernblieben, sichere und unausweichliche Verdammnis an. Ob sie sich aus Bosheit, Halsstarrigkeit oder bloßer Unwissenheit abseits hielten, es lief auf dasselbe hinaus: sichere und unausweichliche Verdammnis bis in alle Ewigkeit. Dann folgte eine eingehende Schilderung von Höllenqualen und Höllenpein, eigens dazu geschaffen, Jungen in Angst und Schrecken zu versetzen; doch Arthur hörte bereits nicht mehr zu. Die Mama hatte ihm gesagt, wie es sich verhielt, und Pater Murphy war für ihn nun ein Märchenerzähler, dem er keinen Glauben mehr schenkte.
Die Mutter hält die Sonntagsschule in dem Gebäude neben dem Pfarrhaus ab. Das Mauerwerk hat ein Rautenmuster, und die Mutter sagt, es sehe fast aus wie ein Mosaik. Dieses Wort versteht George nicht, vermutet aber, es habe etwas mit Moses aus der Bibel zu tun. Auf die Sonntagsschule freut er sich die ganze Woche. Die ruppigen Jungen nehmen nicht daran teil: Sie rennen wild durch die Felder, stellen Kaninchen nach, erzählen Lügen und begeben sich überhaupt auf den Blumenpfad der Lust, der geradewegs in die immerwährende Verdammnis führt. Die Mutter hat ihm erklärt, sie werde ihn in der Sonntagsschule ganz genauso behandeln wie alle anderen auch. George kann das verstehen: Sie weist ihnen allen – gleichermaßen – den Weg in den Himmel.
Sie erzählt ihnen spannende Geschichten, denen George leicht folgen kann: von Daniel in der Löwengrube oder von den drei Männern im Feuerofen. Andere Geschichten aber sind schwieriger. Jesus lehrte in Gleichnissen, und George stellt fest, dass er Gleichnisse nicht mag. Zum Beispiel das vom Unkraut im Weizen. George kann verstehen, dass der Feind Unkraut zwischen den Weizen sät und dass man das Unkraut nicht ausjäten soll, um nicht zugleich den Weizen mit auszuraufen – hier allerdings ist er sich nicht ganz sicher, denn er sieht seine Mutter oft im Pfarrgarten zupfen, und was ist das anderes als jäten, ehe das Unkraut mit dem Weizen gewachsen ist bis zur Ernte? Doch selbst wenn er über dieses Problem hinwegsieht, kommt er nicht weiter. Er weiß, dass es in der Geschichte eigentlich um etwas anderes geht – darum ist es ja ein Gleichnis –, doch was dieses andere sein könnte, will sich ihm nicht erschließen.
Er erzählt Horace von dem Weizen und dem Unkraut, doch Horace begreift nicht einmal, was Unkraut ist. Horace ist drei Jahre jünger als George und Maud drei Jahre jünger als Horace. Als Mädchen und jüngstes Kind ist Maud nicht so stark wie die beiden Jungen, die immer wieder gesagt bekommen, es sei ihre Pflicht, das Mädchen zu beschützen. Was das genau heißt, wird nicht näher erläutert; im Wesentlichen bedeutet es wohl, etwas nicht zu tun – die Schwester nicht mit Stöckchen zu stechen, nicht an den Haaren zu ziehen und nicht mit unheimlichen Lauten zu erschrecken, wie Horace das gerne tut.
Doch die Kräfte von George und Horace reichen nicht aus, Maud zu beschützen. Die Visiten des Doktors beginnen, und seine regelmäßigen Untersuchungen versetzen die Familie in Angst. George fühlt sich bei jedem Besuch des Arztes schuldig und hält sich verborgen für den Fall, dass er sich als die eigentliche Ursache der Krankheit seiner Schwester erweist. Horace hat solche Schuldgefühle nicht und will dem Arzt fröhlich die Tasche nach oben tragen.
Als Maud vier Jahre alt ist, wird beschlossen, sie sei zu anfällig, um die ganze Nacht über allein zu bleiben, und ihre nächtliche Betreuung dürfe weder George noch Horace, ja nicht einmal beiden gemeinsam überlassen werden. Von nun an wird sie im Zimmer der Mutter schlafen. Zugleich wird beschlossen, dass George bei seinem Vater schläft und Horace im Kinderzimmer bleibt. George ist jetzt zehn und Horace sieben Jahre alt; vielleicht sieht man das Alter der Sündhaftigkeit herannahen, und die beiden Jungen dürfen nicht miteinander allein bleiben. Es wird keine Erklärung gegeben und auch keine verlangt. George fragt nicht, ob es eine Strafe oder eine Belohnung ist, dass er im Zimmer des Vaters schlafen soll. Es ist einfach so, und mehr ist dazu nicht zu sagen.
George betet mit seinem Vater zusammen, wobei sie nebeneinander auf den gescheuerten Dielen knien. Dann legt George sich ins Bett, während sein Vater die Tür abschließt und das Licht löscht. Beim Einschlafen denkt George manchmal an den Fußboden und meint, seine Seele müsse ebenso gescheuert werden wie die Dielen.
Der Vater hat keinen leichten Schlaf und gibt oft stöhnende und pfeifende Laute von sich. Manchmal, wenn sich in der Frühe die erste Morgenröte an den Vorhangrändern zeigt, wird George vom Vater katechisiert.
»George, wo wohnst du?«
»Im Pfarrhaus von Great Wyrley.«
»Und wo liegt das?«
»In Staffordshire, Vater.«
»Und wo liegt das?«
»In der Mitte von England.«
»Und was ist England, George?«
»England ist das lebendige Herz des Empire, Vater.«
»Gut. Und was ist das Blut, das durch die Venen und Arterien des Empire strömt bis an das fernste Gestade?«
»Die Kirche von England.«
»Gut, George.«
Und nach einer Weile setzt das Stöhnen und Pfeifen wieder ein. George sieht, wie die Konturen des Vorhangs schärfer werden. Er denkt an Venen und Arterien, die die Weltkarte mit roten Linien überziehen und Großbritannien mit allem verbinden, was dort rosarot gefärbt ist: mit Australien und Indien und Kanada und überall hingetupften Inseln. Er denkt an Röhren, die auf dem Meeresboden verlegt sind wie Telegraphenkabel. Er denkt an Blut, das durch diese Röhren rinnt und dann in Sydney, Bombay oder Kapstadt zum Vorschein kommt. Blutlinien, dieses Wort hat er irgendwo gehört. Während das Blut in seinen Ohren pulsiert, schläft er langsam wieder ein.
Arthur bestand sein Examen mit Auszeichnung; doch da er erst sechzehn war, wurde er für ein weiteres Jahr zu den Jesuiten in Österreich geschickt. In Feldkirch lernte er ein milderes System kennen, das Biertrinken und geheizte Schlafsäle gestattete. Man unternahm lange Spaziergänge, bei denen die englischen Schüler neben einem deutschsprachigen Jungen gehen sollten, sodass sie gezwungen waren, deren Sprache zu sprechen. Arthur ernannte sich zum Redakteur und alleinigen Autor des Feldkircher Anzeigers, einer handgeschriebenen Zeitschrift für Literatur und Wissenschaft. Er spielte auch Fußball auf Stelzen und lernte das Bombardon spielen, ein Instrument, das sich zweimal um den Brustkorb wand und einen Ton von sich gab wie beim Jüngsten Gericht.
Bei seiner Rückkehr nach Edinburgh stellte er fest, dass sein Vater in einer Heilanstalt war und offiziell an Epilepsie litt. Es gab also kein Einkommen mehr, nicht einmal ab und zu ein paar Kupfermünzen für Aquarellbilder von Elfen. Darum war Annette, die älteste Schwester, bereits in Portugal, wo sie als Gouvernante arbeitete; Lottie würde ihr bald nachfolgen, und sie würden Geld nach Hause schicken. Der andere Ausweg der Mama war die Aufnahme von Logiergästen. Arthur fühlte sich dadurch beschämt und gekränkt: Es ging doch nicht an, dass seine eigene Mutter auf den Status einer Zimmerwirtin herabsank.
»Aber Arthur, wenn niemand Logiergäste aufnähme, hätte dein Vater nie bei Großmutter Pack gewohnt, und ich wäre ihm nie begegnet.«
Dies war für Arthur ein noch stärkeres Argument gegen Logiergäste. Er wusste, an seinem Vater durfte er keinerlei Kritik üben, also schwieg er. Aber es war Unsinn, so zu tun, als hätte die Mama keine bessere Partie machen können.
»Und wenn das nicht geschehen wäre«, fuhr sie fort, wobei sie ihn mit ihren grauen Augen anlächelte, denen er nie den Gehorsam verweigern konnte, »dann hätte es nicht nur keinen Arthur gegeben, sondern auch keine Annette, keine Lottie, keine Connie, keinen Innes und keine Ida.«
Das war unbestreitbar wahr und zugleich ein unlösbares metaphysisches Rätsel. Er wünschte, Partridge wäre da, um mit ihm die Frage zu erörtern: Kann ein Mensch er selbst bleiben, oder zumindest hinreichend er selbst, wenn er einen anderen Vater hätte? Wenn nicht, so folgte daraus, dass auch seine Schwestern nicht sie selbst geblieben wären, vor allem Lottie nicht, die er am liebsten hatte, obwohl Connie als die Hübschere galt. Selbst anders zu sein, konnte er sich gerade noch vorstellen, doch an Lottie konnte er auch unter Aufbietung all seiner Fantasie kein Jota ändern.
Vielleicht hätte Arthur den Umgang der Mama mit den beschränkten Lebensumständen leichter hingenommen, wenn er nicht schon ihren ersten Zimmerherrn kennengelernt hätte. Bryan Charles Waller: nur sechs Jahre älter als Arthur, aber bereits approbierter Arzt. Noch dazu ein Dichter mit publizierten Werken und einem Onkel, dem Der Jahrmarkt der Eitelkeiten zugeeignet war. Arthur störte weder, dass der Bursche belesen, ja gelehrt, noch dass er ein glühender Atheist war; hingegen störte ihn die Art, wie dieser Zimmerherr viel zu ungezwungen und charmant durchs Haus ging. Wie er »Das ist also Arthur« sagte und ihm lächelnd die Hand reichte. Wie er anderen zu verstehen gab, er sei ihnen bereits einen Schritt voraus. Wie er seine zwei Londoner Anzüge trug und sich in allgemeinen Redensarten und Epigrammen erging. Wie er sich Lottie und Connie gegenüber verhielt. Wie er sich der Mama gegenüber verhielt.