Klaus Reichert
Türkische Tagebücher
Reisen in ein unentdecktes Land
Fischer e-books
Klaus Reichert, geboren 1938 in Fulda, war von 1964 bis 1968 Lektor in den Verlagen Suhrkamp und Insel und von 1975 bis 2003 Professor für Amerikanistik und Anglistik an der Universität Frankfurt am Main. Er arbeitet über die Renaissance, die klassische Moderne und über Übersetzungstheorie und -geschichte und hat u. a. Shakespeare, Lewis Carroll, James Joyce, John Cage und das Hohelied Salomos übersetzt. Er ist Herausgeber der deutschen Ausgaben von James Joyce und Virginia Woolf und Autor zahlreicher Bücher. 1993 gründete er das ›Zentrum zur Erforschung der Frühen Neuzeit‹ in Frankfurt. Seit 2002 ist er Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.
Covergestaltung: Andreas Heilmann und Gundula Hißmann, Hamburg
Karten: Peter Palm, Berlin
Bildnachweis:
Stiftung Preußischer Kulturbesitz (Hephaistion-Mosaik)
I. Halil Özbey, Birecik (Waldrapp)
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2011
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-401426-5
Ich weiß nicht, wie alt das Kurdenproblem ist, weiß nur, dass es nicht erst mit dem Verbot der kurdischen Sprache durch Atatürk begann. In seinen Briefen aus der Türkei beschreibt Moltke die Zusammensetzung des osmanischen Heeres vor der dann verlorenen Schlacht bei Nisib: »Es herrschte eine so furchtbare Mortalität, daß wir während der Dauer unseres Hierseins die Hälfte der Infanterie begraben haben. Der ganze Ersatz lastet nun fast ausschließlich auf Kurdistan; die Bewohner der Dorfschaften flohen in die Berge, sie wurden mit Hunden gehetzt, die Eingefangenen, oft Kinder und Krüppel, an lange Seile gebunden und mit geknebelten Händen abgeführt. Diese Soldaten, welche nicht einmal die Sprache ihrer Offiziere verstanden, mußten fortwährend als Gefangene behandelt werden; dichte Postenlinien umstellten das Lager eines jeden Regiments; oft aber entwichen die Wachen selbst. Man zahlte 20, ja später 100 Gulden für jeden Deserteur, ohne das Ausreißen hindern zu können; es gab Beispiele, wo 50 Mann mit Pferden und Waffen von den Vorposten desertierten. Der Soldat war gut bezahlt, wohl gekleidet, reichlich ernährt und milde behandelt; aber fast kein Kurde hielt länger als zwei Jahre aus, er ging ins Hospital, starb oder lief davon.«
Die Furcht vor Idolen hat lange nachgewirkt. Wenn in der hebräischen Bibel Gott mit einem Fels verglichen wird, übersetzt das die Septuaginta mit Kraft oder Stärke (dynamis), um die Möglichkeit auszuschließen, Gott könnte als Fels angebetet werden, wie es bei den als Götzendiener geschmähten Religionen nicht unüblich war. Wenn später Jesus seinem Jünger Simon den Namen Petrus, Fels, gibt, auf dem er seine Kirche bauen will, ist die Furcht gebannt und durch einen Sprechakt ersetzt. Joyce meinte dazu, die Kirche gründe in einem Wortspiel.
Wie kommt einer in die Türkei, außer als Bildungstourist, als Urlauber, als Archäologe, als Sprachschüler? Die Türkei – von Istanbul, ein paar Badeorten am Mittelmeer, ein paar ausgegrabenen vorderasiatischen, griechischen und römischen Städten abgesehen – ist noch immer, trotz ihrer unermesslichen kulturellen und landschaftlichen Reichtümer, ein unentdecktes Land.
Die Türkei sollte 2008 das Gastland der Frankfurter Buchmesse sein. Zur Vorbereitung hatte das Goethe-Institut, wie schon bei früheren und folgenden Auftritten von Gastländern bei der Messe, die Idee, in Zusammenarbeit mit den Literaturhäusern, ein Dutzend deutschsprachiger Autorinnen und Autoren in die türkische Provinz zu schicken, um ›vor Ort‹ ein Internet-Tagebuch zu führen und dem Goethe-Institut nach Istanbul (zur Übersetzung und zur Verbreitung) zu schicken. Im Gegenzug sollten ebenso viele türkische Autoren zur Messezeit in deutsche Städte geschickt werden.
Maria Gazzetti, damals die Leiterin des Literaturhauses in Frankfurt am Main, schlug mich als Autor vor, weil sie mein Wüstentagebuch vom Sinai und mein Interesse an frühen Kulturen kannte. Unter den Städten, die zur Auswahl standen, wählte ich Urfa, eine Provinzhauptstadt in Südost-Anatolien nahe der syrischen Grenze, denn Urfa war das antike Edessa und ein Schnittpunkt – oder besser: eine Übereinanderschichtung – der Kulturen des alten Orients seit der Zeit der Sumerer. Später im Jahr durfte ich im gleichen Programm noch einmal in die Türkei reisen, in die Ägäis, also in einen Raum mit ganz anderen historischen Schichtungen.
Koordiniert und organisiert wurden die Reisen von der Arbeitsgemeinschaft der Literaturhäuser in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut in Istanbul und dem Kulturministerium in Ankara. Federführend war auf deutscher Seite das Literaturhaus in München, die Koordinatorin dort war Claudia Nolte.
Nicht genug zu rühmen sind der unermüdliche Einsatz, die Begeisterung und die Durchsetzungslist der Leiterin des Istanbuler Instituts, Claudia Hahn-Raabe, und ihres Teams mit Fügen Uğur, der atemberaubend Zweisprachigen, an der Spitze.
Den Stadtschreibern wurden während ihres gesamten Aufenthalts Übersetzerinnen und Übersetzer an die Seite gegeben (und wenn nötig ein Auto mit Fahrer). Das machte es möglich, im Gespräch etwas von den Menschen zu erfahren, was der der Sprache unkundige Tourist nicht erfährt. Ich hatte zweimal Glück: Auf der Reise nach Urfa begleitete mich Şenay Karakoc, eine Dolmetscherin aus Izmir, und auf der Reise in die Ägäis war es Ülker Sayın, Kulturwissenschaftlerin aus Istanbul.
Ich habe mich auf die Reise vorbereitet, nicht durch das Studium von ›Führern‹, sondern durch die Lektüre mancher Werke zur Alten Geschichte, ergänzt durch Bücher von Reisenden in der Gegend wie Xenophon und Moltke, beide Militärs mit dem Blick der Strategen für Landschaft und Gelände.
Ich reiste mit leichtem Gepäck: einem türkischen Wörterbuch, einer Grammatik, einem Roman von Orhan Pamuk (nach Anatolien), der Ilias in der Übersetzung des Grafen Stolberg (in die Ägäis). Keine Reiseführer. Ich erzähle also nicht, was ich gelesen, sondern ich schreibe auf, was ich durch das Medium meiner Übersetzerinnen gehört habe. (Das griechische Verb ›historein‹ meint bei Herodot: hinfahren, hinsehen, hinhören, erkunden und das dann aufschreiben.) Für dieses Buch ergänzend geschrieben sind zwei Aufsätze über solches, was mich in der Türkei besonders fasziniert hat: über den bei uns kaum bekannten großen Architekten Sinan, den Baumeister Süleymans des Prächtigen im sechzehnten Jahrhundert, und über anatolische Kelims.
Im Sommer und Herbst 2010 wurden die Tagebücher überarbeitet, Fakten korrigiert, Zitate eingesetzt, besonders aus den erstaunlichen, heute nicht mehr bekannten Briefen Moltkes nach Hause. (Helmuth von Moltke, Briefe über Zustände und Begebenheiten in der Türkei aus den Jahren 1835 bis 1839, 8. Auflage, hg. von G. Hirschfeld, Berlin: Mittler, 1917)
Mein Dank gilt also dem Goethe-Institut, Claudia Hahn-Raabe und Fügen Uğur in Istanbul, Clemens-Peter Haase in München, der Arbeitsgemeinschaft der Literaturhäuser und insbesondere dem Literaturhaus in München sowie Maria Gazzetti in Frankfurt. Mein Dank gilt dem Minister für Kultur und Tourismus in Ankara, Herrn Ertogrul Günay, und Herrn Ibrahim Yazar, die es beide möglich gemacht haben, dass der Schriftstelleraustausch stattfinden konnte. Mein größter Dank gilt den beiden Übersetzerinnen, Şenay Karakoc und Ülker Sayın, die nicht müde wurden, meine Neugier auf alles und jedes zu befriedigen, indem sie durch kluges Fragen die Menschen zum Sprechen brachten, auch über solches, was sie einem ausländischen Interviewer vielleicht nicht preisgegeben hätten. Und ich danke ganz herzlich Peter Sillem vom S. Fischer Verlag, der dieses Buch möglich gemacht hat.
Für die türkisch geschriebenen Namen und Wörter gebe ich hier ein Ausspracheverzeichnis:
c = dsch (wie in Dschungel)
ç = tsch (wie in Tscherkesse)
ğ = wird nicht gesprochen, sondern längt den vorhergehenden Vokal
h = ch (wie in Ach) am Silbenende
ı = unbetontes e (wie in Ochse)
j = stimmhaftes sch (wie in Journal)
ş = stimmloses sch (wie Schicksal)
z = stimmhaftes s (wie Sonne)
K. R., Frankfurt, im Januar 2011
Vor drei Tagen habe ich mir ein paar Laufschuhe gekauft. Camper. Der junge Verkäufer ist Türke. Als er mir den Schuh bindet, sehe ich, dass er es anders macht als wir: erst eine Schlaufe, dann, durch diese hindurchgezogen, eine zweite, was eine Doppelschleife (keinen Doppelknoten) ergibt. Ich frage ihn, warum er nicht die Schleife bindet ›wie wir‹. »Ach, es gibt zwanzig Arten, den Schuh zu binden. Diese Schleife habe ich von meiner Tante gelernt. Sie ist gestorben und ich konnte nicht zu ihrer Beerdigung gehen. Jedes Mal, wenn ich diese Schleife binde, denke ich an meine Tante, wohl hundertmal am Tag.« Ich erzähle ihm, wo ich die nächsten vier Wochen verbringen werde. Er sagt: »In Urfa gibt es Köfte, die besten Hackfleischbällchen auf der ganzen Welt.«
Turkish Airlines, erste Reihe, Fensterplatz. Der Blick hinaus: dichte, besonnte Wolkendecke, Polarlandschaft. Manchmal Turbulenzen. Unten grüne oder braune flache Vierecke, wenn die Decke gelegentlich aufreißt. Aber noch keine Berge, kein Meer, trotz des inzwischen zweistündigen Flugs.
Jetzt, gegen drei unserer Zeit, sind nur noch wenige Wolken zu sehen, wir sind über dem Meer, und es taucht eine fast ganz gerade Küste auf. Sand, geriffeltes Meer, hügeliges bewaldetes Land, dazwischen Seen. Sehr enge Besiedelung, Häuserwälder. Jetzt kommt etwas in den Blick, was das Marmarameer sein müsste. Viele Schiffe.
In Istanbul holt mich Fügen Uğur vom Goethe-Institut ab, die ein makelloses Deutsch spricht. Zwei Stunden Aufenthalt, während derer sie mir von Urfa erzählt. Es gibt dort eine sehr aktive Gruppe junger Frauen, die sich für die Rechte der Frauen gegen die Männer – Väter, Brüder, Onkel, Vettern – einsetzt, gegen den ›Ehrbegriff‹. Urfa ist Zentrum riesiger Stauanlagen, die viele Probleme mit sich gebracht haben. So wurden Kurdendörfer umgesiedelt, ihre Gebiete überschwemmt. Die neuen Bewässerungen führten zu Versalzung der Böden, also Unfruchtbarkeit.
Anderthalb Stunden Flug nach Urfa. Ankunft am Abend. Dort kam Şenay Karakoc, die Dolmetscherin, dazu, die mich die vier Wochen begleiten soll. Lange Fahrt mit dem Wagen durch Pistazien-Plantagen, die im Dunkeln nicht zu sehen sind. Das Hotel El Ruha – es ist der arabische Name Urfas, Stadt der Winde – ist ein neuer 5-Sterne-Kasten, im Stil der alten, abgerissenen Häuser der Stadt mit dem hier heimischen, weißgelben Stein gebaut, Urfa taş, Urfa-Stein. Es gibt im Hotel keinen Alkohol, weil gegenüber die Geburtsgrotte Abrahams liegt – des Propheten Ibrahim –, hier also eine heilige Stätte ist, offenbar von konzentrischen Bannmeilen umgeben. Der Blick von meinem Fenster geht hinüber zu einer riesigen, wie ein kauerndes Urtier langgestreckten Zitadelle auf einem hohen Felsen. Nach dem späten Abendessen (Köfte!) gehen wir gegen zehn in Richtung des Felsens durch einen Park an dem berühmten Teich entlang, der im Schein des fast vollen Mondes von Karpfen wimmelt, heiligen Karpfen. Stufen hinab und hinauf, altes Gemäuer, eine Koranschule für Mädchen. Alles blitzsauber, selbst um Mitternacht wird noch gefegt, werden die Steinplattenwege überschwemmt, so dass man leicht ausgleitet. Irgendwie picobello – anders als ich mir eine anatolische Provinzstadt vorstelle –, aber vielleicht alles Fake. Zwischen zwei Minarett-Türmen schwankt eine grüne Neonleuchtschrift, die an und aus blinkt: ›Stadt der Propheten‹. Ich möchte wissen, wer außer Ibrahim hier noch dazugezählt wird.
In einem einzigen Hotel soll es Wein geben. Der Kellner macht ein bedenkliches Gesicht, sagt ja, aber der Kühlschrank sei kaputt. Das sei egal, und sein Gesicht wird noch bedenklicher. Nach einer halben Stunde kommt er zurück und stellt eine Flasche vor uns hin. Ob er sie nicht öffnen könne? Er hat keinen Korkenzieher, wir auch nicht. Nach einer weiteren halben Stunde hat er einen aufgetrieben und lässt uns selbst die Flasche öffnen. Ist der Dunstkreis der Propheten so spürbar, dass selbst die Berührung von Wein – das mögliche Spritzen, der Duft – den Gläubigen kontaminiert? Wahrscheinlich sind das völlig abwegige Nachtgedanken eines Reisenden, der sich darauf eingestellt hat, jede Geste fremd, also bedeutsam zu finden. Wahrscheinlich ist der Kellner nur müde oder faul.
Mit Fügen und Şenay den Berg hinunter zum Park, der gestern Nacht so disneylandmäßig aussah. Gewiss, die Steine der Gemäuer strahlen gelbweiß und wie neu in der heißen Sonne, aber es ist fast alles alt, nur unerwartet gut gepflegt. Eine Pilgerstadt. Zwei Moscheen aus dem zwölften Jahrhundert, eine noch ältere aus dem achten, eine aus dem siebzehnten. Da stand einmal die Kathedrale mit den Gebeinen des ungläubigen Thomas, die im dritten Jahrhundert aus Südindien hierher, nach Edessa, wie Alexander die Stadt genannt hatte, geschafft worden waren.
Ich erinnere mich, dass Thomas der Zwilling Jesu genannt wurde und dass er, weil er als Einziger mit dem auferstandenen Jesus Körperkontakt hatte, Empfänger der geheimen Worte der Offenbarung wurde. Şenay erzählt, der kranke edessische König Abgar habe an Jesus einen Brief geschrieben, und der habe ihm antworten lassen, weil er an ihn glaube, ohne ihn gesehen zu haben, werde er ihn heilen. »Deine Stadt wird gesegnet sein, und der Fluch wird darüber hinfort nicht mehr herrschen.« Jesus schickte auch sein Bild mit, und es soll hier irgendwo noch sein, »die älteste Christus-Ikone«, sagt Şenay. Thomas schickte später einen Apostel hinterher, Thaddäus (oder war er selbst es, der sich aufmachte?), und der gründete die edessische Kirche. Auf welchem Boden stehen wir hier?
Zum Eintritt in Abrahams Geburtsgrotte muss ich Schuhe und Strümpfe ausziehen, dann tief gebückt durch eine schmale Maueröffnung mehr kriechen als schlüpfen. In dem dunstigen kleinen Raum, den eine Glaswand von der Grotte trennt, knien Männer in Gebetshaltung. Die Grotte ist voll Wasser, das, wie es scheint, durch ein Betonbecken in den Raum hochsprudelt. Die Männer trinken das heilige Wasser aus Metallbechern und nicken dabei rhythmisch mit dem Kopf. Im Hinausgehen sehe ich einen Diener mit einer großen Thermoskanne, der Wasser ins Becken nachfüllt. Es fällt dem Fremden auf, dass das Heilige, Wunderwirkende, und das ganz und gar Profane sich nicht nur nicht stören, vielmehr ganz normal sind.
Wieder draußen, singt der Müezzin gerade das Mittagsgebet zum Sonnenhöchststand. Viele Männer, aber auch Frauen, eilen, die Zigaretten rasch wegwerfend, in die Moscheen. Zugleich sind die mit Urfa-Stein gepflasterten Wege voller Menschen, die einfach spazieren, den Müezzin ignorieren und die fetten Karpfen füttern, Tausende, die, da sie heilig sind, nicht gegessen werden dürfen. Für ihre Heiligkeit balgen sie sich etwas zu irdisch um das Futter, das, portionsweise in Blechdeckeln verkauft, gierig geschnappt wird, vor allem von den fettesten. Ich möchte wissen, ob sie sich selbst entsorgen, die Karpfen, wenn ihre Stunde geschlagen hat. Aber was sollen sie sonst machen? Wo sollen sie hin?
Weiter zum Markt, der als der schönste der Türkei gilt. Alles wohl geordnet: Fleisch bei Fleisch, Gemüse bei Gemüse, Stoff bei Stoff, die Kupferschmiede bei den Kupferschmieden. Kein einziger Andenken- oder Geschenkeladen. Kein Händler versucht einen in seinen Laden zu ziehen, der Fremde wird nicht einmal angesprochen. Dabei sind die Händler stolz auf ihre Ware, erklären den Unterschied zwischen frisch gerösteten Pistazien und solchen vom vergangenen Herbst, und wir schmecken den Unterschied. Das beste Paprika (biber) wird gemacht, wenn die Schoten lange in der Sonne getrocknet und dann mit Öl versetzt werden. Die Preise sind in Lira, nicht in Dollar oder Euro. Alles ist geschäftig und ruhig-bedächtig zugleich wie vor Zeiten, bestimmt von den tagtäglichen Bedürfnissen der hier in der Stadt oder in den Dörfern im Umland lebenden Menschen.
Auf einmal läuft die Gasse des überdachten Markts in einen weitläufigen quadratischen, zweigeschossigen Hof aus. Regelmäßige Renaissance-Architektur, gar nicht ›orientalisch‹ – nichts Zinniges, nichts Spitztürmiges, nichts Kuppeliges –, von Süleiman dem Prächtigen im sechzehnten Jahrhundert gebaut. Alte, sehr hohe schrundige Platanen, viele Tische, an denen Männer über Männer sitzen und Schach spielen. Oder Tavla, Backgammon. Şenay erklärt: 30 Steine für die Anzahl der Tage im Monat, 4 mal 6 Keile für die 24 Stunden, 12 weiße und 12 schwarze Keile für Tag und Nacht, 4 Felder für die Jahreszeiten. Das ist das Grundmaß der Zeiten, das uns gegeben ist. Aber wir, Abendländler, müssen ja blind würfeln, um unser Lebensspiel zu spielen, und da gerät die Ordnung durcheinander nach Gesetzen, die nur die Glücksgöttin kennt.
Ein Mann geht mit einem Teebrett durch die Reihen und ruft »Çai«. Viele Kinder mit Schuhputzzeug. Ein anderer Mann läuft mit einer Waage herum und bietet schreiend seine Dienste an. Ein großer schwerer Mann lässt sich wiegen, und der Wieger greift dem Gewogenen an alle Stellen seines Leibes, an denen zu viele Pfunde sitzen. Zufrieden steigt der Dicke ab: tröstlich-wohlgefällig ist die Leibesfülle. Keiner kann ihm sagen: »Gewogen und zu leicht befunden.«
Wir eilen zurück ins Hotel, weil wir mit einer jungen Frau verabredet sind, die sich um die Rechte der Frauen kümmert. Hanan ist 29 und hat ihre elfjährige Tochter mitgebracht, ein liebliches Kind, das aufmerksam zuhört. ›Gewalt gegen Frauen‹ ist das Thema des Verbandes, den Hanan leitet. Sie hat die achtjährige Hauptschule besucht, ist ausgebildete Filzmacherin (eigentlich ein Männerberuf, der viel Kraft fordert), macht gerade nebenher Abitur und will dann Kunst studieren. Sie erzählt, seit etwa fünf Jahren habe sich in der Provinz viel geändert – Mädchen dürften jetzt ohne Einspruch der Väter, Onkel, Brüder oder Vettern Schulen besuchen und studieren, Ehemänner erlaubten ihren Frauen zu arbeiten. Ob das mit der Arbeit der Frauenverbände zu tun hätte? Sicher. Aber es bleibe noch so viel zu tun. Immer noch gebe es die auch uns bekannten Zwangsverheiratungen, aber viel weniger, und auch die Ehrenhändel. (Von Ehrenmorden spricht sie nicht, ich muss sie das nächste Mal danach fragen.) Ob es Kurdenprobleme gebe wegen der Umsiedlungen oder wo doch wenige Kilometer weiter östlich, im Nordirak, gerade die PKK wieder von der türkischen Luftwaffe bekämpft werde? Nein, überhaupt nicht. Urfa habe einen Bevölkerungsanteil von über 40 Prozent Kurden. Sie lebten mit den Türken und Arabern zusammen, oft in den gleichen Häusern, in ganz normaler Nachbarschaft. Man respektiere gegenseitig das Anderssein bei so vielen Gemeinsamkeiten.
Um halb vier brechen wir auf zum Gouverneur der Provinz Urfa, der angeboten hat, uns zu empfangen; schließlich bezahlt das türkische Kulturministerium die Reisen und Aufenthalte der deutschen Autoren. Herr Yavaşcan ist ein eleganter, liebenswürdiger Herr ›in den besten Jahren‹ und ist begeistert von den Schätzen seiner Stadt und seiner Provinz – hier in der Nähe liege der Garten Eden mit den immer noch dort stehenden Granatapfelbäumen, nicht weit davon sei Noahs Berg Ararat, die Gazellen, die Ibrahim gesäugt hätten – wir hätten doch wohl seine Geburtsgrotte besucht? –, weideten immer noch in der Gegend, Isaak und Rebekka hätten hier geheiratet, das allerälteste Bildwerk der Menschheit sei hier ausgegraben worden, der ›Urfa Man‹, wir müssten es uns unbedingt morgen im archäologischen Museum ansehen, es sei jetzt wieder hier, nachdem es letztes Jahr nach Karlsruhe ausgeliehen gewesen sei – er zeigt stolz das Plakat. Er lässt sich Zeit für uns, will das eine oder andere wissen, trinkt mit uns Tee, gibt uns Geschenke (Websachen, Kataloge, eine CD über Urfa) und hat nur eine einzige Klage: Es gebe keinen Tourismus. Ich sage nicht: »Allah’a şükür! Seien Sie froh, denn dann wäre es aus mit Ihrem stolzen Urfa. Lassen Sie es nicht einmal zu einem Geheimtip werden, denn wir kennen ja die Karrieren von Geheimtips.« Ich sage nichts. Er ist ja Politiker, und ich kenne die Wirtschaftslage der Stadt und der Provinz nicht, außer dass der Staudamm sie vor unlösbare Probleme stellt. Mit einem »Insh’Allah« trennen wir uns diplomatisch.
Nach dem Frühstück wollen wir zur Festung hinauf und wählen den unterirdischen Gang, eine in den Fels gehauene gewundene Treppe mit überhohen steilen Stufen, wo ich bei der Hundertsten erst einmal mein zerspringendes Herz beruhigen muss. Oben ein weiter Blick nach drei Seiten über die am Horizont nicht aufhörende Stadt. Das riesige Festungsplateau hat kaum Reste von Ruinen, nur zwei siebzehn Meter hohe Säulen mit korinthischen Kapitellen an der Brustwehr zur Stadt hin. Die Säulen sollen der Katapult gewesen sein, von dem aus der fromme Gottesmann Abraham nach unten ins Feuer geschleudert wurde, das sich dann in das Wasser mit den Karpfen verwandelte. Das geschah zur Zeit König Nemruds – »er war ein gewaltiger Jäger vor dem Herrn« (oder muss es heißen »gegen den Herrn«?) – im dritten Jahrtausend. Dabei stammen die Säulen aus dem 4. Jahrhundert v.u.Z. und tragen die Inschrift eines aramäischen Königs, der sich als Sohn der Sonne bezeichnete. Ich kann mir nicht merken, wer hier oben alles gebaut, zerstört, erweitert, umgebaut und wieder zerstört hat – Steinzeitmenschen, Sabäer, Hethiter, Assyrer, Alexander, Sassaniden, Aramäer, Griechen, Römer. Bei den Römern war das Gebiet nördlichster Teil der Provinz Mesopotamia. Einer der grausamsten Kaiser, Caracalla, wurde hier ermordet. Während oder nach dem zweiten Kreuzzug befestigte Balduin von Bouillon, der Bruder Gottfrieds, die Burg und errichtete hier eine Grafschaft, die über hundert Jahre lang existierte. Dann kamen die Mongolen, Timur Lenk, und zerstörten alles bis auf den heutigen Tag.
In der stadtabgewandten Seite sicherte ein viele Meter tiefer befestigter Graben die Feste vor den Angriffen aus dem Osten. (Die Mongolen können sie also nur durch Verrat eingenommen haben, wie seinerzeit die Römer die durch Zyklopenmauern befestigten Volsker- und Herniker-Burgen.) Auf der anderen Seite des Grabens entstand aus den Steinen der Festung eine Siedlung. Über die Mauer zur Siedlung wird der Unrat entsorgt, Herde, Kühlschränke, Fernseher, Autoreifen, der übliche Plastikmüll – zum ersten Mal sehe ich das in der sonst so reinlichen Stadt –, aus dem Feigenbäume wachsen.
Der Abstieg ins Tal über breite Steintreppen. Zypressen, Pinien, Palmen, Platanen, Eukalyptus, Tannen, sogar Korbweiden. Eine kleine bräunliche Taubenart schwirrt in Scharen kreisend herum – die Tauben sind dem Propheten heilig, weil sie ihm, als er auf der Flucht war, ein Nest in einer Höhle gebaut haben.
Am späten Nachmittag mit Şenay zum Markt. In der Teppich- und Kelimstraße sind alle Läden bis auf einen schon geschlossen, denn heute ist Feiertag, abends, an dem jeder Gläubige für sich, zu Hause, um Vergebung seiner Sünden bittet. Kinder tragen Gebackenes zu den Nachbarn. Die Läden sehen alle gleich aus: ein einziger kleiner höhlenartiger Raum. Der Händler hockt in seiner Aladdin-Höhle zwischen und vor Säulen von gefalteten, gleichmäßig aufgestapelten Kelims, die in allen Farben des Morgenlands leuchten. Kelim um Kelim schlägt er wie illuminierte Manuskripte vor uns auf, hat immer noch einen noch prächtigeren vorzuzeigen, nennt die Herkunftsorte (nach Farben, Mustern), das Alter, begeistert sich und uns an den Farben, den unregelmäßigen Mustern. Fremde kommen zu ihm nicht; es gibt sie nicht. Er hat das Geschäft, in dem er seit seinem achten Jahr arbeitet, von seinem Vater übernommen, ein Sohn hat ein großes Teppichgeschäft draußen an der Straße, der andere studiert Philosophie und Soziologie in Istanbul. Şenay sagt: »Wir sind sein Kismet – alle anderen Geschäfte sind wegen des Feiertags geschlossen.«
Um zehn oben auf der Hotelterrasse. Der Fast-Vollmond steht hoch im Osten, geschätzter Neigungswinkel zur Erde 60 Grad. Er ist weiß und grell hell, mit sehr weitem Hof in kräftigen Spektralfarben, ein Turner-Bild. Ein einzelner Stern noch darüber – welcher? Vereinzelte Sterne ringsum, aber keine Konstellationen erkennbar wegen zu großer Helligkeit unten und oben. Den Tag über wehte ein eiskalter Südost.
Tagebuchschreiben. Jetzt, um eins, ist der Mond gegen Süden gewandert. Sein Hof ist aufgelöst, es umgibt ihn zerklüftetes Gewölk. Die tagsüber bis in den Abend laute Stadt ist still, in der Ferne ein kläffender Hund, ein Rabe, der Klagelaut eines anderen Vogels, ich glaube sogar, das Springen der Karpfen im Abraham-Wasser zu hören. Dann ein Straßenkehrer mit seinem scheppernden Blechwagen.
Fahrt mit dem Auto nach Südosten Richtung Syrien zur alten Stadt Harran. Im Westen langgezogene Bergketten, im Osten offenes Land mit schon grünen Getreidefeldern – das einmal unfruchtbare Land ist von betonierten Gräben durchzogen, die vom Staudamm ihr Wasser bekommen. Um Harran wird die Gegend karg, steinig, Karst, Waste Land, Wüste. Von der Stadt, die es schon lange vor den Assyrern gab und von diesen erobert wurde, sind Reste der Stadtmauer erhalten, eines der vier Tore, Reste der Moschee, die davor eine Kirche war und davor der Tempel des Mondgottes Sin, des Zweigeschlechtlichen, der bei Vollmond als weibliche, bei Neumond als männliche Gottheit angebetet wurde. (Harran war das Zentrum des Mondkults, Sin der höchste der assyrischen Götter. Die Regierungszeiten der Dynastien standen jeweils unter dem Patronat eines der Planeten – als Venus ›regierte‹, war Niniveh die Hauptstadt –, am Ende der Zeiten aber würde der Mond den Zyklus vollenden und in alle Ewigkeit herrschen. Doch Sin war vor den Assyrern schon der Gott der Sabäer und ursprünglich der Gott der Nomaden, denn ihre Karawanen zogen nachts. Kulte nach- und übereinander.)
Abraham und Laban waren hier, bis die Brüder sich trennten, weil nicht genug Raum für die Herden war und Abraham weiterzog, Alexander ein-, zweitausend Jahre später, die Seleukiden, die Aramäer, die Römer, Kalifen. Wo ist aller Glanz geblieben? Vielleicht liegt er außer in unserem Gedächtnis noch unter dem Schutt, den die Mongolen hinterlassen haben, den seit achthundert Jahren niemand weggeräumt hat und über den wir jetzt auf Ziegenpfaden gehen? Da ist noch ein Turm, der zur Universität gehört haben soll, der ältesten des Islam, die die Sassaniden gründeten, ein Observatorium. Battani hat hier die Entfernung des Mondes von der Erde berechnet; Cabir ibn Hayyan hat hier die Atomspaltung behauptet: ein einziger Teil eines Atoms könnte eine Stadt wie Bagdad zerstören; der Arzt Zekeriya Razi hat hier gesagt, er glaube an Gott, aber nicht an die Propheten, und man hat ihn das sagen lassen. Alles neuntes Jahrhundert, als wir im Westen uns gerade anschickten, Lesen und Schreiben zu lernen. Schutt, kümmerlicher Grasbewuchs, ein paar verlorene Schafe und Ziegen.
Zwei Frauen in bunten weiten Gewändern sitzen auf der Erde, eine dicke alte mit mondrundem Gesicht, eine schmächtige, nicht mehr junge. Wir grüßen sie und sie laden uns ein, uns zu ihnen zu setzen, wir bekämen Tee, und sie schickt den Jungen, der uns die ganze Zeit neugierig begleitet hat, zu den Lehmhütten, die nicht weit von hier stehen. Wir fragen nach den Reisighaufen, die hier überall aufgeschichtet sind – zylindrische, nach oben sich verjüngende Strukturen, ähnlich den Trulli-Häusern nebenan. (Warum haben Menschen hier Formen erfunden, die in Durchmesser und Höhe einander gleichen und die doch – wodurch? – unterscheidbar sind, erkennbar als eigener Besitz, kostbarer Stoff, der den Winter über reichen muss? Unterscheidbar durch die Lage? Im Verhältnis zu den Hütten? Zu den Himmelsrichtungen? Aber woher der ›Wille zur Form‹, dieser Form? Haufen als serielle Form? Dem beliebig Herumliegenden eine Ordnung geben, wie bei Richard Long.) Das seien Baumwollreiser, nach Familien getrennte Haufen, das einzige Brennmaterial, da sie keine Kuh- oder Kamelfladen zum Verfeuern hätten.