Mit Illustrationen von Burkhard Neie
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, März 2020
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ISBN 978-3-644-00675-1
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ISBN 978-3-644-00675-1
Für Guy Morgan Reeve IV,
my American twin
Auf den Palisaden – dieser Titel stand fest, bevor ich auch nur eine Minute im Thomas Mann House verbracht, geschweige denn eine Zeile geschrieben hatte. Pacific Palisades ist in Deutschland ein Mythos des deutschen Exils, darüber hinaus weiß man nichts über die kleine Stadt mit ihren 27000 Einwohnern im Norden des Großraums von Los Angeles. Aber im San Remo Drive lebte eben von 1941 bis 1952 Thomas Mann, und er hielt von dort aus Wache über das, was er als deutsche Kultur ansah; das war entschieden dem entgegengesetzt, was die Nationalsozialisten darunter verstanden, die ihn 1933 außer Landes getrieben hatten. Auf den Palisaden von Pacific Palisades stand Thomas Mann und verteidigte in Wort und Schrift die Demokratie gegen ihre Feinde und Verächter.
Beim Erwerb seines kalifornischen Wohnsitzes im Jahr 2016 durch die Bundesrepublik Deutschland und dem Umbau zu einem Residenzhaus, dessen Fellows den kulturellen Austausch zwischen Amerikanern und Deutschen fördern sollen, war ursprünglich nur geplant, an das kämpferische Wirken der Familie Mann in einer für Deutschland schmachvollen Zeit zu erinnern. Doch mit der Wahl des amerikanischen Präsidenten Donald Trump kurz nach dem Kauf des Anwesens änderte sich alles. Plötzlich wurde auch das Erbe der Manns aus der Nachkriegszeit zum Bezugspunkt: jene Jahre in Pacific Palisades, als sich in den Vereinigten Staaten angesichts des beginnenden Kalten Kriegs eine antikommunistische Hysterie entwickelte, die den Geist der bislang als vorbildlich geltenden amerikanischen Demokratie verriet. Unter dem Eindruck einer gegenüber Liberalen immer feindlicher gesinnten Stimmung verließen Thomas Mann und die Seinen ihr neues Heimatland wieder – der Schriftsteller war 1944 amerikanischer Staatsbürger geworden – und kehrten nach Europa zurück, in die Schweiz. Zuvor aber hatten sie auch den repressiven Tendenzen in Amerika einen heftigen Kampf geliefert. In dieser Tradition sieht sich das Thomas Mann House: als befristeter Wohnort von intellektuellen Mittlern zwischen den Vereinigten Staaten und Deutschland, die keine Kompromisse bezüglich der demokratischen Werte einzugehen bereit sind. Die Fellows sollen nicht im Schatten der Palmen von Pacific Palisades liegen, sondern auf den Palisaden stehen.
Die kolportierte Milde des kalifornischen Lichts ließ indes nicht vermuten, dass man hier leicht kampfeslustig gestimmt werden könnte. Deshalb war ich entschlossen, in meiner Zeit im Thomas Mann House neben Recherchen für ein kommendes Buch über den deutschamerikanischen Künstler Lyonel Feininger ein Tagebuch zu führen, in dem ich Beobachtungen eines Europäers über Amerika festhalten wollte. Eine Meinung zur aktuellen Lage in den Vereinigten Staaten brachte ich mit, aber wer war ich denn, dass ich dieses Land hätte vorverurteilen können? Über vier Monate hinweg habe ich viel gesehen und noch viel mehr gelernt. Was mir während meiner kalifornischen Zeit erklärt und verklärt, teuer und verhasst wurde, das steht in diesem Buch.
Ich komme nach Kalifornien aus einem Land, das Ende März noch keine Schönwettergarantie kennt. Trotzdem erfolgt die Abreise bei strahlender Sonne – genau wie die Ankunft am Nachmittag in Los Angeles gegen 15 Uhr. Für das Abendlicht des ersten Tages habe ich mir im Flugzeug einen Plan zurechtgelegt: Fahrt herunter vom San Remo Drive an den Pazifik, einen Ozean, den ich bislang nur von der anderen Seite, von Japan und Neuseeland her kenne. Bestärkt hat mich in diesem Vorhaben eine Szene aus Jacques Audiards neuem Spielfilm «The Sister Brothers», der im Bordprogramm zu sehen war: John C. Reilly und Joaquin Phoenix reiten in dem Western über einen kalifornischen Hügel, und plötzlich tut sich vor ihnen der Pazifik auf. Ich stelle mir das ganz ähnlich vor: mit dem Wagen den Sunset Boulevard entlang und bei Sonnenuntergang aufs Meer schauen. Aber vor die schönsten Pläne haben die Götter die Passkontrolle gesetzt.
Im Flugzeug hatte ich mich nach den Einreiseformularen erkundigt; die brauche man nicht mehr, beruhigte der Steward, das erfolge alles online. Fast möchte man es bedauern, denn das Ausfüllen des Fragebogens kurz vor der Landung hatte bislang immer eine diffuse Spannung erzeugt, als wäre man eine kafkasche Figur unter unberechtigter Anklage. War ich für die amerikanischen Grenzbeamten nicht vielleicht doch ein Terrorist, Alt-Nazi oder Waffenschmuggler, auch wenn ich in allen Spalten Nein ankreuzte? Aber wurden diese Zettel überhaupt gelesen? Als meine Frau sich vor Jahren als Juristin beim Ausfüllen des Einreiseformulars darüber empörte, dass man dort einwilligen musste, auf sämtliche Rechtsmittel gegen einen ablehnenden Bescheid durch die Einwanderungsbehörde zu verzichten, strich sie kurzerhand handschriftlich den ganzen Passus. Es hat damals niemanden interessiert. Heute muss man diesen Verzicht im Netz mit einem Klick bestätigen, sonst kommt man einfach nicht weiter bei der Eingabe. Schlechte Zeiten für mutige Juristinnen.
Meine Frau ist jedoch diesmal nicht mit an Bord, im «Thomas Mann House» sind Partnerbesuche nur zeitlich eingeschränkt erlaubt. Glück gehabt, Madame! Denn noch keine meiner Einreisen in die Vereinigten Staaten glich dieser. Am Sonntagnachmittag gegen 15 Uhr sind gleich mehrere Großraumflugzeuge aus Europa gelandet, davon offenbar das Gros aus Frankreich, und entsprechend viele Menschen drängen in die Immigration Hall. Die Beamten sprechen zu meiner Überraschung ausgezeichnetes Französisch, was den Bearbeitungsprozess aber nicht beschleunigt. Die Halle ist mittels Absperrbändern zu einem virtuosen Schlangenlinienparcours mit mehreren Labyrinthen gestaltet worden, der zudem permanent verändert wird, um die Massen noch um ein paar Ecken mehr herumlenken und damit eine größere Menge an Leuten unterbringen zu können. Mitten in der Schlange, beim Übergang aus einem Labyrinth ins nächste, erfahre ich von einer Beamtin, dass für mein J1-Visum eine Zollerklärung nötig ist, was weder jemand im Flugzeug noch vorab im Thomas Mann House wusste, und so werde ich nach den ersten erfolgreich absolvierten Kurven wieder zum Anfang der inzwischen endlos langen Schlange zurückgeschickt, wo es die Zollerklärung gibt. Auf der ist unter anderem auch zu vermerken, ob man Schnecken auf der Reise mitführt. Die wären allemal schneller als die Menschen hier, aber nach knapp zwei Stunden ist die Sache ausgestanden (was für ein passendes deutsches Wort!), und mein Gepäck wartet in einer langen Reihe von Koffern anderer Unglücklicher neben dem längst ausgeschalteten Rollband.
Dann nur noch eine Busfahrt vom Terminal zum Mietwagenverleih (Los Angeles macht seinem Ruf als Autofahrerstadt gleich zu Beginn alle Ehre), und schon geht es weiter über den San Diego Freeway und einen Abschnitt des Sunset Boulevard zum Thomas Mann House im San Remo Drive. Hier sieht es weniger schlimm aus als nach den Ankündigungen der Mitarbeiter erwartet, die vor Umbauarbeiten im Außenbereich gewarnt hatten, weshalb ich an der Einfahrt auch erst einmal vorbeifahre: Ich habe mit einer Wüstenei gerechnet, stattdessen ist der Zutritt beinah lauschig. Als erster Fellow, der nach Fertigstellung der eigentlichen Villa einziehen darf, bekomme ich Thomas Manns ehemaliges Schlafzimmer zugewiesen, abgewandt vom Bauplatz rund ums entstehende Gartenhaus, in dem das Büro der Mitarbeiter Platz finden wird. Der verantwortliche Programmdirektor führt durch das erfreulich karg möblierte Gebäude. Dann ist für ihn nach dem langen Warten auf meine Ankunft endlich Feierabend. Für die Fahrt an den Pazifik ist es jetzt bereits zu dunkel.
Oder doch nicht? Wer die Zeitumstellung bewältigen will, sollte lange aufbleiben. Also noch in den Wagen und den Sunset Boulevard hinab zum Will Rogers Beach. Um kurz nach 21 Uhr Ortszeit bin ich an der Küste. Zu sehen ist hier wenig, aber zu spüren umso mehr, nach einigermaßen halsbrecherischer Kletterei über die Felsen: Der Pazifik ist warm. Ein erster Gruß der erhofften sonnigen Saison, wenn auch im vollkommenen Dunkel.
Die Nacht war kurz, sie reichte von Mitternacht bis 2.28 Uhr. Thomas Mann hat in seinen Tagebüchern häufig über schlechten Schlaf geklagt, aber schon gestern Abend habe ich feststellen müssen, dass just die Bände aus seiner Zeit in Pacific Palisades in der Bibliothek im ehemaligen Arbeitszimmer noch fehlen; dort hört das Leben des früheren Hauseigentümers schon in Princeton auf.
Um halb sieben röten sich die Ränder der Hollywood Hills am östlichen Horizont. Etwas weiter links soll das Getty Center liegen, aber eine Konifere versperrt den Blick. Rund um das Haus zieht sich ein dichtes grünes Band aus Bäumen, und auf dem östlichen Rasenstück unter meinem Schreibtischfenster stehen die drei mittlerweile riesigen Palmen, die die Familie Mann hier noch pflanzen ließ; ursprünglich waren es sieben. Wie ich bei der Erkundung des Gartens feststelle, hat man für vier neue gesorgt, die aber neben ihren drei älteren Schwestern noch kaum auffallen. Überhaupt wirkt der Garten zurückhaltend; auf der Fahrt zum Meer habe ich mich gestern an der Liebe der Anwohner erfreuen können, ihre Palmen zu illuminieren – als wäre hier das ganze Jahr Weihnachten. An den Hauseinfahrten sind kleine Löwenfiguren, Amphoren, schmiedeeiserne Laternen zu sehen, die ganze ästhetische Erbschaft des versunkenen alten Kontinents entlang der nach mediterranen Sehnsuchtsorten benannten Straßen: Amalfi, Sorrento, Napoli, Monaco, Lucca, Pavia, Capri und eben San Remo; drei Zitronenbäume prunken in einem Vorgarten mit dichtem Fruchtbehang – Goethe hätte auf einer etwaigen kalifornischen Reise daran seine Freude gehabt. Das Amerikanischste in diesem Wohngebiet sind Hydranten und die allgegenwärtigen Stars and Stripes.
Die Bebauung entlang des San Remo Drive ist locker, die Straßen schlagen hangaufwärts elegante Bögen, schließen Kreise, kreuzen sich. Nicht nur dieses Planstadtprinzip, auch die Architektur der meist bungalowartigen Häuser erinnert an bessergestellte Feriensiedlungen auf Mallorca, auch in der Liebe zu Nippes und Kitsch, aber hier wohnen, wie ich höre, Goldie Hawn, Kurt Russell und Adam Sandler in der Nachbarschaft. Auf den Straßen sind kurz nach sieben Uhr morgens nur mexikanische Bau- und Gärtnerkolonnen unterwegs, außer Spanisch hört man kein Wort, aus einem parkenden Auto tönt Mariachimusik, in vielen Fahrzeugen dösen Arbeiter vor sich hin, denn vor acht Uhr wird keine wirklich lärmende Arbeit begonnen. Im frühen Sonnenlicht steht der Geruch von blühendem Jasmin. Die zur Spitze des Hügels mäandernden Sträßchen enden alle in Privatauffahrten; ganz oben stehen die größten Häuser, darunter das von Steven Spielberg, breite Glasfronten nach Westen und Süden, in Richtung Pazifik und Stadt. Aus einem vergitterten Tor am Ende einer Sackgasse rollt ein Radfahrer bergab, der erste Anwohner auf meiner Lauferkundung an diesem Morgen. Zurück im Thomas Mann House sind auch hier die Bauarbeiter eingetroffen.
Im Morgenlicht ist das Gebäude noch eindrucksvoller, über einen gewinkelten Gang mit Fensterbändern hin zum Garten werden die Schlafzimmer im oberen Geschoss erschlossen. Mitten durch das Grundstück ist ein Eisenzaun gezogen, wie man ihn von den amerikanischen Konsulaten in Europa zu kennen meint, hier aber ist er Teil der gesetzlich vorgeschriebenen Absicherung des Swimmingpools, mit der verhindert werden soll, dass Kinder darin ertrinken. Er wurde von den Hauseigentümern gebaut, die der Familie Mann folgten, und damals gab es noch nicht die Vorschrift, das Becken komplett einzuzäunen. Bald wird das Gitter vermutlich den ganzen Pool umgeben. Immerhin hat man die martialische Wirkung der Absperrung durch zwei in kleine Gitterfenster eingehängte Fischplastiken gemildert, die bei Wind leise hin und her schwingen. Und dann ist da noch Raffael, der Leiter der Baumaßnahmen, ein mächtiger Amerikaner, dessen Stolz auf seine Umbauarbeiten beim ersten Treffen unüberhörbar ist: Noch nie zuvor habe er ein so schönes Haus in dieser Gegend renovieren dürfen; die Verbindung des strengen Vierziger-Jahre-Stils mit den Erfordernissen moderner Haus- und Sanitärtechnik bringt den Mann mit dem zur hiesigen Straßenbenennung so passenden Namen ins Schwärmen. Wo ich denn untergebracht sei? Ah, in der Presidential Suite! So sei Thomas Manns ehemaliges Schlafzimmer nämlich auf den aktuellen Umbauplänen ausgewiesen. Das hätte wohl auch dem Schriftsteller gefallen.
Der Präsidentschaftswahlkampf ist seit dem 28. Januar 2019 eröffnet, zumindest für Marianne Williamson, die an jenem Tag erklärt hat, sich um die Kandidatur für die Demokratische Partei zu bemühen. Gut, dass sie bis zur Entscheidung darüber noch etwas Zeit hat: Im Programmblatt zu ihrem Auftritt an diesem Abend in der First Unitarian Church von Los Angeles schwankt die Schreibweise des Namens der Bewerberin noch zwischen Williamson und Willaimson. Dabei handelt es sich um eine prominente Bestsellerautorin, die von ihrem Erstling «A Return to Love» (1992) bis zum für dieses Jahr angekündigten Handbuch «A Politics of Love» zahlreiche Lebenskunstbücher publiziert hat, darunter zuletzt «21 Spiritual Lectures of Surrendering Your Weight Forever». Ein politisches Leichtgewicht will die talkshowerprobte Autorin aber nicht sein: «Wer weiß, wie man ein Herz gewinnt, der weiß, wie man die Welt ändert», beschwört sie die Kraft der Liebe, und zum stehenden Schlussapplaus der Besucher in der Kirche formt sie mit beiden Händen ein Herz. Ein Drittel der 65000 Unterstützungsunterschriften und ein paar tausend Dollar fehlen Williamson noch, um an den demokratischen Vorwahlen teilnehmen zu können, das gibt sie zu. Aber hier in Los Angeles hat sie ein Heimspiel, hier wohnt sie, hier hat sie ihren Hut für den Wahlkampf in den Ring geworfen, und hier hat sie mit der First Unitarian Church auch den richtigen Rahmen für ihre Botschaft der Liebe.
Die 1877 in Los Angeles gegründete Glaubensgemeinschaft versteht sich als Sachwalterin des Humanismus, und ihr Gebäude in der West 8th Street ist eng mit Thomas Mann verknüpft. Der deutsche Protestant bewunderte die religiöse Liberalität der Unitarier, die sich für ihre aufklärerischen und menschenfreundlichen Lehren von den unterschiedlichsten Glaubensrichtungen inspirieren lassen. Mit dem von 1948 bis 1969 amtierenden Pastor Stephen Hole Fritchman lernte der deutsche Schriftsteller zudem einen Mann kennen, der sich mindestens so vehement für die Verteidigung der Demokratie in Amerika gegen Joseph McCarthys Verdächtigungswahn einsetzte wie Thomas Mann selbst. Und die unitarische Gemeinde hatte dafür gesorgt, dass Lion Feuchtwanger und seine Frau 1941 aus Europa in die Vereinigten Staaten ausreisen konnten. Thomas Mann honorierte dieses humanitäre Engagement: Nicht nur, dass er am 4. März 1951 seine einzige Kanzelrede hier in der Kirche hielt (zum Jahresgedächtnis an den Tod seines Bruders Heinrich, dessen Beerdigungsgottesdienst Reverend Fritchman zelebriert hatte); Thomas Mann hatte auch schon vorher dafür gesorgt, dass alle seine Enkel, beginnend mit dem 1940 im kalifornischen Monterey geborenen Frido, unitarisch getauft wurden. Der Literaturwissenschaftler Heinrich Detering hat diese überraschende Faszination für die Freikirche in seinem Buch «Thomas Manns amerikanische Religion» umfassend dargestellt. Und Keola Whittaker, der Vorsitzende der Gemeinde, beruft sich in seiner Eröffnungsansprache zur Veranstaltung mit Marianne Williamson auch auf Thomas Mann.
War aber in der Nachkriegszeit die First Unitarian Church eine Hoffnungsträgerin für den deutschen Schriftsteller, ist es heute die amerikanische Schriftstellerin für die Kirche. Die Zeit ist nicht gut umgegangen mit dem Gotteshaus: Das hohe Tonnengewölbe mit Rohputzwänden über einer vier Meter hohen Holzvertäfelung ist renovierungsbedürftig, die hölzernen Klappsitze knarren verdächtig, und die Mitgliederzahl der Gemeinde ist stark geschrumpft; zu Thomas Manns Zeiten gab es hier sonntags vier Gottesdienste, heute nur noch einen. Da bringt die populäre Lebenshilfeautorin dringend benötigtes junges Publikum in den Saal. In ihrer einstündigen Rede vor fast vollem Haus begründet sie ihre Bewerbung um die demokratische Präsidentschaftskandidatur mit der Notwendigkeit, sich die Demokratie zurückzuerobern: «Nach 1776 muss auch heute wieder eine Aristokratie ausgetrieben werden.» Gemeint ist damit die Gruppe von Superreichen, der die amerikanische Regierung nicht erst seit Trump, aber nunmehr besonders skrupellos, Aufträge zuschachere, die nicht im Sinne der Bevölkerungsmehrheit seien: «Holen wir uns unsere Demokratie zurück!» Dazu bedürfe es eines Rezepts, das Williamson ihren Ratgeberbüchern entlehnt hat: des ernsten Selbstgesprächs. Ihre drei Kernprogrammpunkte, die sie auf einer «Love America Tour» quer durchs ganze Land tragen möchte, lauten: Förderung von Kindern, Wiedergutmachungszahlungen für die Nachkommen der jahrhundertelang in den Vereinigten Staaten ausgebeuteten Sklaven und eine konsequente Friedenspolitik. Wenn sie dafür zur Präsidentin gewählt werde, dann sei das nicht nur eine Ehre und persönliche Bestätigung: «I’ll work like hell!» Protestantisches Arbeitsethos in der Unitarian Church: «Denn all das, was wir tun, kehrt wieder zu uns zurück.» Sprach’s und bekam vom Verstärker eine scheußliche Rückkopplung.
Dass sich Marianne Williamson in der Diskussion mit ihren Wählern beim Thema Klimaschutz auf einen italienischen Industriellen beruft, der gesagt haben soll: «Damit alles beim Alten bleiben kann, muss sich alles ändern», und dafür kräftigen Jubel in der Kirche einheimst, lässt indes bei der Erfolgsautorin – anders als bei dem von ihr zitierten Italiener – auf wenig literarische Bildung schließen, sonst hätte sie den berühmtesten Satz aus Lampedusas Roman «Der Leopard» erkannt. Aber für sie sind ja nach eigenem Bekunden auch fünfunddreißig Jahre Buchproduktion über die Kraft der Liebe dasselbe wie der nun anstehende Wahlkampf. Sie wird Kraft brauchen.
Kaum mehr als fünfhundert Schritte von Thomas Manns Haus im San Remo Drive entfernt lag der Bungalow von Max Horkheimer, im nahen Deste Drive. Mann und Horkheimer luden sich gegenseitig gern zum Essen ein; bei solchen Gelegenheiten versuchte Horkheimer bisweilen, den einflussreichen Literaturnobelpreisträger als Rezensenten für Publikationen seines Instituts für Sozialforschung zu gewinnen – was Katia Mann dem Nachbarn übelnahm, denn ihr doch etwas gealterter Gatte brauchte seine ganze Schaffenskraft fürs eigene Werk. Horkheimers engstem Mitarbeiter und -denker, dem ebenfalls nicht weit entfernt in der South Kenter Avenue wohnenden Theodor W. Adorno, galt das Ehepaar Mann als «Großkopfete», wie er am 29. März 1943 an seine nach Kuba geflüchteten Eltern schrieb: Er wolle am Abend einer Essenseinladung Horkheimers folgen, obwohl dort auch Thomas und Katia Mann zu Gast sein würden. Die waren dem Hausherrn und Adorno eine ganze Generation voraus und ließen das die jüngeren Anwesenden offenbar spüren. Trotzdem war das Verhältnis der Manns zu Horkheimer eng – in Adornos Augen sogar derart, dass er sich später bei Thomas Mann beschwert haben soll, dass sein Freund und Kollege Horkheimer in den nachgereichten Würdigungen der beratend am Romanstoff des «Doktor Faustus» Beteiligten gar nicht erwähnt wurde. So behauptet es wenigstens Katia Mann in ihren «Ungeschriebenen Memoiren». Horkheimer selber schien es jedoch nicht sonderlich übel zu nehmen: Die freundschaftliche Beziehung zwischen Mann und ihm hielt bis zu seiner Rückkehr nach Frankfurt am Main im Jahr 1950. Das war im Falle Adornos ganz anders, der in Thomas Manns Essay «Die Entstehung des Doktor Faustus» zwar als wichtiger Anreger genannt wurde, aber dennoch unzufrieden blieb. Obwohl Adorno sogar noch ein paar Monate länger im Norden von Los Angeles wohnen blieb als Thomas Mann, haben sich die beiden in den frühen fünfziger Jahren nicht mehr viel zu sagen gehabt.
Von Horkheimers Bungalow im Deste Drive ist nichts mehr übrig. Ich bin heute nach dem Frühstück dorthin gegangen. Die Hausnummer 13524 (trotz kurzer Straßenlänge protzt der Deste Drive mit fünfstelligen Hausnummern) ist ein hässlich verschachtelter weißer Neubau mit plumpschwarzen Metall-Fensterrahmen. Denkmalschutz für bedeutende kulturgeschichtliche Orte ist in den Vereinigten Staaten kaum üblich, deshalb fiel das für Horkheimer gebaute Haus, in dem weite Teile der «Dialektik der Aufklärung» geschrieben wurden, vor ein paar Jahren der Abrissbirne zum Opfer. Das gleiche Schicksal hätte wohl auch dem Thomas Mann House geblüht, aber hier sprang 2016 die Bundesrepublik als Käuferin ein. Schon 1977 hatte sie eine Bronzeplakette für das damals noch in Privatbesitz befindliche Haus gestiftet, die nun nach dem Umbau neben der Eingangstür angebracht ist. Für den Horkheimer-Bungalow hatte sich offenbar seit dem Auszug des Soziologen vor fast siebzig Jahren niemand in Deutschland interessiert, also konnte er widerstandslos abgerissen werden. Horkheimer schrieb den Deste Drive übrigens in seiner Korrespondenz konsequent italienisch, «D’Este». Die nach der berühmten Fürstenfamilie benannte Allee ist so etwas wie das Herzstück all der mediterran bezeichneten Wege auf diesem Hügel des deutschen Exils: eine regelrechte Aufmarschstraße, überdimensioniert, mit mächtigen Palmen rechts und links der Mittelachse, als hätte man bei der Anlage des Straßennetzes in den späten zwanziger Jahren hier auch ein Stück des zeitgenössischen Italien unter Mussolini simulieren wollen. Die Straßenschilder aber lauten heute alle auf «Deste». Horkheimer hätte dieser Umschlag der Italienverehrung in Italienischverhunzung als weiteres Indiz für die Dialektik der Aufklärung dienen können. Und das nicht einmal hundert Schritte von der eigenen Haustür entfernt.
Eigentlich wollte ich nur zum Skylight Bookstore. Der liegt im Stadtteil Los Feliz, an der Vermont Avenue, nicht gerade die Schokoladenseite der Stadt. Doch gegen die Amazon.books-Filiale im reichen Pacific Palisades ist Skylight eine Offenbarung: große Auswahl, trotzdem eine eigene Handschrift (unter anderem eine reichhaltige Comic-Abteilung, und die besteht nicht aus Superheldenheften, sondern aus Graphic Novels, auch europäischer Provenienz – aber ich schweife in eine private Obsession ab). Gibt es im Amazon-Buchladen etwas vom größten aller amerikanischen Romanautoren zu kaufen, von Herman Melville? Natürlich nicht. Bei Skylight steht allein schon «Moby-Dick» in fünf verschiedenen Ausgaben, und «The Confidence-Man», «Billy Budd», «Typee» oder «Bartleby, the Scrivener» gibt es auch. Dieser Laden ist ein großes Glück, aber ein noch größeres liegt etwas weiter Richtung Downtown auf der anderen Straßenseite.
Ich hatte es beim Verlassen der Metrostation der Red Line schon gesehen, aber nicht gewusst, was es war. Noch nie habe ich mich so unvorbereitet in eine Großstadt begeben wie nach Los Angeles, keinen Reiseführer im Gepäck, nur eine Empfehlung aus dem Freundeskreis: für «The Dresden», ein Restaurant, das zwischen der Metrostation und Skylight liegt. Auch deshalb bin ich hierhergekommen, aber das «Dresden» öffnet erst am späten Nachmittag. Doch da ist ja noch diese Anhöhe hinter gesichtslosen Geschäftshäusern auf der anderen Straßenseite, mit einem grünen Pflanzenkranz über einer rätselhaften festungsartigen Bebauung. An solch fremdartig wirkenden Orten kann man nicht einfach vorbeigehen, also biege ich auf dem Rückweg von Skylight rechts in den Hollywood Boulevard ab und gehe dann über ein paar Treppen, die an den Aufstieg zum Kreuzberg in Berlin erinnern, hinauf zu der bewaldeten Hügelkuppe mitten in der Stadt.
In Serpentinen führt auch eine Straße hier hoch, und in einer dieser Kehren steht ein seltsames Haus, umzäunt, teilweise eingerüstet und in einigermaßen beklagenswertem Zustand. Seltsam wirkt es mit seinen ornamentalen Zierleisten auf wie aus einem Baukasten zusammengesetzten Betonkuben – ein Kultbau, möchte man meinen. Das trifft zu, aber anders als gedacht. Die Anmutung mexikanischer oder ägyptischer Tempel spielt hier weniger eine Rolle als die Persönlichkeit des Baumeisters: Frank Lloyd Wright, die Ikone der amerikanischen Architektur. Das Haus, so belehrt ein Schild auf dem Bauzaun, stammt aus dem Jahr 1920, errichtet als Nebengebäude des Hollyhock House. Nie davon gehört, aber es wird wohl nicht weit weg liegen. In der Tat: Es findet sich oben auf dem Hügel, weist dieselben Stilelemente wie der Nebenbau auf, ist nur viel größer. Und als weitere Parallele ist es ebenfalls komplett eingezäunt. Zwei Gebäude von Frank Lloyd Wright und beide nicht zu besichtigen. Die Renovierung des kleineren hat schon 2016 angefangen; es sieht nicht so aus, als käme sie bald an ein Ende. Die Renovierung des größeren kann man nur postulieren, denn es ist keinerlei Bauaktivität zu erkennen.
Aber gerade die Isolation der beiden Gebäude von den wenigen Besuchern, die sich hier hinauf verirrt haben und den phantastischen Blick über das Häusermeer zum Pazifik genießen, verleiht ihnen die Aura von Tempelbauten. Und wie im Fall der versunkenen Mayastätten entsteht aus dem Niedergang ein eigener Zauber, eine höhere Glaubwürdigkeit der Kultbauten, die nicht Menschen dienen, sondern Göttern – Frank Lloyd Wright gilt in seiner Zunft längst als ein solcher. Obwohl er seinen Auftraggebern bisweilen als Teufel erschienen sein muss, liefen die Kosten für die Errichtung ihrer Häuser doch meist aus dem Ruder. So auch beim Hollyhock House, das Wright für ein Enfant terrible der High Society von Los Angeles errichtete: die millionenschwere Öl-Erbin Aline Barnsdall, die ein Faible fürs Theater hatte und deshalb von den kulissenartigen Entwürfen Wrights begeistert war. Bis sie das neue Haus bezog und feststellte, dass es nicht nur einen Gutteil ihres Vermögens verschlungen hatte, sondern auch unbequem zu bewohnen war. Also schenkte sie es schon 1927 der Stadt – Plutokraten verstehen es, Kosten zu sozialisieren. Immerhin setzte die Kommune dann leicht verspätet den ursprünglichen Plan von Aline Barnsdall um, auf dem grünen Hügel neben der Villa auch noch ein Kulturensemble zu errichten. In heftigstem Brutalismus wurden den prächtigen Flachbauten von Wright in den siebziger Jahren die Municipal Art Gallery mit angebautem Theater und ein Kunstzentrum für Jugendliche vor die Nase gesetzt. Von unten sieht das Ganze aus wie eine Akropolis. Von oben – nun ja.
Und doch sind alle diese Gebäude im mittlerweile nach Barnsdall benannten Park wunderbar gealtert, die nun fast hundert Jahre alten Wright-Bauten wie die ein halbes Jahrhundert jüngeren Kultureinrichtungen. Das wird man von Frank Gehrys ein paar Kilometer weiter südlich in Downtown errichteter Walt Disney Concert Hall nicht behaupten können. Das aluminiumverkleidete dekonstruktivistische Gebilde – Bilbao lässt grüßen! – hat auch nach sechzehn Jahren keinerlei Patina angesetzt und sieht darum unerfreulich aseptisch aus. Man sehnt sich nach der Ruinenromantik, die Frank Lloyd Wrights Häuser ausstrahlen. Und plötzlich bekommt Albert Speers längst als Lüge entlarvte Behauptung, Adolf Hitler hätte gefordert, die NS-Architektur müsse ihren Verfall mit einkalkulieren, um später gute Ruinen abgeben zu können, eine gespenstische Plausibilität. Speers Monumentalbauten sehen in ruinösem Zustand schlecht aus, Wrights dagegen blendend. Man möchte sich wünschen, dass die 2016 begonnene Renovierung nie beendet würde. Dann bliebe auch der Barnsdall-Park so spärlich besucht wie heute und damit eine Oase im Trubel von Los Angeles. Wenn die beiden Gebäude, Neben- und Haupthaus, erst wieder zugänglich sind, wird der Kulturtourismus zuverlässig einsetzen. Noch aber kann man diesen Ort zufällig entdecken. Wer braucht da einen Reiseführer? Gut, dass ich mich bei Skylight wieder gegen die Anschaffung eines solchen entschieden habe.
Es hat eine gewisse Ironie, dass das Getty Center eine Ausstellung mit dem Titel «MONUMENTality» zeigt. Denn ein monumentaleres Gebäude als die Museumsburg hoch über der Kreuzung San Diego Freeway/Sunset Boulevard gibt es in Los Angeles kaum. Während der Trambahnfahrt vom Parkhaus auf die Höhe des Getty Centers wird eine Art symphonischer Triumphmarsch eingespielt. Hoffentlich werde ich den nicht jedes Mal hören müssen, wenn ich ins Getty Research Institute komme; die Melodie ist schon nach dem ersten Mal kaum mehr aus dem Kopf zu kriegen. Beim Runterfahren drei Stunden später werde ich verschont; vielleicht sollen die Besucher nur in die richtige weihevolle Stimmung gebracht werden, und wenn man sie dann zurück in den Alltag entlässt, können sie ja sehen, wie sie ihren ästhetischen Haushalt wieder ausgeglichen bekommen.
«MONUMENTality» ist nicht im eigentlichen Museum zu sehen, sondern in dem am Rand der Anlage errichteten Gebäude des Research Institute, deshalb verirrt sich kaum jemand hierhin. Thema der Ausstellung ist die Überwältigungsstrategie totalitärer Systeme, wobei man sich diesmal die Nazis weitgehend gespart hat und vor allem auf das Sowjetsystem und Mussolinis Faschismus abzielt. Eine Reihe kitschiger Leninbüsten und einige augenzwinkernde postsowjetische Verarbeitungen von niemals umgesetzten bolschewistischen Monumentalprojekten wie der «Palast der Sowjets» und eine hundert Meter hohe Lenin-Statue machen den Anfang, bevor das seltsamste Objekt kommt: ein gigantischer Klebeband von Benedetta Cappa Marinetti (ja, die Gattin des berühmten Futuristen, selbst eher eine berüchtigte Futuristin), in dem sie ihre künstlerischen Aktivitäten von 1924 bis 1941 dokumentierte, also fast zur ganzen Zeit des italienischen Faschismus. Dieses Buch ist ein Kunstwerk eigenen Rechts, Hybris in Hochform. Aufgeschlagen ist eine Doppelseite mit zwei ganzseitigen Zeitungsartikeln zur Eröffnung des Hauptpostamts von Palermo im Jahr 1934, einem Prestigeprojekt der faschistischen Regierung, für das Benedetta, wie der Künstlername von Signora Marinetti lautete, ein riesiges Wandbild mit dem Titel «Sintesi della communicazione» im Konferenzraum ausgeführt hatte, zur Feier der modernen Kommunikationsmittel. Dass die Künstlerin dann die altvordere Form des Klebealbums für die Beweisführung ihrer futuristischen Aktivitäten wählte, ist ein wunderbarer Anachronismus. Die beiden Zeitungsseiten sind übrigens ungefaltet eingeklebt – die Größe des Benedetta-Albums entspricht durchaus dem Größenwahn Mussolinis.
Die Ausstellung im Getty Research Institute selbst jedoch ist winzig, denn viel mehr als das Erwähnte ist kaum zu sehen; jedenfalls heute nicht, weil der zweite Teil der Schau geschlossen bleibt. So folgen nur noch eine Graphikserie zum Berlin der unmittelbaren Nachwendezeit und ein sowjetisches Stoffmuster mit industrieverherrlichendem Dekor, das war es dann auch schon. Auch hier also eine gewisse Ironie: Weniger Monumentalität als bei MONUMENTality war nie. Aber die Schau findet ja im richtigen Rahmen statt, auf den Höhen des kalifornischen Parnass, im Pantheon der Kunst, dem Paradies des Mäzenatentums. Man kann nur monumental darüber sprechen.
Warum sollte es mir besser gehen als allen anderen auf der Welt? Auch ich hetze Donald Trumps ständigen Winkelzügen hinterher. Gestern war er in Calexico, an der Grenze zu Mexiko, heute bin ich da. Wir haben beide dasselbe gesehen, aber er nennt es «a great wall». Ich nenne es einen hässlichen Gitterzaun.
In Calexico, das in seinem Namen die benachbarten Staaten Kalifornien und Mexiko vereint, verläuft die Absperrung mitten durch die Stadt. Die mexikanische Hälfte heißt Mexicali, auch das ein Kompositum aus den beiden Grenzstaaten, aber viele weitere Verbindungen gibt es nicht mehr. Das Gebäude der United States Border Control ist das mit Abstand repräsentativste des Stadtzentrums; es steht direkt an der Grenze, und hier kann sie von Fußgängern passiert werden: durch stählerne Drehtüren, deren ununterbrochenes Geschepper bis auf den Vorplatz dringt. Und wenn man etwas beiseitetritt, kann man eine Menschenmenge hören, die sich, für Amerikaner unsichtbar durch die Grenzanlagen, auf mexikanischer Seite versammelt hat.
Rechts und links vom Areal dieses Fußgänger-Grenzübergangs zieht sich der Zaun, etwa fünf Meter hoch und mit zahlreichen Rollen Stacheldraht bewehrt. Auf Schildern wird davor gewarnt, diesem näher als drei Meter zu kommen, doch gleich neben dem Grenzschutzgebäude stehen fünf Mexikaner auf der amerikanischen Seite und plaudern durch den Zaun hindurch mit einer Frau unter einem rosa Sonnenschirm. Auf der mexikanischen Seite sind die Metallbarren der Grenzbefestigung zu willkommenen Präsentationsflächen für Souvenirhändler geworden: Dort ist alles vollgehängt mit Tinnef aller Art. Hier stoßen wirklich zwei Welten aufeinander, aber anders als gedacht. Auf amerikanischer Seite wirkt alles tot, auf mexikanischer brodelt das Leben.
Kurz bevor Calexico am Stadtrand seine Besucher – notabene: die von der amerikanischen Seite anreisenden – mit dem längst zynisch klingenden «Welcome to Calexico, the global gateway city» willkommen heißt, steht da noch ein anderes Schild an der Staatsstraße 111: «Elevation Sea Level». Es ist, als sollte durch diese Höhenangabe die Überschwemmungsmetaphorik von Donald Trump bestätigt werden, die von ihm geschürten Ängste vor anstürmenden Massen: Was soll das flache Land hier schützen, wenn nicht ein hoher Zaun, «a great wall»? In seiner Rede in Calexico hat der Präsident in Richtung mexikanischer Seite gesagt: «Unser Land ist voll. So ist es nun einmal, also kehrt um.» Von Los Angeles nach Calexico fährt man vier Stunden, und die letzten beiden führen durch weitgehend menschenleere Wüste. Hätte Trump gesagt: «Unser Land ist leer, also kehrt um, denn ihr werdet auf dem Weg in die weit entfernten Städte verdursten», wäre das zutreffender gewesen.
Der einzige Grenzübergang für Autos ist die Imperial Avenue, und als ob das Imperium die Augen davor verschließen wollte, was an seinem Rand geschieht, knickt diese über viele Kilometer schnurgerade auf die Grenze zuführende Straße unmittelbar vor dem Übergang noch einmal rechtwinklig ab, sodass man beim Näherkommen nicht sehen kann, was dort passiert. Die Benennung der Avenue als «Imperial» verdankt sich allerdings dem Namen des Countys, in dem Calexico liegt, Imperial County; ganz so selbstherrlich, wie man glauben könnte, sind die Vereinigten Staaten bei Straßenbezeichnungen also doch nicht.
Die First Street von Calexico dagegen ist genau, was der Name besagt: die erste Straße, auf die man stößt, wenn man es aus Mexiko doch irgendwie in die Vereinigten Staaten geschafft hat. Sie verläuft parallel zum innerstädtischen Zaun, und als wollten sie die Bemühungen des amerikanischen Präsidenten, diese Grenze hermetisch abzuriegeln, verhöhnen, buhlen die heruntergekommenen Geschäfte alle auf Spanisch um Kundschaft. Calexico ist ein Nest von immerhin fast vierzigtausend Einwohnern, mit flachen Gebäuden von unverkennbar mexikanischem Einfluss, die Straßen staubig, die Ladenschilder ausgebleicht. Auch die nach Mexiko hin ausgerichtete Aufschrift «Welcome to Calexico» auf einer Art-déco-Steintafel im «International Border Friendship Park» gleich an der Grenze ist kaum noch zu lesen, um das darunter ergänzte «Bienvenidos» steht es noch schlechter. Wann die Fontäne in diesem kleinen Park mit dem großsprecherischen Namen zum letzten Mal gesprudelt hat, möchte ich lieber gar nicht wissen; die Anlage mit Blick auf die «great wall» ist menschenleer bis auf einige auf dem nackten Boden schlafende Mexikaner. Um einen hat sich ein Schwarm Tauben versammelt, die Vögel picken seine Vorräte weg.
Der amerikanische Präsident ließ sich im Stadtzentrum gar nicht erst blicken, sondern zu einem Abschnitt der Grenzabsperrung führen, der erst kürzlich fertiggestellt wurde: Mehr als neun Meter hohe Stahlpfähle sollen das Hinüberklettern unmöglich machen, Stacheldraht braucht es da nicht mehr. Durch die Zwischenräume fällt der Blick auf Mexiko: Nichts unterscheidet die Topographie beider Länder hier im Grenzgebiet, endlose Weite, karg und menschenfeindlich. Diese optische Durchlässigkeit des Zauns entspricht nicht jenem Ideal einer Mauer zwischen Amerika und Mexiko, das Trump einst beschworen hat, als von einer blicksicheren Betonkonstruktion die Rede war. Aber warum sollte ihn das stören? Im Gegenteil: Er nennt das neu errichtete Gebilde «better, faster and less expensive». Vor allem Letzteres ist nach dem Haushaltskompromiss mit den Demokraten vom Februar wichtig, denn für die Grenzbefestigung steht jetzt nur ein Viertel der ursprünglich von Trump verlangten Summe von mehr als fünf Milliarden Dollar zur Verfügung. Dass man durch den Zaun hindurchsehen kann, findet der Präsident nun ganz prima: Da könne man früh erkennen, ob jemand versucht, die Grenzbefestigung zu überwinden oder etwas hinüberzuwerfen. Zwei Kilometer der neuen Grenze sind mittlerweile fertig bei Calexico, und prompt seien dort die Grenzverletzungen um 65 Prozent zurückgegangen, erklärt eine Grenzwächterin der Presse auf Aufforderung des Präsidenten («Say hello to the fake news people»). Der ist durch ihre Worte dann aber sichtlich verärgert: «Hundert Prozent», korrigiert er, die anderen Fälle seien Grenzverletzungen, die neben der neuen Mauer stattfänden, also müsse rasch weitergebaut werden. Auf zehn Kilometer soll die «great wall» bei Calexico von Juni an erweitert werden. Die Gesamtlänge der amerikanisch-mexikanischen Grenze beträgt 3144 Kilometer. Da ist noch einiges zu tun. Vielleicht komme ich im Juni noch mal vorbei, um mir den Fortschritt anzuschauen.
Auf der Rückfahrt lande ich in einer Fahrzeugkontrolle der Border Control, aber als erkennbar hellhäutiger Mensch werde ich einfach durchgewinkt. Am Straßenrand stehen die Autos von Latino-Fahrern – mit offenen Kofferräumen, damit die Schäferhunde der Grenzbehörde nachträglich noch Witterung von eventuell darin Herübergeschmuggelten aufnehmen können. Dann wären die jetzt, zu Fuß, trampend, irgendwo zwischen Calexico und Los Angeles. Ich brauche für den Rückweg nach Los Angeles nur vier Stunden. Die meisten hinter mir werden dort im ganzen Leben nicht hinkommen.
Das Haus muss einen phantastischen Blick über Los Angeles haben, so viel sieht man schon von der Einfahrt aus. Weiter hinein will ich nicht gehen, das Anwesen im Blue Heights Drive ist privat. Es ist ein Komplementärbau zum Thomas Mann House: elegante bauhausinspirierte Moderne, viel Glas und Terrassen, ein veritabler Leuchtturm des deutschen Exils an der Westküste, nur dass dieses Gebäude hier noch ein paar Jahre älter ist und über einem mehr als hundert Meter tiefen Abgrund schwebt, was von unten her wirkt, als wäre ein Schiff von einer Flutwelle dorthin gespült worden – der Balkon über die ganze Breite der Südseite hinweg gleicht einer Kommandobrücke. Anders als im San Remo Drive wollte hier niemand seine neue Wohnstatt in eine ans mediterrane Europa erinnernde Umgebung einbetten und sich somit in der Fremde heimisch fühlen. Hier sollte ein Zeichen gesetzt werden: Die Stadt liegt dem Eigentümer zu Füßen.
Der Eigentümerin. Denn das Haus ließ Emilie Esther Scheyer, genannt Galka, bauen. Das war 1934, und die 1889 geborene Braunschweigerin lebte damals schon seit sechs Jahren in Los Angeles und seit zehn in den Vereinigten Staaten. Dort vertrat sie die Künstlergruppe «Die Blaue Vier». Diesen Namen hat heute keiner mehr parat, aber die vier einzelnen Mitglieder der Gruppe kennt man umso besser: Lyonel Feininger, Alexej Jawlensky, Wassily Kandinsky und Paul Klee. Die drei Bauhaus-Meister und ihr Freund aus Wiesbaden hatten sich zur besseren Vermarktung in Amerika einen an die bekannte Künstlervereinigung «Der Blaue Reiter» angelehnten Namen gegeben (die Kandinsky mitbegründet hatte), wobei die Idee dazu von Galka Scheyer stammte, die als Agentin der Gruppe dann nach Amerika ging. Als sie, die Tochter einer jüdischen Familie, bei ihrem letzten Deutschlandbesuch 1933 nur zu deutlich sah, was sich in der früheren Heimat anbahnte, gab sie nach der Rückkehr das neue Haus in den Hollywood Hills bei dem mit ihr befreundeten Architekten Richard Neutra in Auftrag. Wie historische Fotos zeigen, lag es damals ganz allein auf dem steilen Abhang, und für die eigens angelegte Straße schlug Galka Scheyer den Behörden den Namen «Blue Heights Drive» vor – als Hommage an die «Blue Four».
Mit deren Emigration aus Europa rechnete sie über kurz oder lang, deshalb wurde 1937 noch ein kleiner Seitentrakt am Haus angebracht. Keiner der vier mit ihr befreundeten Künstler hat ihn jemals bewohnt. Feininger immerhin kam 1936 auf der Durchreise zu Besuch in den Blue Heights Drive, als er in Oakland einen Lehrauftrag absolvierte. Im Jahr darauf kehrte er dauerhaft in sein Geburtsland zurück, doch nach Hollywood zog es ihn nie wieder. Klee, Kandinsky und Jawlensky verließen zwar alle Deutschland, aber nicht Europa und starben während des Krieges. Galka Scheyer blieb allein. In ihrem Haus hoch über Los Angeles ersetzte eine der besten Privatsammlungen die persönliche Anwesenheit dieser Maler.
Stattdessen kamen andere Berühmtheiten vorbei. Marlene Dietrich und Greta Garbo etwa ließen sich zu Galka Scheyer hinauffahren, und man kann sich dieses Abenteuer kaum groß genug vorstellen, denn noch heute ist der Weg vom Sunset Boulevard über die Queens Road und den Sunset Plaza Drive zum Blue Heights Drive eine Herausforderung für Gefährt und Fahrer. Scheyer erzählte in ihren Briefen an die Künstlergruppe, dass es oftmals wetterbedingt gar nicht möglich gewesen sei, mit dem Auto zu ihr hochzufahren; dann mussten eben fünfhundert Höhenmeter zu Fuß überwunden werden. Entsprechend wenige Interessenten fanden den Weg hierherauf, um sich die Bilder anzuschauen; dafür musste man schon Filmstar sein und sich einen wagemutigen Chauffeur leisten können. Mittlerweile ist Scheyers Bungalow, der mit seiner schwebenden Transparenz besticht, umgeben von zahlreichen Protzgebäuden, und mittlerweile geht es auch noch höher hinauf im Blue Heights Drive. Aber nirgendwo so steil nach unten.
Gleich nebenan hat sich übrigens ein Betongebäude in den Hang gekrallt, das neugierige Fernsehserien-Fans anlockt. Als ich noch unschlüssig war, wo ich mein Ziel zu suchen haben würde (Scheyers Haus ist von der Straße aus kaum zu sehen), parkte hinter mir in einer Kurve mit atemraubender Aussicht, wo es die einzige Abstellmöglichkeit auf dem Blue Heights Drive gibt, ein anderer Wagen, aus dem ein Paar stieg, das sofort das Betonhaus fotografierte. Es gebe den Drehort für die Wohnung von Harry Bosch ab, erfuhr ich, dem Titelhelden der seit 2014 erfolgreich laufenden Fernsehdetektivserie «Bosch». Alles einigermaßen krude: Die fiktive Handlung verkauft das Haus als Fremdkörper in einer heruntergekommenen Straße der Hollywood Hills. Dabei kann man in Wirklichkeit kaum repräsentativer wohnen. Keine fünfzig Meter weiter sind dagegen die wildesten wahren Geschichten passiert, aber wer interessiert sich noch dafür? Die beiden Amerikaner jedenfalls nicht, ihnen sagen nicht einmal die Namen Feininger und Kandinsky etwas. Ob sie wissen, dass der Name Harry Bosch auf einen anderen Maler anspielt, einen Meister des Unheimlichen?
Galka Scheyer starb am 13. Dezember 1945 in ihrem Haus an Krebs, sie wurde 56 Jahre alt. Ihre Mutter war in Deutschland geblieben und hatte sich 1942 am Tag vor der Deportation umgebracht. Wenigstens konnte Galka noch das Ende der Naziherrschaft erleben. Unter glücklicheren Umständen wäre ihr Haus heute eine Begegnungsstätte wie das Thomas Mann House oder wenigstens ein Museum (wenn auch mit herausfordernder Anfahrt) geworden. Ihre Sammlung blieb immerhin komplett erhalten und ist im Norton Simon Museum von Pasadena zu sehen.
Ist es ein Zeichen von Orientalismus, dass das Berggruen Institute für Elif Shafak einen türkischen Teppich ausgerollt hat? Besser gesagt: zwei Kelims, die das Podest zieren, auf dem die türkisch-britische Schriftstellerin sich mit ihrem australischen Kollegen David Francis unterhält. Nicolas Berggruen geht auf Nummer sicher und lässt sich, bevor er seine Gäste zur Veranstaltung in der Suite 500 des Bradbury Building in Downtown L.A. begrüßt, von Elif Shafak ausdrücklich versichern, dass sie sich über diese Ausstattung der Bühne freue – «a blessing» nennt der Hausherr diese Exkulpierung seines Instituts durch den Gast. An demonstrativer Hochachtung lässt Berggruen es nicht fehlen.
Aber ist es nicht auch ein Zeichen von Orientalismus, wenn sich das Gespräch mit einer Schriftstellerin aus der Türkei nicht um ihre Bücher, sondern um die dortige Politik dreht? Und wenn der Gesprächspartner dann offenbar so wenig weiß über die Türkei, dass er die aktuellen Kommunalwahlergebnisse vom Vortag nicht einmal anspricht, die so viel Ärger bei Präsident Erdoğan hervorgerufen haben – und so viel Hoffnung bei der Opposition, der auch Elif Shafak sich zugehörig fühlt? Natürlich ist es unvermeidlich, dass eine derart politische Autorin wie Shafak auf die Zustände in einem ihrer vielen Heimatländer angesprochen wird (geboren in Frankreich, aufgewachsen in Spanien und der Türkei, britische Staatsbürgerin), aber ein wenig mehr hätte man doch gerne über ihr literarisches Schaffen erfahren, etwas, das über die bloße Inhaltsangabe des letzten Romans, «Three Daughters of Eve», hinausgeht, das diese Schriftstellerin auch in ihrem literarischen Rang würdigt, nicht nur als politische Persönlichkeit. Dadurch wäre auch dem entsprochen worden, was sie fordert: die Anerkennung einer multiplen Identität gegen das derzeit überall florierende Gerede von identity politics.