Der Gottes-Pakt
Thriller
Aus dem Spanischen von Luis Ruby
Expedition in die Hölle
Die junge Journalistin Andrea Otero darf exklusiv über eine wichtige Expedition in die jordanische Wüste berichten. Das Ziel der Archäologen: die Ausgrabung der alttestamentarischen Bundeslade. Der Fund käme einer Sensation gleich – und dürfte gleichzeitig religiöse Fanatiker weltweit auf den Plan rufen. Deshalb schickt der Vatikan Pater Anthony Fowler mit auf die Mission. Der zwielichtige Geistliche verfolgt allerdings ganz eigene Interessen. Aber auch er ahnt nicht, wer sonst noch das Expeditionsteam infiltriert hat. Als unerwartet ein Mitglied der Expedition stirbt, weiß Andrea nicht mehr, wem sie noch vertrauen kann …
Juan Gómez-Jurado, geboren 1977 in Madrid, hat als Journalist für Radio und Fernsehen sowie als Marketingdirektor gearbeitet. Für seine journalistischen Arbeiten wurde er mehrfach ausgezeichnet. In seiner Heimat Spanien gilt der Autor seit dem Bestseller-Erfolg «Der Gottesspion» als «der neue Papst des Verschwörungsromans». (Qué Leer).
Weitere Veröffentlichungen:
Der Gottesspion
Das Zeichen des Verräters
Für meine Eltern,
die unter dem Tisch Schutz vor den Bomben suchten.
Die Erschaffung des Feindes
Beginne mit einer weißen Leinwand
Skizziere in groben Zügen die Umrisse von Männern, Frauen und Kindern
Tauche in den Brunnen deines eigenen Dunkels einen breiten Pinsel und beschmiere die Fremden
mit der düsteren Farbe des Schattens
Male auf das Gesicht des Feindes die Gier, den Hass, die Achtlosigkeit, die du nicht zu beanspruchen wagst als dein Eigen
Verdunkle die freundliche Individualität auf jedem Gesicht
Lösche jeglichen Hinweis auf die unzähligen Lieben, Hoffnungen, Ängste, die durch das Kaleidoskop jedes endlichen Herzens leuchten
Verbiege das Lächeln, bis es den nach unten gekrümmten Bogen der Grausamkeit formt
Trenne Fleisch von Knochen, bis nur noch
das abstrakte Skelett des Todes bleibt
Überzeichne jeden Gesichtszug, bis der Mensch verwandelt ist
in Tier, Gewürm, Insekt
Fülle den Hintergrund mit tückischen Gestalten
aus alten Albträumen – Teufeln, Dämonen, Schergen des Bösen
Wenn die Ikone des Feindes fertig ist, wirst du fähig
sein zu töten ohne Reue, zu schlachten ohne Scham
Das Ding, das du zerstörst, ist dann nur noch ein Feind Gottes,
ein Hindernis für die heilige Dialektik der Geschichte.
SAM KEEN, Faces of the Enemy
Anochi Adonai Elohecha
Lo yehiyeh Lecha Elohim Acherim
Lo Tisa Et Shem Adonai Elohecha La’Shav
Z’chor Et yom Ha Shabbat L’kodsho
Kaved Et Avicha V’Et Imecha
Loh Tirtzach
Lo Tin’af
Lo Tignov
Lo Ta’aneh Bere’acha Et Shaker
Lo Tach mod
Ich bin der Herr, dein Gott.
Du sollst keine anderen Götter neben mir haben.
Du sollst den Namen des Herrn nicht missbrauchen.
Gedenke des Sabbattags, dass du ihn heiligest.
Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren.
Du sollst nicht töten.
Du sollst nicht ehebrechen.
Du sollst nicht stehlen.
Du sollst kein falsches Zeugnis reden.
Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus.
ANDREA OTERO: Reporterin bei der Tageszeitung El Globo; Spanierin.
ANTHONY FOWLER: Geistlicher; Agent der CIA und der Sant’Alleanza; US-Amerikaner.
PATER ALBERT: ehemaliger Hacker; Systemanalyst der CIA und Verbindungsmann zum vatikanischen Geheimdienst; US-Amerikaner.
FRACESAREO: Dominikaner; Konservator im Reliquiensaal des Vatikans; Italiener.
CAMILO CIRIN: Generalinspektor der Vatikanpolizei; inoffizielles Oberhaupt der Sant’Alleanza, des vatikanischen Geheimdienstes; Italiener.
RAYMOND KAYN: millionenschwerer Besitzer einer Unternehmensholding; Staatsbürgerschaft unbekannt.
JACOB RUSSELL: Kayns persönlicher Assistent; Brite.
ORVILLE WATSON: Berater für Terrorismusfragen; Inhaber der Sicherheitsfirma GlobalInfo; US-Amerikaner.
CECYL FORRESTER: Archäologe; Spezialist für Bibelarchäologie; US-Amerikaner.
Archäologen: David Pappas, Gordon Durwin, Kyra Larsen, Stowe Erling und Ezra Levine.
Das Expeditionsteam:
MOGENS DEKKER: Sicherheitschef der Expedition; Südafrikaner.
Söldner: Aldis Gottlieb, Alryk Gottlieb, Tewi Waaka, Paco Torres, Louis Maloney und Marla Jackson.
DR. HAREL: Ärztin auf der Ausgrabung; Israelin.
TOMMY EICHBERG: Fahrer.
NURI ZAYIT: Koch.
RANI PETERKE: Kochgehilfe.
ROBERT FRICK: Techniker.
BRIAN HANLEY: Techniker.
Prolog
Wien
FEBRUAR 1943
Sie standen unter der riesigen Hakenkreuzfahne, die über dem Eingang der Klinik im Wind flatterte, als die Frau ein unwillkürliches Frösteln überkam. Ihr Begleiter missverstand dies und zog sie eng an sich, um sie zu wärmen. Der dünne Mantel schützte sie nur unzureichend vor dem eisigen Wind, dem Vorboten eines Schneetreibens, das in wenigen Stunden losbrechen sollte.
«Nimm meine Jacke, Odile», sagte der Mann und machte sich mit zitternden Fingern daran, das Kleidungsstück aufzuknöpfen.
Die Frau löste sich aus seiner Umarmung und presste das Päckchen noch enger an ihre Brust. Nach einem zehn Kilometer langen Marsch durch den Schnee war sie steif vor Kälte und völlig erschöpft. Drei Jahre zuvor hätte sie sich noch in einem Daimler chauffieren lassen, in einen Nerz gehüllt. Doch ihr Wagen gehörte jetzt einem Brigadeführer, und ihr Pelzmantel zierte an Theaterabenden die blassen Schultern irgendeines Naziflittchens mit überschminkten Lidern.
Odile fasste sich ein Herz und drückte kräftig auf den Klingelknopf. Drei Mal. Dann erst antwortete sie ihrem Begleiter: «Ich zittere nicht vor Kälte, Josef. Es ist gleich Sperrstunde. Wenn wir es nicht rechtzeitig zurückschaffen …»
Ihr Mann kam nicht mehr dazu, ihr zu antworten, denn schon öffnete eine freundliche Krankenschwester die Tür. Doch als sie die Besucher näher in Augenschein nahm, erstarb das Lächeln auf ihren Lippen. Juden erkannte sie mittlerweile auf den ersten Blick.
«Sie wünschen?»
Odile zwang sich, ihrerseits zu lächeln, obwohl ihr die aufgeplatzten Lippen schmerzten.
«Wir möchten zu Dr. Graus.»
«Haben Sie einen Termin?»
«Der Herr Doktor sagte, er würde uns empfangen.»
«Name?»
«Josef und Odile Cohen, Fräulein.»
Die Krankenschwester wich einen Schritt zurück, als sie ihren Verdacht durch den jüdischen Nachnamen bestätigt fand.
«Sie lügen! Sie haben keinen Termin. Gehen Sie zurück in das Loch, aus dem Sie gekrochen sind. Sie wissen, dass Sie hier nichts verloren haben.»
«Bitte. Mein Sohn ist hier. Bitte.»
Ihre Worte prallten an der schweren Tür ab, die nun heftig zugeschlagen wurde.
Josef und seine Frau starrten verzweifelt auf die dicken Mauern der Klinik. Odile taumelte vor Schwäche und Hilflosigkeit; Josef fing sie auf, als sie zusammenzubrechen drohte.
«Komm. Wir suchen uns einen anderen Weg.»
Sie liefen um das Gebäude herum, doch als sie um die Ecke bogen, hielt Josef seine Frau plötzlich zurück. Die Tür eines Seiteneingangs war soeben geöffnet worden, und ein Mann im dicken Wintermantel kam heraus und zog einen Wagen voll Müll hinter sich her. Während der Mann im Hinterhof der Klinik verschwand, schlichen Josef und Odile an der Wand entlang zu der halbgeöffneten Tür.
Drinnen erstreckte sich der Versorgungstrakt, von dem ein Labyrinth aus Korridoren und Treppen abging. Auf den Gängen war schwaches, dumpfes Weinen zu hören, wie aus einer anderen Welt.
Die Frau spitzte die Ohren und lauschte vergebens, ob sie darunter die Stimme ihres Sohnes ausmachen konnte. Verstohlen huschte sie in die Klinik hinein. Josef musste sich beeilen, um mit seiner Frau Schritt halten zu können, die ihrem Instinkt folgte und an jeder Biegung allenfalls kurz innehielt.
Schließlich erreichten sie einen dunklen, L-förmigen Seitenflügel, wo unzählige Kinder in ihren Betten lagen. Viele von ihnen waren am Kopfende mit Gurten gefesselt und heulten wie geprügelte Hunde. Ein herber Geruch strömte durch den überheizten Raum.
Odile begann zu schwitzen. Die Hitze flutete immer heftiger durch ihren Körper, und sie spürte ein Stechen in den Gelenken, doch sie schenkte ihren Gefühlen keinerlei Beachtung. Ihr Blick huschte von einem Gesicht zum nächsten und suchte angstvoll nach dem ihres Sohnes.
«Hier ist der Bericht, Dr. Graus.»
Josef und seine Frau sahen sich erschrocken an, als sie die Stimme vom Flur vernahmen. Das war der Name des Arztes, den sie suchten. Der Mann, in dessen Händen das Leben ihres Sohnes lag.
Eilig traten sie aus dem Zimmer und sahen sich einer Gruppe gegenüber, die sich um eines der Feldbetten versammelt hatte. Ein attraktiver, blonder junger Mann im Arztkittel saß am Bett eines etwa neunjährigen Mädchens. Um ihn herum standen eine ältere Krankenschwester, die ein Tablett mit medizinischen Geräten in der Hand hielt, und ein Arzt mittleren Alters, der sich mit gelangweilter Miene Notizen machte.
«Herr Dr. Graus!» Odile nahm all ihren Mut zusammen und ging ein paar Schritte auf das Grüppchen zu.
Der junge Mann machte eine abwehrende Handbewegung, ohne den Blick von seiner Arbeit zu wenden. «Jetzt nicht, bitte.»
Die Krankenschwester und der Arzt warfen den beiden Neuankömmlingen einen erstaunten Blick zu, sagten aber nichts.
Odile erhaschte einen Blick auf die Patientin und biss sich auf die Lippe, um nicht laut aufzuschreien. Das Mädchen schien halb ohnmächtig zu sein und war bleich wie eine Wand. Graus hielt einen ihrer Arme über eine Metallschüssel und setzte mit einem Skalpell zu einer Reihe von kleinen Schnitten an. Nur wenige Zentimeter Haut waren von der makabren Berührung der Klinge verschont geblieben. Das Blut floss langsam, füllte aber schon fast das gesamte Gefäß. Schließlich kippte der Kopf des Mädchens zur Seite, und Graus legte ihr ungerührt zwei schmale, elegante Finger an den Hals.
«Gut, kein Puls mehr. Die Uhrzeit, Dr. Stroebel.»
«Achtzehn Uhr fünfunddreißig.»
«Fast dreiundneunzig Minuten. Ausgezeichnet! Die Patientin hat auf geradezu wundersame Weise im Wachzustand ausgehalten, wenn auch bei niedrigem Bewusstsein und ohne offensichtliches Schmerzempfinden. Die Mischung aus Laudanum und Stechapfel ist zweifellos allem überlegen, was wir bisher ausprobiert haben, Stroebel. Glückwunsch! Nun bereiten Sie das Objekt für die Sektion vor.»
«Danke, Herr Doktor. Unverzüglich.»
Erst jetzt wandte sich der Arzt Josef und Odile zu. In seinen Augen stand eine Mischung aus Ärger und Überdruss.
«Und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?»
Odile trat einen Schritt nach vorne und stellte sich neben das Bett. Sie gab sich Mühe, nicht auf das tote Mädchen zu schauen.
«Mein Name ist Odile Cohen, Dr. Graus. Ich bin die Mutter von Conrad Cohen.»
Der Arzt musterte sie kalt und sah dann die Krankenschwester an. «Ulrike, schaffen Sie diese Juden hier weg.»
Die stämmige Frau drängte sich zwischen Odile und den Arzt, packte die Fremde am Ellbogen und schob sie unsanft beiseite. Josef eilte herbei, um seiner Gattin zu helfen. Die drei begannen in einem seltsamen Knäuel miteinander zu ringen. Schwester Ulrike lief vor Anstrengung rot an.
«Herr Doktor, hier muss ein Missverständnis vorliegen.» Odile versuchte, den Kopf an den breiten Schultern der Schwester vorbeizurecken. «Mein Sohn ist nicht geistig behindert.»
Endlich gelang es ihr, sich aus der Umklammerung der Schwester zu befreien, und sie trat mutig auf den Arzt zu. «Gewiss, seit wir unser Zuhause verloren haben, spricht er nicht viel, aber den Verstand hat er nicht verloren. Er ist nur durch einen Irrtum hier. Wenn Sie ihn entlassen könnten, würde ich … Ich möchte Ihnen das Einzige anbieten, was uns geblieben ist.»
Sie legte das Päckchen aufs Bett, bemüht, die Leiche nicht zu berühren; dann wickelte sie das Zeitungspapier, das den Inhalt verdeckte, langsam auseinander. Trotz des dumpfen Lichts auf dem Flur glitt ein goldener Schimmer über die Wände.
«Dies befindet sich seit unzähligen Generationen im Besitz meiner Familie, Doktor Graus. Ich würde eher sterben, als mich davon zu trennen. Aber mein Sohn, Herr Doktor, mein Sohn …»
Odile brach in Tränen aus und sank in die Knie. Der junge Arzt schien das nicht zu registrieren, sein Blick haftete an dem Gegenstand, der auf dem Bett lag. Dann öffneten sich seine Lippen und machten alle Hoffnungen des Ehepaars zunichte. «Ihr Sohn ist tot», erklärte er. «Fort jetzt.»
Draußen schlug ihnen die Kälte ins Gesicht. Odile legte den Arm um ihren Mann und marschierte eilig los. Sie hatte die Sperrstunde so klar im Bewusstsein wie nie zuvor. Denn sie konnte nur noch daran denken, rechtzeitig zu ihrem zweiten Sohn zurückzukehren, der am anderen Ende der Stadt wartete.
«Lauf, Josef. Lauf.»
Sie hasteten immer schneller durch den Schnee.
In seinem Büro in der Klinik legte Dr. Graus geistesabwesend den Telefonhörer auf und strich mit den Fingern über den seltsamen Gegenstand. Als Minuten später die Einsatzsirenen der SS-Fahrzeuge an sein Ohr drangen, sah er nicht einmal aus dem Fenster. Sein Assistent sagte etwas von irgendwelchen flüchtigen Juden, aber er schenkte ihm keine Beachtung.
Er war viel zu beschäftigt damit, im Geiste die Operation an dem kleinen Cohen vorzubereiten.
Steinfeldstr. 6, Krieglach, Österreich
DONNERSTAG, 15. DEZEMBER 2005, 11 : 42 UHR
Sorgfältig trat der Priester Anthony Fowler die Schuhe an der Fußmatte ab, bevor er an der Tür klingelte. Er hatte den Mann fast vier Monate lang gesucht und ihn, nachdem er ihn in seinem Versteck ausfindig gemacht hatte, beinahe zwei Wochen lang überwacht. Nun war er sich der Identität des Monsters sicher. Der Moment war gekommen, ihm gegenüberzutreten.
Geduldig wartete er, bis Graus zur Tür kam. Mittags hielt dieser gern ein Nickerchen auf dem Sofa.
Die schmale Gasse in der Fußgängerzone war um diese Zeit meist menschenleer. Die braven Bewohner der Steinfeldstraße gingen ihrer Arbeit nach, nicht ahnend, dass hinter der Hausnummer 6 in einem kleinen Häuschen mit blauen Vorhängen ein Massenmörder vor dem Fernseher döste.
Schließlich wurde ein Schlüssel im Schloss gedreht, und in dem schmalen Türspalt erschien der Kopf eines alten Mannes. Eine Großvaterfigur wie aus der Bonbonreklame.
«Ja?»
«Guten Tag, Herr Doktor.»
Der Alte musterte sein Gegenüber von oben bis unten. Er sah einen kahlköpfigen Mann im Priestergewand und in schwarzem Mantel, um die fünfzig, groß gewachsen und schlank, dessen grüne Augen enorme Selbstsicherheit ausstrahlten.
«Ich glaube, Sie verwechseln mich, Pater. Ich war früher Klempner, jetzt bin ich in Pension. Außerdem habe ich erst neulich für die Pfarrei gespendet, wenn Sie mich also entschuldigen möchten …»
«Soll das heißen, Sie sind nicht Heinrich Graus, der bedeutende deutsche Neurochirurg?»
Dem alten Mann stockte kurz der Atem. Von dieser kaum merklichen Reaktion abgesehen, zeigte er keinerlei Regung. Doch dem Priester genügte dies schon. Das war sein endgültiger Beweis.
«Sie haben sich vertan. Mein Name ist Handwurz.»
«Das ist nicht wahr, und wir wissen es beide. Wenn Sie mich jetzt einlassen würden, kann ich Ihnen zeigen, was ich mitgebracht habe.» Er hob die linke Hand, in der er ein schwarzes Köfferchen hielt.
Anstatt zu antworten, öffnete der Alte nun gänzlich die Tür und hinkte in Richtung Küche. Die ausgetretenen Dielen knarrten erbärmlich unter seinen Schritten. Doch der Priester folgte ihm, ohne den Räumlichkeiten große Aufmerksamkeit zu schenken. Er hatte die Wohnung durchs Fenster hindurch drei Mal heimlich studiert und kannte die Aufstellung der billigen Möbel in- und auswendig. Lieber behielt er jetzt den Rücken des alten Nazis im Auge.
Graus ging mit gebrechlichen Schritten voran, als ob ihm das Gehen Schmerzen bereitete, aber Fowler hatte ihn hinten im Garten Kohlesäcke stemmen sehen, mit einer Beweglichkeit, um die ihn ein fünfzig Jahre Jüngerer beneidet hätte. Er wusste, Heinrich Graus war noch immer ein sehr gefährlicher Mann.
Die kleine Küche war dunkel, und der Geruch von Frittiertem hing in der Luft. Das Mobiliar bestand aus einem Gasherd sowie einem runden Tisch mit zwei ungleichen Stühlen. Graus deutete mit höflicher Geste auf einen davon. Dann holte er zwei Gläser aus dem Schrank, schenkte Wasser ein und nahm seinerseits Platz. Die Wassergläser blieben unangetastet auf dem Kiefernholz stehen, so regungslos wie die beiden Männer, die einander forschend ansahen.
Der Alte trug einen roten Flanellmorgenmantel, ein Baumwollhemd und eine abgewetzte Hose. Er war bereits vor zwanzig Jahren ergraut, und mittlerweile war sein schütteres Haar schlohweiß. Die große runde Brille hätte schon beim Fall des Eisernen Vorhangs nicht mehr als modisch gegolten. Seine Unterlippe hing ein wenig schlaff herunter und verlieh ihm den trügerischen Ausdruck eines gutmütigen Opas.
Nichts von alledem konnte den Priester täuschen.
Die fahlen Strahlen der Dezembersonne erzeugten zwischen Fenster und Tisch einen Lichtkegel, in dem Tausende von Staubpartikeln schwebten. Einige davon ließen sich auf dem eleganten Ärmel des Geistlichen nieder, der sie mit einer raschen Handbewegung wegwischte, ohne den Blick von seinem Gegenüber zu wenden.
Graus entging die unerschütterliche Sicherheit nicht, die aus dieser Geste sprach. Aber er hatte seine Fassung bereits wiedergewonnen und verschanzte sich nun hinter einer gleichgültigen Fassade.
«Möchten Sie wirklich nichts trinken, Pater?»
«Ich bin nicht durstig, Dr. Graus.»
«Handwurz. Mein Name ist Balthasar Handwurz.»
Der Priester ging darauf nicht ein. «Ich muss zugeben, dass Sie es ziemlich geschickt angestellt haben. Als Sie sich einen Pass beschafften, um nach Argentinien zu fliehen, konnte niemand ahnen, dass Sie Monate später nach Wien zurückkehren würden. Dort habe ich Sie erst ganz zuletzt gesucht. Nur siebzig Kilometer vom Spiegelgrund … Und während all dieser Zeit stellte Wiesenthal jahrelang Nachforschungen in Argentinien an, nicht ahnend, dass Sie eine kurze Autofahrt von seinem Büro entfernt leben. Finden Sie das nicht auch komisch?»
«Ich finde es lächerlich. Sie sind Amerikaner, nicht wahr? Ihr Deutsch ist ausgezeichnet, aber Ihr Akzent verrät Sie.»
Der Priester stellte sein Köfferchen auf den Tisch, ohne den Alten aus den Augen zu lassen. Er zog eine abgegriffene Mappe aus dem Gepäck. Zuoberst lag ein Foto von Graus in jungen Jahren; die Aufnahme war im Krieg entstanden, in der Klinik Am Spiegelgrund. Darunter lag ein zweiter Abzug desselben Fotos, auf dem man den Arzt dank der Bearbeitung mit einer speziellen Alterungssoftware als Greis sah.
«Finden Sie nicht auch, dass die moderne Technik wahre Wunderwerke fabriziert, Herr Doktor?»
«Das beweist doch überhaupt nichts. Jeder könnte so etwas anfertigen.» Aber Graus’ Tonfall verriet seine Unsicherheit.
«Sie haben völlig recht, das beweist nichts. Das hier jedoch sehr wohl.»
Der Priester legte ein vergilbtes Stück Papier auf den Tisch, an das ein Schwarzweißfoto geheftet war. Darüber prangte in sepiafarbenen Lettern der Beglaubigungsvermerk Testimonianza fornita sowie das Siegel des Vatikanstaats.
«Balthasar Handwurz. Blond, braune Augen, stämmig gebaut. Besondere Merkmale: eine Tätowierung am linken Arm mit der Nummer 256441, die er während seiner Haft im Konzentrationslager Mauthausen von den Nazis erhielt. An einem Ort also, den Sie nie betreten haben. Die Nummer war irgendeine beliebige, aber das war das geringste Problem. Es hat funktioniert.»
Der alte Mann strich sich über den Flanellärmel seines linken Arms. Er war bleich vor Wut und Angst.
«Wer zum Teufel sind Sie?»
«Ich heiße Anthony Fowler, und ich möchte Ihnen eine Abmachung vorschlagen.»
«Verschwinden Sie aus meiner Wohnung! Raus.»
«Anscheinend habe ich mich nicht deutlich genug ausgedrückt. Sie waren sechs Jahre lang Vizedirektor der Kinderklinik Am Spiegelgrund. Ein ausgesprochen interessanter Ort. Fast alle Patienten waren Juden mit geistigen Erkrankungen. ‹Unwertes Leben.› So hieß das doch bei Ihnen, nicht wahr?»
«Ich habe nicht die geringste Ahnung, wovon Sie reden!»
«Niemand hat geahnt, was Sie dort taten. Die Experimente. Die Lebendsektionen. Siebenhundertvierzehn Kinder, Dr. Graus! Sie haben siebenhundertvierzehn Menschen mit Ihren eigenen Händen getötet.»
«Ich habe Ihnen doch gesagt, ich …»
«Und die Gehirne Ihrer Opfer haben Sie in Behältern aufbewahrt!» Fowler schlug mit der Faust auf den Tisch, so heftig, dass beide Gläser umfielen und ihr Inhalt sich über den Küchenboden ergoss. Zwei Sekunden lang war nur das Geräusch des tropfenden Wassers zu hören. Fowler atmete durch und versuchte, sich zu beruhigen.
Der Arzt wich dem Blick der grünen Augen aus, die ihn jetzt durchbohrten. «Arbeiten Sie für die Juden?»
«Nein, Graus. Sie wissen selbst, dass das nicht der Fall sein kann. Sonst würden Sie bereits in Tel Aviv am Galgen baumeln. Meine … Verbindung läuft über die Leute, die Ihnen 1946 zur Flucht verhalfen.»
Der Arzt erschauderte. «Die Sant’ Alleanza», murmelte er. «Und was will die Alleanza nach all den Jahren von mir?»
«Etwas, das sich in Ihrem Besitz befindet.»
Graus machte eine ausladende Geste. «Sie sehen ja, ich lebe nicht gerade im Überfluss. Mir bleibt kaum noch Geld.»
«Wenn es mir um Geld ginge, würde ich Sie an die Staatsanwaltschaft in Stuttgart ausliefern. Auf Ihre Ergreifung sind immer noch 130 000 Euro Belohnung ausgesetzt. Nein, ich will die Kerze.»
Graus musterte ihn in gespieltem Erstaunen. «Was für eine Kerze?»
«Jetzt sind Sie es, der sich lächerlich macht, Graus. Die Kerze, die Sie vor zweiundsechzig Jahren der Familie Cohen gestohlen haben. Eine schwere Wachskerze ohne Docht, überzogen mit Gold. Ich will sie, und zwar sofort.»
«Gehen Sie doch mit ihren Märchen woanders hin. Ich weiß nichts von einer Kerze.»
Fowler seufzte. Er machte eine angewiderte Handbewegung, lehnte sich zurück und deutete auf die beiden umgefallenen Gläser. «Haben Sie vielleicht etwas Stärkeres da?»
«Hinter Ihnen.» Graus wies auf die Fensterbank.
Der Priester drehte sich um und griff nach einer halbvollen Flasche. Dann stellte er die Gläser zurück auf den Tisch und goss zwei Fingerbreit der klaren Flüssigkeit ein. Beide Männer leerten sie mit einem Zug.
Fowler griff abermals zu der Flasche und schenkte nach. Während er weitersprach, nahm er hin und wieder einen kleinen Schluck.
«Weizenkorn. Das hatte ich schon lange nicht mehr.»
«Vermisst haben Sie das Zeug wohl kaum.»
«Sicher nicht. Aber es ist nicht teuer, stimmt’s?»
Graus zuckte die Achseln, erwiderte aber nichts. Der Priester zeigte mit dem Finger auf ihn.
«Ein Mann wie Sie, Graus. Brillant, eitel. Und Sie wählen das hier? Vergiften sich langsam in einem nach Urin stinkenden Dreckloch? Aber wissen Sie was? Ich kann das verstehen.»
«Was wollen Sie schon verstehen.»
«Bewundernswert. Sie beherrschen die Techniken des Reichs noch immer. Offiziersreglement, dritter Abschnitt: ‹Im Falle der Gefangennahme durch den Feind ist jeglicher Vorwurf abzustreiten. Es sind möglichst kurze Antworten zu geben, die den Offizier nicht kompromittieren.› Aber hören Sie mal gut zu, Graus: Kompromittiert sind Sie bis über die Ohren.»
Der Alte verzog das Gesicht und goss sich den übrigen Schnaps ein.
Fowler achtete genau auf die Körpersprache seines Gegenübers und bemerkte, wie die Mauer der Entschlossenheit allmählich Risse bekam.
«Sehen Sie sich meine Hände an, Doktor», sagte er und legte sie auf den Tisch. Es waren zerfurchte Hände mit feinen Fingern. An den ersten Fingergliedern, direkt über den Knöcheln, lief eine dünne weiße Linie entlang; sie war schnurgerade und setzte sich bis an beide Ränder fort.
«Eine hässliche Narbe. Wie alt waren Sie da, zehn, elf?»
«Zwölf. Ich übte gerade Klavier: eines von Chopins Präludien, Opus 28. Mein Vater stellte sich neben mich und knallte ohne Vorwarnung den Deckel des Steinway-Flügels zu, so hart er konnte. Dass ich meine Finger nicht verlor, grenzt an ein Wunder, aber mit dem Klavierspielen war es vorbei.» Der Priester packte abermals sein Glas. Doch bevor er fortfuhr, starrte er einige Sekunden lang in die helle Flüssigkeit. Er hatte diesen Teil seiner Biographie bisher keinem offenbaren und ihm dabei in die Augen sehen können. «Mein Vater … Er hat mir wiederholt Gewalt angetan. Seit ich neun war. An jenem Tag drohte ich ihm, jemandem davon zu erzählen, wenn er es nochmal täte. Da hat er mir einfach die Hände kaputt gemacht. Später hat er dann geweint, mich um Verzeihung gebeten und die besten Ärzte gerufen, die man für Geld bekommen konnte … Ah-ah-ah. Denken Sie gar nicht erst dran.»
Graus hatte den Arm unter die Tischplatte gleiten lassen und versucht, etwas aus der Besteckschublade zu ziehen. Ruckartig zog er die Hand zurück.
«Ich kann Sie also verstehen, Doktor. Mein Vater war ein Monster, dessen Schuld seine Fähigkeit, sich zu verzeihen, bei weitem überstieg. Aber er war wesentlich mutiger als Sie. Er hat eines Tages mitten in einer scharfen Kurve das Gaspedal durchgetreten und meine Mutter mit in den Tod genommen.»
«Was für eine rührende Geschichte, Pater», höhnte Graus.
«Wenn Sie das sagen. Sie leben ja nun seit vielen Jahren auf der Flucht vor Ihren Verbrechen. Aber jetzt werden Sie von Ihrer Schuld eingeholt. Doch ich kann Ihnen etwas verschaffen, was mein Vater nicht gehabt hat: eine Chance.»
«Ich höre.»
«Geben Sie mir die Kerze. Dafür überlasse ich Ihnen diese Mappe mit sämtlichen belastenden Dokumenten. Sie können dann bis an Ihr Lebensende in Ihrem Versteck bleiben.»
«Soll das alles sein?», fragte der Alte ungläubig.
«Soweit es mich angeht, ja.»
Graus wog den Kopf, lachte in sich hinein und erhob sich. Er öffnete einen der Küchenschränke und zog ein mit Reis gefülltes Einmachglas hervor. «Ich hatte noch nie eine Schwäche für dieses Schlitzaugenfutter. Bekomme davon Sodbrennen.»
Er leerte das Einmachglas, und ein Strom von Körnern ergoss sich auf den Tisch. Dann folgte ein dumpfes Geräusch. Halb von Reis zugedeckt, kam ein Päckchen zum Vorschein.
Fowler beugte sich vor, doch Graus’ knochige Hand packte ihn am Handgelenk.
«Ich habe Ihr Wort darauf, ja?», fragte der Alte nervös. Seine Hände zitterten.
«Gilt es Ihnen denn etwas?» Der Priester sah ihn an.
«Mir schon.»
«Dann haben Sie es.»
Der Arzt ließ die Beute los, und Fowler griff danach. Behutsam wischte er den Reis beiseite und hob das in ein dunkles Tuch gehüllte Päckchen hoch, das mit Schnüren zugebunden war. Langsam und mit sicherer Hand löste er die Knoten und wickelte das Tuch auf.
Die schwachen Strahlen der österreichischen Wintersonne erzeugten ein goldenes Funkeln in der speckigen Küche, das kaum zu einem solchen Ort passte. Ganz im Gegensatz zu dem angegrauten, schmutzigen Wachs der dicken Kerze auf dem Tisch. Einst war sie über und über mit einer dünnen Goldschicht überzogen gewesen, die eine verschlungene Zeichnung gebildet hatte. Nun war das Edelmetall fast völlig verschwunden, und auf dem Wachs blieben nur mehr ein paar oberflächliche Spuren der Filigranarbeit übrig. Von dem Gold war allenfalls noch ein Drittel vorhanden.
Graus lachte freudlos. «Der Rest davon ist im Pfandhaus geblieben, Pater.»
Fowler antwortete nicht. Er zog ein Zippo-Feuerzeug aus der Hosentasche und zündete es mit einer Hand an. Dann stellte er die Kerze hin und hielt die Flamme gegen das obere Ende. Obwohl die Kerze keinen Docht hatte, begann das Wachs unter der Hitze langsam zu schmelzen. Es verströmte dabei einen ekelerregenden Gestank. Graue Tropfen rannen auf die Tischplatte.
Während Graus dem Pater zusah, gab er weiter zynische Kommentare von sich. Er schien es zu genießen, dass er nach so vielen Jahren mit einem anderen Menschen über seine wahre Identität sprechen konnte.
«Mich bringt das wirklich zum Lachen. Der Jude aus dem Pfandhaus kauft jahrelang jüdisches Gold, um einen stolzen Vertreter des Reichs über Wasser zu halten. Und jetzt stehen Sie vor dem Ergebnis einer sinnlosen Suche.»
«Der Schein trügt, Graus. Der Schatz, den ich suche, ist nicht das Gold an dieser Kerze. Das ist nur ein Ablenkungsmanöver für Tölpel.»
Auf dem Tisch hatte sich mittlerweile eine Lache gebildet, in der oberen Hälfte der Kerze klaffte bereits ein großes Loch. Und in der Mitte dieses Vulkans aus flüssigem Wachs erschien nun der grünliche Rand eines metallischen Gegenstands.
«Gut, es ist noch da», sagte der Priester. «Ich werde dann jetzt gehen.» Er stand auf und wickelte das Tuch wieder um die Kerze, wobei er darauf achtete, sich nicht an dem heißen Wachs zu verbrennen.
«Halt!» Graus musterte ihn erstaunt. Das Lachen war ihm vergangen. «Was ist das? Was war da drin?»
«Das geht Sie nichts an.»
Der Alte sprang auf und zog hastig ein Küchenmesser aus der Schublade. Mit zittrigen Schritten ging er um den Tisch herum und auf den Priester zu. In seinen Augen glomm das zwanghafte Feuer eines Mannes, der diesen Gegenstand nächtelang angestarrt hatte, ohne zu wissen, was er vor sich hatte. Doch Fowler stand reglos da und sah ihn nur an.
«Ich muss es erfahren.»
«Nein, Graus. Wir haben eine Abmachung getroffen. Die Kerze im Tausch gegen die Mappe, und die sollen Sie auch bekommen.»
Der Alte hob die Hand mit dem Messer, aber etwas im Gesicht seines unerwünschten Besuchers brachte ihn dazu, die Waffe wieder sinken zu lassen.
Fowler nickte und warf die Mappe auf den Tisch. Das Stoffbündel in der einen, sein Köfferchen in der anderen Hand machte er langsam ein paar Schritte zurück, bis er die Küchentür erreicht hatte. Sein Gegenüber ließ er dabei nicht aus den Augen.
Graus nahm die Mappe in die Hand. «Es gibt davon keine Kopien, oder?»
«Nur eine. Die haben die beiden Juden, die da draußen warten.»
Graus wirkte, als würden ihm jeden Moment seine Augen aus den Höhlen springen. Abermals hob er das Messer und machte einen Schritt auf den Priester zu.
«Sie haben mich belogen! Sie sagten, Sie würden mir eine Chance geben!»
Fowler warf ihm einen letzten gleichmütigen Blick zu. «Gott wird mir vergeben. Glauben Sie, dass Sie dasselbe Glück haben werden?»
Damit verschwand er ohne ein weiteres Wort im Treppenhaus.
Als Fowler auf die Straße trat, presste er sich das kostbare Stoffpäckchen an die Brust und entfernte sich rasch. Einige Meter vom Hauseingang entfernt warteten zwei Männer in grauen Mänteln. Fowler warnte sie im Vorübergehen:
«Er hat ein Messer.»
Der größere der beiden verschränkte die Hände, ließ die Knöchel knacken und schenkte ihm ein halbes Lächeln.
«Umso besser.»
ARTIKEL AUS DER TAGESZEITUNG EL GLOBO,
AUSGABE VOM 17. DEZEMBER 2005, SEITE 12
Herodes von Österreich tot aufgefunden
WIEN (Agenturmeldung) Die österreichische Polizei hat Dr. Heinrich Graus, «den Fleischer vom Spiegelgrund», aufgespürt, der sich über fünfzig Jahre lang erfolgreich dem Zugriff der Justiz entzogen hatte. Der berüchtigte Nazi-Kriegsverbrecher wurde in einem Häuschen in Krieglach, einem Dorf sechzig Kilometer von Wien entfernt, tot aufgefunden. Nach Angaben der Staatsanwaltschaft war Herzversagen die Todesursache.
Der 1915 geborene Graus schloss sich 1931 der NSDAP an. Bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs war er bereits Vizedirektor der Kinderklinik Am Spiegelgrund. Graus missbrauchte seine Stellung dazu, zahllose, vermeintlich verhaltensauffällige oder geistig behinderte jüdische Kinder in unmenschlichen Experimenten zu quälen. Bei mehreren Gelegenheiten erklärte Graus, das Verhalten dieser Patienten sei durch ihr Erbgut bestimmt und die Experimente seien gerechtfertigt, da es sich um «unwertes Leben» handle.
So impfte Graus gesunde Kinder mit Bakterien, die Infektionskrankheiten auslösten. Er nahm Lebendsektionen vor und spritzte seinen Opfern diverse Varianten eines von ihm entwickelten Betäubungsmittels, um anschließend ihre Schmerzempfindlichkeit zu testen. Vermutungen zufolge wurden hinter den Mauern der Klinik Am Spiegelgrund während des Zweiten Weltkriegs an die tausend Morde verübt.