Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Juli 2018
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ISBN Printausgabe 978-3-499-63445-1 (1. Auflage 2018)
ISBN E-Book 978-3-644-40615-5
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Will man Parteien mit einer langen Geschichte verstehen, dann lohnt sich ein genauer Blick auf die Genese, den Anfang, die Satteljahre. Die Primärerfahrungen bleiben im weiteren Verlauf haften, werden durch Kultur und Rituale auch bewusst erinnert und als Epos an die Nachgeborenen weitergegeben. Eine Partei, die sich in ihrer Entstehungszeit in harten Auseinandersetzungen gegen entschlossene Gegner durchsetzen und behaupten muss, produziert Legenden, Mythen, Helden und Märtyrer, auch Konvertiten und Verräter, also den gesamten Stoff, der nötig ist für «große Erzählungen». Eine solche Partei verschwindet nicht beim ersten Gegenwind. Sie verfügt schließlich über in scharfen Konflikten mit anderen sozialen und politischen Kräften gewachsene und stabilisierende Loyalitäten, die sich zu einem spezifischen Charakter verdichten, zur Tradition verfestigen. Wird eine derartige Organisation im Laufe der Jahre erneut von außen angefeindet, schließt sie sich ganz so, wie zu den Zeiten, als alles begann, abermals fest zusammen. Parteien dieser gesellschaftlichen Substanz und Dauer überleben selbst dann noch eine ganze Weile, wenn die Bedingungen ihrer Formierung und Gründung schon verschwunden oder überwunden sind. Darin liegt ihre Kraft und Beharrlichkeit. Aber vieles aus einer langen, stolzen Geschichte erweist sich auch als drückende Last, da politische Überzeugen regelmäßig zu starr kanonierten Glaubenssätzen verkümmern, da vitale Solidargemeinschaften aktiver Mitglieder währenddessen in konservativ abgekapselte Vereinsmeiereien übergehen. Linear verlaufen diese Prozesse indes nicht, da Parteien sich durch gesellschaftlichen Außendruck und neue Mitgliederzuflüsse fortbewegen können – sie lernen, sich zu korrigieren und zu wandeln.
Dies alles werden wir auch in der Geschichte der SPD finden. Lange Zeit war die Sozialdemokratie nicht nur einfach eine Partei, sondern auch – und zunächst sogar viel mehr – eine soziale Bewegung. Und bei sozialen Bewegungen lässt sich immer schwer sagen, wann genau sie sich gebildet haben. Exakte Entstehungsdaten gibt es keine, und so hat die SPD seit jeher einige Schwierigkeiten, ihr Gründungsjahr parteihistorisch verbindlich festzulegen. Meist lässt man die Geschichte der Sozialdemokratie mit Ferdinand Lassalle und seinem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein (ADAV) im Jahr 1863 beginnen; mitunter wird aber auch die Bildung der Arbeiterverbrüderung des Stephan Born im Zuge der Revolution von 1848 als Startschuss gefeiert. Das Jahr 1875, in dem sich die bis dahin verfeindeten Flügel der frühen Arbeiterbewegung in Gotha zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands organisatorisch zusammenrauften, gilt zuweilen ebenfalls als das eigentliche Konstituierungsdatum. Und für eher sozialhistorisch argumentierende Interpreten sind es schon die 1830er Jahre und die frühsozialistischen, im europäischen Ausland agierenden Handwerkervereine, mit denen all das begann, was später August Bebel, Otto Wels, Kurt Schumacher, Willy Brandt, Oskar Lafontaine, Gerhard Schröder und nach ihm etliche weitere fortsetzten.
Den Sozialdemokraten selbst ist es im Grunde ganz recht, dass es mehrere geschichtliche Ausgangspunkte ihrer Partei gibt – haben sie so doch genügend Anlässe, sich zu feiern und stolz auf ihre großen und langen Traditionen zu verweisen. Da die Diskussion über ein präzises historisches Gründungsdatum der Sozialdemokratie letztlich tatsächlich unergiebig ist, sollte man einfach offen formulieren: Irgendwann zwischen den 1830er und 1870er Jahren entstand in Deutschland – als Reaktion der neuen, industriellen Arbeiterklasse auf die Abhängigkeitsverhältnisse, Unsicherheiten und Krisen des neuen, industriellen Kapitalismus – die moderne Arbeiterbewegung.
Doch selbst das ist sogleich wieder zu relativieren – denn modern war die Arbeiterbewegung in ihren Anfängen nur bis zu einem gewissen Grad. Und auch die Arbeiterklasse, die sich sozialdemokratisch organisierte, war so neu nicht. Soziale Bewegungen fangen eben nicht bei null an, sie haben immer, gerade die erfolgreichen und dauerhaften unter ihnen, Wurzeln und Kraftquellen in der Vergangenheit. Die Fabrikarbeiter im Frühkapitalismus waren wirklich wurzel- und traditionslos; sie kamen aus der agrarischen Provinz, hatten keine Organisationserfahrung und keine gruppenbildenden Leitideen. Über all das verfügten jedoch die städtischen Handwerksgesellen jener Jahre: die Schriftsetzer, Scherenschleifer, Drechsler, Sattler oder Zimmerer. Sie wurden, ohne moderne Industriearbeiter zu sein, zu den Pionieren der neuen Arbeiterbewegung und prägten die Führungsschicht der deutschen Sozialdemokratie bis weit in das 20. Jahrhundert hinein. Denn sie besaßen jene Ressourcen, die man braucht, um eine soziale Bewegung ins Leben zu rufen und ihr Schritt für Schritt Parteistrukturen zu verleihen: Organisationskompetenz, Selbstbewusstsein, Bildung, Leitziele, Kommunikationsfähigkeit und Mobilität.
Ihre Organisationskompetenz hatten die Handwerksgesellen über Jahrhunderte in den Zünften akkumuliert. Nicht weniges dieser alten Zunftstrukturen – etwa die Unterstützungskassen bei Krankheit, Invalidität und im Todesfall – floss in den 1860er und 1870er Jahren unmittelbar in die moderne Arbeiterbewegung ein. Die Handwerksgesellen verfügten über traditionsgesättigte Symbole und Rituale, Fahnen und Lieder, die auch innerhalb der neuen Arbeiterbewegung identitätsbildend wirkten. Zudem hatten sie schon in der altständischen Gesellschaft ihre Mobilität bewiesen. Nach ihrer Lehrzeit mussten die Gesellen auf Wanderschaft gehen, sodass sie ihre Organisationen und Ideen überregional vernetzen konnten. Ebendas wurde die Voraussetzung für eine nationale Arbeiterbewegung und Sozialdemokratie in Deutschland.
Die Handwerksgesellen hatten einen ausgeprägten Berufsstolz und Ehrenkodex, und oft verfolgten sie das Ziel, Meister zu werden. Doch das alles geriet Mitte des 19. Jahrhunderts in Konflikt mit dem neuen Kapitalismus: Die Fabrikarbeit entwertete viele alte Berufe und Ehrvorstellungen und zerstörte nicht selten die Aufstiegshoffnungen der Gesellen. Aus dieser Spannung von traditionsgeleiteten Erwartungen und neuzeitlichen Enttäuschungen entstand das Protestpotenzial der Handwerksgesellen, resultierte ihr frühsozialistisches Engagement. Die moderne Sozialdemokratie in Deutschland geht mithin auf Mentalitäten der vormodernen, vorbürgerlichen, vorkapitalistischen, vorproletarischen Gesellschaft zurück. Diese Konstellation findet man häufig: Ganz moderne soziale Bewegungen nähren sich von Protestpotenzial, das aus der Verletzung alter Rechte hervorgegangen ist, aus der Missachtung traditioneller Einstellungen, aus der jähen Infragestellung früherer Sicherheiten und Gewissheiten.
Obwohl die neue Arbeiterbewegung also eine Menge rückwärtsgewandter Antriebselemente hatte, wies sie im Großen und Ganzen doch nach vorn, in die Zukunft. Auch das lässt sich bei sozialen Bewegungen oft genug beobachten: Die Energien, die entstehen, indem traditionelle Ansprüche aufgrund gesellschaftlichen und ökonomischen Wandels nicht mehr erfüllt werden, verharren nicht in überlebten Organisationsstrukturen; sie führen nicht nur zu nostalgischen Defensivkämpfen, sondern zugleich zu neuartigen Aktionsmethoden, Postulaten und Forderungen. So auch bei der frühen Arbeiterbewegung. Schon bald war sie mehr als lediglich die kulturelle und organisatorische Verlängerung überkommener Zunftstrukturen, nämlich eine wirklich neue soziale Bewegung von Arbeitern, nicht von Gesellen. Die Gesellenproteste der vormodernen Zeit waren defensiver Natur, sie konzentrierten sich auf die Verteidigung alter Rechte. Die Arbeiterbewegung aber ging schnell in die Offensive, forderte neue Rechte, verlangte mehr Teilhabe und Mitwirkung. Und die Gesellen der verschiedenen Gewerbe verstanden sich zu Beginn der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts allmählich kollektiv als Arbeiter, da sie – im Falle von Krankheit, Invalidität, im Alter und hinsichtlich der kapitalistischen Konjunkturzyklen – die gleichen Risiken trugen und die gleichen Nöte litten. In diesem Lernprozess bildete sich die moderne Sozialdemokratie.
Doch zunächst handelte es sich dabei lediglich um eine Avantgarde, gleichsam den Vortrupp der entstehenden Arbeiterklasse. Mehr als einige tausend Mitglieder gehörten dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein in den 1860er Jahren nicht an. Ferdinand Lassalle hatte 1863, als er den Verein gründete, noch von hunderttausend gesprochen, die er rasch beisammenhaben wollte. Aber zu seiner großen Enttäuschung kamen die Massen anfangs nicht.
Man mag verwunderlich finden, dass gerade Lassalle, der jüdische Intellektuelle und Bohemien, der sein Geld als Anwalt verdiente, diejenige geschichtliche Figur wurde, die viele für den Gründer der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung halten.
Lassalle stammte aus Breslau, wo er im April 1825 geboren wurde, als Sohn eines wohlhabenden Tuchhändlers. Der Name der Familie schrieb sich damals «Lassal», was Sohn Ferdinand als junger Erwachsener mit 26 Jahren für sich in «Lassalle» modifizierte – wohl auch, um weniger Assoziationen zu seiner jüdischen Herkunft, die ihm unangenehm, zeitweise sogar verhasst war, zu wecken. Ferdinand Lassalle wollte hoch hinaus, schon als Kind. Und sein Vater, der den Sohn früh hätschelte, ja bewunderte, bestärkte ihn in seinem Ehrgeiz. Auch andere Ältere waren fasziniert, oft gar eingeschüchtert vom Temperament, vom Scharfsinn, der unglaublich raschen Auffassungsgabe und oratorischen Virtuosität Lassalles. Alexander von Humboldt, die Geistesgröße in Berlin zur Mitte des 19. Jahrhunderts schlechthin, sang adorierende Hymnen auf den jungen Genius. Heinrich Heine huldigte ihm – und fürchtete sich zugleich vor der hemmungslosen Egozentrik. Lassalle war stolz darauf, ein Mann der Tat zu sein. Die Großautoritäten des theoretischen Sozialismus jener Jahre hingegen, Karl Marx und Friedrich Engels, mochten Lassalle nicht sonderlich. Insbesondere Engels hatte für ihn beinahe nur Spott, bösartige Mokanzen übrig. Er konnte Lassalle regelrecht nicht ausstehen. Friedrich Engels war ein denkbar uneitler Charakter, der nie darunter litt, ein wenig im Schatten des anderen Genius, von Karl Marx also, zu stehen. Lassalle wiederum war an Eitelkeit kaum zu überbieten. Und so verhöhnte Engels ihn als «Gecken» mit der «überschnappenden Stimme», als «Schuft», als «Richelieu des Proletariats». Marx hatte einige Zeit einen etwas offeneren, faireren Blick auf Lassalle, als er dessen Stärken sah. Wie dieser, so hatte auch Marx eine besondere Schwäche für Frauen adeliger Herkunft. Aber Marx übertraf in seinen Invektiven gegenüber Lassalle seinen Freund Engels dann doch um einiges. Er, selbst jüdischer Herkunft, bezeichnete Lassalle als «Jüdel», den «Dunklen», einen «jüdischen Nigger». Aber nach dem frühen und überraschenden Tod Lassalles im Duell sandten selbst Marx und Engels, die verlässlichen Spötter, nun respektvolle Kondolenzbriefe nach Deutschland, in denen sie Lassalle als den «einzigen Kerl in Deutschland» bezeichneten, der schon deshalb ihr Freund gewesen sei, weil er als Feind der Bourgeoisie agiert habe.
Mitte April 1862 hatte Lassalle mit einer Rede vor Berliner Arbeitern, die anschließend als «Arbeiterprogramm» publiziert wurde, auch in Sachsen Aufmerksamkeit erregt. Arbeiter in Leipzig zeigten sich so beeindruckt, dass sie Ende des Jahres Lassalle die Anführerschaft einer neuen Arbeitervereinigung antrugen. Lassalle bestand auf einer formell korrekten, offiziellen Aufforderung, die dann im Februar 1863 eintraf. Daraufhin sandte Ferdinand Lassalle am 1. März 1863 ein «offenes Antwortschreiben an das Zentralkomitee zur Berufung eines Allgemeinen Deutschen Arbeiterkongresses zu Leipzig» ab, das gleichsam zur Programmschrift der frühen deutschen Sozialdemokratie avancierte. Ende Mai 1863 gründete sich der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein (ADAV) und bestimmte Ferdinand Lassalle für die Dauer von fünf Jahren zu seinem Präsidenten. Gemäß dem «Antwortschreiben» seines neuen Präsidenten zielte der ADAV zuvörderst auf die Einführung eines allgemeinen und gleichen Wahlrechts, schließlich auf die Bildung von Produktivgenossenschaften mit Hilfe staatlicher Förderung. Der Staat spielte im Denksystem des Hegelianers Lassalle eine ausschlaggebende Rolle; mittels seiner sollte sich die sittliche Idee des Sozialismus vollziehen und erfüllen.
Den Liberalismus dagegen verachtete der Präsident des ADAV in den letzten Jahren seines Lebens geradezu. Die «Fortschrittspartei» der liberalen Bürger war ihm gar der Hauptfeind schlechthin – nicht die Konservativen, nicht die Junker, nicht der Adel. Mit Bismarck konnte der Chef der Sozialisten stundenlang angeregt parlieren. Dieser, der preußische Ministerpräsident, war wenigstens ein wirklicher «Mann». Hingegen die Liberalen: «Alte Weiber», wie Lassalle gerne in seinen Ansprachen sarkastisch ausspie. Das Bündnis der Arbeiter mit der liberalen Bourgeoisie, hämmerte Lassalle seinen Zuhörern ein, sei auf immer vorbei.
Aber dann traf er bei seiner Kur in Kaltbad auf dem Rigi in der Schweiz auf Helene von Dönniges, die attraktive 18-jährige Tochter des Historikers und bayerischen Diplomaten Wilhelm von Dönniges. Ihretwegen starb Lassalle am 31. August 1864 im Duell, nur 15 Monate nachdem er die Präsidentschaft des ADAV übernommen hatte.
Mit seinem Tod setzte in der Arbeiterbewegung ein regelrechter Lassalle-Kult ein, der bis zum Ende der Weimarer Republik die sozialdemokratischen Festivitäten prägte. Stets sang man dort die Arbeiter-Marseillaise, die zur Totenfeier von Lassalle einen neuen Refrain erhalten hatte:
«Nicht zählen wir den Feind,
nicht die Gefahren all!
Marsch, Marsch, Marsch, Marsch
der kühnen Bahn nun folgen wir die uns geführt Lassalle!»
Im Grunde war dieser Kult, der in den 1860er und 1870er Jahren in höchster Blüte stand, nur schwer nachvollziehbar, wenn man die genauen Umstände von Lassalles Tod reflektiert. Hier hatte sich kein heldenhafter Sozialist im selbstlosen Kampf für die proletarische Sache geopfert. Hier war ein eitler Mann im anachronistischen Duell gefallen, weil ihm ein junges Mädchen, das er kaum näher kannte, nach einigen glühenden Liebesbekundungen unerwartet schnippisch die kalte Schulter gezeigt hatte. Nur: Lassalles Anhänger wussten nichts Genaues von dem, was sich da in der fernen Schweiz wirklich ereignet hatte. Die Gerüchte, die umherschwirrten, gingen vorwiegend in die Richtung, dass die feudale Reaktion den tapferen Freiheitskämpfer Lassalle in die Falle gelockt und hinterhältig niedergestreckt habe. Lassalle sei demnach als kühner und unbestechlicher Vorkämpfer für das Anliegen des Proletariats und dessen Befreiung gestorben. Daran glaubten Anhänger des ADAV noch viele Jahre später.
Damit war die Art und Weise vorgezeichnet, wie in der frühen deutschen Arbeiterbewegung Lassalles gedacht, wie mit der Erinnerung an ihn umgegangen wurde. Der 31. August, der Todestag des ADAV-Chefs, war für rund zwei Jahrzehnte der Feiertag dieses Teils der Arbeiterbewegung schlechthin. Die Katholiken pflegten ihre Prozessionen am Fronleichnamstag; die protestantischen Bürger erbauten sich seelisch am Sedanstag, hissten ihre Fahnen mit den schwarz-weiß-roten Farben; und die neue sozialistische Bewegung gedachte, jeweils einen Tag vor dem Sedansfest, feierlich Ferdinand Lassalles nahezu im Stil einer religiösen Messe, liturgisch wie in den christlichen Kirchen. In dieser jährlichen Zeremonie verkörperte Lassalle den neuen, wiedergekehrten Nazarener, den Heiland und Messias des 19. Jahrhunderts.
Doch zu Lebzeiten zeichnete Lassalle unzweifelhaft politischer Instinkt aus, der Sinn für den historischen Moment, überdies die entschlossene Handlungskraft, um eine sich bietende Gelegenheit beim Schopf zu ergreifen. Auch gehörten bei ihm Tat und Gedanken eng zusammen; Politik verstand er als die Praxis der Idee. Ein begründungs- und zielloser Pragmatismus kann sich jedenfalls nicht auf Lassalle berufen. Seine Vorliebe für einen genossenschaftlichen Sozialismus ist vielleicht zu Unrecht rasch in Vergessenheit geraten. Seine Insistenz auf die Organisation hat die Arbeiterbewegung in Deutschland lange geformt, hat ihr in schwierigen Zeiten Rückzugsräume, Personal, Fundament und Krisenresistenz verliehen. Mit seinem Einsatz für das allgemeine Wahlrecht und für Wahlagitation hat er die sozialistische Bewegung gewissermaßen zivilisiert, von geheimbündlerischen Träumen und Praktiken abgetrennt. Aber Lassalle war auch ein plebiszitärer Populist. An die parlamentarische Demokratie dachte er nicht, wenn er über die Wege der Revolution – die ihm immer näherstand als die langsame Reform – nachsann. Daher war die neue Partei auch auf ihn zugeschnitten, den präsidialen Charismatiker, der zentralistisch vorgab, wohin das arbeitende Volk zu gehen hatte. Auch das gehört zum Erbe, das Lassalle der Arbeiterbewegung in Deutschland hinterließ.
Schon der wichtigste seiner Nachfolger trat es an: Johann Baptist von Schweitzer. Es gehörte fraglos zu den Eigentümlichkeiten der neuen sozialistischen Bewegung, dass ihre Gründungspatrone und Protagonisten weder aus der Arbeiterklasse stammten noch recht eigentlich intime Kenntnisse der proletarischen Verhältnisse besaßen. Der eine, Ferdinand Lassalle, war ein berüchtigter Salonlöwe, Liebhaber schöner Frauen und exquisiter Weine, ein früher Rentier und Bohemien; der andere, Johann Baptist von Schweitzer, war Sprössling einer Frankfurter Patrizierfamilie, promovierter Jurist und Autor von Theaterstücken, ein Komödiant. Sein politisches Engagement zielte anfangs auf die nationale Bewegung in den Turn- und Schützenvereinen, in denen er jeweils führende Funktionen innehatte. Danach konzentrierte sich seine Aktivität auf die Arbeiterbildung. Dann aber kam er in seiner Frankfurter Heimatgegend politisch nicht mehr voran, da er wegen Päderastie in Mannheim im Gefängnis eingesessen hatte, was zu seiner Ächtung im Arbeitervereinswesen am Main geführt hatte. Von Schweitzer siedelte nach Berlin über, kam mit Ferdinand Lassalle zusammen, gründete die neue Parteizeitung, den Socialdemokrat. 1867 rückte er dann ganz an die Spitze des ADAV, gelangte überdies als Abgeordneter in den Norddeutschen Reichstag.
1868 war von Schweitzer ohne Zweifel die zentrale Führungsfigur in der sozialdemokratischen Bewegung. Diese stieß allerdings – junge politische oder soziale Bewegungen pflegen sich gerade zu Beginn zu spalten und mit einer gehörigen Portion Unversöhnlichkeit miteinander zu streiten – auf die erbitterte Gegnerschaft der leitenden Figuren der zweiten sozialdemokratischen Organisation, nämlich August Bebel und Wilhelm Liebknecht. Der Parteihistoriker Franz Mehring attestierte später von Schweitzer, in jenen Jahren «der am klarsten und schärfsten blickende Sozialist auf deutschem Boden» gewesen zu sein. Erst durch ihn wurde die kleine Sekte, die Lassalle geschaffen hatte, zu einer schlagkräftigen, verhältnismäßig geschlossenen, taktisch verblüffend klug operierenden Formation. Im Vergleich zu Wilhelm Liebknecht, dem ewigen 1848er und Romantiker des politischen Kampfes, hatte von Schweitzer, eifriger Rezipient der Schriften Machiavellis, einen analytischen, illusionslosen Blick für politische Kräfteverhältnisse und Handlungsmöglichkeiten. «Kein anderer deutscher Arbeiterführer», schrieb ein weiterer Historiker der Sozialdemokratie, Gustav Mayer, «hatte so wenig wie er vom Ideologen in sich.» Wie Ferdinand Lassalle, so besaß auch von Schweitzer einige Bewunderung für die meisterlichen politischen Schachzüge Bismarcks. Und wie Lassalle, vielleicht gar noch stärker als dieser, baute auch von Schweitzer seine Parteiführung in der jungen Sozialdemokratie autokratisch aus, strebte einen sozialistischen Bonapartismus bzw. Cäsarismus an.
Mit solch maßlosen Ambitionen entfachte und stärkte von Schweitzer allerdings oppositionelle Kräfte im eigenen Lager, was dazu führte, dass er 1871 von der politischen Bühne abtrat – wenngleich er mit der ihm eigenen Raffinesse zuvor noch versucht hatte, die Mitglieder der Partei gegen die ihm zusetzenden Delegierten und Aktivistenkader auszuspielen. Aber auch die Genossen an der Basis hatten sich zuletzt mehr und mehr von ihm abgewandt. Zu sehr war seine persönliche Integrität ins Gerede gekommen. Von Schweitzer liebte die Annehmlichkeiten eines luxuriösen Lebens, ohne sich ein solches materiell leisten zu können. Er verschuldete sich hier, pumpte sich dort etwas, konnte das Geld nicht zurückzahlen und griff – so warf man ihm zumindest vor – beherzt selbst in die Kasse des Arbeitervereins. Infolgedessen galt er vielen Historikern der Arbeiterbewegung als eine «dekadente», «moralisch zweifelhafte» und «derangierte» Persönlichkeit. Doch leugneten die meisten Autoren nicht von Schweitzers besondere Verdienste um den Ausbau und die Festigung der Sozialdemokratie, wenngleich ihn vor allem August Bebel, Friedrich Engels und Karl Marx inbrünstig verachteten und schmähten.
Karl Marx’ Schriften trugen in den darauffolgenden Jahrzehnten zur großen Sinnstiftung der sozialistischen Bewegung bei. Nach und nach eigneten sich die führenden deutschen Sozialdemokraten die Analysen und Prognosen von Marx an und verbreiteten eine Art volksmarxistische Version in der Anhängerschaft der Partei. Marx war im Grunde ein Geschöpf des bürgerlichen Zeitalters, der Aufklärung, des Rationalismus, der Ehrfurcht vor Erkenntnis, Wahrheit, Wissenschaft. Marx war ein Forscher aus Leidenschaft. Tag für Tag saß er stundenlang in der Bibliothek des British Museum, las auch noch die entlegensten Bücher, exzerpierte unermüdlich – um sich und seine Ansicht immer wieder aufs Neue zu korrigieren. Abends ging es dann zu Hause bis in die Nacht weiter, in einem mit Büchern, Blättern und Manuskripten vollgestopften Arbeitszimmer, das für Außenstehende einen chaotischen Eindruck gemacht haben muss. Leicht machte es sich Marx mit seinem unbändigen Lesehunger nicht. Denn er fand nie ein Ende, ließ es nie genug sein. Der Imperativ des Zweifels – auch an sich selbst – war ihm Elixier, ehernes Gebot und: Plage wie Paralyse. Es ging ihm da wie anderen weit überdurchschnittlich begabten Geistern. Ihre Ansprüche sind hoch, die an sich selbst angelegten Maßstäbe oft kaum erreichbar. Das Opus, das sie schaffen wollen, soll einzigartig, komplett, vollendet sein, im höchsten Glanz erscheinen, noch nach Jahrzehnten Bestand und Gültigkeit haben. Solche Ambitionen spornen zunächst an, aber sie lähmen auch, umso mehr, je näher der Termin der Werkvollendung rückt. Das galt auch für Marx. Er brauchte Jahre, ja Jahrzehnte für seine großen Analysen zur Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft; das meiste brachte er gar nicht erst zum Abschluss, mochten auch seine Freunde drängen, wie sie wollten. Marx war kein Autor, der diszipliniert schrieb, Fristen und Verträge einhielt. Meist flüchtete er sich, wenn es ernst wurde, in Krankheiten. Er war ein großer Hypochonder, bekam aber auch wirklich die somatischen Folgen zu spüren. Seine Leidensgeschichte mit all den Furunkeln und Karbunkeln an den empfindlichsten Körperstellen wurde hernach in der Medizin- und Psychologiegeschichte des Sozialismus legendär.
Weit leichter gingen Marx seine zahllosen Pamphlete von der Hand, in denen er seine ebenso unzähligen Gegner «vernichtete». Häme, Sarkasmus, Sottisen – darüber verfügte Marx überreichlich. Er konnte über die unbedeutendsten Köpfe seiner Zeit Hunderte von Seiten zwar boshafter, aber brillanter Polemik verfassen, Seite für Seite gefüllt mit ebenso funkelnden wie verächtlichen Aperçus. In dieser Art, in der Marx seine Widersacher intellektuell zerfetzte, blieben ihm die späteren Epigonen des «Marxismus» treu. Die Negation war jedenfalls die stärkste Seite von Karl Marx. Oder freundlicher ausgedrückt: die Kritik. Marx bestach durch seine Kritiken – an Hegel, an Feuerbach, an der Ökonomie des Kapitalismus, am Gothaer Programm der jungen deutschen Sozialdemokratie. Immer konnte Marx messerscharf sezieren, wo die Aporien lagen, wo der Schein das reale Sein überdeckte, wo Texte ins Phrasenhafte abrutschten. Er dachte weniger über präzise Alternativen, über Wege, Techniken und Instrumente des anderen nach. Dergleichen tat er hochfahrend als kleinbürgerliche Utopisterei und philiströse Spekulation ab. Auch sprachen aus seinen sozialistischen Schriften kein Altruismus, keine Wärme, kein Mitgefühl. Man gewann nicht den Eindruck, dass da jemand mit dem Subjekt seiner Geschichtsphilosophie, dem Proletariat, mitlitt. Sein primäres Interesse galt der bürgerlichen Gesellschaft, der inneren Dynamik des Kapitalismus. Davon war er zutiefst erregt: von der mächtigen Expansionskraft der kapitalistischen Produktionsweise, von der Wucht, mit der sie territoriale Grenzen einriss und sich international ausdehnte – niemand sonst hat die Globalisierung so früh und hellsichtig antizipiert wie eben Marx bereits in den 1840er Jahren, als die Mehrheit der europäischen Nationen noch tief in der Feudalität steckte.
Marx war fasziniert vom Kapitalismus, beeindruckt auch von der Fortschrittsfähigkeit des Bürgertums. Und zugleich hasste er dies alles. Nichts charakterisierte das Leben des deutschen Emigranten im Londoner Exil mehr als die stete Spannung von extremem Leistungswillen und düsterer Destruktivität, von Suche nach Zuneigung und triebhafter Zerstörung der meisten Freundschaften. Marx wollte Meister sein, in philosophischen Runden, im Kommunistenbund, in der sozialistischen Internationale. Doch zugleich konnte er gläubige und beflissene Jünger nicht ertragen; er wies sie hochmütig und kalt von sich ab. Die besten Freunde – mit Ausnahme des kommunistischen Fabrikanten Friedrich Engels – gerieten früher oder später zu abgründig gehassten Feinden. Aus dieser Spannung zog Marx viel Energie – allerdings auch in schlimmer autoaggressiver Hinsicht.
Ferdinand Lassalle (1825–1864), Sohn großbürgerlicher Eltern, gilt als Begründer der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung in Deutschland. Er war eine charismatische Persönlichkeit und hatte große politische Pläne. Doch starb er früh, 39-jährig, in einem Duell. Reichskanzler Bismarck sagte in einer Reichstagsdebatte im September 1878 über ihn: «Lassalle war ehrgeizig im hohen Stil, und ob das deutsche Kaisertum gerade mit der Dynastie Hohenzollern oder mit der Dynastie Lassalle abschließen solle, das war ihm vielleicht zweifelhaft.»
Der exilierte Marx gehörte zu jenen gesellschaftlich eher randständigen, politisch jedoch ehrgeizigen Intellektuellen, deren Zusammenspiel mit bildungsbeflissenen Handwerksgesellen charakteristisch für die frühe deutsche Sozialdemokratie war. Schon die wandernden Gesellen der 1830er Jahre hatten in Paris, Zürich und London emigrierte Intellektuelle kennengelernt – und mit ihnen so manche sozialistische Utopie. Bis 1933 trifft man in der Geschichte der deutschen Sozialdemokratie oft auf den Typus des marginalisierten, beruflich blockierten, religiös oder politisch geächteten Bildungsbürgers, der in der Arbeiterbewegung einen Platz und nicht selten auch eine Führungsrolle suchte. Dieser «Konvertit» hatte sich an seiner Herkunftsklasse wund gerieben, sich über deren haltlosen Opportunismus und mangelnden Idealismus empört und sodann in der Arbeiterklasse den neuen kollektiven Heiland entdeckt. Das wurde oft genug noch alttestamentarisch überhöht: Jenen Intellektuellen galt der Sozialismus als Erlösungsbotschaft für die gesamte Menschheit; und sie selbst sahen sich gern als Auserwählte, jeder für sich ein Moses, der das Volk in das gelobte Land der klassenlosen Gesellschaft führen würde. Das Gros der ehrgeizigen revolutionären Intellektuellen interessierte sich dabei nicht sonderlich für die Alltagsnöte und Problemlösungen der unteren Schichten. Die authentische Volks- und Arbeiterkultur mit ihren derben Sitten, oft brutalen Umgangsformen – alkoholgeschwängert, schmutzig, zotig – bereitete ihnen vielmehr Unbehagen, ja: Ekel. Die Intellektuellen dachten, wenn sie die geschichtliche Rolle der Massen priesen, an den lesenden, bildungsbeflissenen, disziplinierten Arbeiter der Bildungsvereine. Dieser rezipierte, was jene formulierten; der Arbeiter sollte in die Richtung gehen, die ihm die Intellektuellen wiesen.
Bildung war jedenfalls das Zauberwort für jene Handwerksgesellen, welche die frühe Sozialdemokratie begründeten. Das zweite Zauberwort in diesen Kinderjahren der Arbeiterbewegung lautete «Assoziation». Und als drittes kam noch die «Produktivgenossenschaft» hinzu, die als Leitidee allerdings sehr viel schneller an Kraft verlor und die sozialdemokratische Arbeiterbewegung längst nicht so durchdrang und festlegte wie eben «Assoziation» oder «Bildung». Alles in allem spiegelte diese Trias frühsozialistischer Identität die Verhaltensmaßstäbe, die Gruppenmoral, auch die Wunschvorstellungen, Träume und Hoffnungen der Handwerker und der qualifizierten Arbeiter. Es war ein gut organisierter, selbstverwalteter, ausbeutungsfreier Werkstattsozialismus, nach dem die Pioniere der deutschen Sozialdemokratie strebten.
Ungelernte Arbeiter ließen sich davon jedoch weniger faszinieren; und überhaupt sollte die Kluft zwischen gelernten und ungelernten Arbeitern in der deutschen Sozialdemokratie lange Zeit fortbestehen: Die Sozialdemokratie war von Beginn an Bewegung und Partei der disziplinierten, ehrgeizigen, aufstiegswilligen Arbeiter; jene, die über diese Tugenden und Einstellungen nicht verfügten, fremdelten ihr gegenüber oft, gehörten nicht zu ihren treuen Anhängern und standen in Krisenzeiten schnell abseits oder in anderen politischen Lagern.
Und schließlich gab es ebenfalls von Anfang an die innersozialistischen Streitigkeiten, Flügelkämpfe und Spaltungen, die so typisch für die Geschichte der Arbeiterbewegung wurden. Die meisten Arbeitervereine machten schon 1863 nicht mit, als Lassalle die autonome Arbeiterpartei ausrief; die Mehrheit verblieb im Organisationsrahmen des liberalen Bürgertums, bis sich 1869 in Eisenach die Sozialdemokratische Arbeiterpartei als zweite eigenständige Formation der Arbeiterschaft und des Sozialismus konstituierte. Deren Anführer waren August Bebel und Wilhelm Liebknecht. Dieser zweite Flügel der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung war weniger zentralistisch, weniger autokratisch als der von Lassalle geformte. Im Übrigen unterschied man sich in der nationalen Frage: Die Lassalleaner hielten zu Preußen, die Richtung Bebel/Liebknecht bevorzugte die großdeutsche Lösung. Besonders in den ersten Jahren ging es zwischen den Angehörigen der beiden Parteien ziemlich rüde zu. Sie sprengten einander die Veranstaltungen, beschimpften und prügelten sich zuweilen. Erst in den frühen 1870er Jahren, als die Kontrahenten gleichermaßen Opfer staatlicher Kriminalisierung und Illegalisierung waren, hörte der Kleinkrieg auf. Hinzu kam die wirtschaftliche Krise, die nach dem Gründerkrach 1873 einsetzte. Beides zusammen, der Druck des Obrigkeitsstaates wie der kapitalistischen Depression, brachte die verfeindeten Lager des frühen Sozialismus einander rasch näher, ja einte die Sozialdemokratie: 1875 wurde in Gotha die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands gegründet.
Karl Marx spuckte Gift und Galle gegen das Programm, das sich die vereinte Sozialdemokratie gab. Mit dem ihm eigenen boshaften Scharfsinn sezierte er die Widersprüche, Ungereimtheiten und «lassalleanischen Phrasen» des Gothaer Programms. Doch die Philippika des im Londoner Exil lebenden sozialistischen Meisterdenkers drang nicht recht nach Deutschland durch. Sie hätte auch nicht viel bewirkt, denn die deutschen Sozialdemokraten wollten den lästigen Parteienstreit im eigenen Lager endlich beilegen; auf theoretischen Glanz kam es ihnen in dieser Situation kaum an. Überhaupt echauffierte sich Marx 1875 im Grunde ganz unnötig: Die Zeit des «Lassalleanismus» lief in den 1870er Jahren ohnehin ab, die Zahl der «Marxisten» in der deutschen Arbeiterbewegung dagegen nahm stetig zu. Der massive politische und ökonomische Druck, der die Arbeiterbewegung in diesem Jahrzehnt einte, war zugleich der Resonanzboden für die Verbreitung marxistischer Ideen und Begrifflichkeiten.
Nur selten zuvor hatten die Arbeiter in Deutschland die Klassengesellschaft und den Klassenstaat als so bedrohlich, rücksichtslos und demütigend empfunden wie in den 1870er Jahren. Auf den Gründerkrach 1873 folgte eine langanhaltende wirtschaftliche Stagnation. Firmenzusammenbrüche und Entlassungen häuften sich, Streiks blieben erfolglos, und bald war die gewerkschaftliche Gegenmacht empfindlich geschwächt. Zum Ende des Jahrzehnts führte ein Bündnis von Konservativen und Rechtsliberalen überdies noch die Schutzzollpolitik ein, durch die sich importiertes Getreide verteuerte, wodurch wiederum die Lebensmittelpreise erheblich stiegen. So gerieten die städtischen Arbeiter ökonomisch und sozial mehr und mehr in Bedrängnis.
1878 verübten zwei von wirren politischen Ideen geleitete Männer, Max Hödel und Karl Nobiling, Attentate auf den Kaiser. Reichskanzler Bismarck nutzte dies, um seinen größten innenpolitischen Gegner auszuschalten, und brachte das «Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie» durch den Reichstag. Die sozialdemokratische Partei war fortan verboten. An diese bitteren und gleichzeitig prägenden Jahre für die deutsche Sozialdemokratie erinnerte sich August Bebel 1903: «Die Schläge fielen hageldicht, alles wurde zertrümmert …, Hunderte und wieder Hunderte von Genossen wurden brotlos … Wir wurden wie räudige Hunde aus der Heimat hinausgetrieben.»
Gewiss: Eine solche Krisensituation war für Arbeiter keine ganz ungewöhnliche Erfahrung, und sie allein hätte die deutsche Sozialdemokratie wohl nicht für marxistisches Vokabular geöffnet; da mussten noch die politische Entrechtung, ja die gesellschaftliche Stigmatisierung hinzukommen, welche die Sozialdemokraten zwischen 1878 und 1890 erlebten. Dies war die Zeit des Sozialistengesetzes, mit dem Reichskanzler Otto von Bismarck die Sozialdemokratie zu zerschlagen suchte. Als im Mai und im Juni 1878 zwei Psychopathen Attentate auf den greisen Kaiser Wilhelm I. verübten, instrumentalisierte Bismarck dieses Ereignis kurzerhand und boxte das «Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie» durch den Reichstag. Dabei waren die beiden Attentäter gar keine Sozialdemokraten: Der eine zählte zu den Anhängern des antisemitischen Hofpredigers Adolf Stoecker, der andere sympathisierte mit den Nationalliberalen. Aber darauf achtete in der Hysterie, die nach den Schüssen auf den Kaiser Oberhand gewann, kaum jemand; fast herrschte eine Art Pogromstimmung gegen die Sozialdemokraten. Bismarck, der sich vor der «Partei des Umsturzes» fürchtete, nutzte das kühl kalkulierend aus. Und so wurde die Parteiorganisation in den nächsten zwölf Jahren verboten, ebenso die Gewerkschaften; die sozialdemokratischen Zeitungen mussten ihr Erscheinen einstellen, und ein großer Teil der Parteielite – Agitatoren, Journalisten und Organisatoren – kam unter Anklage, landete in Zuchthäusern, wurde ausgewiesen oder zur Emigration gezwungen. Und stets bekamen sie das brandmarkende Verdikt von den «vaterlandslosen Gesellen» höhnisch hinterhergeschickt.
Nur wenige andere Phasen in der deutschen Geschichte haben die Sozialdemokraten so nachdrücklich und dauerhaft geprägt wie die Zeit unter dem Sozialistengesetz. Sie wurden verachtet, verfolgt und beleidigt, sie fühlten sich gedemütigt – und das von allen gesellschaftlichen Kräften. Anfangs hatten sich lediglich Nationalliberale und Konservative hinter die Bismarck’sche Verbots- und Unterdrückungspolitik gestellt; später dann, als das Sozialistengesetz verlängert werden musste, fand sie aber auch die Unterstützung von Zentrumsabgeordneten und Linksliberalen. Das wurde zum Urerlebnis der Sozialdemokraten im Umgang mit sozialen und politischen Gruppen: Seither taten sie sich schwer mit bürgerlichen Bündnispartnern und misstrauten prinzipiell der Charakterfestigkeit deutscher Liberaler. Seither teilten sie die Gesellschaft streng in Gut und Böse auf, in «wir und die anderen».
Von nun an herrschte in der Sozialdemokratie der marxistische Jargon vor. Natürlich wurden nicht alle sozialdemokratischen Arbeiter zu eifrigen und verständigen Lesern des bekanntlich ziemlich sperrigen Marx’schen Werks; man las eher – und auch das gilt bloß für eine kleine Minderheit – die popularisierten Fassungen von Friedrich Engels oder Karl Kautsky. Nein, es waren Schlagwörter und einzelne Begriffe aus dem Marx’schen Erklärungsarsenal, die damals die Runde machten. Lassalle hatte noch auf den Staat gesetzt, auch auf den preußischen und den Bismarck’schen; aber diese Position hatte mittlerweile jeden Rückhalt verloren. Der Staat galt den Sozialdemokraten nun unzweifelhaft als Klassenstaat. Im Marx’schen Duktus bezeichnete man sich selbst als «Proletariat», die anderen, die Herrschenden, als «Bourgeoisie». Von Marx hatte man überdies die Deutung übernommen, dass alle Geschichte eine Geschichte von Klassenkämpfen sei, und die Gewissheit, dass aus ihnen die Proletarier als historische Gewinner hervorgehen müssten. Die Arbeiterklasse würde am Ende die Bourgeoisie enteignen und eine ausbeutungsfreie Gesellschaft der Gleichen einrichten, ohne soziale Not, ohne polizeiliche Repression, ohne großen Arbeitsdruck. So musste es kommen – schließlich hatte Karl Marx es prognostiziert. In den schwer erträglichen Jahren der Unterdrückung jedenfalls glaubten immer mehr sozialdemokratisch orientierte Arbeiter bereitwillig an diese Lehre.
Es war die Mischung aus Religionsersatz und Wissenschaftsanspruch, die damals gerade die Elite der sozialdemokratischen Facharbeiter faszinierte. Viele von ihnen hatten sich soeben erst von der Kirche gelöst, aber damit nicht schon alle Heilsbedürfnisse hinter sich gelassen. Allerdings suchten sie nicht nach einer rein spirituellen Alternative, einem rein metaphysischen Ersatz für die aufgegebene Kirchlichkeit. Die lernbegierigen Facharbeiter dieser Zeit begeisterten sich vielmehr für die Naturwissenschaften; sie lasen allerlei einschlägige Traktate und vor allem auch Charles Darwin. Dies ergänzte sich mit ihrem Interesse an den popularisierten Formen des Marxismus, etwa an den Broschüren des Parteitheoretikers Karl Kautsky. Denn hier, in den Schriften Kautskys, verband sich Heilsversprechen mit wissenschaftlichem Anspruch, war der Chiliasmus gleichsam Naturgesetz. Die sozialdemokratischen Arbeiter glaubten nicht einfach an das sozialistische Endziel, sie wussten, dass es dazu kommen würde, weil es Folge und Ergebnis der gesellschaftlichen Entwicklung war. Dieses Verständnis von Politik und Gesellschaft wurzelte tief in der deutschen Sozialdemokratie und hielt sich dort noch ganze acht Jahrzehnte – zum Guten wie zum Schlechten: Die Sozialdemokraten standen zueinander selbst in schwierigen Zeiten, denn sie vertrauten auf die letztlich segensreiche «Entwicklung»; aber sie versteckten sich oft genug auch passiv und einfallslos hinter ihr, wo sie doch hätten vorpreschen, Einfluss nehmen und gestalten können.
Besonders Karl Kautsky (1854–1938) sorgte für die Verbreitung der Marx’schen Ideen in der deutschen Arbeiterbewegung. In den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts galt er als «Cheftheoretiker» der Sozialdemokratie. Er lieferte dem Parteiführer Bebel die entscheidenden theoretischen Stichworte, und zusammen mit Eduard Bernstein verfasste er das Erfurter Programm von 1891. Nach der Jahrhundertwende ließ sein Einfluss auf die Sozialdemokraten deutlich nach; in dem Moment, wo diese zu einem politischen Faktor wurden, handeln und sogar regieren mussten, war mit seinem verstaubten Determinismus nicht mehr viel anzufangen.
Während der Zeit des Sozialistengesetzes aber stärkte und festigte der optimistische marxistische Entwicklungsglaube die Sozialdemokratie zweifellos; die Zukunftsgewissheit spendete Trost, verlieh Kraft und gab Zuversicht. Mit dem Marxismus ließen sich politische Unterdrückung und soziale Not besser ertragen, und überhaupt empfand man ihn als attraktives, anziehendes Denkgebäude. Am Ende jedenfalls war Bismarck gescheitert: Der Reichskanzler hatte die Sozialdemokratie nicht zerstört, sondern größer gemacht. Zum Ausgang des Sozialistengesetzes vereinten die sozialdemokratischen Kandidaten bei den Reichstagswahlen dreimal mehr Stimmen auf sich als in der Zeit des Erlasses. Auch das prägte die Sozialdemokraten zutiefst: Sie hatten gelitten, man hatte sie ausgegrenzt und isoliert, aber schließlich waren sie erfolgreich. So zog es sie noch über Jahrzehnte – mitunter geradezu magnetisch – in die Pariastellung. Die Sozialdemokraten liebten es geradezu, zu leiden. Ihnen gefiel die Rolle des Ausgestoßenen, des Geächteten und Verfemten und dementsprechend die des Märtyrers, des Helden, der sich, aufrecht und anständig, dem Druck der Herrschenden nicht beugt und auf diese Weise über alle Feinde siegt. Unter dem Sozialistengesetz schufen sich die Sozialdemokraten ihr Epos, ihre Legende, aus der sie immer dann zitierten, wenn sie in Bedrängnis gerieten. Daran klammerte sich 1933 auch Otto Wels, als er dem Ermächtigungsgesetz der Nationalsozialisten entgegentrat und in der Kroll-Oper trotzig ausrief: «Das Sozialistengesetz hat die Sozialdemokratie nicht vernichtet. Auch aus neuen Verfolgungen kann die deutsche Sozialdemokratie neue Kraft schöpfen.»
Die bürgerlichen und feudalen Kräfte hatten die Sozialdemokratie unter dem Sozialistengesetz in die Isolation getrieben. Aber die marxistische Sozialdemokratie fand allmählich Geschmack an dieser Isolation, ja verschärfte sie noch durch ihren exklusiven Missionsanspruch, durch ihre radikale Klassenkampf- und Revolutionsrhetorik. Ihre Anhänger grenzten sich nach Aufhebung des Sozialistengesetzes sogar selbst und freiwillig ab, verließen beispielsweise auch solche – und keineswegs wenigen – «bürgerlichen» Freizeit- und Bildungsvereine, die gegen sozialdemokratische Arbeiter gar nichts hatten. Sie errichteten sich ihre eigene Welt, ihr separates Milieu, getragen von zahlreichen Kultur-, Sport- und Geselligkeitsvereinen. Der Sozialismus in Deutschland wurde zum Milieu- und Vereinssozialismus, streng abgeschottet von der bürgerlichen Organisations- und Lebensform.
Insofern hat das Sozialistengesetz die Arbeiterbewegung, wenn man so will, in die Gegenkultur getrieben, sie stärker nach links gerückt, weg von Lassalle, hin zu Marx. Auf der anderen Seite haben die Jahre der Unterdrückung – paradoxerweise und natürlich unbeabsichtigt – aber auch die moderaten und reformistischen Grundströmungen innerhalb der deutschen Sozialdemokratie gefördert. Die autarke Welt des sozialdemokratischen Milieus etwa, die damals entstand, radikalisierte nicht die Arbeiter, sondern dämpfte eher ihren Aktionismus, ihre Militanz, ihr revolutionäres Draufgängertum. Die «Milieusozialisten» wurden mehr und mehr Vereinsmeier, richteten sich, nicht unzufrieden mit dem Alltag, den man darin hatte, in ihren Gesangs-, Wander- und Sportclubs ein.
Das war nicht nur Spießbürgerlichkeit, sondern durchaus eine imposante Eigenkultur, eine große Organisationsleistung der Arbeiter, die auch der Emanzipation diente. Im sozialdemokratischen Bildungswesen beispielsweise lernten sie hinzu, was die staatlichen Volksschulen ihnen vorenthalten hatten. Aber das Milieu war keine Trainingsstätte, kein Katapult für die revolutionäre Tat. Vielmehr milderte es die Verbitterung der sozialdemokratischen Arbeiter, ihre Wut auf den Staat und die Herrschenden. Über ihr Milieu fanden sie einen festen Ort im Kaiserreich, nicht im Zentrum des Systems, nicht anerkannt von den mittleren und höheren Schichten, aber im Ganzen – vor allem nach der Zeit des Sozialistengesetzes – doch gesichert und geschützt. Sie mussten nicht im Untergrund leben und hatten keinen blutigen Terror von oben zu befürchten. Finster entschlossene Revolutionäre waren die sozialdemokratischen Vereinsmeier in Deutschland daher nicht. Sie hatten sich eine Heimat aufgebaut, ihre soziale und kulturelle Nische bewohnbar gemacht. Das alles setzten sie für unwägbare revolutionäre Risiken nicht einfach aufs Spiel.
Otto von Bismarck (1815–1898), Reichskanzler von 1871 bis 1890. Als virtuosem Diplomaten und nüchternem Realpolitiker waren ihm die großen weltanschaulichen Bewegungen seiner Zeit mit ihren Glaubenskräften und visionären Zielsetzungen – der Katholizismus ebenso wie die sozialistische Arbeiterbewegung – fremd. Während er die Sozialdemokratie als Partei mit Ausnahmegesetzen und Polizeiaktionen drangsalierte, versuchte er zugleich, die Arbeiter durch Sozialreformen an den Staat zu binden. Illusionslos und freimütig gab er zu: «Wenn es keine Sozialdemokratie gäbe und nicht eine Menge Leute sich vor ihr fürchteten, würden die mäßigen Fortschritte, die wir überhaupt in der Sozialreform bisher gemacht haben, auch nicht existieren, und insofern ist die Furcht vor der Sozialdemokratie … ein ganz nützliches Element.»
Die Sozialdemokraten hatten also selbst unter dem Sozialistengesetz mehr zu verlieren als nur ihre Ketten. Die zwölf Jahre Bismarck’scher Repression sind eben nicht zu vergleichen mit den zwölf Jahren des