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Cover

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, September 2019

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Covergestaltung Anzinger und Rasp, München

Coverabbildung schnuddel/iStock

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ISBN 978-3-644-10088-6

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

ISBN 978-3-644-10088-6

Walter Kopetzky,

eines großen Bewunderers

amerikanischen

Werkzeugs

JONI MITCHELL

 

«Ich bleibe hier», sagte ich zu Technical Sergeant Washington. «Vielen Dank, dass Sie mich mitgenommen haben.»

«War mir eine Freude, John.»

Wir schlugen ein. Was für unglaubliche Hände der Kerl hatte! Groß, aber nicht plump, sondern länglich und wohlgeformt, geschmeidig, seidig wie die einer Frau, spürbar geschickt und stark. Pianistenhände.

«John, überlegen Sie, ob Sie nicht einfach wieder mit mir mitkommen wollen. Sehen Sie sich doch um, wie es hier aussieht … Hab ich recht? Hier an der Siegfriedlinie, mein ich.»

 

«Ich fahre den Laster, wie Sie ja wissen, schon eine ganze Weile. Ich weiß, was die von oben hier reinpumpen. Und ich weiß auch, was hier rauskommt. Hab die Särge aus dem Hürtgenwald gesehen, in Cherryburg. Bald wird es einen eigenen Friedhof geben. John, Sie müssen doch nicht hierbleiben, keiner kann Sie zwingen. Kommen Sie wieder mit. Dieses Gebirge hier, dieser Wald. Verflucht. Das Sterben hat grad erst begonnen, wenn Sie mich fragen.»

«Das ist genau der Grund, warum ich hier sein muss. Aber danke!»

Noch einmal drückte er meine Hände, aber als er spürte, dass mein Entschluss stand, löste er sie.

Erste Schneeflocken sanken zur Erde.

«Leben Sie wohl, John, und Gott beschütze Sie!»

«Auf Wiedersehen, Moon.»

 

Ich sah ihm nach, bis der Lastwagen am Ende der Piste zum Stehen kam, um sich nach einer Weile in die Kolonne des Red Ball Express einzureihen, der ohne Unterbrechung, Tag und Nacht, quer durch Frankreich, Belgien und Luxemburg rollte, um den unfasslichen Bedarf unserer breit wie eine Ozeanwelle nach Osten flutenden Armee an jeder Art von Material zu decken. Unbeseeltem und lebendem.

Wir waren bei Germeter, im Bereich der 28. Division, die abgelöst hatte, was von der 9. Division noch übrig war. Merkwürdigerweise kam die 28. aus Pennsylvania. Ich habe dort Wurzeln, meine Mutter war Pennsilfaanier-Deitsche. Ich beeilte mich, zum Kompaniechef dieses Abschnitts zu kommen. Einem aus Philadelphia stammenden Italiener namens Captain Oleandro, dem ich meinen Marschbefehl

«Wollen Sie hier Urlaub machen?»

«Haben Sie Einwände?»

«Überhaupt nicht.» Er kaute so energisch auf seinem Bleistift herum, dass man es krachen hörte.

«Kein Problemo. Die Jerrys haben genügend Granaten für uns alle. Keiner kommt zu kurz. Da finden Sie gewiss tolle Geschichten für Ihre Zeitung.»

«Wir sehen uns später», sagte ich, ließ mein Gepäck im Zelt des Captains und mischte mich unter die frisch eingetroffenen Männer. Ich stieß auf einen Trupp waschechter Pennsilfaanier, die drauf und dran waren, in den Wald hineinzugehen.

«A Schtund», schrie der Sergeant auf Deitsch, «bleibts ma all schee zamme.»

Die Privates folgten ihm, die Karabiner im Anschlag, wie ein Pfadfinderfähnlein beim Geländespiel.

Diesen Weg war ich in Gedanken gleichsam Hunderttausende Mal gegangen. Deutschland! Jetzt setzte ich meine ersten Schritte auf das mythische Land meiner Vorfahren.

 

Die offizielle Alt-Reichsgrenze hatte ich im Lastwagen von Sergeant Washington überschritten. Wir waren an großen Warnschildern für die Truppen vorbeigekommen:

You are entering Germany!

Doch nun stand ich nicht nur mit meinen eigenen Füßen auf deutschem Boden, sondern ging sogar durch einen deutschen Wald, der ein schroffes, aber nicht allzu hohes Gebirge bedeckte, die Nordeifel südlich von Aachen. Hinter

 

Wir liefen etwa zwanzig Minuten, dann entdeckten wir den unter zerfetzten Bäumen und auf herausgebombten Schneisen liegenden Abschnitt des Schlachtfelds. Es war schon merklich dunkel.

Was hier vor wenigen Tagen geschehen war, überstieg damals noch unsere Vorstellungskraft. Was Granaten anrichteten, die hundert Jahre alte Fichten zu einem Splitterregen zerfetzten, der alles niedermähte, was sich unter ihm aufhielt. Die Panik, die Baumscharfschützen auslösen können oder sorgsam angelegte Tretminenfelder. Und schließlich der Kampf Mann gegen Mann, im dichten Unterholz, in einem grotesk unübersichtlichen Kleingebirge.

Wer sich hier auskannte, war immer im Vorteil. Dies war der Hürtgenwald. Ein grimmer deutscher Wald. Und es waren die letzten, aber auch die kampferfahrensten Truppen der Wehrmacht, die ihn gegen uns verteidigten.

 

Ich folgte zwei unbekümmerten Privates, die wie alte Freunde wirkten. Sie hatten die Karabiner hinten umgeschnallt und liefen umher wie Kinder, die Schnecken oder Pilze sammeln. Nachdem sie schon das eine oder andere vom Boden aufgelesen hatten, wurden sie plötzlich richtig fündig.

Der schlammige, halbgefrorene Waldboden leistete einigen Widerstand, und so zerrten sie mit vereinten Kräften an etwas, das sie als Arm eines Angehörigen der deutschen Wehrmacht ausgemacht hatten. Schwer zu sagen, wie der Landser getötet worden war. Die Ketten eines schweren Fahrzeugs, vielleicht eines Sherman-Panzers, hatten ihn

Ich kann mich gut an die Namen der beiden Pennsylvanier erinnern: Kirschfang und Showalter. Kirschfang stand über den Toten gebeugt und zerrte zusammen mit seinem Kameraden am nassgrauen Mantelstoff des linken Oberarms. Er bekam die eiskalte, schlammüberzogene Hand des Gefallenen zu fassen, berührte ihre schreckliche Teigigkeit, dann packte er sie und zog, so fest er konnte. Mit einem tiefen Seufzen gab die Erde den Brustkorb frei. Sie drehten den Leichnam auf den Rücken. Der Arm des Landsers fiel mit einem satten Schmatzen in den Schlamm. Kirschfang zog keuchend eine Taschenlampe hervor. Ihr Lichtschein huschte für einen kurzen Moment über das von einem Stahlhelm bedeckte Haupt des Deutschen, und wir sahen sein Gesicht. Oder was davon halt so übrig war.

Unterhalb der Nase war das meiste weg, kein Kiefer mehr da, ein paar Zähne standen im hautlosen Knochenfleisch heraus. Der Tote sah aus wie Red Skull persönlich. Ein Schaudern überlief uns.

Private Kirschfang sagte nichts, aber dafür Showalter. Sein Gesicht sehe ich genau vor mir. Diese lange Nase. Die rötlichen Augenbrauen. Ein Schmerz nachträglicher Empathie durchzuckte ihn. Er schluchzte mehr, als er murmelte: eine mitfühlende Obszönität. Dann wanderte der enge Lichtkreis der Taschenlampe über den Mantelkragen, aufgequollen und schwarz von Nässe. Der oberste Kragenknopf war offen, das Licht fuhr die Knopfleiste auf und ab, und Showalter kniete sich nieder und begann, dem Gefallenen den Mantel aufzuknöpfen.

«Jessas Maria, was für ei Muckadatsch hätt dem die Fress poliert», murmelte er, während er systematisch mit seinem

Hätte ich dem allen nicht selber beigewohnt, ich hätte es nicht für möglich gehalten. Ich war entsetzt und gebannt gleichermaßen. Dies war tatsächlich der Ort, nach dem Hemingway und ich gesucht hatten. Ich war angekommen.

Showalter öffnete den Mantel, die Lampe spielte über das darunterliegende Tuch der Uniformjacke. Metallisches Blitzen. Er griff sofort zu, entfernte geschickt die drei Auszeichnungen von der Uniform des Toten und hielt sie ins Licht.

«Was hem me?», fragte Kirschfang.

«Wiederholungsspang, desch Abzeiche füa de Teilnahm Winterschlacht von Kursk und ei Eisern Kreuz zweite Klass. Kei Hagkekreuz. Hagkekreuz is nua auf dera Spang.»

«Heb ich dirs ned gsacht?»

«Jo, bischd ei ganz gescheids Yingschi», bestätigte Showalter, ließ die beiden Auszeichnungen in sein Säckchen fallen, in dem schon eine Nahkampfspange und drei Infanterie-Sturmabzeichen, eines davon in Silber, verschwunden waren. Das der Beute nun hinzugefügte Eiserne Kreuz des Russlandveteranen war, wenn auch offensichtlich schon aus dem Ersten Weltkrieg, das bisher wertvollste Stück. Sie würden sich darüber unterhalten müssen, wer es bekommen würde, um es zu Hause der Familie zeigen zu können. Vielleicht würden sie eine Münze werfen.

 

Im Wald um uns herum hörten wir die anderen flüstern. Und das Knacken von Ästen. Alle suchten nach Trophäen. Am Morgen angekommen, war dies ihr erster Ausflug in einen Abschnitt, an dem erst kürzlich heftige Kampfhandlungen stattgefunden hatten.

Wir Neuen betrachteten diesen Abtransport der ausgebrannten eigenen Leute ungläubig, manche begriffen gar nicht, dass sie tatsächlich auf amerikanische Soldaten blickten, die gerade eine verheerende Niederlage erlitten hatten. Denn keiner von den jungen Pennsylvaniern, die jetzt durch den deutschen Wald streiften, um nach Andenken zu suchen, hatte je davon gehört, dass Amerikaner jemals eine Schlacht verloren hätten.

Sie waren Geschöpfe des Neunzigtagewunders, jener erstaunlichen Fähigkeit ihrer Ausbilder, binnen der kurzen Zeit von drei Monaten aus Collegeboys, frisch approbierten Zahnärzten und ungelernten Bauarbeitern voll einsatzfähige Soldaten zu machen. Angehörige einer der größten militärischen Organisationen, die es je auf dem Planeten Erde gegeben hat: der Armee der Vereinigten Staaten von Amerika.

Auch ich war ein Angehöriger dieser Armee. Leutnant John Glueck, Department for Psychological Warfare, kurz Sykewar. Psychologische Kriegsführung.

 

Alle anderen nannten uns Propaganda.

März 1971

Die abscheuliche Haut hat nichts mit mir zu tun, denn ich habe sie ja erst seit kurzem, diese sich selbst abstoßende, schuppenartig sich schälende Haut, die Folge einer durch einen chemischen Schock ausgelösten Krankheit. Über fünfundvierzig Jahre lang aber war ich ein Mann, den man gerne ansah. Frauen haben es mir gesagt, und oft spürte ich es auch, dass sie mich attraktiv fanden. Zumindest gutaussehend.

Aber dann hatte ich einen Unfall mit Entlaubungsmitteln in hoher Konzentration und bekam diese chronische Hautkrankheit. Es ist ein paar Jahre her. Doch wer mich heute sieht und nicht von früher kennt, würde niemals mehr denken, dass ich einmal einen makellosen Teint hatte. Dass es vielen Frauen jeden Alters wie nebenbei in den Sinn kam, mir ihre Hand für einen Moment auf den Unterarm zu legen oder zum Abschied Wangenküsse zu tauschen. Männer begrüßten mich gerne jovial per Handschlag oder klopften mir auf die Schulter. Das macht heute niemand mehr einfach so.

Unter der abgefallenen Schuppe schien sich schon die nächste zu bilden, und dummerweise fing es gleich daneben auch bereits an. Die Krankheit breitete sich aus und hat mittlerweile, vom Gesicht abgesehen, fast meine ganze Haut erfasst. Rot. Schorfig. Schuppig. Eine abartige Form von schuppenproduzierender Psoriasis. Das Einzige, was mich bei meinem Äußeren selber noch an früher erinnert, sind Nägel und Haar. Ich feile und pflege deshalb meine Nägel, und ich lasse niemanden an mein Haar, das silbergrau und mittlerweile ziemlich lang ist, aber sonst eben noch immer ganz und gar so, wie es einst war. Es ist, als ob ich mich daran in eine bessere Zeit hinablassen könnte. So soll es auch bleiben. Könnte sein, dass mir das noch Ärger machen wird bei dem, was ansteht.

 

«Ihr Auto ist in einer bewachten Polizeigarage abgestellt. Offiziell beschlagnahmt. Alle Türen versiegelt. Wegen des Wagens müssen Sie sich also keine Sorgen machen.» Kaetlin Lambert ist meine vom Staat Missouri gestellte Pflichtverteidigerin. Kat.

Ich überlege, Kat ganz offen zu sagen, was sich im Kofferraum befindet, aber dann verzichte ich darauf, um sie nicht noch mehr zu verwirren. Ein Schritt nach dem anderen.

«Sie waren viel, viel zu schnell. Seit Gouverneur Hearnes das Tempolimit durchgesetzt hat, ist das in Missouri keine Kleinigkeit mehr.»

«Ich weiß. Hearnes ist ein Umweltschützer. Progressiv.»

«Progressiv oder nicht: Er ist vor allem der Gouverneur und macht die Gesetze. Also. Sie haben dann trotz Blaulicht nicht gestoppt.»

«Ich habe ihn nach einer Weile rankommen lassen und bin dann langsamer geworden.»

«Gut. Als er Sie also gestoppt und aufgefordert hatte, ihm Ihre Papiere auszuhändigen, haben Sie behauptet, Sie hätten zwar keinen Führerschein, aber stattdessen eine geladene Waffe, auf die Sie dann auch gezeigt hätten.»

«Sie steckte im Brustgurt. Keine Gefahr.»

Jetzt hebt sie ihren Kopf, streicht sich mit der rechten Hand, in der sie auch den Kugelschreiber hält, ein paar Strähnen hinters Ohr, blickt auf und sieht mir ins Gesicht. Sie hat vielleicht zu wenig geschlafen, was feine Schatten unter ihre Augen malt. Sie stützt ihr Kinn auf die Kugelschreiberhand und betrachtet mich nachdenklich. Legt interessiert ihren Kopf in den Nacken. Wie lange wird sie es wohl aushalten, mich direkt anzusehen?

«Sie haben vorhin erwähnt, dass Sie vor nicht allzu langer Zeit noch in Vietnam waren.»

«Das ist richtig.»

«Als Sie im Auto die Waffe ins Spiel gebracht haben … hatte das mit Vietnam zu tun?»

Jetzt kneift sie die Augen zu und schüttelt skeptisch, leicht lächelnd den Kopf. Was soll das?, scheint sie sagen zu wollen.

«Was haben Sie in Vietnam getan, Major? Ein Kampfeinsatz?»

«Ich habe geforscht.»

«Geforscht? Geheimdienst?»

«Evaluierung und quantitative Marktforschung.»

«Wie darf ich mir das vorstellen?»

«Interviews. Gespräche. Fragebogen. Ich habe versucht, herauszufinden, was die Vietnamesen über uns denken.»

«Und was denken die Vietnamesen über uns?»

«Dass wir nicht wissen, mit wem wir uns eingelassen haben.»

Kat sinniert ein paar Sekunden über meine Antwort. Sie lächelt.

«Wieso haben Sie die Waffe gezogen?»

«Ich habe nur deutlich gemacht, dass ich eine habe.»

«Sie hätten leicht angeschossen werden können. Wofür das hohe Risiko?»

 

Ich glaube, Kat ist eine gute Anwältin. Sehr engagiert. Ich spüre förmlich, dass sie dem hautkranken Freak, der gestern in Offiziersuniform hinter dem Steuer eines himmelblauen Ford Zephyr festgenommen wurde, ohne Führerschein, aber mit durchgeladener Waffe, eine echte Chance geben will. Ich werde beschuldigt, ein Täter zu sein, aber in Kats Augen bin ich auch ein Opfer. Sie wird mich ernsthaft verteidigen, das ist klar zu spüren. Sie wird mehr als ihre Pflicht tun. Sie ist eine Verbündete. Und vielleicht möchte

Wenn ich ihr die Wahrheit erzählen würde, nämlich dass mir Agenten der Bundesregierung heimlich LSD in mein Abendessen gaben, um mich verrückt und fertigzumachen, dass dieser ungewollte Trip mich aber erst auf die Idee mit dem Zephyr brachte, würde sie fragen: Sind Sie sicher, dass es diesen Agenten nicht vielleicht gelungen ist? Also sage ich kein Wort darüber.

Dann betritt der Hilfssheriff den Raum und will mir die Handschellen anlegen.

«Bitte», sagt sie, «geben Sie uns noch eine Minute.»

«Gut. Aber keine Sekunde mehr. Ich lasse den Richter nicht gerne warten.» Er macht die Tür hinter sich zu.

 

Meine Anwältin beugt sich ein wenig vor, und der Indianerschmuck, den sie über ihrer Rüschenbluse trägt, klimpert. Sie scheint jetzt wirklich interessiert an der Sache.

«Ich kann Sie da rausholen. Aber irgendetwas sagt mir, dass Sie das überhaupt nicht wollen. Das mit der Pistole, das haben Sie gemacht, um die Sache eskalieren zu lassen. Stimmt’s?»

«Ich brauche nur etwas Zeit.»

«Zeit? Im Knast? Der Richter wird eine Kaution festsetzen. Ich könnte Ihnen dabei helfen, das Geld aufzutreiben, wenn das das Problem ist. Ich kenne jemanden.»

«Ich werde keine Kaution stellen. Noch nicht.»

«Und Ihre …» Sie sieht ein wenig an mir herab, mit einem leicht sorgenvollen Mund.

«Sie sind doch. Schwer …»

«Hautkrank? Ja, das bin ich. Aber es gibt keine Therapie. Spielt keine Rolle, wo ich mich aufhalte.»

«Ich werde schon klarkommen. Aber wenn Sie mir helfen wollen, dann nehmen Sie bitte diesen Schließfachschlüssel an sich und sagen niemandem, dass Sie ihn haben.» Und mit diesen Worten überwinde ich meine Schüchternheit und drücke ihr den Schlüssel in die Hand. Es ist ein typischer Schlüssel, wie man sie von Bahnhöfen kennt. Nummer 261. Aber es findet sich kein Hinweis auf den Standort des Schließfachs.

Sie ist ein klein wenig erschrocken, wirft mir einen scharfen Blick zu, bevor sie den Schlüssel schließlich, ohne ein Wort darüber zu verlieren, in ihre Wildlederhandtasche steckt. Ich habe ihr gerade meinen wichtigsten Trumpf übergeben.

Dann kommt der Deputy herein und tritt an den Tisch. Er nickt der Anwältin zu, und ich halte ihm gleichmütig meine Handgelenke hin. Er verzieht ganz leicht den Mund und versucht, meine Haut nicht zu berühren, während er die Fesseln um sie schließt.

 

Als ich noch ein Junge von elf oder zwölf war, in den frühen dreißiger Jahren in New York, zur Zeit der großen Wirtschaftskrise, spielten wir tatsächlich sehr oft Gangster. Neben Auflauern, Schutzgeldeintreiben, Einen-Überfall-Durchführen und Verfolgtwerden liebte ich besonders Ins-Gefängnis-Kommen.

Manchmal wurden wir in Fol-Som Pri-Son inhaftiert: vier Silben Willkür und Unterdrückung. Wir pafften aufgesammelte Zigarrenkippen und taten so, als seien es Opiumpfeifen. Dann wieder brachen wir aus dem

Besonders gruselig waren Sing-Sings Mauern für mich auch deshalb, weil sie von seinen Insassen selbst errichtet worden waren, welche sich also gleichsam mit den eigenen Händen eingemauert hatten, um danach zusammengenommen Tausende, ja Hunderttausende Jahre von Kerkerhaft darin zu verbringen.

Doing Time.

Während die ägyptischen Gemüsehändler auf der Bowery dem Welken ihres Lettuce zusahen, hockten die Gefangenen in den Zellen oder liefen in stupidem Entenmarsch durch den Hof, eine Akkumulation von Lebenszeit, nachmittags und abends, Tausende von Stunden, die während einer normalen Stunde New Yorker Ortszeit dort abgesessen wurden und vergingen.

Nicht, dass ich als Kind das Bedürfnis verspürt hätte, mein Leben dem Verbrechen zu widmen, gar Berufskrimineller zu werden und ein Gefängnis möglichst bald von innen kennenzulernen. Aber wie die Rimbaud’sche Pflaume fühlte ich mich reif und bereit, jedem Schlag, jeder Verletzung, jedem Unrecht zu trotzen, und ich konnte mir kein noch so düsteres Schicksal vorstellen, über das ich nicht schließlich triumphiert hätte.

Ich hatte die lebhafte Phantasie, als ein amerikanischer

Sport, Nahkampftraining, Schreiben und dabei noch die Kinderzeit mit ihren hinderlichen Beschränkungen hinter mir zu lassen, das war die Formel, die mich stimulierte, mit meinen Kumpels aus der Nachbarschaft, sooft es ging, Verfolgung und Inhaftierung zu spielen. Hausecken, Gemüsekisten und Fischstände waren die Gefängnismauern, hinter die man uns gesperrt hatte. Es gab fiese Gerüche, die einiges erzählten. Ecken mit Geschichte. Hinterhöfe voller Innenleben. Wir kauerten zwischen fortgeworfenen Austernschalen, schmiedeten Ausbruchspläne und freuten uns, wenn tatsächlich mal ein oder zwei Cops mit schwingenden Knüppeln vorübergingen, die dann die Wärter darstellten, die wir gleich übertölpeln würden.

Oft steckte ich noch spätnachts in meiner Rolle, wenn ich

«Nur weil man eine alleinerziehende Frau ist, eine Witwe noch dazu, glauben viele, sie könnten einen übers Ohr hauen. Aber nicht mit mir. Ich weiß, was ein Klempner verdient. Ehrlich währt am längsten, John, mein lieber Junge, merk dir das!», pflegte sie dann noch zu sagen. Damit beschloss sie grundsätzlich jede Ermahnung. Ehrlich währt am längsten.

 

Dem habe ich immer zu folgen gesucht, und wenn ich einmal lügen musste, dann nur aus ehrbaren oder lebenswichtigen Motiven heraus. Dass mich nun aber gerade der Versuch radikaler Ehrlichkeit ins Gefängnis bringt, ist eine Ironie unserer Zeit und eine Pointe meiner eigenen Lebensgeschichte. Und auch, dass das erste reguläre Gefängnis, dessen Insasse ich werde, am Mississippi liegt und nicht am Hudson.

Zumindest fürs Erste, denn wer weiß, wann die Spezialisten aus dem Weißen Haus meine Verlegung in ein Bundesgefängnis verlangen werden? Bis dahin aber trage ich, John Glueck, geboren am 13. Juni 1921 in New York und mithin also neunundvierzig Jahre alt, geschieden, Angestellter

Der Raum ist sauber und freundlich. An der strahlend weißen Wand hängt das neu herausgebrachte offizielle Plakat der NASA zu Apollo 14, das dem Para-Gedankenexperiment des Astronauten Mitchell gewidmet ist, der am 8. und 9. Februar Psi-Signale zur Erde geschickt hatte, die tatsächlich von vier Sensitiven auf vier Kontinenten empfangen worden waren.

Der Gefängnisdirektor persönlich händigt sie mir aus. Hunerwadel, der sämtlichen Formalitäten meiner Einlieferung beiwohnt, da ein echter Major der US-Army etwas Besonderes ist unter den Ladendieben, Vergewaltigern, Drogentypen und jenen zuletzt so stark vermehrten, von den normalen Insassen Drafties genannten Kriegsdienstverweigerern, die weder die Chuzpe besitzen, nach Kanada oder Mexiko zu fliehen, noch ein Elternhaus mit genügend Einfluss und die deshalb ins Gefängnis müssen.

So viele Möglichkeiten, inhaftiert zu werden, wie heute gab es noch nie.

 

Direktor Hunerwadel, eindeutig zu jung, um selber ein Veteran des Zweiten Weltkriegs zu sein, betrachtet meine Personalien längere Zeit, dann fragt er mich, wo ich überall gewesen bin.

«England. Frankreich. Dann an der Siegfriedlinie: Hürtgenwald.»

«Der Hürtgenwald, wirklich …», stellt er fest, innerlich beinahe strammstehend. «Da haben Sie wohl einiges gesehen?»

Es wäre jetzt korrekt, Direktor Hunerwadel ernst in

«Kann man so sagen.» Ich nicke und versuche zu lächeln, was meine rissigen Mundwinkel nur so hergeben.

 

Ich gebe mein Portemonnaie ab. Hunerwadel bittet den Wärter vorschriftsgemäß, den gesamten Inhalt herauszunehmen: vierhundert Dollar in Scheinen, der Rest jener tausendfünfhundert, mit denen ich meine Flucht vor einer guten Woche angetreten habe. Vorne finden sich ein gefaltetes Papier und ein paar Münzen, die der Wärter zusammen mit den Scheinen in einen Umschlag steckt, auf dem er die Summe notiert, die er auch in das Aufnahmeformular einträgt. Dann faltet er den Zettel auf, liest ihn und reicht ihn kommentarlos an Hunerwadel weiter.

Der Text darauf ist so sorgsam und sauber geschrieben, wie ein gewisser John Fitzgerald Kennedy es überhaupt nur konnte, ein Mensch, dessen vielfältige Leiden sich auf seinen Charakter wie auf die zerrissene Linienführung seiner Handschrift niedergeschlagen hatten, weshalb er sich auch bei dieser stets die größte Mühe gegeben hatte, um seine Schwächen zu kaschieren. Heraus kam eine gut lesbare Linie, und so braucht Hunerwadel nur ein paar Sekunden, bis er die Zeilen entziffert hat:

fill the enormous plaza full;

 

but there’s only one there who knows

and he’s the one who fights the bull.

Stierkampfrichter, überall,

Füllen ganz den weiten Platz.

Doch nur einer weiß Bescheid:

Der haut dem Bullen vor den Latz.

Dann studiert er die Widmung auf der Rückseite, die ihn stutzen lässt:

Für Major John Glueck!

John F. Kennedy

«Kann doch nicht sein, oder? Sie kannten Präsident Kennedy?»

«Kannten? Nein. Bin ihm mal begegnet und habe etwas für ihn getan. Dies Gedicht war sein Motto, und er hatte immer eine handgeschriebene Version davon im Geldbeutel, um es bei Gelegenheit verschenken zu können. Für den Gefallen bekam ich das Autogramm mit dem Gedicht. JFK war der Meinung, dass ihn das häufige Niederschreiben des memorierten Textes geistig fit halte. Es muss Hunderte von diesen Zetteln geben. Wenn Sie wollen, können Sie ihn behalten.»

«Aber er ist doch Ihnen gewidmet», entgegnet der Direktor.

«Ich hab’s aufgehoben, weil ich immer dachte, dass es sich gut am Anfang eines Romans machen würde, aber mittlerweile kann ich’s auswendig. Behalten Sie den Zettel, wenn es Ihnen Freude macht.»

«Nein, es ist von Domingo Ortega, einem spanischen Matador. Früher ziemlich bekannt, der Mann, noch bis in die Fünfziger.»

Hunerwadel geht es genauso, wie es mir ergangen ist, nachdem Kennedy mir völlig überraschend das von ihm selbst abgeschriebene Gedicht überreichte und mir die Hand drückte, als wären wir demnächst zum Segeln verabredet: Er ist ein klein wenig überwältigt. Nimmt das JFK-Autograph an. Und bedankt sich.

 

Es ist klar, dass es jetzt ans Eingemachte geht. Hunerwadel und seine Männer fürchten sich. Keiner will der sein, der mich anfassen muss, um mir die obligatorische Rasur zu verpassen. Das kommt mir gerade recht.

«Ich werde Ihnen sonst keinen Ärger machen, Herr Direktor», sage ich fast flüsternd zu Hunerwadel. «Aber denjenigen von Ihnen, der mein Haar anfasst, bringe ich unter die Erde. Egal wen. Versprochen. Und wenn Sie mir eine Betäubungsspritze geben. Ich werde herausfinden, wer es getan hat. Also lassen Sie mir mein Haar. Hat mit meiner Krankheit zu tun.»

Ich bin ein wandelnder, leibhaftiger Albtraum, ein Mischwesen aus einem Bestiarium. Ich verspreche Frieden, indem ich mit Mord drohe. Eine amerikanische Amphibie.

«Haben die Deutschen Ihnen das angetan?», fragt Hunerwadel schluckend, fast schon wieder hoffnungsvoll. Das wäre ihm zweifellos am liebsten. Ein Ungeheuer aus dem Hürtgenwald.

«Nein, das waren wir. Ein Unfall.»

Er überlegt noch einen Moment, dann lässt er seine Untergebenen wissen, dass sie bei «Major Glueck» eine

 

Es gibt – wie man gleich sehen wird – kein besseres Bild, um meine Herkunft zu beschreiben, als das eines alten, knorrigen Apfelbaums, dem ein frischer Trieb derselben Gattung aufgepfropft wurde, sodass meine Familiengeschichte auf der einen, stämmigen Seite genügend tief reicht, um ein ganzes Team munterer Genealogen zu beschäftigen, die jedem Wurzeltrieb und allen Verzweigungen nachforschen würden, bis sie irgendwann auf die unvermeidlichen Eintragungen in mythischen Logbüchern stießen, Lobpreisungen Gottes, dass ER – trotz fürchterlichster Stürme, mit denen er die atlantische Pfütze aufzuwühlen beliebte, der Sichtung von Walfischen und anderen Ungetümen des Meeres, trotz Krankheit und Pestilenz an Bord und sämtlichen Gebresten und Leiden, denen die Seefahrer und vor allem die einfachen Passagiere des achtzehnten Jahrhunderts nun einmal ausgesetzt waren – so außerordentlich gnädig gewesen war, ein junges Ehepaar Torstrick am Leben zu lassen. Wie ihre Schiffsgenossen waren die Torstricks religiöse Freidenker, die sich Freunde der Wahrheit nannten. Als sie schließlich die Südküste Pennsylvaniens erreichten, waren sie umso dankbarer, als ihrer beider kostbare Begleiter die Reise gleichwohl bestens überstanden hatten. Als da waren Gelbe Borsdorfer, Edelborsdorfer, Martens Sämlinge, Seestermüher Zitronen, Englische Spitalrenetten und etliche andere verlässliche Sorten, aus guter Schule stammende Apfelbäumchen. Diese Torstricks, Gotthilf und Elisa,

Die Torstricks – Anhänger der GOP, als diese noch ganz jung war – verabscheuten immer schon die Sklaverei, aber nach Gettysburg, so erzählt die Familienlegende, wurden dennoch verletzte Konföderierte im Haus gepflegt, was mir mehr denn je zu denken gibt, denn das hatte ich bis gerade eben fast vergessen, und erst durchs ringende Schreiben wurde es aus meiner Erinnerung nach oben befördert.

Später dann – nicht nur das Dorf, sondern auch die Torstrickfarm war erheblich gewachsen – erforderte es die pennsylvanisch-postbürokratische Genauigkeit, unser Berlin von demjenigen im westlich gelegenen Somerset County unterscheidbar zu machen. Ich weiß nicht, wieso es unser Städtchen traf und nicht das andere, vielleicht wurde gelost, vielleicht fanden die Stadtväter die Betonung der Küstennähe verheißungsvoll: Aus Berlin wurde jedenfalls East Berlin. Vermutlich dürften selbst die dortigen Hinterwäldler mitbekommen haben, dass der irrlichternde Geist der Geschichte sich vor zwanzig Jahren einen Spaß daraus gemacht hat, ihnen in der Sowjetzone Deutschlands ein düsteres Riesengeschwisterchen desselben Namens an die Seite zu stellen. Ich war lange nicht mehr da. In East Berlin, Pennsylvania, meine ich, nicht in Berlin (Ost), Hauptstadt der DDR, da war ich noch nie. Nach West-Berlin aber will ich dann als Nächstes, wenn Hannibal hinter mir liegen wird.

Ein Rätsel ist es mir auch geblieben, wie es meiner Mutter, der jüngsten eines halben Dutzends von Schwestern, überhaupt gelingen konnte, der Gravitationskraft ihrer

Nach East Berlins Schafen, den Kaninchen und den braven Kutschpferden, mit denen wir dann wieder zum Bahnhof von Harrisburg transportiert wurden (Gott segen eich!), erfolgten die von der Melancholie meiner Mutter gefärbten Zugfahrten zurück nach New York. Unser Abteil, erfüllt vom Duft der Apfelkisten, die auf den Ablagen bis unter die Decke gestapelt waren, bewegte sich durch die Wälder, die Mama, ihren schönen Kopf auf ihr Handgelenk gestützt, so intensiv betrachtete, als erwarte sie, dass dort ein Bekannter aus dem fernen Dickicht ihrer Jugend herausträte, der ihr zuwinken würde.

Am Ende sahen wir beide jedes Mal mit Spannung der schauerlichen Durchquerung des Tunnels unter dem Hudson entgegen, in dem selbst an Sommernachmittagen tiefste Mitternacht herrschte. Die paar Minuten, in denen die Abteilfenster nichts als Schwärze zeigten und ich die ganze Zeit daran denken musste, dass über uns die eiskalten Wasser des Stromes dahinflossen, auf dem die gewaltigsten Schiffe unterwegs waren, und wie das nur zusammengehen konnte: die Schiffe oben im Wasser, wir in der Eisenbahn drunter.

Das größte Wunder aber lag am Ende des Tunnels, denn aus der Dunkelheit erreichten wir schließlich eine Kathedrale des Eisenbahnzeitalters: Pennstation. Die Baumeister aller Epochen schienen beseligenden Geistern gleich bei seiner Errichtung mitgeholfen zu haben. Die Dome des

 

So tief die verbürgten Erzählungen von den apfelbaumpflanzenden Torstricks reichten, freiheitsliebenden Pennsylvaniern und manchmal, wenn ich an meine Großmutter denke und daran, wie sie mit allen Dingen und Tieren zu plaudern pflegte, eigentlich so etwas wie Blumenkinder avant la lettre – so kurz reicht mein Wissen auf der Vaterseite.

Mein Großvater, Josef Maria Glück, hatte seinen prächtigen Namen (zumindest prächtig für die, die Deutsch verstehen) nicht von seinen Eltern bekommen, denn die waren unbekannt, sondern von den Schwestern vom armen Kinde Jesus. In deren Kölner Waisenhaus war mein Großvater nach seiner Geburt abgegeben worden. Es war üblich, den

Vielleicht hatte mein Großvater auch schon das Geld für die Schiffspassage für sich und seine Frau Elisabeth mit Kartenspielen verdient. Aber nachdem er gegen 1880, knapp zwanzigjährig, in Ellis Island angekommen war, hatte er sofort damit angefangen, sich seinen Anteil an den ungeheuren Geldmengen, die der Goldrausch sprudeln ließ, an den Spieltischen der boomenden Großstädte zu ergattern, wo die Betreiber mit viel Alkohol, leichten Mädchen und Glücksspiel Atmosphäre zu erzeugen versuchten. Jeder bessere Saloon hatte Berufsspieler und hübsche Frauen unter Vertrag. Während Joe wochenlang auf Tour in San Francisco, Cincinnati oder Atlantic City war, blieb seine Frau mit ihren kleinen Söhnen in der Einzimmerbehausung in der Lower East Side alleine, wo sie immer Angst haben mussten, in der Nacht von den Ratten angenagt zu werden, weshalb sie alle zusammen in einem Bett schliefen, das angeblich von einem ausrangierten, kleinmaschigen

Mein Großvater hatte mir schon als Zweijährigem beigebracht, wie man die Karten hält. Wir spielten deutsche Kinderkartenspiele wie Mau Mau oder amerikanische wie Take-The-Train, das mir besonders viel Spaß machte, und auch Dutch Blitz und Eucre, die die Pennsylvanier liebten. Aus dem Eucre-Spiel stamme auch der Joker, der, wie mein Großvater immer zu sagen pflegte, Kaiser-Bauer, der höchste Trumpf im ganzen Spiel. Dieser Imperial-Bower, wie man den Joker auf Englisch mit deutscher Phonetik nannte, war eine amerikanische Erfindung, erklärte er mir. Der Joker stand ganz und gar für das, was Amerika für Generationen von Einwanderern vor und nach ihm war: ein Versprechen, eine Hoffnung, eine Möglichkeit, alles zu sein, alles erreichen zu können, was man sich nur vorstellen mochte.

Auf dem Joker der von meinem Großvater bevorzugten Kartenmarke Bicycle 808 fuhr ein König in märchenhaftem Gewand auf einem altmodischen Fahrrad durch die Gegend. Die andere, sonderbare amerikanische Karte hingegen war das Pik-Ass: Da stand nämlich eine Frau mit Krone und Schwert in der rechten Hand, und hinter ihr fielen die Sterne der amerikanischen Flagge wie Schneeflocken aus einem schwarzen Himmel. Es war eine Abbildung der Statue of Freedom – nicht der unsrigen, die heißt ja auch Statue of Liberty, sondern jener, die seit 1865 auf dem Kapitol in Washington stand. Für mich war sie eine mythische Figur, die ich mir stundenlang anschauen konnte.

Es gehört zu den bizarren Zufällen meines Lebens, dass ich ausgerechnet das geheimnisvolle Pik-Ass aus dem 808-Spiel bei meinen Recherchen im Mekong-Delta wiedersehen sollte, ein Rätsel meines Lebens und eine unheimliche Begegnung, die sich kein romantischer Schauerdichter hätte ausdenken können.

Meine Mutter hatte Großvater eigentlich strikt verboten, mir das Kartenspielen beizubringen, aber der dachte überhaupt nicht daran, auf unser Vergnügen zu verzichten. Denn das Kartenspielen war nicht nur sein Talent, sondern auch seine Berufung und sein Schicksal. Gerne erzählte er, wie er in Pittsburgh in üblen Schwierigkeiten gewesen war. Weil er zu oft gewonnen hatte. Er habe nicht aufhören können, bis es seinem Gegenspieler einfach zu viel geworden sei.

«Oh Jung», hatte er in seinem phantastischen Kölsch erzählt, einem deutschen Dialekt, der dem Englischen ein wenig ähnlich ist, «et war so ne Moment, direkt spukisch war dat. Der Kerl beucht sich rüber, kommt mir immer näher, und dann sieht er mir tief in de Augen. ‹Glueck, isch weiß jetz, wat der Name heiß, du deutscher Dreckskerl. Du kannst maache, watte wills, aber an meinem Tisch spielst du nit mieh›, dat waren seine Worte», hatte mein Großvater erzählt, «und isch han jesinn, wie er unterm Tisch dat Messer ziehen tät.»

Ich war sein letzter Spielpartner. Und so lernte ich von ihm nicht nur die Tricks, mit denen man beim Black Jack memorierte, wie die Karten gefallen waren und wie man beim Pokern Wahrscheinlichkeiten errechnete, sondern auch, wie man in aller Seelenruhe dat Blaue vom Himmel log, ohne sich auch nur das Geringste dabei zu denken. Er war es auch, der mir erklärte, wie man den Gegner beim Pokern durch die Schaffung einer fiktiven Person, einer Rolle, täuschen konnte: klug sein, dumm erscheinen.

Bei unseren Spaziergängen in der Bronx, wo wir wohnten, liefen wir jedes Mal zuerst an den Loreley-Brunnen, jene die Märchenwelt der Grimmbrüder fortsetzende Skulpturengruppe aus weißem Marmor, die dem Andenken Heinrich Heines gewidmet war.

Kein einziges Mal versäumte mein Großvater, mir zu erzählen, dass meine Großmutter, seine Lisbeth, aus Düsseldorf gebürtig gewesen sei, der Geburtsstadt des Dichters. Oftmals schneuzte er sich danach kräftig in sein Taschentuch, und dann gingen wir in den nahen Zoo, wo es einen ungeheuer beleibten Löwen gab, der genau so aussah wie der in der Illustration zu dem Märchen Der Löwe und der Frosch.

East Berlin, das archaische Pennsilfaanisch meiner Großmutter, wie auch mein Erlanger-Karten spielender Großvater mit seinem Kölsch, das ich bis zum heutigen Tage im Ohr klingen höre, mit dem Auf und Ab des mächtigen Rheinstromes darin, den Heinrich Heine besungen hatte. Das dunkle Brot. Das bayerische, in Brooklyn gebraute Bier, das mein Großvater genussvoll trank, obwohl es verboten war. Die Grimm’schen Märchen und ihre Bewohner. Das alles, so unterschiedlich und bestürmend und himmelweit auseinander wie die luftigsten Kapitelle auf den römischen Säulen der Pennstation, kam für mich in einer Schnittmenge zusammen, besaß einen gemeinsamen Ursprung:

Hier tut es jetzt ein bisschen weh.

 

Denn als ich neun Jahre alt war, kam mein Vater bei einem Autounfall ums Leben. Aus ungeklärter Ursache durchbrach sein Wagen die hölzernen Leitplanken auf einer Brücke über den Delaware. Er muss nach dem Aufprall sofort tot gewesen sein, denn in seinen Lungen war kaum Wasser.

Zuletzt arbeitete er als selbständiger Handelsreisender und war so viel unterwegs gewesen, dass ich wenig von ihm mitbekommen hatte. Weekend kannte er keines. Nur ein paar familiäre Szenen mit ihm sind mir noch deutlich in Erinnerung, merkwürdig belanglose Ereignisse. Wie die Sache mit einem streunenden Dalmatiner auf Long Island, der ihm eine Hähnchenkeule gestohlen hatte und daraufhin – zu meiner großen Freude – von Vater verfolgt wurde, bis beide fast am Horizont verschwunden waren. Als mein Vater zurückkam, hielt er triumphierend die lädierte Keule in die Höhe, und dann biss er vor unseren vergnügt-entsetzt geweiteten Augen triumphierend hinein.

HAPAG