Inhaltsverzeichnis

Fußnoten

Ich kann nicht nachvollziehen, dass manche Leute von der Vorstellung von Sex an öffentlichen Orten erregt werden. Erotik erfordert doch Intimität. Es hat mich schon gestört, dass meine erste Freundin eine Katze hatte – nicht nur wegen der Allergie. Aber allein im unwahrscheinlichen Fall, dass die Katze der wiedergeborene Klaus Kinski gewesen wäre: Wer kann sich denn in der Gegenwart eines Cholerikers auf die erogenen Zonen seiner Partnerin konzentrieren?

Glauben Sie mir: Egal, wo Sie gerade sind, Sie befinden sich an einem schöneren Ort. Es sei denn natürlich, Sie lesen dieses Buch am Barbarossaplatz. In diesem Fall: herzliches Beileid!

Ähzezäller = Erbsenzähler, Geizhals

Knieskopp = Geizhals

Mömmesfresser = Popelfresser, Geizhals

Sie haben es doch in Kapitel 2 selbst gelesen: Ich bin konfliktscheu – und das bin ich nicht schuld, sondern meine Kindheit. Also keine Vorwürfe bitte!

abgeleckter Heringsschwanz (charakterlich fragwürdige Person)

dummer Mensch, der eine Delle im Kopf hat, sodass kein Gehirn mehr reinpasst

Keine Sorge, ich habe weder Prostataprobleme, noch rotze ich auf den Bürgersteig – bin mir aber der Tatsache bewusst, dass ich damit nicht zum Mainstream zähle.

Das würde ich in Wirklichkeit niemals tun. Klar ist der Typ ein Schmierlappen, aber das basiert auf dem Charakter, nicht auf der Nationalität. Außerdem fresse ich vermutlich weit mehr Spaghetti als die meisten Italiener.

Dieser Vortrag inspirierte mich fünfzehn Jahre später zu dem Sketch Kafkaeske Wochen bei McDonald’s: Es wird ein geheimnisvoller Mc K. angepriesen; aber niemand weiß, was das ist, welche Zutaten er beinhaltet oder wo man ihn kriegen kann … Ich schickte den Text sofort zu RTL Samstag Nacht – nur um festzustellen, dass die Sendung längst abgesetzt worden war.

Ja, ich will auch gern wissen, wie sie’s gemacht haben. Und nein, ich habe mich noch nicht getraut zu fragen.

Es ist mir wichtig zu betonen, wie sympathisch mir Schwarzmeertürken sind: Als ich zur Beerdigung von Mustafa Enişte Hurensohn nach Sürmene bei Trabzon flog, wurde ich mit einer geradezu anrührenden Herzlichkeit aufgenommen – aber es war diese Art Herzlichkeit, bei der man nach einem Händedruck zwei Wochen Gips tragen muss.***

Ja, ich musste tatsächlich zwei Wochen lang einen Gips tragen.

schlecht gelaunter, brummiger Mensch

unreifer Mann, Waschlappen

wörtlich: Träne; weinerliche Person

Ich weiß, ich habe an anderer Stelle versprochen, so was niemals zu sagen. Aber wie können Sie in dieser Situation Political Correctness von mir erwarten?

Beutelschneider, Wucherer

Raffzahn

Und für alle tapferen Gastronomen, die sich jeden Tag abrackern,damit wir undankbaren Schnösel nicht rummäkeln.

Ein Holztisch mit weißer Decke, flackernden Kerzen und zwei gefüllten Champagnergläsern; dazu ein Frühsommerlüftchen sowie der Duft der Rosen, die zusammen mit dem Efeu sämtliche Backsteinwände des Innenhofs bedecken – romantischer könnte ich meinen fünften Hochzeitstag nicht feiern. Außer vielleicht, wenn meine Frau dabei wäre.

Aber Aylin hat das Thema Pünktlichkeit schon immer recht orientalisch interpretiert, und als ich vor einer knappen Stunde die SMS »Bin in ein paar Minuten da« erhielt, wusste ich, dass mir viel Zeit bleiben würde, noch schnell ein paar sinnvolle Dinge zu erledigen. Wie zum Beispiel mich vor den Bienen, Hummeln und Wespen zu fürchten, die die zweihundertsiebenundachtzig Rosenblüten umkreisen. (Ja, ich habe nachgezählt.)

Ich finde Rosen auf Tapeten, Tellern und Servietten romantischer als in der Natur, weil sie kein Ungeziefer anlocken. Romantik und Insekten schließen sich gegenseitig aus, vor allem für Allergiker.

»Hey, wat soll dat – hier is jeschlossene Jesellschaft.«

Gisela, die urkölsche Besitzerin des Kneipenrestaurants Mr. Creosote’s, versucht vergeblich, einen Mann mit italienischer Geige und russischem Akzent vom Betreten des Hinterhofs abzuhalten.

»Wo Geseeellschaft? Siiiitzt da nur eine Mann.«

»Ja, aber der will hier unjestört seinen Hochzeitstag feiern.«

»Ungestört wovooon – von seine Frau? Hahaha …«

»Aber kann ich spiele schönä Lied, ist perfekch für Chokzeitag.«

Der Mann ist schätzungsweise Mitte siebzig. Seine wenigen pechschwarz gefärbten Haare sind mit viel Gel über eine sehr breite Glatze gekämmt; der ebenso pechschwarze Walrossschnäuzer verdeckt die schiefen Zähne nur so lange, bis er lacht. Vermutlich hat sein Gesicht schon einige Hersteller von Karnevalsmasken inspiriert.

»Entschuldijung, aber die Walrossfütterung findet im Zoo statt.«

Gisela packt den Mann am Arm und will ihn hinausziehen, aber mit seinen großen dunklen traurigen Augen schaut er mich an wie ein Hundewelpe, der gerade von seinem Wurf getrennt wird.

»Lass mal, Gisela. Bei Livemusik kriegt Aylin Gänsehaut.«

»Klar. Der Typ sieht nach Horrorfilm aus.«

Gisela hat vergangene Woche ihren 59. Geburtstag gefeiert und ist im ganzen Viertel berühmt für ihre große Klappe. Ihr Umgangston würde besser nach Guantánamo passen als in die Gastronomie. Aber trotzdem hat sie die halbe Kölner Südstadt als Stammkundschaft. Ihre direkte, ein wenig distanzlose Art sowie ihre barocke Körperform brachten ihr den Spitznamen »Die Mutti« ein. Keiner sagt: »Wir gehen im Mr. Creosote’s essen.« Es heißt immer: »Wir treffen uns bei der Mutti.« Ihren Spitznamen hat sie sich redlich verdient. Wer sonst würde an seinem freien Tag öffnen, damit zwei Stammgäste ungestört ihren Hochzeitstag feiern können? Und wer sonst hätte mir zu diesem Anlass augenzwinkernd das Buch Guter Sex trotz Ehe überreicht?

Ich lache leicht panisch über Giselas Horrorfilm-Bemerkung, denn auch wenn sich ihre Stammgäste mit einer gewissen Freude von ihr beleidigen lassen, hat es in diesem Fall doch einen rassistischen Beigeschmack. So versuche ich, eine diplomatische Brücke zu schlagen:

»Haha, typisch Mutti. Wenn sie jemanden mag, versucht sie immer erst, ihn zu provozieren.«

Ich unterdrücke meinen Impuls, laut loszulachen, und kriege stattdessen einen Hustenanfall. Gisela schickt mir einen mitleidigen Blick, lässt dann mit ihren kräuterschnaps- und zigarettengegerbten Stimmbändern einen tiefen Seufzer hören, zuckt mit den Schultern und verschwindet im Gastraum. Der Musiker schaut mich irritiert an:

»Jeistärbahn? Waaas ist Jeistärbahn?«

»Ach, das, äh … Nicht so wichtig. Sie spielen also Geige?«

Ich beglückwünsche mich innerlich für meinen herausragenden Intellekt. Einen Geigenspieler zu fragen, ob er Geige spielt. Hut ab, Daniel Hagenberger!

»Ich bin Wasily und kann spiel aalles. Muss nur sage Wuunsch, dann ich spiel, wenn kommt dein Frau.«

»Dann wünsche ich mir … Wind of Change.«

Wasily schaut mich irritiert an. Ich schäme mich ein wenig.

»Ja, ich weiß, das ist ’ne Schnulze, aber – lustige Geschichte – das lief in einer Panflötenversion bei meinem ersten Rendezvous mit Aylin. Und deshalb löst es bei mir romantische Gefühle … Egal. Also Wind of Change.«

Wasily starrt ausdruckslos ins Nichts. Ich ergänze:

»Von den Scorpions.«

»Ah. Dein Frau Scooorpions. Mein Frau Waaassermann.«

»Nein, ich … Hier, den Anfang kennen Sie doch.«

Ich pfeife den Anfang von Wind of Change. Wasily hört aufmerksam zu und nickt:

»Oh ja. Ist sehr gute Lied. Sehr gut Melodie. Chörrt sich an sehr schön.«

»Also können Sie das spielen?«

»Nein. Andere Lied.«

»Hm … Time after Time von Cindy Lauper.«

»Aaaaaaaaaaaah.«

»Das kennen Sie?«

»Nein.«

Mir kommt langsam der Verdacht, dass dieser Mann seine Geige höchstens ab und zu als Eierschneider benutzt. Und

»Aaaaaaaaaaah.«

»Aber jetzt haben Sie’s erkannt.«

»Nein.«

»Was können Sie denn spielen?«

»Sage einfach, und ich spiele.«

»Das haben wir ja schon versucht.«

Eine peinliche Pause entsteht. Dann nimmt Wasily seine Geige unters Kinn:

»Spiele ich Schostakooowitsch.«

Noch ehe er das »witsch« ausgesprochen hat, beginnt er, extrem virtuos zu geigen. Gefühlvoll, dynamisch, ein absoluter Könner. Ich war nicht mehr so positiv überrascht seit dem spektakulären Fallrückziehertor von Roda Antar im März 2008 beim Spiel 1. FC Köln gegen Wehen Wiesbaden.

In diesem Augenblick erscheint Aylin. Offenbar ist ihre Verspätung dem Versuch geschuldet, jedes Detail ihres Aussehens bezaubernd wirken zu lassen. Ein äußerst gelungener Versuch: Alle Strähnen der langen braunen Haare liegen perfekt, die Haut schimmert in samtigem Bronzeton, die Augen hätten Hollywoods Top-Make-up-Artists nicht besser hinbekommen, und das cremefarbene Minikleid in Kombination mit gleichfarbigen Stiefeletten würden jedes Bond-Girl alt aussehen lassen. Und dann erst das Lächeln … Wasily klappt die Kinnlade so weit nach unten, dass er sich beim Weitergeigen fast den Bogen in den Mund schiebt. Dann lässt er das Instrument sinken und schaut mich mit einem Wie-kommt-dieser-Typ-an-so-eine-Frau-Blick an.

Aylin dreht sich modelmäßig-elegant um die eigene Achse und schaut mich erwartungsvoll an. Okay, jetzt wird es Zeit für ein Kompliment, das genauso schön ist wie Aylin. Eine Wortgirlande voller Eleganz, Anmut und Wohlklang. Lyrisch, aber gleichzeitig von erfrischender Direktheit.

»Du … äh … W…wow.«

Nach fünf Jahren Ehe weiß Aylin, dass ich nicht so der spontane Typ bin. Als ich nach zwanzig Sekunden immer noch kein passendes Wort gefunden habe, lächelt sie:

»Du bist sprachlos. Das reicht mir.«

»Nein, Moment. Ich war noch nicht fertig. Was ich sagen wollte war: Du siehst … absolut … total … hinrei…«

Weiter komme ich nicht, denn in diesem Moment hat sich mein russischer Freund entschlossen, Schostakowitschs Violinkonzert mit einem herzhaften Presto fortzusetzen. Nun bin ich kein Experte, was die Interpretation von Schostakowitschs Musik betrifft – aber für mich klingt das weniger nach Hochzeitstag als nach Hexenverbrennung. Dennoch versuche ich, die romantische Stimmung aufrechtzuhalten, und küsse Aylin zärtlich auf den Mund. Ganz Gentleman, rücke ich ihr den Stuhl zurecht. Dann schauen wir einander still in die Augen und bemühen uns vergeblich, Schostakowitsch romantisch zu finden.

Aylin lächelt gequält, und ich bin hin- und hergerissen zwischen meiner Bewunderung für das musikalische Talent des Geigers und meinem Bedauern, dass er keinen Ausknopf hat. Nach einigen quälenden Minuten kommt endlich ein ruhigerer Part, und ich bin erleichtert, dass Schostakowitsch nicht nur Hexenverbrennung draufhat, sondern auch Depression. Quälend ziehen sich einzelne Töne in die Länge. Das Stück sollte ich mir merken, falls das Ende meiner Ehe, der Tod meiner Mutter und der Abstieg des 1. FC Köln auf einen Tag fallen sollten. Als

Mittellanger schwerer Tooooooon.

Sehr langer schwermütiger Toooooooooooooon.

Extrem düsterer und langer Toooooooooooooooooooon.

Kurzer trauriger Toon.

Tonloser Tooooooooooooooooooooooooooooooooooooooon.

In diesem musikalisch bestimmt höchst anspruchsvollen Moment, als der Bogen wie in Superzeitlupe hauchzart über eine einzelne Saite gleitet, hält Aylin es nicht mehr aus und applaudiert. Ich klatsche begeistert mit:

»Bravo! Sensationell! Ganz große Kunst!«

Woraufhin wir uns einen extrem beleidigten Blick des Russen einfangen. Ich weiß, dass es eine Todsünde ist, bei klassischen Konzerten an der falschen Stelle zu klatschen – war mir aber nicht darüber im Klaren, dass das auch für Straßenmusik gilt. Aylin beißt sich mit gespielter Peinlichkeit auf die Lippe und muss ein Lachen unterdrücken. Der Russe seufzt tief, schließt die Augen und setzt wieder ein. Nach zwei weiteren endlosen Minuten quälender Depression scheint das Finale endlich gekommen zu sein. Aylin und ich sind bereit zum Applaudieren, warten aber sicherheitshalber die Verbeugung des Geigers ab. Doch stattdessen kommt ein erneutes Presto, wobei dem Russen seine sauber über die Glatze gekämmten Strähnen ins Gesicht rutschen. Mit im Rhythmus der Musik zuckenden Kopfbewegungen versucht er, sie zurück über die Stirn zu schleudern – was ihm aber misslingt, weil der Schnäuzer wie ein Klettverschluss wirkt.

Ich wende mich vom Russen ab, denn ich weiß, dass ich in einen hysterischen Lachanfall ausbrechen werde, wenn ich ihn auch nur eine halbe Sekunde länger anschaue. Dass Aylin sich mittlerweile die ersten Lachtränen aus den Augen wischt, macht die Situation nicht leichter. Ich versuche mich auf meine Angst vor den Wespen zu konzentrieren, kriege dann aber im Augenwinkel mit, wie der Geiger beim Einatmen eine seiner Haarsträhnen in die Nase zieht – und anschließend wieder ausniest. Jetzt ist es um mich geschehen – ich pruste los. Im Geiste sehe ich

Zum Glück hat der Russe seine Augen geschlossen und ist so in seiner Musik versunken, dass er nichts mitzubekommen scheint. Als die Musik abrupt endet und Wasily sich pathetisch verbeugt, schaffe ich es mit letzter Kraft, die Lach- in Jubel- und Klatschenergie umzuwandeln.

»Bravo! Bravissimo! Wuhuuuuuuuu!«

Der Russe scheint es mir abzukaufen. Ich habe dennoch ein schlechtes Gewissen und drücke ihm einen Zehneuroschein in die Hand.

»Daaaanke. Du säähr grroooßziegig. Daaruum ich auch grroooßziegig: Spiele ich noch eine Liiieeed.«

Während ich noch darüber nachdenke, ob er mit »großziegig« »großzügig« meint, oder ob es in der russischen Mythologie eventuell eine große Ziege gibt, die als Schutzpatronin für Kammermusik oder buschige Schnurrbärte fungiert, schaut Aylin mich mit hochgezogenen Augenbrauen an und schüttelt energisch den Kopf. Die Botschaft ist klar: Rette mich – noch ein Lied ertrage ich nicht! Und was wäre ich für ein Ehemann, wenn ich in dieser kritischen Situation nicht das Heft des Handelns in die Hand nehmen und mich schützend vor meine Frau stellen würde:

»Noch ein Lied? Natürlich, sehr gern. Das freut uns total.«

Meine Therapeutin sagt immer, ich hätte Probleme mit Konflikten. Da würde ich ihr nicht widersprechen. Allein schon, um dem Konflikt aus dem Weg zu gehen. Allerdings verraten mir Aylins Augen, dass ich mit meiner Antwort durchaus nicht jeden Konflikt vermieden habe. Aber man muss auch mal einen Ehestreit in Kauf nehmen, wenn man russische Straßenmusiker glücklich machen kann.

»Spiiieele ich jetzt: Prokooofjew.«

Zwölfeinhalb Minuten später ist der russische Geiger endlich verschwunden. Während der gesamten Sonate versuchte ich mich pantomimisch mit meiner Frau zu versöhnen. Aber selbst mein Ich-bin-ein-Hundewelpe-bitte-adoptiere-mich-Blick hat nicht funktioniert, da Aylin überraschenderweise Prokofjew auch nicht sehr viel romantischer fand als Schostakowitsch.

Wenn Aylin länger als zehn Sekunden sauer auf mich ist, löst das bei mir automatisch die Angst aus, dass sie innerhalb der nächsten zehn Sekunden Schluss macht. Sicher, rational betrachtet scheint es eher unwahrscheinlich, dass Aylin eine fünfjährige Ehe beendet, nur weil ich einem Straßenmusiker gestatte, Prokofjew zu spielen. Aber Aylin ist bei Männern extrem beliebt, und deshalb habe ich immer das Gefühl: Wenn ich ihre Nummer eins bleiben will, muss ich eine perfekte Performance abliefern. Als wäre ich der mittelmäßige Stammtorwart in einem Verein, der sich problemlos Manuel Neuer leisten könnte.

Ich geriet also in Panik, und in Panik bin ich zu erstaunlichen Kreativleistungen fähig. In diesem Fall malte ich Aylin mit Edding ein paar Herzen sowie Blumen, Schmetterlinge, Sternchen und ein verschnörkeltes »seni seviyorum« (ich liebe dich) auf die Serviette. Was nicht nur Aylins Lächeln zurückbrachte, sondern auch die romantische Stimmung. Zumindest bis zu dem Moment, als ich feststellte, dass Gisela zur Feier des Tages Stoffservietten gebracht hatte.

 

Bisher mussten wir alle Hochzeitstage, bis auf den dritten, aufgrund von Familienereignissen verlegen:

Hochzeit: Herzinfarkt Tante Emine.

Erster Jahrestag: Schlaganfall Mustafa Enişte Hurensohn (der Schlaganfall, der jetzt zum Tod führte, war bereits der dritte).

Zweiter Jahrestag: Autounfall Cousine Emine (die Tochter von Emine).

Dritter Jahrestag: Blinddarm-OP bei Tante Emine (die andere Tante Emine), aber nach kurzem Besuch im Krankenhaus trotzdem im Mr. Creosote’s gefeiert.

Vierter Jahrestag: Wasserschaden in der Wohnung von Onkel Kemal.

Fünfter Jahrestag: Tod von Mustafa Enişte Hurensohn.

 

Aylin kehrt an den Tisch zurück, und ich bin Mustafa Enişte Hurensohn dankbar, denn ohne seinen Tod hätten wir unseren Hochzeitstag nicht vom Februar in den Mai verschoben, und ich würde jetzt nicht diesen wunderbaren Moment erleben. Endlich ungestört, streichele ich Aylin sanft über die Wange. Dann küssen wir uns, und mehrere Gedanken kommen mir parallel in den Sinn:

Die Punkte 1 bis 4 verschiebe ich spontan auf später.[1] Bleibt also Punkt 5. Sicher, ich habe schon über 10000 Fotos von Aylin. Aber in meinem Kopf höre ich, wie mein Smartphone nach mir ruft:

»Na los, Daniel, hol mich raus! Hol mich, hol mich, hol mich! Aylin sieht besser aus als je zuvor – wenn du das nicht festhältst, bereust du das bis an dein Lebensende! Und dann am Himmelstor sagt Petrus: ›Du hast dein ganzes Leben eindrucksvoll dokumentiert – aber es fehlt leider ein Bild vom fünften Hochzeitstag … Zack, ab in die Hölle!‹ Also los, mach das Foto! Mach es! Mach es! Mach es! Mach es! Mach es!«

Aylin reißt mich aus den Gedanken:

»Woran denkst du?«

»Nichts. Nur, äh … du siehst einfach so toll aus …«

Ich bin ein wenig vorsichtig geworden, weil Aylin meine Freude am Fotografieren nur sehr eingeschränkt teilt. Hier die drei bisherigen Konflikthöhepunkte:

 

Mai 2012: In der Nähe von Antalya stürze ich beim Versuch, das perfekte Bild von Aylin vor einem Canyon zu machen, um ein Haar in die Schlucht. Mein Hinweis, dass schon viele berühmte Fotografen für ein besonders grandioses Bild ihr Leben riskiert hätten, macht Aylin länger als zehn Sekunden wütend. In Panik verspreche ich voreilig, für den Rest des Urlaubs keine Fotos mehr

 

August 2014: Bei einem dreitägigen Paristrip postiere ich Aylin auf der Treppe vor Sacré-Cœur für das perfekte Bild mit der atemberaubenden Aussicht auf die gesamte Stadt. Dann stelle ich fest, dass die Speicherkarte voll ist, weil ich bereits über 400 Fotos gemacht habe. Aylin muss zunächst einige Minuten warten, weil ich mich nicht entscheiden kann, welche Aufnahmen ich löschen soll. Als ich endlich fertig bin, schiebt sich eine Wolke vor die Sonne, und ich bitte Aylin, kurz auf den nächsten sonnigen Moment zu warten. Nach weiteren siebeneinhalb Minuten ist alles perfekt – bis auf Aylins Mimik. Als ich sie höflich darauf hinweise, dass ihr aktueller Gesichtsausdruck nicht mehr zum traumhaften Bildhintergrund passt, stiefelt Aylin wütend den Montmartre hinunter. Leider kriegt sie anschließend mit, dass ich unseren Konflikt als Sketchidee in die Diktiergerätfunktion meines Smartphones spreche. Über zwei Stunden Funkstille – Beziehungsrekord.

 

April 2015: Im Phantasialand weigert sich Aylin beim Besuch der Themenwelt Wuze Town, für ein Foto mit der Kriegergöttin Winja zu posieren. Kurz darauf versuche ich, während der Fahrt in der Black-Mamba-Achterbahn ein Selfie von uns zu schießen. Dabei fliegt mir die Kamera an den Kopf, und wir müssen zur Krankenstation, um die Platzwunde zu versorgen. Ich gestehe Aylin zähneknirschend ein, dass ich ein Problem habe.

 

Meine Therapeutin glaubt, ich würde zwanghaft versuchen, etwas festzuhalten, was man nicht festhalten kann – nämlich die Liebe –, und Fotobücher seien kein Ersatz für die Magie des gegenwärtigen Augenblicks. Bla, bla, bla. Nur ein einziges klitzekleines Foto vom fünften Hochzeitstag – das sollte doch wohl drin sein.

»Hast du mir überhaupt zugehört?«

Aylin schaut mich vorwurfsvoll an. Habe ich zugehört? Nun ja, mir ist aufgefallen, dass sie ihre Lippen bewegt hat. Das kann man im weitesten Sinne schon irgendwie als Zuhören bezeichnen. Ich nicke:

»Ja. Natürlich. Klar.«

»Na gut. Was habe ich denn gerade gesagt?«

Das ist jetzt peinlich – besonders zur Feier des Hochzeitstags. Aber mein Gehirn arbeitet seit einigen Minuten fieberhaft an einem Plan, das sensible Thema »Erinnerungsfoto« elegant einzubringen.

»Du hast keine Ahnung, was ich gesagt habe – gib’s zu, Daniel!«

Ein Adrenalinstoß fährt durch meinen Körper. Erinnerungsfetzen an Aylins Worte kommen mir in den Sinn: Ihre Mutter, ihr Bruder, irgendeine Tante und der Begriff »Sommerhaus«. Ich rate:

»Äh, es ging um die … Urlaubsplanung.«

»Glück gehabt.«

Puh. Unter Druck arbeitet mein Verstand einfach am besten. Aylin ist zwar nicht überzeugt, aber ich bin erst mal aus der Sache raus. Denn bevor meine Frau mich mit Detailfragen entlarven kann, werde ich von der Mutti gerettet, die uns Fish & Chips bringt. Definitiv die besten Fish & Chips in Köln – und auch das einzige Gericht, das man bei ihr bestellen sollte. Das Rezept

 

Die Mutti knallt die Teller mit ihrer leicht grobmotorischen Art auf den Tisch und beweist anschließend Sinn für Romantik, indem sie die Plastikflasche mit Mayonnaise nimmt und jedem ein Herz auf die Pommes spritzt. Dass ein Teil der Mayonnaise auf meinem Hemd landet, lasse ich als künstlerische Freiheit durchgehen. Gisela scheint gerührt, denn ihre Augen werden ein wenig feucht:

»Also, ihr Lieben, lasst et euch schmecken – und möge eure Ehe der Teig sein, der dat Fischfilet eures Lebens jeden Tag zusammenschweißt.«

Ich bin ein Fan von Giselas schiefen Metaphern, die sie bei jeder Art von feierlichem Anlass von sich gibt. Allein das wäre Grund genug, Stammgast im Mr. Creosote’s zu sein.

»Und isch wünsche eusch, dat ihr bald viele kleine Pommes bekommt, die ihr großziehen könnt. Denn eine Fritte aufwachsen zu sehen, dat is einfach dat Schönste auf der janzen Welt. Juten Appetit.«

Ich brauche einen Moment, das unschöne Bild loszuwerden, wie Aylin eine Schale Pommes entbindet. Dann sehe ich meine Chance gekommen:

»Wow, Gisela, das Essen sieht sensationell aus – heute hast du dich selbst übertroffen. Ich denke, diesen historischen Moment sollten wir festhalten.«

Aylin schaut mich missbilligend an. Mit meinem dem Gestiefelten Kater von Disney entlehnten Bitte-tu-mir-nichts-Blick (der sich vom Ich-bin-ein-Hundewelpe-bitte-adoptiere-mich-Blick durch noch weiter aufgerissene Augen und Zähnezeigen

»Dat Tuch setze isch auf die Reschnung. Und jetzt jib mir den Fotoapparat.«

Ich reiche ihr mein Smartphone. Gisela nimmt es mit der Verachtung, die sie für jede Form von technischer Errungenschaft aufbringt:

»Wenn isch meiner Mutter jesagt hätte, man kann mit dem Telefon Fotos machen, dann hätte die jeantwortet: ›Ja klar, und mit der Kloschüssel fliegen wir nach Spanien.‹«

Gisela hält das Smartphone hoch und erschrickt:

»Huch, dat bin isch ja selbst … Also, ehrlisch, Fotos von mir hänge isch nur in die Küche, um Unjeziefer zu vertreiben, hahaha …«

Giselas ausgesprochen dreckige Lache kann man bei günstigem Wind auch drei Häuserblocks entfernt noch hören. Ich stelle schnell vom Selfie- in den Normalmodus. Die Mutti hält das Smartphone mit ausgestreckten Armen gut einen halben Meter von sich weg:

»So, bitte rescht freundlisch … Und wo muss isch jetzt draufdrücken?«

»Der rote Punkt. Unten im Display.«

»Moment, da sind janz viele rote Punkte … Ach nee, dat sind die Rosen.«

Gisela nimmt ihre Lesebrille, die in ihrer rotbraun gefärbten Dauerwelle steckt, und setzt sie auf:

»Ah, da. Alles klar. Also … gleisch kommt dat Vögelchen … wobei … halt, Moment! Früher, dat Kameraobjektiv, dat sah immer so aus wie ein Astloch. Und da hat man halt jesagt: Gleisch kommt dat Vögelchen. Aber bei so ’nem Handy ist dat Loch so klein, da passt doch kein Vogel mehr durch.«

»Dann sag doch einfach: Gleich kommt die Fliege.«

»Hahaha. Der war jut. Gleisch kommt die Fliege. Hahahaha.«

Da erklingt sie wieder, die Lache, die schon zweimal dafür gesorgt hat, dass die Polizei wegen nächtlicher Ruhestörung angerückt kam. Die Mutti schaut irritiert:

»Kein Problem. Drück einfach auf das Kamerasymbol.«

Gisela hämmert wild auf dem Display herum, und ich ahne Böses – zumal Gisela nicht mehr hundert Prozent nüchtern zu sein scheint. Sie hält sich das Smartphone ans Ohr:

»Hä? Die Kamera is am Piepen. Wat soll dat denn?«

Kurz darauf meldet sich eine Stimme:

»Hallo? Wer ist da?«

Ich merke sofort: Es ist meine Oma Berta. 97 Jahre und je nach Tagesform leicht- bis mittelverwirrt. Gisela ist irritiert:

»Isch werd bekloppt – die Kamera redet mit mir!«

Schnell nehme ich das Smartphone wieder an mich.

»Hallo, Berta, Daniel hier. Es tut mir leid, aber ich wollte dich nicht anrufen, wir wollten nur ein Foto machen, und dabei sind wir ins falsche Menü gerutscht.«

»Du willst mit dem Telefon ein Foto machen? Hast du was getrunken?«

»Nein, du weißt doch, dass Telefone heutzutage …«

»Und selbst schuld, wenn dir dein Telefon ins Menü rutscht! Beim Essen telefoniert man nicht.«

»Genau. Aber was ich sagen wollte …«

»Wer war denn die Frau da? Da war doch eine Frauenstimme.«

»Das war die Mutti, aber …«

»Gib sie mir mal. Ich habe mit deiner Mutter noch etwas zu besprechen.«

»Nein. Das ist nicht Erika. Die Mutti heißt eigentlich Gisela. Ich nenne sie nur Mutti, weil …«

»Ach. Und wie nennst du deine Mutter?«

»Erika.«

»Du nennst eine fremde Frau Mutti, aber deine Mutter nennst du Erika … Bist du sicher, dass du nichts getrunken hast?«

Aylin und Gisela werden langsam ungeduldig. Das Essen wird kalt. Und ich hebe entschuldigend die Arme. Oma Berta vollzieht nun einen ebenso abrupten wie interessanten Themenwechsel:

»Weißt du was? Eben war im Fernsehen eine Ansprache vom Führer. Also, der hat so ein dummes Zeug von sich gegeben – ich glaube, mit dem stimmt was nicht.«

»Ja. Genau. Also, ich weiß ja, dass ein bisschen Show heute zum Wahlkampf dazugehört, aber …«

»Berta, du hast einen Film mit Charlie Chaplin gesehen.«

»Trotzdem. Bei der nächsten Reichstagswahl wähle ich wieder den Adenauer. Dem kann man wenigstens vertrauen. Also entweder Adenauer oder Howard Carpendale. Den mag ich auch. Aber beim Führer hab ich so ein Gefühl, das nimmt kein gutes Ende. Nur, auf mich hört ja keiner.«

»Du weißt gar nicht, wie recht du hast, Oma Berta. Aber ich lege jetzt auf. Hab dich lieb. Tschüss!«

Ich stelle den Fotomodus wieder ein und reiche das Smartphone der Mutti. Nach fünf verwackelten Bildern, zwei Versionen mit Giselas Daumen im Vordergrund, einem Aus-Versehen-Selfie von Giselas Dekolleté, einem weiteren Anruf bei Oma Berta sowie der Aktivierung der Diktiergerätfunktion und einem kurzen Ausflug auf meine Facebook-Seite hat Gisela endlich ein passables Hochzeitstagsfoto von Aylin und mir gemacht, das abgesehen von unseren leicht angestrengten Gesichtszügen romantisch wirkt.

 

Ein wenig später haben wir den Beweis erlebt, dass Giselas Fish & Chips auch kalt noch passabel schmecken, und die Mutti kommt – inzwischen leicht schwankend – mit zwei Glasschälchen zu unserem Tisch, in denen jeweils eine Erdbeere auf einer undefinierbaren braunen Masse thront. Ich verkneife mir aufgrund des feierlichen Anlasses jegliche Fäkalscherze:

»Mmm … das sieht ja … lecker aus!«

»Dat is eine janz besondere Kreation, zum Abschluss: ein ›Spezialpudding à la Mutti‹. Isch habe einfach jeguckt, wat noch so da is, und dann hab isch improvisiert.«

Aylin und ich tauschen ahnungsvolle Blicke. Wenn Gisela improvisiert, liegt die Gefahr eines kulinarischen Desasters bei weit über neunzig Prozent. Gisela serviert meine Schale, geht dann zu Aylin und zögert. Ich bin überrascht, denn Gisela und Zögern schließen sich normalerweise gegenseitig aus. Nach einigen Sekunden wendet sich Gisela an mich:

Jetzt bin ich endgültig irritiert: Gisela bittet um ein Foto? Normalerweise ist sie schwerer vor die Linse zu kriegen als ein Berggorilla in freier Wildbahn. Ich zücke erneut mein Smartphone.

»Kein Problem. Achtung, gleich kommt die Fliege!«

Ich mache eine kurze Pause, in der ich vergeblich auf Giselas dröhnende Lache warte.

»Moment, der Pudding verdeckt jetzt Aylins Gesicht … Ja, besser … Fertig.«

Ich mache ein paar Bilder, dann platziert Gisela Aylins Pudding überraschend sanft auf dem Tisch – und bekommt erneut wässrige Augen:

»Also dann, juten Appetit … Lasst et eusch schmecken … Jetzt kann isch et ja sagen: Ihr zwei habt zu meinen absoluten Lieblingsjästen jehört.«

Aylin schaut entsetzt:

»Warum redest du in der Vergangenheit?«

Gisela steht seit einer halben Minute vor uns und sucht nach Worten, was nun wirklich nicht ihre Art ist. Verglichen mit ihr wirkt sogar Reiner Calmund wie ein bedächtiger Lyrikprofessor.

»Also … isch … nä. Also … et is so … Dieser Spezialpudding war dat Letzte, wat isch hier serviert habe. Morgen mache isch discht.«

Urplötzlich fängt Gisela bitterlich an zu weinen. Ich bin erschüttert. Gisela war immer ein Fels in der Brandung. Ich habe sie in den Jahren, seit ich hier Stammgast bin, nur ein einziges Mal weinen sehen: bei der Trauerfeier für ihren Mann Harvey. Aber selbst da hat sie sich nur ein paar vereinzelte Tränen aus den Augen gewischt und anschließend Kölsch aus Harveys Urne ausgeschenkt, in die Jupp, ein befreundeter Schlosser, auf Harveys Wunsch hin einen Zapfhahn geschweißt hatte. Die Asche hatte Gisela in einem Päckchen mit freundlichen Grüßen zum Buckingham Palace geschickt. Sein Leib gehöre schließlich immer noch der Queen, hatte Harvey kurz vor seinem Tod gesagt.

Als später der Pfarrer zur Trauergemeinde trat, um die Beisetzung vorzunehmen, schaute er völlig konsterniert auf den Zapfhahn und die leeren Kölschgläser, fragte aber nicht weiter nach und setzte die Urne schließlich leicht widerwillig ins Grab. »Also wenn et gleisch regnet, dann is dat Harvey, der sisch im Himmel vor Lachen bepisst«, flüsterte Gisela mir damals ins Ohr. Und beendete dann auch beim anschließenden Leichenschmaus im Mr. Creosote’s die sentimentale Grundstimmung mit den Worten

Doch heute schafft Gisela es nicht, ihre Tränendrüsen zu kontrollieren. Aylin steht auf und nimmt sie tröstend in den Arm. Ich bin schockiert. Das Mr. Creosote’s war seit Jahren mein Zufluchtsort vor dem Wahnsinn unserer Zeit. Moderne Registrierkassen, EC-Cash, Wireless-Lan – nicht bei der Mutti. Bierdeckel und Bares tun’s schließlich auch. Selbst Tauschhandel war bei Gisela nicht ausgeschlossen. Und wenn mal ein neuer Gast den Fehler machte, nach dem WLAN-Passwort zu fragen, erhielt er stets zur Antwort: »Isch bin ein Sackjeseech – ohne Leerzeichen.« Dann hatte sie immer eine diebische Freude, dem Gast erst die kölsche Schreibweise von »Sackgesicht« zu buchstabieren und anschließend den verzweifelten Zugangsversuch in ein fremdes Netzwerk zu beobachten.

Und das soll jetzt vorbei sein? Für immer? Seufzend schiebe ich mir einen Löffel von Muttis Spezialpudding in den Mund. Er schmeckt in der Tat so schlecht, dass der Brechreiz mich kurz von der traurigen Nachricht ablenkt.

Aylin hat die Mutti inzwischen auf einen Stuhl platziert und mit ihrer Stoffserviette versorgt, in die Gisela herzhaft den Inhalt ihrer Nase entleert. Wenn es Guinnessbucheinträge für das lauteste und längste Schnäuzen geben sollte – Gisela hätte gute Chancen. Es klingt, als hörte man einen Waldhornbläser durch eine sehr dünne Rigipswand die Tonleiter üben.

Ich kann das alles immer noch nicht wahrhaben. Ich sollte jetzt eine Rede halten – emotional, aufrüttelnd, Mut machend. Eine Mischung aus Bergpredigt, Martin Luther King und der Trauerrede von Frank Underwood in der ersten Staffel von House of Cards. Eine Rede, nach der Gisela keine Wahl hat, als zu sagen: »Danke, Daniel. Das war das Ergreifendste, das ich in meinem Leben je gehört habe. Du hast mein Herz berührt, und deshalb

»Aber … du … aber … w…warum?«

Okay, kurz war es. Und prägnant ist ja Definitionssache. Gisela schließt ihre Schnäuzsinfonie mit einem finalen Dreiklang in d-Moll ab, und plötzlich, als hätte sie ihren gesamten Schmerz in die Serviette entsorgt, steht Gisela auf, klatscht in die Hände und ist wieder die Alte:

»Warum? Jetzt tu nit so, als wär jemand jestorben. Die Mutti will einfach mal ihr Leben jenießen – Feierabend.«

Sie steht abrupt auf und klopft Aylin so liebevoll auf die Schulter, dass diese schmerzhaft ihr Gesicht verzieht.

»So, isch brauche jetzt meinen Schönheitsschlaf. Aufräumen tu isch morgen … Zieht einfach die Tür zu, wenn ihr jeht.«

Und damit verschwindet sie. Sentimentalität steigt in mir hoch. Zieht einfach die Tür zu, wenn ihr jeht. Die letzten Worte einer großen Ära … Halt, Moment – Gisela kommt noch einmal zurück, mit einer Flasche Kräuterschnaps in der Hand:

»’tschuldijung, isch wollte eusch nit den Hochzeitstag versauen. Also noch mal: auf eusch. Möge Aylins Arsch zur Silberhochzeit noch jenauso knackisch sein wie heute.«

Sie nimmt einen großen Schluck und muss aufstoßen:

»Hoppala … Der Rülpser ist ein Magenwind, der nit den Weg zum Arschloch find.«

Gisela verschwindet. Sentimentalität steigt in mir hoch. Der Rülpser ist ein Magenwind, der nit den Weg zum Arschloch find. Die letzten Worte einer großen Ära … Halt, Moment – Gisela ist wieder da, mit nachdenklicher Miene. Sie seufzt:

»Dat is jetzt blöd, aber isch glaube, isch habe aus Versehen Remoulade in den Pudding jerührt.«

Und wieder weg. Ich stoppe die aufsteigende Sentimentalität, denn ich habe das Gefühl, da kommt noch was. Doch die erdbebengleichen Erschütterungen, die Giselas Schritte auf der Holztreppe zu ihrer Wohnung im ersten Stock auslösen, sowie das

 

Aylin und ich schweigen ein paar Minuten. Ich rühre lustlos in ›Muttis Spezialpudding‹ herum. Remoulade, Kakaopulver und … ist das eine Kaper? Plötzlich kommt mir eine Idee:

»Warum übernehmen wir nicht das Mr. Creosote’s und machen ein Café daraus? Wir haben doch schon oft gesagt: Irgendwann eröffnen wir mal eins. Warum nicht jetzt?«

Aylin überlegt kurz, dann leuchten ihre Augen:

»Genau. Und die Mutti wird unsere Chefkellnerin.«

Wir lächeln uns an. Ich weiß, dass ich es nicht ernst gemeint habe. Weiß Aylin das auch? Klar, wir haben oft gesagt: Wir machen mal ein Café auf; aber genauso, wie man sagt: Irgendwann ziehen wir nach Kanada und züchten Rentiere. Oder: Morgen melde ich mich im Fitnessstudio an. Absurde Ideen halt, die man schnell wieder verwirft. Aber das Schöne an Luftschlössern ist nun einmal, dass sie vom harten Boden der Tatsachen unberührt bleiben. Also lache ich:

»Vergiss es, war ’ne blöde Idee.«

Irgendetwas in Aylins Augen verrät mir, dass sie die Idee gar nicht sooo blöd findet.

Am nächsten Morgen passiere ich mit meinem Fahrrad den Barbarossaplatz und bin mal wieder beeindruckt vom Ausmaß seiner Hässlichkeit. Selbst Müllhalden haben eine gewisse Ästhetik, aber der Barbarossaplatz … Er sieht aus, als hätte eine Selbsthilfegruppe depressiver Architekturstudenten rund um das Autobahnkreuz Chemnitz ihre Selbstmordgedanken in Beton visualisiert.[2]

Ich schalte einen Gang höher, um diesen Tiefpunkt der menschlichen Kulturgeschichte möglichst schnell zu verlassen, und muss kurz kichern, weil die Reh-Apotheke zur Verschönerung Blumenkübel auf den Bürgersteig gestellt hat – was ungefähr den gleichen Effekt hat wie Botox bei einem chinesischen Faltenhund.

Als ich zehn Minuten später im hippen Belgischen Viertel mein Fahrrad an ein Halteverbotsschild kette, kommt ein dunkelhäutiger Teenager mit leidendem Gesichtsausdruck und unverständlichen Jammerlauten auf mich zu und hält mir ein Schild unter die Nase: »Kann nicht sprechen Deutsch. Haben Hunger. Du helfen oder du nicht mögen Ausländer?«

Zufällig erinnere ich mich sehr genau daran, wie er sich drei Tage zuvor in perfektem Deutsch mit dem iranischen

Der Junge scheint mich auch wiederzuerkennen und schaltet in einer Sekunde vom Jammer- in den Konversationsmodus:

»Oh, hi, wie geht’s – alles klar?«

»Ja, alles bestens. Und selbst?«

»Super. Seit ich kein Deutsch mehr kann, hat sich mein Umsatz verdreifacht.«

Pünktlich um zehn Uhr betrete ich meinen Arbeitsplatz, die Werbeagentur Creative Brains Unit. Eigentlich machen wir hier das Gleiche wie der Teenager: Wir erzählen Lügen, damit Menschen ihr Geld hergeben.

Wie jeden Montagmorgen treffen wir uns mit minimaler Motivation im Besprechungsraum, damit uns Agenturchef Rüdiger Kleinmüller darüber informieren kann, für welches Objekt der bunten Glitzerwelt wir diesmal unser kreatives Talent missbrauchen dürfen.

Karl saugt schlaftrunken an seiner E-Zigarette, auf die er vor drei Jahren aufgrund des Rauchverbots in der Firma umgestiegen ist; Ulli twittert in seinen Hypochonder-Blog, dass sein Gefühl der Kraftlosigkeit höchstwahrscheinlich von multiresistenten Killerbakterien verursacht wird, die gerade in seinen Nieren eine Jam-Session veranstalten; und Lysa kommentiert die Meldung Ich hasse Montage einer Facebook-»Freundin«: Ich hasse Menschen, die jeden Montag posten, dass sie Montage hassen.

Ich dagegen tue etwas Nützliches: Ich bestelle auf der Homepage des 1. FC Köln den Toaster »Hennes«, der in jede Scheibe Toast die Silhouette des Geißbocks brennt.

Rüdiger Kleinmüller betritt den Raum. Wenn ein Mann Mitte

»Hey, Leute, ich habe nicht nur eine good news, nein, ich habe zwei good news.«

Karl stößt gelangweilt einige Rauchkringel aus:

»Ich rate einfach mal drauflos: Dieter Bohlen ist tot, und Wichsen wird zum Schulfach.«

Kleinmüller schaut kurz angewidert, ringt sich aber zu einem künstlichen Lachen durch, um nicht uncool rüberzukommen:

»Hahaha, unser Karl wieder! Nein. Erste good News: Die Firma Coloriora ist von unserer Campaign für Coloriora Hair Colour be-gei-stert. Die Idee mit den ›Vier Haareszeiten‹ hat die total geflasht. Obwohl es wohl schon einen Friseur in Bad Bevensen gibt, der so heißt. Aber don’t worry, das klären die Juristen. Also congrats an euch alle und natürlich an Daniel als Chef. Good job, guys – and girl.«

Vor einigen Monaten las Kleinmüller in einer Marktforschung, Anglizismen in der Werbung seien inzwischen out, weil sie totally old-school-mäßig rüberkommen. Daraufhin versuchte er krampfhaft, sich die englischen Begriffe abzugewöhnen – und scheiterte damit ebenso wie bei Zigaretten, Alkohol und Koks:

»Zweite good news: Ein amerikanischer Großkonzern will in den nächsten Jahren 250 Filialen von Zachary’s Burger Lounges in Germany eröffnen – im Prinzip ’ne Art Mc Donald’s mit ’n bisschen Bio-Image und tiefergelegten Sitzen.«

Jetzt kann ich mir eine Bemerkung nicht verkneifen:

»Wow, das ist mal ’ne gute Nachricht. Endlich geht es den individuellen Bio-Burger-Läden an den Kragen!«

Das hört sich jetzt ein wenig zynisch an – als hätte ich ein gespaltenes Verhältnis zu meinem Beruf; doch in Wirklichkeit … Okay, ich habe ein gespaltenes Verhältnis zu meinem Beruf. Aber bin ich ein Zyniker geworden? Hm … tja. Also, wenn das so sein sollte, dann wären Crubble’s Crunchies schuld daran – eine fies schmeckende Kombination aus Fett und … Fett. Ach ja, plus diverse Chemikalien. Angeblich sind auch Rückstände

Rüdiger Kleinmüller hatte mir den Auftrag erteilt, für Crubble’s Crunchies ein Wort wie »knusperknabberknackigfrisch« zu erfinden. Dabei sollte die Aussage, das Produkt sei eine knackig-knusprige Knabberei, ohne die Worte knackig, knusprig und Knabberei rüberkommen. Nach vier verzweifelten Stunden und einer Flasche Rotwein mailte ich ihm eine Liste mit zehn Vorschlägen:

Zugegeben, bei Punkt 10 war ich mit den Nerven am Ende und kurz davor, meinen Laptop aus dem Fenster zu werfen. Kleinmüller ignorierte die Provokation elegant, und es kam zu folgender absurder Konversation:

»Good job, Daniel. Ich mag die number two. Ich würde nur kracher durch crispy ersetzen.«

»Hm …«

»Also Crubblecrispycruncharoma.«

»Okay.«

Kleinmüller lehnte sich in seinem Designer-Schreibtischsessel zurück, nahm die Hand ans Kinn und wurde nachdenklich. Als würde er über Sokrates sinnieren und nicht über Salzgebäck:

»Ich meine, natürlich ist die Knusprigkeit in crunch impliziert,

»Klar. Crispy und crunch sind bekanntlich das Yin und Yang der Knusprigkeit.«

Damit wollte ich meinen Chef eigentlich verarschen. Doch Ironie gehört nicht zu seinen Kernkompetenzen:

»Exactly. Du hast es verstanden, Daniel.«

Daraufhin klopfte er mir euphorisch auf die Schulter und bot mir die Hand zum High-five an. Und in diesem Moment, als ich Rüdiger Kleinmüller mit der Kraft einer paralysierten Süßwasserqualle abklatschte, ist es passiert: Plötzlich, unaufgefordert und zu meiner eigenen Überraschung stand eine Frage mitten in meinem Kopf: Was zum Teufel mache ich hier eigentlich?

Den Tag vor dem Crubblecrispycruncharoma hatte ich mit Aylin in der Frauenklinik verbracht. In ihrer linken Brust war ein Knubbel festgestellt worden, und wir warteten voller Angst auf das Ergebnis der Biopsie. Das Gewebe hatte sich Gott sei Dank als gutartig erwiesen, und ich hätte vor Freude und Erleichterung die ganze Welt umarmen können.

An dem Abend, vor fast genau vier Jahren, gingen wir zum ersten Mal ins Mr. Creosote’s. Als die Mutti hörte, was wir zu feiern hatten, öffnete sie spontan ihre Bluse und zeigte Aylin eine OP-Narbe auf ihrer linken Brust. Woraufhin Harvey kopfschüttelnd anmerkte, wir sollten dankbar sein – denn wenn wir Stammgäste wären, hätte seine Frau auch primäre Geschlechtsmerkmale präsentiert.

Mr. Creosote’s