Sämtliche Personen in diesen Erzählungen sind erfunden, bis auf die Autoren der »letzten Bücher«.
Für Mechthild
Das Leben ist kurz, die Stunde ist lang.
Theodor Fontane: »Der Stechlin«
Kommt der letzte Schrei – le dernier cri – vor oder nach den letzten Dingen?
Wolfgang Hildesheimer: »Nachlese«
Der Wind blieb in der Sonne kühl. Brodbeck rückte seinen Stuhl in die Ecke, die sonst von den spielenden Enkeln beansprucht wurde. In seinen Gedanken war er dieser Bewegung schon voraus, und wieder machte ihm eine Widersinnigkeit zu schaffen: Er verhielt sich wie ein alter, kränkelnder Mann. Das war er sowieso, über das Pensionsalter hinaus, achtundsiebzig, doch noch immer, nach zwei Infarkten, ruhelos, unterwegs auf Vortragsreisen, ein altes Bühnentier. In zwei Tagen würde er wieder aufbrechen, Morgenstern vortragen, Ringelnatz und einen Abend lang Hölderlin. Manchmal geriet er ins Straucheln, musste pausieren, und Frau und Kinder spotteten über seinen Hang, sich produzieren zu wollen. Er wehrte sich gegen diese Unterstellungen, es mache ihm Lust, Sprache laut werden zu lassen, ähnlich wie Noten zum Klingen zu bringen.
Er sei unverbesserlich, wurde ihm bescheinigt. Doch wenn er schon seiner Lust nachgebe, solle er aufhören zu klagen. Ja, er klagte über Schmerzen in den Beinen, über Atemnot, einen steifen Hals, klagte abwechselnd darüber, klagte auch über das »ewige Programm«, mit dem er auftrete, alles schon bekannt, bis ihm sein Ältester spöttisch riet, er solle doch, wenn er schon fürchte, nur noch ein letztes Mal auftreten zu können, aus letzten Büchern vortragen. Das hätte Sinn und wäre ein Programm, das seiner Situation und seiner trüben Laune entspräche.
Der Einwurf zündete. Brodbeck begann, dem Thema nachzugehen, machte es zu seinem Auftrag und schrieb während der beiden Tage, die ihm vor der Abreise blieben, eine Liste mit letzten Romanen. Keineswegs ein langweiliger Stoff. Zum Beispiel Fontanes »Stechlin« und Johnsons »Jahrestage«.
Er rief seine Agentin an, ärgerte sich, dass er aus Unsicherheit umständlich wurde, erst einmal über die Bedeutung solcher Schlusspunkte philosophierte und die Madame ihn brüsk berichtigte: Aber mein Lieber, der »Stechlin« ist ein ziemlich dicker Schlusspunkt. Und wie, frage ich Sie, soll ich das Unternehmen anbieten? Wollen Sie 24 Stunden lesen? Welches Honorar wünschen Sie als Vertreter der letzten Dinge? Er kannte diesen Ton. Madame scheute sich vor schwierigen Gesprächen mit Kulturreferenten und Literaturhauskönigen, vor Absagen, die sie ihm weitersagen musste.
Sagen Sie einfach Letzte Bücher und nennen Sie die Titel. Sie bekommen noch eine Liste von mir. Ich rate Ihnen, mit Tübingen zu beginnen, die Intendantin des dortigen Theaters ist mir gewogen, ich könnte mich für die Spanne der »Jahrestage« bei Freunden einquartieren und dann Samstag und Sonntag in Matinéen lesen. Sie versprach ihm, sich mit Tübingen in Verbindung zu setzen.
Er lief über die Wiese, die sich vor den Ferienbungalows ausbreitete, Bolzplatz für die Kinder, stolperte über ein paar säuberlich abgestellte Laufschuhe, fluchte, winkte Emanuel, dem jüngsten Enkel, zu, der in einen der Strandkörbe hineinkletterte, sich zurücklehnte und in Siegerpose zurückwinkte.
Er musste sich mit Lena besprechen, sie würde, vermutete er, gegen seine langen Abwesenheiten meutern und er wiederum die Aussicht auf ordentliche Honorare dagegensetzen. Der obligatorische Inselurlaub mit der Familie hatte die Kasse geleert.
In ein fiktives Gespräch mit Lena vertieft, schlenderte er hinüber ins Hotel, ein Glas Wein könnte jetzt das zwiefältige Selbstgespräch befeuern, obwohl Wein ihm nicht unbedingt von seinem Hausarzt verordnet worden war. Auf dem Spielplatz, neben dem Restaurant, hatten drei seiner Enkel die Rutsche besetzt, wiesen schreiend, um sich schlagend, andere Kinder ab. Er beobachtete die Auseinandersetzung und wehrte sich gegen den Wechsel der Empfindungen: Er war zum einen beschämt, zum andern stolz.
Er winkte dem Wirt, dessen Aufstieg zum Hotelier er nach der Wende mit Respekt verfolgt hatte, sagte ihm, dass er wahrscheinlich vorzeitig Hiddensee verlassen werde.
Ob er eine Rolle angeboten bekommen habe?
Nein, er spiele schon eine Weile nicht mehr Theater, er trage vor, habe aber eine Idee, die ihm möglicherweise Engagements einbringen werde. Er ärgerte sich über sein konjunktivisches Gerede, über möglich und wahrscheinlich.
Sind Sie da sicher?, fragte ihn der Wirt.
Er redete den aufkommenden Ärger weg: Das überlasse ich meiner Agentin.
Der Mann nickte: Klar.
Solche Gespräche, die aus der Balance zu geraten drohten, beunruhigten Brodbeck. Er stand auf: Bis heute Abend!
Wenn jetzt noch jemand versuchte, ihn aus der Bahn zu werfen, würde er um sich schlagen.
Susi, seine Agentin, sollte am Abend anrufen, ihm mitteilen, ob Tübingen klappte. Wann und unter welchen Bedingungen würde er dann erfahren, Lena und die Kinder zusammentrommeln und ihnen erklären, worum und wohin es geht.
Er verriet sich jedoch, indem er einer idiotischen Manie nachgab: Sobald anstrengende Auftritte bevorstanden, schützte er sich und seine Stimme. Überall dort, wo ihn ein Luftzug erwartete, legte er einen Schal aus, ein Alarmzeichen sogar für die Enkel.
Beim Abendessen an der langen Tafel behauptete Therese, das älteste Enkelkind, dass der Opa bald wieder verreisen werde. Überall lägen seine Schals. Womit sie die speisende Runde in Unruhe und Brodbeck in Verlegenheit versetzte.
Hast du Termine?, fragte Lena. Warum verschweigst du sie uns? Und warum – Spott färbte die Stimme – hast du zu deinem Gang über die Wiese keinen deiner Schals umgelegt?
Das fragte er sich auch. Er hätte sich tatsächlich erkälten können.
Ich könnte Schals in der nächsten Zeit brauchen, denn ich werde meine Stimme schonen müssen.
Lena legte mit Nachdruck das Besteck neben dem Teller ab: So geschwollen redest du nur, wenn du eine Dauerplage anzukündigen hast.
Er lächelte sie an, ihre Empörung rief in ihm den Wunsch wach, sie zu umarmen, er sprach mit vollem Mund: Du weißt ja, ich habe einen Stapel Bücher mitgenommen, um mich für Lesungen anregen zu lassen. Mit Maja Katzor, der Münchener Kollegin, habe ich wenigstens ein paarmal Zweistimmigkeit verabredet, dialogische Stücke. Unter den Büchern, die der Zufall stapelte, fand ich auch Döblins »Hamlet«, seinen letzten Roman, genauer »Hamlet oder die lange Nacht nimmt ein Ende«, ein Buch, das er unmittelbar nach dem Krieg schrieb, das, obwohl vom großen Döblin, der nun ein mit Misstrauen empfangener Remigrant war, von einigen Verlagen abgewiesen und schließlich vom Aufbau-Verlag in der sowjetischen Zone, im russischen Sektor von Berlin, angenommen und veröffentlicht wurde.
Er schluckte den Brocken weich gekauten Fleischs herunter. Es ist eine elende Geschichte. Döblin hat darunter gelitten. Er ist danach in Emmendingen gestorben, in der französischen Zone, in der er als französischer Offizier allerlei gründete, die Zeitschrift »Das goldene Tor« und die Mainzer Akademie. »Hamlet« war das letzte Buch des Mannes, der »Berlin Alexanderplatz« schrieb. Das letzte Buch!
Er stand auf.
Emanuel rief: Der Opa will eine Rede halten. Aber niemand hat Geburtstag.
Mit kindischem Trotz erwiderte er dem Enkel: Ich werde aber eine halten, Emanuel. Eine über Schals, letzte Bücher und längere Aufenthalte. Also, bei Döblin wurde mir klar, was letzte Bücher, letzte Romane bedeuten. Sie stehen am Ende, setzen aber keins. Wer ein letztes Buch schreibt, hofft immer, noch ein nächstes schreiben zu können. Aber er hat möglicherweise eine Ahnung. Das letzte Buch ist nicht das letzte für den Autor, sondern für die Leser. Und doch ziehen letzte Bücher, was mich erstaunt, Summen. Denkt auch an den »Stechlin«.
Den kenn ich nicht, warf Emanuel ein.
Wir auch nicht, murmelte beinahe die ganze Familie im Chor.
Ihr werdet sie kennenlernen! Brodbeck ließ sich auf den Stuhl sinken und wischte mit der Serviette die Lippen trocken.
Lena reagierte, wie er es erwartet hatte: Du wirst dich übernehmen, Robbi. Sie rückte ihren Stuhl nahe neben den seinen und fasste nach seiner Hand.
Du kannst ja mitkommen.
Sie ließ ihn los: Das kostet. Das geht nicht.
Auf diesen eher gestammelten Einwand ließ er sich nicht weiter ein und brachte die bedrückte Frühstücksrunde mit einem Satz durcheinander: Es ist von hier aus sowieso nicht weit bis Jerichow.
Bis wohin?, rief eins der Kinder.
Und Lena fragte nicht ihn, sondern sich selber: Was hat das »letzte Buch« mit der Bibel zu tun?
Ja, was? Er lehnte sich an sie und strich ihr mit der Hand über den Nacken. Klütz, ein paar Kilometer von hier entfernt, ist das Jerichow in Johnsons »Jahrestagen«, die Heimat von Gesine Cresspahls Familie.
Das wusste ich nicht, gab Lena kleinlaut zu, was einen der Enkel empörte: Solch einen Scheiß musst du auch nicht wissen, Oma.
Brodbeck spürte in der Hand, die auf ihrem Nacken lag, ihr Lachen und ließ sich anstecken. Auf alle Fälle brauche ich das Buch hier und jetzt. Und ich bin mir sicher, dass die Vitter Bücherstube dieses mecklenburgische Werk nicht im Sortiment hat.
Lena seufzte: Willst du dir dieses Abenteuer wirklich antun?
Er nahm sich vor, die Buchhandlung aufzusuchen, denn es würde eine Weile dauern, bis die vier Bände die Insel erreicht hatten.
Mit ihnen bereitete er sich auf Tübingen vor, seine Agentin stutzte jedoch die Hoffnung auf eine Tournee mit den letzten Büchern. Die Idee habe auch sie überzeugt, doch nun müsse sie die Veranstalter überreden. Das ganze Unternehmen wachse sich zu einer Organisations- und Kostenfrage aus. Hast du eine Ahnung, wie die sich nach kurzem Erstaunen taub stellen. Mir scheint es erfolgversprechender, wenn du mehrere Titel zur Wahl stellst. Nicht ganz so schwierige Brocken wie den Johnson.
Auf der Insel fing er an, sich mit den »Jahrestagen« zu beschäftigen.
Vielleicht sollten wir Klütz besuchen, dort vorbeifahren.
Da hält bestimmt kein Zug, Papa.
Wo Züge halten, bestimme ich.
Das ist mir klar.
Er geht, allein oder mit Lena, auf dem Deich spazieren, wo es sich über die lästigen Radfahrer lästern lässt. Wieder genießt er den leichten Atem.
Das Herz kriegt Flügel. Mit solchen Sätzen unterhält er Lena.
Wir sollten an die See ziehen, sagt sie.
Auf eine Insel wie diese keinesfalls. Sie wird nach der Eisschmelze an den Polen untergehen.
Sie bleibt stehen, hält ihn fest, sodass er mit ihr aufs Meer schaut. Kinder rennen mit erhobenen Armen in die Brandung und lassen sich von ihr umwerfen. Ein Kutter spielt sich am Horizont auf und wird zum Luxusdampfer.
Hierher, Robbi. Bis zum Ende.
Er zieht sie weiter: Bis wir absaufen.
Das wird dauern, widerspricht sie, ein paar Zeitalter lang.
Er genießt es, wenn sich die Tage ziehen, das Licht sich in den Abend schiebt, die Kinder sich weigern, schlafen zu gehen. Er hat Zeit für die »Jahrestage«, hört sich, spricht sich in den Tonfall ein: »Dein wievielter See ist dies, Gesine?, sagt das Kind, sagt Marie, sagt der fremde Fisch, der aus langer Tauchfahrt hervorstößt. How many lakes did you make in your life now?« Er spricht für Marie, für Gesine. »Die Ostsee lässt das Kind nicht gelten«, liest er, wiederholt den Satz, verblüfft alle Anwesenden. Welches Kind? Spinnt es? Der Dichter nimmt den Faden auf, zieht ihn gerade, er schreibt, und Brodbeck spricht ihm nach: »In der Ostsee zum ersten Mal schwamm das Kind, das ich war, vor dem Fischland und in der Lübecker Bucht.« Diese Gewässer kenne ich, antwortet ihm Brodbeck, und der Text weitet sich in seinem Gedächtnis – er wird ihn mit Hingabe und Laune lesen können, anders als es Johnson tat, mit seinem selbst im Nachdenken aggressiven Bass.
Noch einmal zwischen den spielenden Kindern auf der Wiese.
Noch einmal Spaziergänge gegen die Radfahrer auf dem Deich.
Noch einmal Einkäufe beim Fischer, geräuchertes Vielerlei.
Noch einmal gemeinsame Abendessen im »Godewind«.
Über Stralsund fahren sie heim nach Frankfurt. Schon auf der Fahrt erzählen sie sich Anekdoten aus ihrem Inselleben.
Nein, sagt er, nein, dort sich anzusiedeln wäre eine Illusion. Die See wird die Insel schlucken.
Davon träumt er. Doch im Traum schluckt nicht das Meer die Insel, sondern die Insel geht unter wie ein Lift. Nur kann er nicht aussteigen, nur hilft ihm keiner.
Immerhin konnte er, im Traum untergegangen, endlich zu Hause alle erwünschten letzten Romane um sich versammeln: Döblins »Hamlet«, Faulkners »Spitzbuben«, Fontanes »Stechlin«, Johnsons »Jahrestage«, Thomas Manns »Die Betrogene«, Flauberts »Bouvard und Pécuchet«, Joseph Roths »Legende vom heiligen Trinker«. Er wiederholte, was er mochte. Lena ließ ihn in Ruhe, besuchte oft Katharina, die älteste Tochter und ihre Familie, half im Haushalt, holte die Kinder von der Schule ab.
Bevor Susi anrief, erwartete er den Besuch Kasimir Kieslings, eines alten Freundes aus den Anfängen seiner Schauspielzeit in Tübingen. Dukannstmichmal war sein Spitzname, erinnerte sich Brodbeck. Mit diesem Spruch hielt er alle erdenklichen Misshelligkeiten von sich fern.
Aus dem dünnen, immer fuchtelnden Männlein war ein fetter Schwitzer geworden, der ihn, kaum war er über die Schwelle, in eine feuchte Umarmung riss: Mensch, Robbi, dass wir uns nie über den Weg gelaufen sind in den Funkhäusern. Gehört habe ich dich oft.
Brodbeck fragte den alten Freund, was er zu trinken wünsche.
Wasser und Wein, entschied Kiesling, gemischt.
Brodbeck drückte sich in sein Sofaeck, Kiesling nahm ihm gegenüber Platz und begann, kaum hatte er sich Wasser und Wein gemischt, den ersten Schluck getrunken, über die zurückhaltenden Kulturredaktionen in den Funkhäusern zu klagen, auch über die nachrückenden ellenbogenstarken Jungen. An Aufträge zu kommen, werde immer schwieriger.
Du bist gut dran, Brodbeck, mit deinen öffentlichen Lesungen, deinen Auftritten in Theatern und Literaturhäusern.
Er wich den Blicken des dicken Mannes aus.
Weißt du noch, begann der. Erinnerte an ihre ersten gemeinsamen Auftritte, an Begegnungen mit dem »großen Ponto« – jetzt sind wir so alt wie der damals, bloß nicht so bedeutend –, an die geteilte erste Liebe. Brodbeck hatte seine Erfahrungen mit diesem Weißt-du-noch. Oft traf er auf Reisen alte Bekannte, Klassenkameraden, die ihn mit dem Weißt-du-noch festzuhalten versuchten. Was ihnen ebenso wenig gelang wie Kiesling. Ach, Kiesling, so hatte er damals gerufen, was hilft’s, in Vergangenheiten zu schwelgen.
Er stand auf, taumelte, suchte das Gleichgewicht, stellte fest, dass Kiesling ähnliche Schwierigkeiten hatte, in die Senkrechte zu gelangen: Ich habe mich mit Lena in der Stadt verabredet und möchte sie nicht warten lassen.
An der Tür fragte Kiesling: Gehst du gleich mit?
Er fand keine Ausrede, ließ sich schweigend von Kiesling umarmen.
Mit der Post, die Lena ihm auf den Schreibtisch gelegt und die er übersehen hatte, war ein Brief aus Magdeburg gekommen, der ihn zu einem Abend mit Benn – in Gedicht und Prosa – einlud, ohne die Gage zu nennen. Immerhin wurde versprochen, Unterkunft und Reise zu erstatten. Wenn ich das schon höre, redete er auf den Brief ein: Unterkunft.
Susi, die er hartnäckig mit Madame anredete, meldete sich nicht, und als er sie anrief, bat sie um Geduld. Den Vertrag für den Benn-Abend habe sie ausgehandelt, aber die Sache mit den letzten Büchern sei ein schwerer Brocken.
Er reiste nach Magdeburg. Die Veranstalterin, Leiterin der Stadtbücherei, musste nicht unterhalten werden, sie unterhielt unermüdlich ihn, hielt erst die Klappe, nachdem sie ihn und Benn enthusiastisch eingeleitet hatte. Als er »Astern, schwelende Tage« sprach, stöhnte eine ältere Frau im Publikum auf, ein Seufzer der Erinnerung, der ihn für einen Moment stocken ließ. Er warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu; sie erwiderte ihn mit einem unanfechtbaren Lächeln. Nach der Lesung wartete sie auf ihn, doch er verschanzte sich, bis sie verschwunden war, in der Garderobe. Wie es seine Gewohnheit war, spazierte er durch die Stadt, besuchte, wie ihm ein Reiseführer geraten hatte, den Dom und danach ein italienisches Restaurant, in dem er von den Gästen wie ein alter Bekannter begrüßt wurde. Sie waren in seiner Benn-Lesung gewesen. Er nickte, grinste, suchte nach einem Tisch und war nahe daran, gleich wieder die Flucht zu ergreifen.
Er saß mit Faulkner im Caféhaus und fiel wieder einmal auf als einer, der mit sich selber redet oder mit Geistern, die ihn begleiten. Die Bedienung, die ihn schon lange kannte, versuchte, seine innere Stimme mit einem Ist-schon-gut zu beruhigen. Wenn die wüssten, dass Boon Hogganbeck, ein amerikanisches Großmaul aus dem letzten Jahrhundert, sein Gesprächspartner war. Wenn die wüssten.
Zu Hause empfing ihn Lena, trieb ihm mit einem kargen verstehenden Lachen den Boon aus und teilte ihm mit, dass Susi angerufen, aber nicht verraten habe, worum es gehe.
Das erfuhr er gleich selbst am Telefon: Der Hörverlag habe Interesse an einer Lesung von Roths »Trinker«. Eines der Bücher, die auf deiner Wunschliste stehen, Robbi, sagte sie.
Sie haben mich vorgeschlagen?, fragte er und überschlug in Gedanken, wie viele Stunden er im Studio zubringen müsste. Zwei oder drei Tage, sagte er ohne weitere Erklärung.
Unterschätze den Text nicht, warnte Madame.
Er hätte sich auch mit Roths Andreas anstatt Faulkners Boon im Café unterhalten können, fiel ihm ein, der hätte dort mehr gepasst: »Jetzt aber erschrak er, wie gesagt, insbesondere, da er seine Physiognomie mit jenen der wohlanständigen Männer verglich, die in seiner Nachbarschaft saßen.« Dieses schleppende »insbesondere« hatte es ihm schon angetan, als er die Erzählung zum ersten Mal vorlas.
Warum sagst du nichts? Was ist los mit dir?, dröhnte Madame in sein Ohr.
Wann ist das Studio frei? Steht der Termin schon fest? Und wo?
In Ludwigsburg, sagte sie. Den Laden kennst du ja. Und Herr Reimann wird wieder die Regie übernehmen.
Reimann kannte er gut. Er war sein treuer Studioschatten, hörte kritisch zu, durchaus musikalisch, und sorgte auch sonst für Brodbecks Wohlbefinden.
Anfang Oktober, sagte sie, das Hotel, das du schätzt, habe ich gebucht, vorsorglich für vier Tage.
Vorsorglich, wiederholte er.
Spotte nicht, sagte sie, du bekommst alles schriftlich.
Er legte auf. Erleichtert wandte er sich Lena zu, die misstrauisch mitgehört hatte: Nur eine halbe Woche Ludwigsburg. Joseph Roths »Trinker« fürs Hörbuch. Regie hat Reimann. Da weißt du mich, wie immer, in guten Händen.
Sie zog ihn an sich. Das ist ja wirklich beruhigend. Wenn ich mich recht erinnere, hast du mit dem alten Reimann nach einer längeren Lesung zwei Tage so gesoffen, dass dir danach der Kopf zu zerspringen drohte.
Das ist eine Weile her, beruhigte er sie und sah über ihre Schulter zum Fenster hinaus. Auf dem Balkon gegenüber pflanzte der junge Mann, mit dem er manchmal auf der Straße flüchtig Worte wechselte, umständlich Blumen in einen Kasten. Die werden ihm unter den Händen welken, murmelte er.
Wen meinst du, mich? Lena ließ ihn aus ihrer Umarmung und schaute ihn fragend an.
Den Nachbarn da drüben.
Sie drückte sich lachend gegen ihn. Ich frage mich, ob du tatsächlich anwesend bist.
Ich bin’s! Eigentlich sollte er diesen Ausruf singen wie ein Opernheld. Sie müsste bemerken, wie er sie liebt. Ein alter Mann eine alte Frau. Fünfzig Jahre Liebe. Das ahnte man nicht im Voraus. Das wurde erst im Rückblick spürbar. Sie schauten miteinander, sich an den Händen haltend, dem Balkongärtner bei der Arbeit zu.
Geranien, die mit Hängeköpfen, stellte Lena fest. Handelt es sich beim »Trinker« tatsächlich auch um ein letztes Buch? Täuschst du dich nicht, Robbi? Folgst du da nicht einer fixen Idee? Es kann ja sein, fuhr sie sehr leise fort, dass du, weil dir der Atem ausgeht und die Beine schmerzen, in Büchern Beistand und Erklärungen suchst.
Er widersprach ihr heftig: Natürlich interessiert mich, mit welchem Buch, mit welchem Thema ein Schriftstellerleben endet. Zufällig oder vorsätzlich. Meistens wissen wir das nicht. Das ist wie ein Wurf ins Ungewisse.
Sie lud ihn zum Griechen ein. Komm, dort reden wir weiter und andere reden uns rein, dass wir nicht mehr über uns nachdenken müssen. Bei einem Vorspeisenteller und Demestica.
In den Tagen danach saß er im Synchronstudio und besprach einen Dokumentarfilm, der sich mit den Vulkanen und der Kultur Lanzarotes befasste. Der Text war angefeuchtet von einem bestellten werbeheftigen Pathos. Er sprach ihn unterkühlt und leise.
Interessiert dich der Film nicht?, fragte der Regisseur.
Der Film schon.
Also, Robbi, wenn schon, denn schon.
Er hob den Kopf, blinzelte durch die Scheibe in die Regie: Aber ohne geforderten Nachdruck, mein Lieber.
In solchen Momenten richtete er sich in einer sonderbaren Gleichgültigkeit ein. Er redete den Text nach, ungleich freier und leichter.
Am Abend hatte er es geschafft. Mit dem Regisseur und der Tontechnikerin hörte er sich noch einmal ab, sah den Film an. Der Autor, ein kleiner Wichtigtuer, fand Brodbecks Sprechweise dem Text adäquat. Brodbeck verabschiedete sich, er habe noch eine Verabredung, wolle sie nicht versäumen.
Endlich saß er im Zug. Lena hatte ihn zum Bahnhof gebracht, sich von ihm verabschiedet, als sei sie seiner Rückkehr nicht sicher. Seine Unruhe hatte sich in der üblichen Abschiedsfloskel zusammengezogen: Ich ruf dich an.
Er hatte die Tage vor dem Lesetermin in Ludwigsburg gleichsam aufgeräumt verbracht: Er räumte auf, seinen Schreibtisch, sein Arbeitszimmer, ordnete Papiere, Briefe und Verträge, löschte E-Mails, beantwortete alte Post mit gewundenen Entschuldigungen.
Mit Lena war er einkaufen gegangen, ein paarmal ins Café, sie sahen sich eine Munch-Ausstellung an und redeten sich über den Strindberg-Geist dieser Gemälde die Köpfe heiß, stritten sich über die verdeckte Sinnlichkeit Munchs. Er unterstellte sie ihm, sie verteidigte ihn.
Die Oktobersonne modellierte mit ihrer Vorliebe für tiefe Schatten die vorüberziehende Landschaft zur Kulisse. Brodbeck lehnte sich zurück, hörte mit wachsendem Ärger einem jungen Mann zu, der den gesamten Waggon mit einem Telefongespräch über Röhrenlieferungen unterhielt.
Als er in Stuttgart den Wagen verließ, stolperte er über einen im Gang abgestellten Koffer, hielt gerade noch das Gleichgewicht, spürte ein Stechen im linken Fuß, blieb, erfüllt von einer sprachlosen Wut, auf dem Bahnsteig stehen und nahm, was geschehen war, als böses Omen für die kommenden Tage. Auf dem Weg zur S-Bahn schwante ihm, dass sein Hals pelzig werden würde. Er zog den Schal enger, sprach vor sich hin, prüfte, ob er schon heiser sei.
Der Portier des Hotels in Ludwigsburg begrüßte ihn erfreut und herzlich, das bestärkte ihn ein wenig. Im Lift posierte er vor dem Spiegel. Auf seinem Zimmer rief er im Studio an und meldete sich. Er werde gleich abgeholt, Herr Reimann habe auf seinen Anruf gewartet.
Reimann hakte sich, bevor sie die Stufen vor dem Hotel hinuntergingen, unter, er hatte nicht vergessen, dass Brodbeck damit Schwierigkeiten hatte. Der Wagen war gegen die Vorschrift direkt vorm Haus geparkt. Auf der Fahrt zum Studio begannen sie stockend ein Gespräch über die privaten Umstände. Reimann deutete an, er komme mit der Frühpensionierung nicht zurecht, gehe seiner Frau und der kranken Tochter mit seiner Planlosigkeit auf die Nerven. Was bin ich froh, dass mich das Studio ab und zu beschäftigt. Und du, Robbi?
Weißt du, Reimann, ich gehe mir auf die Nerven mit einer Endzeitstimmung und einer verdammten Lust, erschöpft zu sein.
Darum die letzten Bücher. Reimann nickte. Er musste Brodbeck nicht beruhigen, nicht trösten.
Es ist mir ein Bedürfnis, mich ohne jede Störung für ein paar Tage bei euch einrichten zu können, hörte der sich mit einer Stimme, die ihm schon der »Trinker« lieh. Andreas, ein Schattenklang aus seinen österreichischen Kinderjahren: Die Umlaute weichten auf.
Ich freue mich auf die Arbeit, sagte Reimann.
Es wiederholt sich, dachte er, als er im Studio Platz nahm, die Tontechnikerin das Mikrofon zurechtrückte, ich könnte lesen, was ich vor Jahren las, zum Beispiel »Am grünen Strand der Spree«, auch ein Buch, das Kritiker über den grünen Klee (er kicherte, als ihm der Reim auffiel) lobten und das kein Mensch mehr las. Aber jetzt, sagte er laut, der unsterbliche »Trinker«.
Warum aber?, fragte Reimann.
Ich stemme mich mit dem Aber gegen alles, was ich bisher bei euch zum Besten gegeben habe.
Nicht das beste Letzte, entgegnete Reimann.
Er schlug das Buch auf, damit der Wortwechsel ein Ende finde, und begann. Er las die ersten Sätze in der Erwartung, gemeinsam mit dem Trinker, gemeinsam mit Andreas den älteren wohlgekleideten Herrn zu treffen. »Wohin gehen Sie, Bruder, fragte der. Der Andere sah ihn einen Augenblick an, dann sagte er: ich wüsste nicht, dass ich dein Bruder wäre, und ich weiß nicht, wo mich der Weg hinführt.« So begann die Erzählung, öffnete sich ihr Raum. Wie jedes Mal wanderte er mit Genuss und selbstverloren durch die Räume eines Romans, einer Erzählung. Nun also durch Paris, das er anders kannte als Joseph Roth, nicht als Emigrant, als Flüchtling, sondern als Besucher auf Zeit, aber die Erinnerung an Straßen, Plätze und Parks, an Straßencafés und Kneipen baute sich Satz für Satz auf. Er wurde zum sprechenden Begleiter.
In der Regie, hinter der trennenden Scheibe, war auf einmal Bewegung, er wurde abgelenkt, stockte, verlas sich, fragte verärgert: Könnt ihr mir erklären, was bei euch los ist?
Eine ihm vertraute Stimme dröhnte über den Lautsprecher: Robbi, du Meister der tausend Stimmen, sei willkommen. Ich möchte dich und Reimann zum Abendessen einladen.
Es war Zumbach, der Gründer des Studios, der Mann mit dem untrüglichen Gehör, der mittlerweile schwerhörig geworden war und die Regie seinen Angestellten überließ oder frei Arbeitenden wie Reimann.
Wie ist die Laune?
Gut. Heut Abend, brüllte Brodbeck zurück. Wann holt ihr mich vom Hotel ab?
Sobald es Zeit ist. Emil Zumbach hatte sich nie festlegen lassen, auch nicht, wenn es um Honorare ging.