Broken Darkness

Cover

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel «Burn Down the Night» bei Loveswept/Penguin Random House LLC, New York.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg bei Reinbek, April 2019

Copyright © 2019 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg bei Reinbek

«Burn Down the Night» Copyright © 2016 by Molly Fader

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Redaktion Antonia Zauner, Olching

Umschlaggestaltung und Illustration bürosüd, München

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

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Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen

ISBN Printausgabe 978-3-499-27542-5 (1. Auflage 2019)

ISBN E-Book 978-3-644-40499-1

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-40499-1

Joan

Ich hatte mir genau zurechtgelegt, was ich sagen wollte. Schräg, oder? Sätze, wie sie die bösen Typen in billigen Thrillern sagten.

Dabei gehörte ich zu den Guten. Ich schwöre.

Und der Typ, dem ich die Pistole auf die Brust setzen, dem ich drohen, den ich notfalls töten würde, der war in Wirklichkeit der Böse. Der Verbrecher. Der wahr gewordene Albtraum.

Schon bei dem Gedanken an ihn schauderte mir, und wenn ich mir vorstellte, wie er meine Schwester anfasste, wurde mir kotzübel. Am liebsten hätte ich mir das Herz herausgerissen, nur damit der Schmerz aufhörte.

Ich war die Gute. Ja, das war ich. Und er so abgrundtief böse, dass ich ihn notfalls töten würde. Notfalls uns beide.

Bitte lass es nicht nötig werden.

Einfach so in einen Stripclub mit gefährlichen Bikern und einem drogenkochenden Irren mit Messiaskomplex zu marschieren, das war fast ein Himmelfahrtskommando. Aber es war meine letzte Chance. Entweder funktionierte das, oder ich würde mit einem Knall die Bühne verlassen.

Glauben Sie mir, ich weiß, wie irrsinnig das klingt.

Ach, wem will ich was vormachen? Mein ganzes Leben lang war ich das Epizentrum des Irrsinns. Das Auge des Wirbelsturms.

Ich durfte nicht scheitern. Einen Plan B gab es nicht.

Die wummernden Bässe, die aus dem Soundsystem des Clubs drangen, ließen die Lautsprecher brummen und knacken, aber wenigstens übertönte die laute Musik meine Zweifel. Und die Angst. Mein Herz schlug mit den Beats im Takt. Ich spürte es bis in meine schwitzenden Handflächen.

Ich überspielte die Angst, aber mein Mund war trocken. Stresstränen brannten hinter meinen Lidern. Ich war nicht annähernd so cool, wie ich es sein wollte.

Sicher, ich neigte zu ungestümem, übertriebenem Verhalten. Aber das hier …

Scheiße.

Das war geradezu, als wollte ich umgebracht werden.

Die Kappe tief in die Stirn gezogen, bahnte ich mir einen Weg durch das Velvet Touch. Ich hatte mir die Haare abgeschnitten und umgefärbt, zurück zu meiner natürlichen Haarfarbe, mit der mich hier noch niemand gesehen hatte, auch er nicht. Und ich trug Kontaktlinsen, die aus meinen grünen Augen braune machten. Ich setzte darauf, dass mich in dem schummrigen Club keiner so genau ansehen würde.

Das ist in Stripclubs die Regel: kein Blickkontakt. Man darf sich ringsherum an nackten Schamhügeln sattsehen, aber bei Blickkontakt fühlt sich jeder unwohl.

Ich sah mich um, registrierte, wer arbeitete und wie viele

Denn wenn es eines gab, worauf ich zählen konnte, dann war das meine Pechsträhne.

Dies war die Nacht, in der sich alle Parteien zum letzten Mal treffen würden. Danach würde Lagan, der durchgeknallte Sektenführer, nach Hause zu seiner Legion von «Bräuten» fahren, die in einer Festung im Nirgendwo Kokain panschten, und der Skulls-Motorrad-Club, der Lagans Ware unter die Leute bringen sollte, würde zurück nach Florida zu seinem Hauptquartier fahren. Ab morgen würden sie ihr Drogengeschäft nur noch telefonisch abwickeln, mit Wegwerfhandys und kryptischen Textnachrichten, die über Zo liefen.

Deshalb musste es an diesem Samstagabend passieren. Es waren zu viele Leute da, um einfach «Feuer» zu schreien und zu hoffen, dass sie tatsächlich alle nach draußen rennen würden. Den Feueralarm auszulösen, würde nur die Bullen auf den Plan rufen, und zwar schnell. Was mir kaum Zeit für meine geplante Rede lassen würde.

Deshalb wollte ich ein Feuer legen, ein kleines, in der Frauentoilette gleich gegenüber dem Büro, wo die Treffen stattfanden. Das anschließende Durcheinander sollte mir als Ablenkung dienen. Und ich war zuversichtlich, dass die

Unter meinem Hoodie rann mir der Schweiß über die Haut. Ein Hoodie in der Hitze von North Carolina war ein bisschen verdächtig, aber schließlich durfte niemand meine Pistole sehen.

Ein Mann, der aus dem Flur kam, über den man in die Hinterzimmer gelangte, rempelte mich an der Schulter an, sodass ich gegen die Wand stieß.

«Entschuldigung», sagte er, und die Stimme … Scheiße. Die Stimme.

Mir schlug das Herz bis zum Hals.

Max Daniels, du solltest jetzt nicht hier sein.

«Alles okay?», fragte er mit seiner tiefen, rauen Stimme.

«Klar.» Ich versuchte, höher zu sprechen, damit er mich nicht erkannte. Nicht dass wir viel miteinander geredet hätten. Aber wir hatten mal ein paar Worte gewechselt. Genug, um sich zu erinnern.

Ich mochte ihn. Dabei war er der Präsident der Skulls, also eines Haufens psychotischer, krimineller Arschlöcher. Aber wissen Sie … na egal. Jeder Mensch braucht irgendeine Familie. Das verstehe ich.

Vor ein paar Wochen war Max abgehauen.

Von der Bildfläche verschwunden. Genau zu der Zeit, als die Parteien dieses Drogendeals ihre Masken hatten fallen lassen und die wahren Dimensionen dieses Geschäfts offenbar geworden waren. Das waren keine Peanuts. Die Sache war international. Wenn etwas schiefging – und das war

Max war jedoch der Einzige gewesen, der versucht hatte, sich aus dem Staub zu machen. Und das zeigte nur, wie dumm alle anderen waren.

Ich war erleichtert gewesen, als er weg war, hatte gehofft, er sei in Sicherheit.

Doch dann kam er zurück. Wegen Dylan, seinem Bruder, seinem leiblichen Bruder. Was ich absolut verstehen konnte. Für manche Menschen war die Familie wichtiger als alles andere. Selbst wenn sie einen in den Abgrund reißt.

Da war er also und zog mich sanft am Ellbogen von der Wand weg, gegen die er mich gestoßen hatte.

Ich bezweifelte, dass er mich durch die Berührung erkannte. Er war nie ein Grapscher gewesen. Während der Zeit, die ich hier als Tänzerin gearbeitet hatte, um den Laden unter die Lupe zu nehmen und die Lage abzuschätzen, hatte er allerdings reichlich viel von mir gesehen. Alles eigentlich.

In einer Nacht hatte er sich, statt wie sonst die Mädchen zu ignorieren, in einen der großen Sessel vor die Bühne gesetzt. Ich tanzte gerade an der Stange und fing seinen Blick auf, und plötzlich war es, als lösten sich der blöde Club und alles, was damit zusammenhing, in Luft auf. Meine Schwester, der Drogendeal, Lagan, Max’ sogenannte Brüder – alles weg.

Da war nur ich mit meinen gespreizten Beinen und er, der sich sattsah.

Ich kenne dich, gab er mir damit zu verstehen. Ich kenne jeden schmutzigen Zoll von dir. Ich weiß, was du schon alles getan hast und was du noch tun wirst, und ich werde dich ficken, bis du an nichts anderes mehr denkst.

Ich werde dich bestrafen, damit du aufhören kannst, dich selbst zu bestrafen.

Der Song ging zu Ende, ich verließ die Bühne und rechnete damit, dass er in die Garderobe käme. Ich hatte weiche Knie und war feucht und wollte, dass er mich über den Schminktisch beugte und sein stummes Versprechen einlöste.

Bestraf mich. Denn ich kann das nicht mehr allein tun.

Doch er kam nicht.

Und als ich wieder rausging, um halbherzig den einen oder anderen Lapdance zu geben und Drinks zu servieren, war er weg.

Von da an bemerkte ich ihn immer sofort, wenn er den Club betrat. Ich spürte seinen Blick deutlicher, er war schwerer und schärfer als der anderer Männer. Es dauerte lange, bis ich mich daran gewöhnte. Bis es mich nicht mehr störte. Denn es war jedes Mal, als schaute er in mich hinein. In meinen Kopf.

In den ersten Tagen fingerte ich mich wund. Danach vögelte ich jede Frau in dem Laden, die mich mal beäugt hatte, wund.

Nichts schien zu helfen.

Es war gelogen.

Denn nachdem er abgehauen war, hatte ich ihn vermisst. Den alles sehenden Blick seiner blauen Augen. Ich sehnte mich danach. Sehnte mich nach ihm.

Ja, ja, ich weiß.

Als bräuchte ich zu allem anderen auch noch eine Affäre mit dem gefährlichen Anführer eines Motorradclubs. Aber Drama ist quasi mein Ding. Mein Normalzustand.

Und ausgerechnet heute war er im Club. Und während mir seine Hand praktisch ein Loch in den Hoodie brannte, wollte ich ihn den Flur hinunter in das Zimmer mit der Couch zerren und mir die Stresstränen wegficken.

Offen gestanden, als ich seine Hand spürte und seinen Geruch wahrnahm – Zigaretten, Leder und Seife –, da wollte ich ihm alles erzählen.

Ihm sagen, dass er abhauen musste.

Geh. Verschwinde. Bevor du meinetwegen draufgehst.

Aber in Wirklichkeit wusste ich nicht, wem seine Loyalität galt. Lagan konnte ihn gut leiden. Und Max schien Lagan leiden zu können.

Und wenn Max mir in die Quere käme, weil er Lagan schützen wollte, würde ich ihn umbringen müssen.

«Alles in Ordnung?» Er drückte meine Schulter, als wollte er mich so dazu bringen, aufzublicken.

Nein. Gar nichts ist in Ordnung.

«Klar. Alles gut.» Ich schüttelte seine Hand ab und ging

Er ist ein Arschloch, sagte ich mir. Sind sie allesamt. Jeder, der bei der dummen Sache verletzt wurde, verdiente es.

Auch ich.

Besonders ich.

 

Die Stripperinnen benutzten die Toiletten hinter der Bühne, deshalb war das Damenklo des Velvet Touchs meist leer. Gelegentlich wurde bei uns ein Junggesellinnenabschied gefeiert, oder ein Ehepaar wollte mal etwas Verrücktes machen, und dann kamen ein paar Frauen rein und stellten fest, dass es weder Toilettenpapier noch Seife gab.

Sie beschwerten sich. Aber Zo, der Besitzer, unternahm nichts dagegen. Er war zu sehr damit beschäftigt, Drogendeals zu ermöglichen, den Kontaktmann zwischen ein paar Irren zu spielen.

Heute Abend war die Damentoilette leer. Endlich lief mal etwas nach Plan.

Ich zog braune Papierhandtücher aus dem Spender, bis ich eine Handvoll zusammenhatte, zündete sie mit dem Feuerzeug an und warf sie in den Abfalleimer, wo ich das Feuer weiter anfachte, dann huschte ich zurück in den Flur.

Eva kam aus dem Zimmer mit der Couch und rückte ihre Titten in dem neongrünen BH zurecht.

Hinter ihr kam ein Biker heraus, dieser Rabbit mit den schiefen Zähnen, der förmlich nach Bosheit stank. Er gab Eva einen Klaps auf den Hintern und wandte sich in die

Scheiße.

Dort stand mein Wagen mit der Bombe. Weit hinten, praktisch kaum zu sehen zwischen wucherndem Kudzu und anderen Pflanzen. Aber ich hatte darauf gebaut, dass auf dem Parkplatz niemand sein würde.

Weil das meistens so war.

Ist in Ordnung, sagte ich mir. Es ist eine kleine Bombe. Die soll hauptsächlich für Wirbel sorgen. Um da verletzt zu werden, muss man sich schon auf die Motorhaube setzen.

Doch selbst während ich das dachte, glaubte ich es nicht.

Wenn ihm was passiert, hat er es verdient. Er ist ein Soziopath.

Das glaubte ich sofort.

Eva stolzierte an mir vorbei und blieb stehen. Ich hielt den Atem an. Wir hatten nicht viel miteinander zu tun gehabt, aber sie war ziemlich verschlagen. Ich traute ihr zu, mich trotz der Aufmachung zu erkennen.

«Riechst du das?», fragte sie.

«Was?»

«Rauch.»

Sie drehte sich um und drückte die Tür des Waschraums auf. Rauch quoll heraus.

«Heilige Scheiße. Dieser beschissene Zo. Kümmert sich um gar nichts», brummte sie, und ehe ich sie aufhalten konnte, trampelte sie den Flur entlang und löste Feueralarm aus.

Lampen blinkten, die ohrenbetäubende Sirene übertönte

So viel zu meiner Theorie, dass niemand etwas tun würde, das die Bullen auf den Plan brachte.

Im Durchgang zum Club konnte ich das wilde Durcheinander sehen, das der Alarm ausgelöst hatte. Alle drängten zum Vorderausgang.

Gut, dachte ich. Wenigstens das lief nach Plan.

Mir gegenüber befand sich die Tür zu Zos Büro, wo sie ihre Treffen abhielten. Das war die Tür, die sich öffnen musste. Zo, Lagan und vor seinem Verschwinden auch Max hatten sich tagelang in diesem Raum eingeschlossen. Und ich hatte Max gerade rauskommen sehen. Er war also nicht mehr dadrin. Blieben nur noch Zo und Lagan.

Los, macht schon.

Schließlich ging die Tür auf, und Zo kam heraus, in seinem blöden Polyesterhemd aus den Achtzigern. Dabei drehte er sich um, und über seine Schulter hinweg sah ich Lagan mit seinem weißen Leinenanzug und den schütteren schwarzen, zurückgegelten Haaren.

Er war groß und dünn, und anfangs hatte ich ihn lächerlicherweise attraktiv gefunden. Aber da dachte ich auch noch, er sei freundlich, was nur beweist, wie verstört ich zu der Zeit war.

Denn trotz seiner Blässe erinnerte er an eine Krähe. Einen Aasfresser. Etwas, das durch Totes und Verwestes fett wird.

Ein Schauder durchlief mich. Er hatte mich angefasst. Dieser Mann mit seinen abstoßenden Händen und seiner grausamen Art. Einmal war er in mir gewesen.

Offenbar sah er mich nicht neben der Waschraumtür stehen und roch auch nicht den Rauch, der hinter mir aus dem Türspalt quoll.

Der nervtötende Sirenenlärm lähmte alle anderen Sinne.

Sobald Zo den Flur verlassen hatte, schlüpfte ich in sein Büro, schloss die Tür hinter mir und rammte den dicken Riegel vor. Der Lärm drang nur noch gedämpft an mein Ohr, da das Zimmer wegen der lauten Musik im Club schallgeschützt war.

Adrenalingeflutet, wie ich war, hatte ich fast das Gefühl, außerhalb meines Körpers zu schweben. Ich spürte mich nicht mehr. Merkte nicht mehr, dass ich schwitzte. Zweifel und Angst schwirrten mir durch den Kopf.

Was tue ich denn hier? Eine Bombe, Joan? Echt jetzt?

«Kann ich dir helfen, Schwester?»

Und augenblicklich war ich wieder ganz bei mir.

Schwester? Fick dich, du Arschloch!

Noch im Umdrehen zog ich die Pistole und richtete sie auf Lagan. Mein Vater hatte mir beigebracht, wie man sie benutzt. Und er war streng und sorgfältig gewesen, was den Umgang mit Schusswaffen anbelangt.

«Ja, du kannst mir helfen.» Mit der anderen Hand nahm ich meine Kappe ab. Meine glatten braunen Haare fielen mir auf die Schultern und über die Augen. «Du kannst mir verraten, wo meine Schwester ist.»

Lagan zuckte nicht mit der Wimper. Er blickte mich mit seinen großen Augen ungerührt an. Sie waren schwarz wie Löcher. Wie Schlangenaugen.

Er kannte mich mit blonden, kurzen Haaren, naiv und voller Dankbarkeit. Als völlig andere Person mit einem anderen Namen, nicht als die Frau, die ich jetzt war, mit der Knarre und den Bomben und der Wut.

«Schwester?»

«Jennifer Matthews.»

Die dunklen Augenbrauen in dem blassen Gesicht hoben sich ein wenig. «Olivia.» Mein wirklicher Name. Seit Monaten hatte mich niemand mehr so angesprochen. Und es war keine Frage. Natürlich kannte er mich. Ich war ein halbes Jahr lang quasi sein Eigentum gewesen. «Du siehst anders aus. Überhaupt nicht gut.»

«Bei uns zu Hause.» Seine Stimme, sein weicher Singsang brachten mich zum Zittern. Und die Erinnerungen rüttelten an der Tür, hinter der ich sie verschlossen hielt. Er köderte mich, das war mir klar, das hatte ich erwartet. Aber ich war so aufgeregt und wütend, ich konnte nicht widerstehen.

«Wohin seid ihr umgezogen?»

«Du kennst die Regeln, Olivia. Wer gegangen ist, darf nicht zurückkommen. Du wirst nicht erfahren, wo wir jetzt leben. Sie hat sich entschieden zu bleiben, also wirst du sie nicht wiedersehen. Nie mehr.»

«Sie ist jung und unerfahren, und du hast ihr eine Gehirnwäsche verpasst.» Stopp, hör auf, konzentriere dich auf das Wesentliche. Vergeude keine Zeit mit Streiten. Das hatte ich bei ihm schon versucht und war damit gescheitert. Auf ganzer Linie. «Und wenn du mir nicht sagst, wo sie ist, werde ich dich umbringen, Arschloch.»

Na also, ganz nach Drehbuch.

Er lächelte dermaßen herablassend, dass ich ihn allein dafür erschießen wollte.

«Unser Camp untersteht der Macht und dem Schutz des Herrn.» Lagan hob die Hände wie ein Prediger der hintersten Provinz.

«Lass den Scheiß. Ich bin keine von deinen Frauen.» Ich holte ein Handy aus der Hosentasche, das ich zu einem Zünder umfunktioniert hatte. «Ich habe zwei Bomben gelegt, Lagan. Eine draußen und eine hier in diesem Raum.»

«Du lügst, Olivia. Du warst schon immer eine miserable Lügnerin. Herz und Verstand sind bei dir …»

Eine Millisekunde später ließ ein Knall alles erzittern. Das Auto auf dem hinteren Parkplatz war explodiert.

Ich schickte ein Stoßgebet zum Himmel, niemand möge sich dort aufgehalten haben. Nicht mal Rabbit.

Zu meiner großen Befriedigung wirkte Lagan erschrocken. Er griff nach dem Stuhl vor ihm, um sich auf die Lehne zu stützen.

«Sag mir, wo sie ist», forderte ich, «oder wir beide sind die Nächsten.»

«Joan.»

Herr im Himmel. Max. Er trat hinter mir aus der dunklen Zimmerecke in den Lichtkreis der Deckenlampe.

«Was machst du denn hier?», schrie ich. Ich hab dich doch rausgehen sehen. Du warst WEG.

«Zo hat mich zurückgerufen», sagte er. «Was tust du hier?»

Eine Sekunde lang, nur eine – kürzer als ein Herzschlag –, zweifelte ich, ob ich das durchziehen konnte.

«Es tut mir leid», sagte ich leise zu Max. Zu seinen blauen Augen. Seiner faszinierenden Ruhe. Dieser hinreißenden Gelassenheit.

Lagan machte einen Satz in meine Richtung, und ich war wieder voll da. Ich richtete die Pistole auf Max und meinen Zünder auf Lagan.

«Wo ist meine Schwester?»

«Wenn du uns in die Luft sprengst, wirst du es nie erfahren.»

«Du bist die einzige Frau, der ich weh getan habe», widersprach er und sah mich mitleidig an. Das war natürlich Blödsinn. Er tat jedem weh, mit dem er in Berührung kam. «Ich gebe Menschen, was sie brauchen. Ein Ziel. Arbeit. Familie. Und du … du dreckiges Miststück, du wolltest, dass ich dir weh tue. Du hast es gebraucht …»

«Sag’s mir, Arschloch!», brüllte ich. Meine Nerven hielten das nicht durch, ich stand kurz vor dem Ausrasten.

«Niemals, Olivia.» Er verschränkte die Arme und blickte mir mit seinen toten Augen ruhig ins Gesicht.

«Ich bluffe nicht.» Ich entsicherte die Ruger, die ich dem Mann einer Stripperin abgekauft hatte, und zielte auf seinen Kopf. «Und ich bin sehr treffsicher.»

«Joan!» Wieder Max. Und er hatte sich mir in der Zwischenzeit genähert. Scheiße. Ich drehte mich ein wenig und richtete die Pistole erneut auf ihn.

«Max. Bitte, halt dich raus …»

«Damit du uns hochjagen kannst? Das kannst du knicken, du Irre», fauchte er. Er packte meine Rechte und verdrehte sie so, dass er mir fast das Handgelenk brach.

Schreiend riss ich das Knie hoch, um ihn im Schritt zu treffen, doch er wich zur Seite aus und bekam mein Knie an den Oberschenkel. Mit einem Tritt gegen den Knöchel wollte ich ihm das Bein wegziehen, doch erneut war er schneller. Darauf biss ich ihm in die Hand, aber er zuckte nicht mal. Er tat gar nichts, außer mir brutal den Arm zu verdrehen, bis meine Hand taub wurde und ich die Pistole fallen ließ.

«Nein!», schluchzte ich. Aus dem Augenwinkel sah ich Lagan zur Tür gehen. Ich wollte mich auf ihn stürzen, Max hielt mich jedoch fest. Der Ruck brach mir beinahe den Arm. «Lass mich los!»

«Damit er dich umbringen kann?»

«Meine Schwester …», schluchzte ich.

«Er hätte es dir sowieso nicht gesagt.»

Ich rang mit ihm. Wehrte mich mit meiner ganzen Wut. Mit Kopfstößen, Tritten, allem, was ich im Lauf meines beschissenen Lebens an fiesen Tricks gelernt hatte.

Keiner nützte etwas.

Ehrlich gesagt, weiß ich nicht, wieso mich das überraschte.

«Gott verdammt, komm schon, Joan. Die Bullen sind gleich hier, und die stecken dich in den Knast.» Er griff mir unter die Achseln, um mich aufzurichten, doch ich wehrte mich erbittert wie ein bissiger Pitbull.

Es gab keinen Plan B. Der blödsinnige Plan hatte mich Monate Vorbereitung und mein ganzes Geld gekostet.

Jennifer war jetzt weiter weg als zuvor.

Vom Flur drang Rauch herein, da Lagan die Tür offen gelassen hatte.

«Ich muss ihn aufhalten», schrie ich. «Ich muss. Max …»

«Gott bewahre mich vor verrückten Weibern», murmelte Max. Er fasste mir um den Rücken und hob mich hoch. Ich

«Du hast alles ruiniert!», kreischte ich und schlug mit meinen tauben, schweren Händen auf ihn ein. Ich schlug und kratzte, und sein Gesichtsausdruck wurde nur umso härter.

Schlag mich!, schrie es in mir. Schlag mich!

Er schleppte mich aus dem Zimmer, den rauchigen Flur entlang zum Hinterausgang, stieß die Tür auf, und wir stolperten in die schwarze Nacht hinaus, zu dem Geschrei, dem Rauch und dem lodernden Feuer.

«Verdammt», brummte er. «Du hast es wirklich getan.»

Meine Füße trafen auf den Kies des Parkplatzes. Die Biker standen dort zwischen wabernden Rauchschwaden. Der Wagen brannte lichterloh. Ein Mann in Skulls-Kutte stand gerade vom Boden auf.

Kurz war ich erleichtert, dass es niemanden erwischt hatte.

«Wo ist Lagan?», schrie ich und spähte durch den Rauch.

«Sein SUV ist weg», stellte Max fest. «Sein Fahrer war wahrscheinlich bereit, seit der Feueralarm losging. Du hattest gar keine Chance, Joan.»

«Max!», rief jemand hinter uns. Max drehte sich um und mich mit ihm. Mit dem Arm um meinen Rücken hielt er mich aufrecht. Weil mich alle Kraft verließ und meine Beine mich kaum noch trugen. Ständig wollten meine Knie nachgeben, und ohne seine eiserne Stärke hätte ich längst am Boden gesessen.

Aus dem Rauch kam jemand angehumpelt.

Rabbit sah mitgenommen aus. Sein Gesicht war völlig verrußt, und einen Arm hielt er in einem unnatürlichen Winkel. Das sah so sonderbar aus, dass ich erst im nächsten Moment die Pistole in seiner Hand bemerkte.

Er richtete sie auf Max.

Max schob mich weg und griff in die hintere Hosentasche, wo meine Pistole steckte. Dabei fiel mein Handy heraus. Max schob mich noch weiter zur Seite, und dabei schleifte ich taumelnd das Handy mit dem Fuß mit. Es schien mir ratsam, mir irgendeine Waffe anzueignen.

Es schien mir vor allem ratsam zu verschwinden. Max hatte mir die Tour vermasselt. Ich schuldete ihm keine Loyalität.

Trotzdem rührte ich mich nicht vom Fleck.

Plötzlich stand Rabbit nicht mehr allein vor uns. Da kamen einige Typen an seine Seite, grau im Gesicht, mit blutenden Schnitt- und Schürfwunden.

«Was ist los?», fragte Max.

Für mich war ziemlich offensichtlich, was los war. Seit Wochen rumorte es bei den Skulls aufgrund von Meinungsverschiedenheiten. Diese Jungs zickten schlimmer herum als die Stripperinnen.

Ich bückte mich nach dem Handy, und weil mir schwindlig war und ich mich zittrig fühlte, gaben meine Knie nach.

«Dir kann man nicht trauen, Bruder», sagte Rabbit.

«Ach ja?» Max breitete die Arme aus. «Komisch, nicht ich bin der mit der Knarre in der Hand.»

«Aber ich bin da.»

«Weil ich dich dazu gezwungen habe!», brüllte Rabbit so heftig, dass ihm der Speichel vom Mund flog. Er sah aus wie ein Irrer. «Ich habe dich dazu gezwungen, weil du ein Feigling bist. Und für Feiglinge ist kein Platz im Club, schon gar nicht am Kopf der Tafel.»

«Du willst das Patch des Präsidenten? Kannst du haben. Du willst meine Kutte?» Er machte Anstalten, sich die abgeschabte Lederweste abzustreifen. «Sie gehört dir.»

«Das reicht uns nicht», sagte einer aus dem Halbkreis um Rabbit.

«Also, was soll das werden?» Max breitete erneut die Arme aus.

«Es muss Blut fließen.»

«Worauf wartest du dann noch, Arschloch …?»

Rabbit schoss, und Max ging zu Boden. Ein Bein ruckte nach hinten, und sein Körper folgte in einer schauerlichen Pirouette.

Ich schrie auf, doch es ging im allgemeinen Lärm unter. Die Polizeisirenen kamen näher. Die Biker umringten Max und traktierten ihn mit Tritten.

Gütiger Himmel.

Wenn etwas schiefging, dann gleich richtig.

Sie wollten ihn kaltmachen, dabei war er meine einzige Verbindung zu Lagan. Er war der einzige Biker, mit dem Lagan redete, und nach der Szene im Büro würde Lagan ihm erst recht vertrauen.

Sieh einer an, ein Plan B.

Mit zitternden Fingern schaltete ich das Handy ein und tippte den Code für die zweite Bombe, die im Büro unter einem Stuhl klebte.

Sie ging hoch. Die Explosion war klein, aber es gab neuen Rauch und noch mehr Chaos.

Rabbit und seine Kumpel hoben den Kopf, dann blickten sie sich an.

«Was jetzt?», fragte einer. Ganz klar die Intelligenzbestie der Gruppe.

«Verschwinden wir», antwortete Rabbit, richtete die Pistole auf Max’ Kopf und drückte ab.

Ich machte mich schon die ganze Zeit möglichst klein und unauffällig, und in dem Moment schlug ich mir die Hand vor den Mund, um meinen Aufschrei zu dämpfen.

Die Skulls stoben auseinander, und ich rannte geduckt über den Parkplatz zu meinem Wagen – dem, der nicht brannte. Mit ausgeschalteten Scheinwerfern fuhr ich an Max heran.

Er lag reglos mit dem Gesicht nach unten da.

In der dunklen Pfütze unter seinem Bein spiegelte sich das Feuer.

Meine Panik schmeckte gallebitter.

Ich hatte mal in einem anderen, längst vergangenen Leben zwei Semester Krankenpflege studiert, und die meldeten sich jetzt lauthals mit der Stimme meiner Tante Fern.

Was nur angemessen war.

Puls. Taste nach dem Puls.

Ich fühlte am Hals und fand ihn. Gleichmäßig und kräftig. Ein Wunder.

Luftwege. Seine Brust hob und senkte sich. Wir hatten Glück.

Wirbelsäulenverletzung. Tante Fern und meine Lehrbücher verboten, ihn zu bewegen, aber auf den Luxus mussten wir verzichten.

So behutsam wie möglich drehte ich ihn auf den Rücken. Er stöhnte und schrie auf, vermutlich wegen der geprellten Rippen. Arme und Beine zitterten und zuckten vor Schmerzen, weshalb ich die Sorge wegen einer Rückgratverletzung vorerst begrub.

Sein Gesicht war blutig, blutüberströmt sogar. Ich wischte einiges weg, um zu sehen, wo es herkam.

Und wie groß mein Problem war.

Minuten vorher war ich bereit gewesen, den ganzen Kasten niederzubrennen, einschließlich Max.

Jetzt riskierte ich alles, um ihm Erste Hilfe zu leisten. Aus einer Gefängniszelle heraus würde ich Jennifer nicht befreien können. Aber ohne Max erst recht nicht.

Los, beeil dich!

Oh Himmel, sein Gesicht sah katastrophal aus. Die Kerle hatten ihn wirklich übel zugerichtet. Aber die zweite Kugel musste ihn verfehlt haben.

«Streifschuss», murmelte er. «Kugel.»

«Ja.» Ich tastete am ausgefransten Rand der blutenden

Er zischte durch die Zähne und schloss die Augen. Ein Streifschuss, und da er die Augen nicht offen halten konnte, vielleicht auch eine Gehirnerschütterung.

Er blutete an der Wade. Ich fand die Eintrittswunde, aber keine Austrittswunde … die Kugel konnte ich im Fleisch fühlen.

Scheiße.

Ich zog einen rot-weißen Schal aus meiner Jackentasche und wickelte ihn um seine Wade, wodurch er wieder zu sich kam und mich anschrie.

«Verdammte Scheiße!»

«Tut mir leid, tut mir leid», sagte ich hastig, als ob das etwas nützte. «Es tut mir leid. Werd … einfach ohnmächtig, wenn es zu weh tut.»

«Verschwinde», stöhnte er. «Die Bullen sperren dich sonst ein.»

«Dich auch.» Ein fehlgeschlagener Drogendeal, würde es heißen. Und Max war ein großer Teil der Gleichung. «Und wenn du ins Gefängnis kommst, dann lassen dich deine Brüder dort umbringen, das weißt du.»

«Was kümmert’s dich, du verrückte Schlampe.»

Ich hatte nicht die Zeit, ihm zu erklären, dass er mein Kontakt zu Lagan war. Ein gestörter Kontakt, dem ich eigentlich nicht trauen durfte. Aber einen anderen hatte ich nicht.

«Tut es nicht. Du bist mir völlig egal.»

Aber ich denke, ich wusste es da schon. Bevor der ganze andere Scheiß passierte.

Ich brauchte Max Daniels. Nicht wegen Lagan. Nicht wegen meiner Schwester.

Sondern für mich.

Ich rettete ihm das Leben, damit er meines retten konnte.

Glauben Sie mir, es war nicht einfach, den Mann ins Auto zu wuchten.

Ich schob die Hände in die Armlöcher seiner Weste und zog mit aller Kraft, die mein adrenalingeputschter Fluchtinstinkt mobilisieren konnte. Max half ein bisschen mit, indem er sich mit dem gesunden Bein abstieß. Die Nähte der Lederweste ächzten, trotzdem zog ich weiter, und er schob, bis wir am Wagen angelangt waren.

Ich öffnete die Tür, stellte mich breitbeinig über ihn, um ihm unter die Achseln zu greifen, dabei stützte er sich auf den unteren Türrahmen.

«Bei drei?», fragte ich. Ich spürte an meinem Bauch, wie er nickte.

Ich zählte, dann wuchteten wir ihn mit vereinten Kräften auf den Sitz. Er stand kurz davor, das Bewusstsein zu verlieren. Unter dem vielen Blut war sein Gesicht weiß wie eine Wand. Doch er schob sich auf der Rückbank bis zur anderen Tür, sodass er sich dagegenlehnen konnte.

Als ich die Tür zuschlug, zitterte ich am ganzen Körper. Ich hatte meine Muskeln überanstrengt. Die Feuerwehr, die über den Highway immer näher kam, trieb mich zur Eile an.

«Ich werde bald ohnmächtig», sagte Max.

«Du musst mich von meinem Bruder fernhalten», sagte er.

«Sag bloß. Der wollte dich umbringen.»

«Nein. Von Dylan. Von Pops.»

Ich holperte im Kudzudschungel über ein paar Bodenfurchen, was Max aufstöhnen und mich verfluchen ließ.

«Werd endlich ohnmächtig!»

«Versprich es mir», sagte er. Ich hörte ihm an, dass es ihm ernst war und er mit aller Macht gegen die Ohnmacht ankämpfte. Das hier war ihm wichtig genug, um den Bedürfnissen seines blutenden, geschundenen Körpers zu trotzen. Ein enormer, dummer Willensakt. «Keine … Verwandten.»

«Ich verspreche es.»

Einen Moment später rumpelte ich über eine weitere Furche im Boden, und von da an war er still.

Bewusstlos. Ein harter, eins achtzig großer Krimineller, aber bewusstlos. Gott sei Dank.

Was hatte ich mir nur dabei gedacht? Mit dem Anführer einer gefährlichen Rockerbande von einem Tatort abzuhauen? Ich hatte in den letzten zwölf Stunden ziemlich viel gefährlichen Scheiß veranstaltet, aber das erschien mir …

Ich stockte, bevor ich mich selbst noch weiter runterzog.

Er war meine letzte Chance, meine Schwester zurückzubekommen. Meine letzte Chance.

Ich war zu allem bereit, um Jennifer zu befreien.

Ja, ich weiß. Ich schrieb das Skript um, damit ich die Heldin bleiben konnte.

Aber ich musste weitermachen, sonst hätte ich mich in einer Ecke zusammengekauert und eine Woche lang geheult.

Ohne Licht und im Schritttempo erreichte ich den Waldrand und fuhr über einen flachen Graben auf die ungepflasterte Straße, die zum Trailerpark führte. Ich hatte dort einen Wohnwagen, bis vor kurzem jedenfalls. Ob mein Zeug noch dadrin war, wusste ich nicht. Mein Verbandszeug. Das brauchte ich.

Ich musste darauf hoffen, dass meine Pseudofreundin Annie die Sachen für mich aufbewahrt hatte. Oder mein abgerissener Nachbar Ben, der zufällig Max’ Vater war. Allerdings konnte ich mir nicht vorstellen, dass dieses alte Arschloch sich um meine Sachen kümmern würde.

Vielleicht waren die beiden auch inzwischen weg. Vielleicht waren sie endlich klüger geworden und aus dem Trailerpark abgehauen, vor dem Ärger, der sich um die Ecke im Stripclub zusammenbraute.

Ich hatte Annie gewarnt. Oh ja. Einmal hatte ich sogar behauptet, ich sei Agentin der DEA. Ich hatte eine gefälschte Dienstmarke. Einer meiner vielen Tricks. Die zückte ich und sagte ihr, sie solle schnellstens verschwinden.

Und das tat sie.

Aber dann kam sie zurück.

Weil manche Frauen einfach nicht klüger werden.

Aber selbst in diesem Zustand wirkte er kaltblütig und mordsgefährlich.

Und ich hatte ihn belogen.

Ich brachte ihn auf kürzestem Weg zu seiner Familie.

 

Ich rollte durch das Tor in den Trailerpark. Es war dunkel. Ein paar Leute waren draußen. Sie standen auf ihrer Terrasse oder im Garten und hatten den Blick in Richtung des Feuerscheins gerichtet, der über den Baumwipfeln zu sehen war.

Niemand beachtete meine Ankunft.

Ich fuhr zwischen meinen und Annies Wohnwagen und sah, dass Annie auch draußen stand und wie alle anderen zu den Bäumen schaute. Ben auch und ein Kerl neben ihm, ein stämmiger Typ.

Das musste Dylan sein. Max’ Bruder, mit dem er zerstritten war.

Tut mir leid, Max, dachte ich. Ein Verwandtenbesuch ist unumgänglich. Gut, dass er davon kaum etwas mitbekam. Die Absurdität dieses Familientreffens löste bei mir ein irres Kichern aus.

Kein Kartoffelsalat. Nur Kugeln.

Annie drehte sich um und sah das Auto, Ben und Dylan stellten sich sofort vor sie. Schützend.

Ich missgönnte ihr das nicht. Sie war dieser spezielle Typ Frau, wissen Sie? Große Augen, großes Herz,

Ich war Maleficent, die dunkle Fee mit Hörnern und abgeschnittenen Flügeln, gemein und auf blutige Rache aus.

Die, die sich einen Dreck um andere schert.

Ich stellte den Motor ab und stieg mit erhobenen Händen aus. Ben mochte alt sein, aber er war ein ehemaliger Skull, und seine gewalttätige Vergangenheit stellte meine restlos in den Schatten.

«Joan!» Annie löste sich von ihren Bodyguards, die mich drohend anblickten. «Sie ist meine Freundin», sagte sie zu Dylan, der jedoch skeptisch blieb.

Kluger Mann.

Er sah in gewisser Weise erschreckend aus, denn eine Gesichtshälfte war von Narbengewebe überzogen, das einen Mundwinkel zu einem permanenten Zähnefletschen hochzog.

«Bist du verletzt?», fragte Annie und blieb dicht vor mir stehen. Ich spürte, dass sie mich umarmen wollte. Zum Glück ließ sie es dann doch sein. «Warst du dort?»

«Alles gut», log ich. «Mir fehlt nichts. Wirklich.»

«Du hast die Explosion erlebt?»

«Bin gerade noch rausgekommen. Hör zu, ich hab keine Zeit zu reden. Ich brauche meine Sachen aus dem Wohnwagen.» Innerlich war ich panisch. Eine fieberhafte Hektik pulsierte in mir, und mir war klar, dass Annie das spürte. Alle drei spürten es.

«Bist du in Schwierigkeiten?», hakte Annie nach.

«Ja. Die sind jetzt bei mir. Ich hole sie.»

Dylan schaute ihr nach, aber Ben beobachtete mich. Argwöhnischer Mistkerl.

«Du hast das Feuer gelegt?», fragte er mich.

«Nein.» Ich konnte sehr gut lügen. Mir fiel es leichter zu lügen, als die Wahrheit zu sagen.

«Du wirkst ziemlich nervös», stellte Ben fest, und Dylan warf seinem Vater einen wissenden Blick zu.

Wie ich die Sache sah, hatte ich zwei Möglichkeiten. Ihnen wegen Max reinen Wein einschenken und es drauf ankommen lassen. Oder lügen und es drauf ankommen lassen, riskieren, dass sie es herausfanden und mir das Fell abzogen, weil ich es verschwiegen hatte.

Ein klarer Fall. Keine Frage.

«Ja, na ja, ich habe Max auf dem Rücksitz.»

Eine Sekunde lang starrte mich Dylan ungläubig an, dann schoss er an mir vorbei und griff nach dem Türöffner, aber ich schob mich dazwischen und lehnte mich mit ganzem Gewicht gegen die Tür, sodass er sie nicht öffnen konnte, ohne mich zur Seite zu stoßen.

Auf keinen Fall wollte ich mir von Dylan meine einzige Verbindung zu Lagan nehmen lassen. Mir war egal, wie reich oder wie gefährlich er war. Max gehörte mir.

«Hör mir zu.» Ich hob beschwichtigend die Hände. Ich würde es so hinstellen, als könnte Max nur mit meiner Hilfe überleben. Was nicht mal vollständig gelogen war. «Rabbit hat versucht, ihn umzubringen …»

«Er wurde angeschossen. Zwei Mal. Sind zum Glück nur Fleischwunden. Aber aus der in der Wade muss ich dringend die Kugel rausholen.»

«Geh verdammt noch mal zur Seite!» Dylan stieß mich weg und öffnete die Tür. Max sackte ihm bewusstlos entgegen.

«Gott im Himmel!», stöhnte Dylan und fing ihn auf, bevor er im Dreck landete. Ben stand neben ihm, nutzlos und gebrechlich, und versuchte zu helfen.

«Ich wollte es gerade erklären», sagte ich.

Ich hatte keine Zeit für Mitgefühl. Oder um mich mitfühlend zu geben. Mir stand eine lange Fahrt bevor, ehe ich durchatmen konnte. Außerdem eine kleine Operation auf der Rückbank.

Also blickte ich auf Dylan und Ben, die sich um Max bemühten, und dachte: Ihr blöden Trottel.

Annie kam mit einer Sporttasche und einem halbvollen Müllsack zurück. «Oh mein Gott», rief sie aus, als sie die Männer sah, ließ die Sachen fallen und eilte zum Auto, um mit anzufassen.

Ich rollte die Augen und ging mein Zeug aufheben.

Es gab einige Schreckensrufe, dann rannte Annie zurück in ihren Wohnwagen, um Handtücher zu holen, während Dylan unter den Verband um Max’ Bein lugte.

«Die Kugel sitzt im Fleisch, nicht im Knochen», sagte ich und klappte den Kofferraumdeckel hoch. «Ich kann sie rausholen und die Wunde nähen. Ich habe Verbandszeug

«Er muss ins Krankenhaus», sagte Annie, die mit einem Armvoll Handtücher zurückkam.

«Das geht nicht», widersprach Ben, der alte Gangster. «Bei einer Schusswunde stellen sie zu viele Fragen.»

«Und hier können wir auch nicht bleiben.» Ich verstaute die Tasche und den Müllsack. «Man wird nach Max suchen.»

«Du meinst, sie suchen nach dir», sagte Dylan.

«Das vielleicht auch.»

«Wer hat das getan?», fragte Ben, der seinen Sohn so voller Kummer anblickte, dass ich alles aufbieten musste, um nicht mit ihm zu fühlen.

«Rabbit.»

«Ist er tot?», fragte Ben, der offenbar schon an Rache dachte.

Max würde sich auch rächen wollen, wurde mir klar. Sobald er zu sich kam und es ihm besserging. Er würde nach Rabbit suchen. Doch dafür hatte ich ihm nicht das Leben gerettet. Ich würde mir etwas ausdenken müssen, um das zu verhindern.

«Keine Ahnung. Da drüben herrscht das totale Chaos. Aber Rabbit war nicht allein. Er hatte den gesamten MC hinter sich. Das war kein Mordanschlag, das war ein Putsch. Ihr müsst mir glauben. Er ist hier nicht sicher.»

«Wohin bringst du ihn?», wollte Annie wissen.

«An einen sicheren Ort. Ich schwöre bei Gott.»

«Was ist mit seiner Kopfwunde?», fragte Annie. «Er hat vielleicht eine Gehirnerschütterung. Es könnte ernst sein.»

Max’ Beine zuckten, und alle schauten in den Wagen. Seine Augen waren offen, sein Blick jedoch verschleiert. Er wirkte wie aus einem Horrorfilm entsprungen, so blutig war er.

Er schüttelte den Kopf. «D … E … A. Keine … DEA

Scheiße, dachte ich. Mit diesem Unsinn wollte ich nicht auch Zeit vergeuden. Annie hielt mich noch immer für eine Undercoveragentin.

«Was sagt er?», fragte Ben.

«Keine DEA», wiederholte Dylan und blickte mich durchdringend an. «Willst du ihn festnehmen? Ihn zwingen auszusagen? Denn dann bleibt er hier. Dann kümmern wir uns um ihn.»

«Ich bin nicht von der DEA», erklärte ich. «War ich nie.»

Annie schnappte nach Luft. «Aber die Dienstmarke!»

Ach, du vertrauensseliges Huhn. Die Welt wird dir noch übel mitspielen.

«Gefälscht. Ich habe noch zwanzig andere im Kofferraum. Ich bin weder DEA-Agentin noch … sonst irgendwas.»

Oh, sie ahnten nicht, wie wahr das war. Mein Mieser Freund Nr. 2 hatte mich sitzengelassen, nachdem er ein paar Betrügereien abgezogen hatte (mit meiner Hilfe – wie gesagt, ich zog das Chaos magisch an), aber wenigstens hatte er mir auch die gefälschten Dienstmarken hinterlassen, die sich bereits als ziemlich nützlich erwiesen hatten.

«Was hast du vor?», fragte Dylan.

«Woher weißt du das?», fragte er. Max hatte das nicht herumerzählt, dann hätten sie viel früher versucht, ihn umzubringen.

«Ich weiß es eben», seufzte ich. «Dein Bruder und ich … sind Freunde. Irgendwie. Du musst mir vertrauen.»

Wir wussten alle, was für Freunde Max hatte. Lügner, Betrüger, Mörder.

Als Lügnerin hatte ich mich schon erwiesen.

Scheiße, das würde nicht hinhauen. Sie würden mich nicht mit ihm gehen lassen. Ich brauchte einen Plan C. Einen ohne Max. Der Gedanke stürzte mich in Verzweiflung.

Vergesst es, wollte ich gerade sagen, ihr könnt Max haben, und viel Glück auch.

«Wir vertrauen dir», verkündete da Annie. Sie wechselte einen raschen Blick mit Dylan und Ben, die nach zwei langen Sekunden nickten.

Heilige Scheiße. Es klappte doch noch.

Ben sah um tausend Jahre gealtert aus. Dylan sagte, ich solle mich um seinen Bruder kümmern. Was offen gestanden nicht meine oberste Absicht war. Annie umarmte mich. Ehe ich ausweichen konnte, schlang sie ihre dünnen Arme um mich.

Du bist mir egal, dachte ich, weil mich das stärker machte.

Allein sein machte mich stärker. Hart und kalt sein machte mich stärker.

Ich stieg ein und fuhr weg, innerlich so hart, kalt und allein wie nur möglich.

Nur so würde ich überleben, was vor mir lag.

Mit einem blutenden Mann mit Gehirnerschütterung auf der Rückbank gelangte ich nach Georgia. Jede halbe Stunde griff ich nach hinten und rüttelte ihn wach, woraufhin er mich drei Minuten lang beschimpfte und fluchte, bevor er wieder ohnmächtig wurde.

Das Adrenalin hielt mich lange Zeit aufrecht. Kaum ließ es etwas nach, raste ein Streifenwagen an mir vorbei, und mir explodierte vor Stress fast der Kopf.

Mein Gott. Ich rieb mir die brennenden Augen. Was habe ich getan?

Im Radio wurde über die Explosion berichtet. Man vermutete einen schiefgegangenen Drogendeal als Ursache. Zuerst war von zwei Todesopfern die Rede, dann wurde gesagt, es gebe keine. Von den nächsten Nachrichten bekam ich nur das Ende mit, aber da hieß es, drei Männer seien festgenommen worden und nach einem vierten werde gefahndet. Dann kam der Wetterbericht, und ich hörte nichts weiter darüber. Ich suchte einen anderen Sender, um etwas über Tote oder Verletzte zu erfahren, aber vergeblich. Und je weiter ich in den Süden kam, desto weniger wurde der Vorfall erwähnt. Schließlich verschwand er ganz aus den Nachrichten.

Keine Bullen mehr auf dem Highway.

«Hey, Max.» Ich schüttelte ihn. «Wie geht es dir? Los, aufwachen!»

«Fick dich», stöhnte er.

«Dir auch einen schönen Abend. Weißt du, welches Jahr wir haben?»

«Lass mich schlafen.»

«Darf ich nicht. Du musst mir ein paar Fragen beantworten. Weißt du, welcher Tag heute ist?»

«Mittwoch.» Na ja, eigentlich schon Donnerstag.

«Wie heißt du?»

«Max Daniels.»

«Und ich?»

«Joan, das verrückte Miststück.»

«Na immerhin. Wie geht es deinen Rippen?»

«Tun weh … beim Luftholen.»

Ich blickte in den Rückspiegel. Er atmete flach. Eine Hand an die Seite gedrückt. Unter den getrockneten Blutflecken auf seinem Gesicht wurden die Blutergüsse immer dunkler.

Diese Arschlöcher.

«Entführst du mich etwa?»

«Nur ein bisschen.»

Ich fing seinen Blick auf und versuchte zu lächeln, aber das kam mir falsch vor. Ihm fielen die Augen zu.

«Hey, hey, Max. Wach bleiben. Lass uns … lass uns reden.»

«Reden.» Er versuchte, sich etwas anders hinzulegen, und verzog vor Schmerzen das Gesicht. Und ich vor Mitgefühl. «Du hast mich zu meinem Bruder gebracht.»

«Er könnte in Schwierigkeiten geraten … wegen mir.»

«Ich denke, dein Bruder und dein Dad schaffen es auch ohne dich ganz gut, in Schwierigkeiten zu geraten.»

«Annie …»

«Ja, die sorgt auch für Schwierigkeiten, glaub mir.» Es sollte ein Scherz sein, aber dafür meinte ich es etwas zu ernst.

«Eifersüchtig?»

Ich blickte in den Rückspiegel, weil ich wissen wollte, ob er sich über mich lustig machte.

«Nein», antwortete ich entschieden. Aber ein bisschen war ich es doch. Es wäre schön gewesen, einen Kerl zu haben, der sich für mich ein Bein ausriss. Na ja, es wäre auch sonderbar gewesen, aber es gab Tage, da hätte ich Hilfe gebrauchen können.

«Was hat es mit der gefälschten Dienstmarke auf sich?», fragte er.

«Das DEA-Ding?»

«Ja.»

«Weißt du, vielleicht solltest du besser doch weiterschlafen.» Denn ich wollte nicht über Miesen Freund Nr. 2 reden. Ich will hier nicht den Eindruck erwecken, ich hätte lauter miese Freunde gehabt. Es sind nur die zwei gewesen. Und dazwischen hatte ich einen wirklich guten.

«Warum willst du mir nichts darüber erzählen?»

«Ich hatte einen Freund, der die Marken benutzte, um keine Strafzettel zu kassieren und Sachen umsonst zu

«Das ist dämlich.»

«Sagt der grundehrliche Kriminelle.» Ich lächelte ihn über den Rückspiegel an, aber er lächelte nicht zurück.

«Wo ist dein Freund jetzt?»

«Er hat mich vor einem Jahr sitzengelassen. Hat mein Geld mitgenommen und die Dienstmarken dagelassen. Die sind ab und zu ganz praktisch.»

«Du bist Trickbetrügerin?»

«Ich tue, was nötig ist, um zu überleben.»

Er brummte, sagte aber nichts weiter, und meine Lust zu reden war verflogen.