Katja Bohnet

KERKERKIND

Thriller

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Katja Bohnet

Katja Bohnet, Jahrgang 1971, studierte Filmwissenschaften und Philosophie, bevor sie ihr Geld mit Fahrradkurier-Fahrten, Porträtfotos und Zeitungsartikeln verdiente. Sie lebte im Südwesten der USA, in Berlin und Paris, arbeitete im Kibbuz und bereiste vier Kontinente. Jahrelang moderierte sie eine Livesendung in der ARD und schrieb als Autorin für den WDR. 2012 verfasste sie ihren ersten Roman. Ihre Erzählungen wurden in Literaturzeitschriften und Anthologien veröffentlicht, u.a. im Rahmen des MDR Literaturwettbewerbs 2013. Heute lebt sie neben vielen Büchern, Platten und Kindern zwischen Frankfurt und Köln.

Impressum

© 2018 der eBook-Ausgabe Knaur eBook

© 2018 Knaur Verlag

Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit

Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Redaktion: Ilse Wagner

Covergestaltung: Thierry Wijnberg/totalitalic.com

Coverabbildung: Ozimages/Alamy Stock Photo

ISBN 978-3-426-44359-0

Für meine Eltern,

die unsterblich sein sollten.

»Du bist doch der Schriftsteller.

Denk dir was aus.«

 

David Benioff, Stadt der Diebe

 

 

»Erlösung aber ist die Erkenntnis

der Sinnlosigkeit allen Lebens.«

 

Robert Schneider, Schlafes Bruder

 

 

Drei tote Jungs

Dazu die Zeile –

»Alles im Griff«

 

Don Winslow, Zeit des Zorns

PROLOG

Jemand schnitt ihm die Kleider in Streifen vom Leib. Unfähig, sich zu bewegen, lag er da. Seitlich, die Wange auf den Stein gepresst. Er wollte sich aufraffen, musste sich erheben, aber sein Körper reagierte einfach nicht. Mit der Schere ritzten sie seine Haut. Nein. Lasst mich. Die Gedanken bildeten sich in seinem Kopf, doch sie wollten nicht aus seinem Mund hinaus. Jeder seiner Muskeln glich einem schlaffen Seil. Und so dachte er an Lyn und fragte sich im selben Moment, ob es ein schlechtes Zeichen war, an diejenigen zu denken, die man liebte, denn das läutete das Ende ein. Er lebte jedoch noch, befand sich nur in einem Zwischenland. Er hörte das Reißen seiner Kleidung, als helfe jemand nach, damit es schneller ging. Lyn lächelte ihn an. Wie immer etwas schief, weil ihr linker Mundwinkel leicht nach unten hing. Der Wind zerzauste ihr Haar, blies ihr Strähnen ins Gesicht. Mit der Hand winkte sie ihm etwas ungelenk zu. Komm, komm, sagte ihr Blick. Das Funkeln in ihren Augen glich einer sexuellen Aufforderung, der er nicht widerstehen konnte. Sommersprossen gruppierten sich um ihre Nase, auch wenn er sie im Gegenlicht nicht deutlich sehen konnte. Lyn, unschuldige, wunderbare Lyn. Das war davor. An das Danach erinnerte er sich nicht gern. Er wollte es nicht, verdrängte es. Jetzt drehte sie sich um. Der Strand erstreckte sich lang und makellos, und der Sand glitzerte. Winzige Wellen plätscherten ans Ufer, ohne Schaum. Bleiern lag das Meer neben ihnen beiden wie ein unendlich großer, glatter Tisch aus Edelstahl, durch regelmäßigen Gebrauch zerkratzt, weshalb er das gleißende Licht nur teilweise reflektierte. Lyn lief von ihm weg. Schief und ungleichmäßig, so gut sie es eben vermochte. Über die Schulter rief sie ihm etwas zu. »Komm, ich zeige dir …«, mehr verstand er nicht. Nur ihr Lachen hörte er. Er wollte ihr nachlaufen, um ihre weiche Haut zu berühren, die Hitze des Sommers an ihr spüren. Er wollte ihr nahe sein, er wollte sie verstehen. Was hatte sie gesagt?

Nun war er nackt. Er spürte es. Er erwartete einen Stich in seine Haut. Auf der Oberfläche seiner Hand, wenn sie den Zugang legten. Er fühlte sich unendlich matt. Sein Kopf schmerzte. Auch wenn er sich nicht erinnern konnte, musste es ein Unfall gewesen sein. Vielleicht war sein Auto von der Straße abgekommen, vielleicht hatte ihn auf dem Weg zur Arbeit ein Wagen erfasst, vielleicht war er gestürzt. Ein Unfall, sicherlich. Doch der Nadelstich erfolgte nicht. Es nagte an ihm. Warum konnte er sich nicht an das erinnern, was geschehen war? Jemand zog ihn hoch. Hände griffen unter seine Achseln, richteten ihn auf. Zunächst knickten seine Beine ein, er strauchelte, dann spürte er sie und konnte stehen. Wie nach einem leichten Stromschlag funktionierte seine Wahrnehmung wieder akkurat. Aber schon Stunden später, als er schrie, als Krämpfe an seinen Waden zerrten, Tränen, Speichel und Rotz die Kapuze an sein Gesicht klebten, als er schon längst kaum noch Luft bekam, wünschte er sich nichts sehnlicher, als zurückzukehren ins Zwischenland. In diesem Moment spürte er jedoch den rissigen Boden unter seinen Sohlen, als sei seine Wahrnehmung für feine Details nun geschärft. Er schwankte, allerdings verhinderte jemand mit hartem Griff, dass er fiel. Er wollte sich abstützen, aber es gelang ihm nicht. Seine Hände ließen sich hinter seinem Rücken einfach nicht lösen. Etwas schnitt in seine Handgelenke ein. Der messerscharfe Schmerz schärfte jeden seiner Sinne. Und so stand er schließlich aufrecht da, bemerkte, wie die Kälte sich unerbittlich in jede Pore seines frierenden Körpers fraß. Den Kopf hielt er gesenkt. Stoßweise atmend, wartete er ab. Ein dunkler Stoff hing über seinem Gesicht. Darunter gelangte nur wenig Sauerstoff in seine Lungen. Er roch alten Muff und Feuchtigkeit. Wie in einer Speichertruhe, die seit Jahren keiner geöffnet hatte. Im Gegensatz zu den fallenden Temperaturen um ihn herum war die Luft, die er unter dem Tuch atmete, stickig, heiß und schal. Hektisch bewegte er seine Hände, doch eine Fessel zwang sie unnachgiebig zusammen, bis er die Anstrengungen wieder aufgab. Als er sich endlich getraute, seine Stimme zu erheben, klang sie für ihn fremd. Röchelnd, keuchend, undeutlich unter dem Tuch. Unmöglich, mittels des Schalls die Größe des Raumes zu ermessen. Nach einer Halle klang es nicht. War tatsächlich er es, der da sprach? Zuerst leise, um sich zu vergewissern, weil es so unglaublich schien. Bis er schließlich um Hilfe bat, dann schrie. Laut und verzweifelt, da man ihn hier nackt stehen ließ. Und er nichts sehen konnte und niemand mit ihm sprach, ihm nichts erklärte. Sein Glied hing frei zwischen seinen Beinen, und es machte ihn fast wahnsinnig, wie verwundbar er sich dadurch fühlte. Er zitterte, nein, er schlotterte. Was wollte man von ihm? Warum stand er hier? Wieso blieb es so merkwürdig still? Weshalb waren seine Hände gefesselt? Wo befand er sich? Und was hatte er getan? Er beschloss zu lauschen, auch wenn er seine Körperfunktionen kaum noch unter Kontrolle halten konnte. Zunächst hörte er nichts. Doch das Zittern ebbte ab unter seiner großen Konzentration, und nun vernahm er es: Jemand atmete neben ihm in diesem Raum. Er getraute sich nur, ein, zwei winzige Schritte auf das Geräusch zuzumachen, danach verließ ihn der Mut. Er war blind, und die Angst vor einem schwarzen Schlund, vor einer grausamen Gefahr, machte plötzlich jede Regung unmöglich. Immer wieder suchte er in der Vergangenheit, bis es ihm schwante: Kein Unfall hatte ihn ereilt. Was ihm hier geschah, das war etwas Schlimmeres, Schrecklicheres. Er sollte sein Zeitgefühl verlieren, sogar sich selbst bis zur Unkenntlichkeit seiner Person.

In seinem Kopf verwandelte sich die Schere in ein Messer. Damit hatten sie seine Kleidung von ihm getrennt. Doch wie sollte er noch wissen, was er glauben konnte? Und wo waren diejenigen, denen er fehlen musste? Warum suchte ihn niemand? Weshalb wurde er nicht befreit? Vielleicht würde das bald geschehen. Die Bilder von Lyn am Strand flackerten in den kommenden Stunden immer wieder vor seinen Augen auf. Ihre weißen Zähne, einer davon schräg, ihr flatterndes weißes Shirt, das der Wind wie eine Fahne bewegte. Er hielt sich an dem Gedanken fest, als plötzlich etwas – vielleicht eine Fingerspitze – über seinen Rücken glitt. Die Berührung traf ihn wie ein Schock, und er bebte derart stark, dass er fast zu Boden ging. Er dachte noch an Lyn, als er sich die Kehle schon längst wund geschrien hatte und außer dem Hall seiner Worte keine Antwort bekam.

»Was wollt ihr von mir? Was soll ich hier? WAS HABE ICH GETAN?« So endlos und so oft, dass er nur noch mechanisch brüllte, rief, sprach und später heiser flüsterte und die Worte für ihn kaum noch einen Sinn ergaben. Niemand schlug ihn, niemand sprach mit ihm, niemand berührte ihn mehr. Niemand befreite ihn. Seine Eltern mussten ihn doch schon vermissen und auch seine Freunde. Nichts geschah. Er hörte keine fremden Atemgeräusche mehr. Zitternd tastete er sich mit den Zehen an der Wand entlang. Bis er nach nur zwei Schritten an eine andere Wand prallte, danach an ein Gitter kam. Ein Raum, eine Zelle bestenfalls. Winzig. Leer. Er dachte an Lyn, um nicht völlig durchzudrehen. Schauer liefen ihm über die Haut, die Kälte fraß sich weiter in ihn hinein, bis er sie irgendwann kaum noch spürte. Er dachte an Lyn, als er schließlich aufgab, sich sein Darm und seine Blase entleerten, es heiß an seinen Beinen hinunterrann. Er dachte an Lyn, als er schon lang nicht mehr schluchzen konnte. Seine Verzweiflung trocknete die Trauer schließlich aus. Er verankerte sich in Gedanken an ihrem Gesicht, als sie ihn rief. Was hatte sie gesagt? Es nicht mehr zu wissen, ließ ihn nicht mehr los. Vielleicht würde er Vergebung erfahren, wenn es ihm wieder einfiele. Daran klammerte er sich fest. Die Stille wirkte, als habe man ihn in Plastik eingeschweißt. Er stand aber immer noch am selben Ort, schutzlos, bewegungslos, jemandem ausgeliefert, der sich nicht zu erkennen gab. Einem lautlosen, reißenden Tier oder einem überlebensgroßen Golem. Er vermutete, dass das hier nicht sein Ende, sondern der Beginn von etwas Neuem war. Seinem neuen Ich, wie er noch lernen sollte. Lyns Bild verblasste schließlich, seine Beine gaben nach, und er brach vor Erschöpfung zusammen. Als sein Kopf auf den harten Boden aufschlug und er in der stinkenden Pfütze seiner eigenen Exkremente zu liegen kam, blitzte endlich für einen Moment auf, was er nicht verstanden hatte. Damals am Strand. Das hatte Lyn ihm zugerufen, das hatte sie ihm gezeigt: den Fisch an Land, der noch schwach mit der Schwanzflosse zappelte.

BERLIN

1

Die Vergangenheit kann nicht vergangen sein, denn sie holt uns ein. Wie ein Echo kommt sie zurück und wird zur Gegenwart. Viktor Saizews Verhältnis zur Vergangenheit gestaltete sich zwiespältig. Einen Teil davon wollte er zurückerobern. Seinen Job bei der Mordkommission, den Schreibtisch beim LKA Berlin, sein vollständiges Gehör, denn genau zuzuhören, was andere sagten, machte einen Großteil seiner Arbeit aus. Die zurückliegenden Monate wollte Viktor jedoch lieber aus seinem Leben streichen. Diese endlosen Wochen, Tage, Stunden in einem Bett. Zu viel von der Farbe Weiß. Eine weiche Wolke, die man nicht verlassen konnte, nachdem man bereits gestorben war. Streichen. Den Tag, an dem sich seine Mutter das Leben nahm, und den, an dem Rosa Lopez ihr Kind nicht mehr wiederfand. Wie vergangen diese Ereignisse tatsächlich waren, blieb rätselhaft. Eine Grauzone, die das Gestern, Heute und Morgen überlagerte. Denn Viktor stand hier, obwohl es ihm vor Wochen noch unmöglich erschien. Luis, Lopez’ Sohn, war wieder aufgetaucht. Allein Viktors Mutter blieb tot, besuchte ihn nur gelegentlich im Traum. Schattenhaft und dennoch ganz real, obwohl er kaum noch Erinnerungen an sie hatte. Vergänglich wie Rauch, dachte Viktor. Am Himmel ballte sich der Qualm. Wie eine Säule aus dunklem Marmor stand er über dem Wald. Was da am Boden lag, war tot. Ein Mensch, dessen Geschlecht für Viktor auf Anhieb zunächst nicht zu erkennen war.

»Was siehst du?«, hatte Lopez ihn gefragt. Die Frage war so alt wie ihre gemeinsame Zusammenarbeit beim LKA Berlin. Gewohnheitsmäßig sah Viktor sich um, nahm alle Eindrücke in sich auf. Scannte, zoomte, tastete ab. Die Leiche auf der Lichtung lag da wie inszeniert. Der Arm des Opfers ragte wie ein Hinweisschild in die Luft. Wie ein Schüler, der sich zu Wort meldete. Die Hitze hatte die Muskulatur verkrümmt. Kleidung und Fleisch waren zu einer Lederhaut verschmolzen, rissig und voller Krater, zumindest an den Stellen, an welchen sich das Gewebe noch über die Knochen spannte.

Hätte jemand Viktor nach der Farbe des Todes gefragt, hätte er ohne Zögern geantwortet, sie sei rot. Denn die Anwesenheit von Blut kennzeichnete Viktors Arbeitsplätze wie eine chinesische Stempel-Signatur. Doch heute trug der Tod tatsächlich Schwarz. Die Leiche war zu großen Teilen wie ein Streichholz heruntergebrannt. Der Geruch nach Gegrilltem lag in der Luft. Viktor mochte die Tatsache, dass er es wahrnahm und das Nussaroma hier am Tatort schwach riechen konnte. Die süßliche Note, die menschliches Fleisch stets verbreitete. Oder bildete er sich das nur ein? Hatte sein Gehör auch nachgelassen, war sein Geruchssinn doch wiederhergestellt. Lachse kehrten an ihren Laichplatz zurück, sie fanden über ihre Geruchssensoren den richtigen Weg, überwanden alle Hindernisse nur, um sich fortzupflanzen. Danach starben sie. Nur ein bis zwei Prozent überlebten, um ins Meer zurückzukehren. Viktor gehörte zu den Überlebenden. Zu den ein bis zwei Prozent. Ich kann wieder etwas riechen. Ich lebe noch, dachte er.

Viktor gebrauchte seine Nase wie ein Cellist seine Finger, wie ein Maler sein Augenlicht. Er fand es falsch, dass Menschen anderen Menschen das Leben nahmen. Es war ein Unrecht, das er wiedergutzumachen suchte. Dafür setzte er sich ein. Der Geruch des Todes blieb ihm jedoch vertraut. Er lehnte ihn nicht ab, denn er half ihm und gab jedem Mord ein eigenes Gesicht. Aber handelte es sich hier überhaupt um Mord? Eine brennende Zigarette, die weggeworfen wurde, ein Funken, der das ausgedorrte Geäst entzündete, die Ausbreitung begünstigt durch die für die Jahreszeit untypische Trockenheit. Ein Mensch, beim Spaziergang überrascht, vom Feuer eingeschlossen. All diese Dinge waren schon passiert. Dennoch schien ein Zufall ausgeschlossen. Viktor spürte es, er sah es auch. Deshalb ging er auf die Knie, beugte sich über das Opfer und schloss die Augen. Nicht, weil er die Nähe nicht ertragen konnte, sondern weil dadurch eine Wahrnehmung verstärkt wurde. Er schnüffelte, glaubte, das Volatile, Stechende zu erkennen, sogar trotz des alles überlagernden Brandgeruchs. Hatte sich sein Geruchssinn etwa geschärft? Es roch nach Mord.

Er kam wieder hoch und sah sich um. Ein Nachzügler von der Kriminaltechnik fotografierte gerade ein schwarzes, verzogenes Objekt. Da. Viktor konnte es besser erkennen, wenn er die Augen halb zusammenkniff. »Das dort drüben könnte ein Benzinkanister sein«, übersetzte Viktor laut das Bild, das sich ihnen bot.

Rosa Lopez fragte: »Brandbeschleuniger?«

Und Viktor erwiderte: »Die Optik, der Geruch, die schnelle Ausbreitung. Alles spricht dafür. Wer ist der Einsatzleiter der Feuerwehr?«

»So ein Stämmiger mit Geheimratsecken. Ich kümmere mich darum«, antwortete Lopez konzentriert.

Vorab galt jede Theorie nur als Hypothese. Viktors Blick wanderte über das, was von dem Gesicht übrig geblieben war. Ein Schädel, die Nase einfach weggebrannt. Viktor schloss erneut die Augen. Hielt die Zeit kurz an, erinnerte sich an den Moment, an dem er hierhergekommen war. Warum er Tatorte immer wieder aufsuchte wie andere den örtlichen Supermarkt. Weil jemand es tun musste. Weil er seine Arbeit brauchte wie ein Heroinabhängiger den nächsten Schuss. Er öffnete die Augen wieder, atmete ein. Keine Haare mehr, stellte Viktor fest. Völlig verbrannt. Die Länge, Farbe, die Struktur hätten ihm vielleicht einen Anhaltspunkt gegeben.

»Ich kann das nicht«, hörte er Lopez sagen. Es klang tonlos, fast final. Sie stand neben ihm. Nun drehte sie sich weg.

Viktor ahnte, warum. Aber er kannte sie so nicht. »Du musst«, antwortete er schnell. Nicht nur, weil es ihr Job war, den sie nicht einfach ignorieren konnte, sondern weil er sie brauchte. Denn Viktor durfte de facto hier nicht ermitteln, so wie Lopez es tat. Beurlaubt, krankgeschrieben, suspendiert. Viktor hatte alle Zwischenstadien bereits ausgelotet, die einen Polizisten von seiner Arbeit trennen konnten. Warum Lopez mit ihm heute direkt hierhergefahren war, wunderte ihn immer noch. »Eine zweite Meinung«, hatte sie gesagt.

 

Deshalb überlegte er nicht eine Sekunde lang, als sie ihn am Eingang der Klinik für Physikalische Medizin und Rehabilitation der Charité am Campus Mitte abholte. Der Vormittag brach gerade an. Einige Amseln zwitscherten noch, bevor die Mittagsglut sie zum Schweigen bringen würde. Viktor beschloss, sich auf keinen Fall umzusehen. Zurückzuschauen kam einem schlechten Omen gleich. Stagnation, Versteinerung. Viktor dachte an Lots Frau. Er hatte noch nicht einmal ordnungsgemäß ausgecheckt. Sein Blick saugte sich an einem Schriftzug fest. »Belohnung ausgesetzt.« In roten Lettern stand es auf einem großen Plakat geschrieben. Darunter eine dunkle Zeichnung oder ein altes Foto. Und die Zahl Zwanzigtausend. Dahinter noch ein Eurozeichen. Viktor fragte sich, worum es hier ging. Es handelte sich nicht um eines der Wahlplakate, die sich in der Stadt wie bunte Kaninchen täglich vermehrten, an Pfosten, Ampeln, Litfaßsäulen. Doch bevor er sich vergewissern konnte, sah er, wie die Polizei vorfuhr, die er bereits erwartete.

Behäbig stieg Lopez aus dem Toyota, ihrem gemeinsamen Dienstwagen, den Viktor so sehr verachtete, weil das Vehikel viel zu klein für seinen überdimensionierten Körper war. Heute stimmte ihn der Anblick des Wagens jedoch fast schon froh, gehörte das Auto doch zu einem Leben, das er vermisste. Lopez blieb neben der offenen Fahrertür stehen, atmete tief durch. Ihr Umfang war enorm. Für einen Augenblick betrachteten sie sich gegenseitig, als habe jemand sie in ein Stillleben verbannt. Hier in der Mitte von Berlin. Menschen liefen an ihnen vorüber, kreuzten ihren Weg. Nur sie beide standen ruhig da. Lopez sagte nichts, sie lächelte. Ein ungewohntes Bild. Lopez hatte schon zu viele Jahre lang nicht mehr gelacht. Doch seitdem sie ihren Sohn gefunden hatte, war sie ein anderer Mensch geworden. Als habe sie endlich den Weg ins Leben zurückgefunden. Dass sie Viktor von der Klinik abholte, löste in ihm eine Flut von Gefühlen aus: Freude, Verwirrung und auch Scham. Hatte er in den vergangenen zehn Jahren immer den Beschützer gemimt – nicht, dass Lopez einen Beschützer gebraucht hätte –, den Fels in der Brandung, den Unerschütterlichen, Starken, war er in den letzten fünf Monaten auf ihre Hilfe angewiesen gewesen. Genauso wie auf die Unterstützung von so vielen anderen. Manche davon kannte er kaum.

Ohne eine Begrüßung ließ Lopez Viktor wissen: »Menschliche Überreste am Wannsee. Ich dachte, das könnte dich vielleicht interessieren.« Pure Fröhlichkeit strahlte aus ihren Augen.

Sie hatte recht. Viktor interessierte das ungemein.

»Ich bin krankgeschrieben«, gab er zu bedenken.

»Beurlaubt. Krankgeschrieben … vor einiger Zeit war dir das noch egal.« Lopez funkelte ihn an, als wolle sie ihn zu einem Bonbondiebstahl in der Speisekammer animieren.

Mit »vor einiger Zeit« meinte sie »vor Entfernung des Hirntumors«. Es kam ihm mittlerweile wie eine Ewigkeit vor. Viktor musste blinzeln. War das noch dieselbe Frau? Die strenge, ernste, richtlinientreue Kollegin, die er kannte? Lopez erwartete ihr drittes Kind. Die Schwangerschaft schien bereits weit fortgeschritten, und Viktor war überzeugt, dass Lopez’ Hormone völlig verrücktspielen mussten. Anders konnte er sich ihre gute Laune nicht erklären. Unwillkürlich blinzelte er. War das hier real? Zu lange hatte er sich darauf nicht mehr verlassen können.

»Begleite mich, Viktor! Ich könnte eine zweite Meinung brauchen.«

Was sollte das werden? Lopez’ ganz eigene Vorstellung von Wiedereingliederung? Gunnar würde das nicht gefallen. Aber was gefiel Gunnar schon? Viktor wollte nichts anderes als das: Er wollte mit Lopez diese Leiche sehen. Er wollte ihre zweite Meinung sein. Er kannte nichts anderes, verstand sich nur auf das. »Okay«, antwortete er.

»Toll!«, sagte Lopez. »Darfst du wieder Auto fahren?«

»Vor einiger Zeit war dir das noch egal«, erwiderte Viktor.

»Touché!« Lopez lachte und warf ihm die Schlüssel zu. Viktor fing sie auf, registrierte, dass es ihm mühelos gelang, griff nach seiner Tasche, hängte sie sich über die Schulter und ging auf den Toyota zu. Lopez wechselte zur Beifahrerseite. Im Vorbeigehen fragte sie: »Bereit?«

Viktor nickte, um die absurde Tatsache anzuerkennen, dass er sich zwar auf dem Weg zu einem Tatort, aber wieder einmal offiziell nicht im Dienst befand. Und wenn es dazu kommen würde, roch es nach stufenweiser Wiedereingliederung. Was Viktor jetzt schon mehr anstrengte als jede Schichtarbeit. Erst vier Stunden, dann acht, dann zwölf am Arbeitsplatz. Unmöglich, auf diese Art zu Ergebnissen zu gelangen. Das reichte gerade mal für einen Schreibtischjob. Aber Viktor hinterfragte schon lang nicht mehr, was Gunnar Scholz, sein Chef beim LKA, wusste oder wollte.

 

Eine zweite Meinung. Ein Gefallen, eine Einschätzung, ein Rat, erinnerte er sich. Lopez hätte Viktor um alles bitten können. Um Geld, um Hilfe, um sein Leben. Und so wiederholte er: »Du musst.« Lopez musste weitermachen. Denn nur zusammen mit ihr ergab seine Präsenz hier am Tatort einen Sinn. Wenn sie nicht mehr konnte oder wollte, was sollte er noch hier? Lopez und er saßen in einem Boot. Der eine funktionierte ohne den anderen nicht. Viktor wünschte sich die ehemalige Normalität mit aller Macht zurück.

Lopez schwieg. Sie lauschten den Geräuschen des Waldes, die heute andere waren. Keine Vögel zwitscherten, kein Laub raschelte, keine Blätter rieben sich im Wind aneinander. Es knisterte gelegentlich. An einigen Stellen gab es noch Schwelbrände. Berlin war nicht verbaut. Berlin zeigte sich als Stadt der Parks, Wälder und Grünflächen. An diesem Ort hatte Schwarz jedoch die Farbe Grün weitgehend abgelöst. Die Feuerwehr löschte noch, tief dort im Forst. Der Wannsee lag per Luftlinie nicht weit weg, die Autobahn schlug unhörbar weiter östlich eine Schneise durch das Gebiet. Das hatte die Straße mit dem Feuer gemein. Laut Einsatzleiter bestand jedoch hier keine Gefahr. Dennoch beobachtete Viktor die Umgebung aufmerksam, als könne ihn etwas hinterrücks überfallen. Aber das sollte nur der Wahrheit gelingen. Wenn er sie endlich erkannte. Nicht jetzt. Nein. Jetzt noch nicht.

»Kranke Scheiße. Wer tut so was?«

Viktor erstaunte die Wortwahl. Und es erstaunte ihn, dass Lopez sich so etwas fragte. Genau wie er hatte sie schon alles gesehen. Und darüber hinaus noch mehr. Gehirnmasse an einer Wohnzimmerwand, Organe in der Küchenspüle. Missbrauchte Frauenkörper, bemalt mit ihrem eigenen Blut auf dem Teppich am Fuß eines Doppelbetts. Zerschmetterte Männerkörper, ausgelaufen und verdreht auf dem Asphalt. Überwachsene Kinderknochen, wie Mikadostäbchen ins Unterholz gestreut. Eingefroren, abgehackt, verwest. Viktor war nichts Menschliches fremd. Der Mensch ist des Menschen Wolf. Dem hatte Viktor nichts hinzuzufügen.

Lopez’ Umfang hatte so drastisch zugenommen, dass Viktor sich fragte, wie sie noch in die Uniform hineinkam. Er selbst trug nie Uniform. Genauso wie er nie eine Waffe mit sich führte, was sein Chef, wenn er es bemerkte, tadelte und abmahnte. Regelmäßig, ohne jeglichen Erfolg. Keiner im LKA Berlin, der sich mit Delikten am Menschen beschäftigte, trug Uniform. Außer Lopez, die daran festhielt wie an einer liebgewordenen veralteten Tradition. Die Uniform hielt Menschen auf Distanz, so wie Lopez selbst es auch tat. Viktor fragte sich außerdem, wie Lopez es in dem dunklen Stoff bei dieser Hitze aushielt. Warum sie überhaupt noch arbeitete.

Berlin ächzte unter den höchsten Temperaturen seit Beginn der Wetteraufzeichnungen. Die allabendlichen Brennpunkt-Sendungen im Fernsehen häuften sich. Der Asphalt auf den Straßen wölbte sich, wurde zäh wie Kaugummi. Der Monat Mai hatte dem Juli den Rang als heißester Monat abgelaufen, obwohl er gerade erst begann. Das Klima spielte völlig verrückt. In der Nähe Moskaus brannte der Torf, Westafrika drohte die größte Dürre seit Jahrzehnten, und in Kalifornien rasten Waldbrände über die Vororte von Kleinstädten hinweg. Schon jetzt am Vormittag maß man in Berlin-Mitte über dreißig Grad. Die Ermittlungen im Berliner Forst erschienen klimatisch vielversprechend. Der Brand relativierte die Situation. Zuerst brennt eine Leiche, dachte Viktor, danach der ganze Wald. Viktor und Lopez hatten die Hitze der Stadt gegen die Hitze des Feuers getauscht. Viktor schwitzte unmenschlich. Sein Shirt klebte ihm am Körper, obwohl die Sonne sich gnädig hinter der Rauchsäule verbarg.

Lopez seufzte und beugte sich nach vorn. Wegen ihres Bauches musste sie sich auf alle viere hinablassen.

»Wann gehst du in Mutterschutz?«

Lopez zögerte. »In zwei Wochen bin ich weg.«

Viktor bemerkte, dass ihr diese Perspektive nicht behagte.

»Da.« Ihr mit Latex geschützter Finger wies auf den Unterleib der Frau. »Das macht mich ganz krank.«

Viktor betrachtete, was sie ihm zeigen wollte. Sein Blick fokussierte, vergrößerte das Bild, zog es heran. Alles okay, ermahnte Viktor sich. Völlig normal. Ich bin nicht mehr verrückt. Sein Interesse wich dem Schock, als er die winzigen Knochen sah, als er die Größe zuordnete, die embryonale Form erkannte, als das verzerrte Bild plötzlich einen Sinn ergab.

Lopez fasste in Worte, was er nun verstand: »Das ist eine Frau, die schwanger war. Es handelt sich nicht um eine Leiche, sondern um zwei. Mutter und Kind.«

2

Warum fahren wir dahin?«, wollte Viktor eine Stunde vorher wissen.

»Gunnar hatte so ein Gefühl.«

Viktor sah Lopez überrascht an. Ihr Chef hatte keine Gefühle. Das besagte Viktors Blick. Gunnar entschied rational, nach Auftrags- oder politischer Interessenlage.

Lopez versuchte zu erklären: »Wann ist in Berlin das letzte Mal in freier Natur jemand verbrannt? Gunnar fand, dass eine Unterstützung durch das LKA nicht schaden könnte.«

Viktor schüttelte den Kopf, als verwundere ihn die Ausdrucksweise genauso wie die Idee. Auch Lopez hatte sich gefragt, warum Gunnar die Gunst seiner Behörde freiwillig gewährte.

Sie fuhren nach Charlottenburg, durch Zehlendorf, über den Wannseebadeweg in den Forst, danach holperten sie über unebene Pfade, bis sie in die Nähe des Tatortes gelangten. Lopez sah in der Ferne noch gelegentliches Blaulicht-Zucken, nahm die Atmosphäre in sich auf. Das gedämpfte Licht, Nadelwald, der sich mit Mischwald abwechselte, und den breiten ungeteerten Pfad.

Lopez bemerkte, dass dies der einzige Platz in Berlin sein musste, an dem die Temperaturen dieses erneut erdrückend heißen Tages erträglich schienen. Aber nun brannte es, und ihre Hoffnungen zerschlugen sich. Doch die Bäume standen nicht eng beieinander, lediglich in einiger Entfernung glommen noch ein paar Astgerippe. Lopez lief mit Viktor über den Waldweg, bis sie eine Lichtung sahen. Groß wie ein Fußballfeld. In ein bis zwei Stunden würde die Sonne, die sich hinter dem schwarzen Qualm verbarg, senkrecht über ihnen stehen. Das Kühle nur noch eine ferne Erinnerung.

Skeptisch runzelte einer der Beamten die Stirn. Das Absperrband hielt er fest in der Hand, als wolle er die Ungestörtheit des Platzes notfalls mit seinem Leben verteidigen. Wenig Personal. Die Kollegen der Schutzpolizei bewachten noch das Areal. Lopez wusste, wo die anderen sich befanden. Sie hatte das mit ihrem Chef geklärt, und Gunnar Scholz zeigte sich ungewohnt verständnisvoll. Die Idee schien ihm sogar einen gewissen Spaß zu bereiten.

Lopez wollte nicht hier sein. Dieser Fall stieß sie ab. Auf eine Art und Weise, die sie von sich nicht kannte. Als verberge er etwas Unheimliches, Böses, das sie zu ignorieren suchte. Aber dadurch würde es nicht verschwinden. Lopez wusste, dass sie sich den Dingen stellen musste, denn sie würden sich nicht in Luft auflösen. Außerdem hielt sie es in ihrer Uniform kaum aus. Sie fühlte sich damit normalerweise wohler als in Zivilkleidung. Die Uniform verschaffte ihr schnellen Respekt. Aber heute hasste sie die Berufskleidung. Es kam ihr vor, als habe jemand sie in den Stoff einlaminiert, das Material mit ihrer Haut verklebt. Sie zückte Marke und Ausweis: Rosa Lopez, Kriminalhauptkommissarin beim Landeskriminalamt Berlin. Der Kollege kniff kurz die Augen zusammen, um die kleine Schrift lesen zu können, dann nickte er ihr zu. Mit einer Bewegung seines Kopfes deutete er auf Viktor: »Und wer ist er?«

Die Frage klang offensiv und defensiv zugleich. Lopez musterte den jungen Kollegen von der Schutzpolizei. Mittlerer Dienst. Ende zwanzig. Sportlich, engagiert, selbstsicher an der Grenze zur Arroganz. Lopez wusste, dass in seiner Frage mehr steckte als nur der Wunsch nach einer Information. Viktor machte seinen Mitmenschen Angst. Sie fürchteten oder mieden ihn. Er war ein gewaltiger Mann. Breitschultrig und groß mit einem Brustkorb wie ein Bison. Obwohl er Gewicht verloren hatte, strahlte er immer noch etwas Bedrohliches aus. Dass Viktor eine Glatze hatte, trug dazu bei, dass ihn Menschen mieden. Obwohl er ein friedlicher Riese war, schien es zunächst unklar, ob er zu den Guten oder den Bösen gehörte. Eine breite, unregelmäßige Narbe zog sich von seiner Schläfe seitlich über den Schädel bis zu seinem rechten Ohr. Die Narbe leuchtete rot, denn die Eingriffe lagen noch nicht lang zurück. Lopez bemerkte, wie sie alle Kraft zusammennehmen musste, um zu überspielen, wie sehr es sie mitnahm, was Viktor in den vergangenen Monaten ertragen musste. Dass sie ihn fast verloren hätte. Sie hatte schon zu vieles in ihrem Leben verloren geglaubt. Die einen gingen, andere kamen, dachte sie. Als sie von ihrer Schwangerschaft erfuhr, schien es ihr gewiss, dass es ein Opfer geben musste. Die einen kamen, andere gingen, wusste sie. Doch überraschend war ihr sogar ein Totgeglaubter wieder geschenkt worden: Luis, ihr Sohn. Und dass Viktor trotz schlechter Prognosen nicht gestorben war, kam ihr wie ein Wunder vor. Aber er sah gezeichnet aus. Er funktionierte wie ein leicht defekter Apparat. Besser als in den Zeiten, in denen er ständig zusammengebrochen war, aber schlechter als früher. Vermutlich hörte er nicht mehr gut. Er bewegte sich nicht harmonisch, sprach noch langsamer als bisher. Aber vielleicht fiel nur ihr das auf, weil sie Viktor schon so lange kannte. Viktor Saizew, ihr ehemaliger Ausbilder, ihr Gegenstück beim LKA. Der Mann, dem sie mehr vertraute als irgendjemandem sonst, mit dem sie ihre positive Fallbilanz jedes Jahr aufs Neue steigerte, der Mann, auf den sie einst geschossen hatte.

Sie wusste, was der junge Kollege von der Schutzpolizei vor sich zu sehen glaubte: ein Wrack. Einen Giganten, der seinen Zenit überschritten hatte. Er machte sich nicht die Mühe, genauer hinzuschauen. Ansonsten hätte er Viktors Stärken erkannt, die Ruhe und unendliche Gelassenheit, Risikobereitschaft, kühles Kalkül, Eigensinn, Mut, Loyalität und der unbedingte Wille, die Dinge zu Ende zu bringen. Koste es, was es wolle. Das machte Viktor aus.

»Ausweis? Sonst kann er nicht durch.« Als sei Viktor ein Ding ohne Namen. Der Kollege schaute nur sie auffordernd an, trotzig, als wolle er seine Kräfte mit ihr messen, als sei Viktor gar nicht da. Als vermeide er es bewusst, ihn nochmals anzusehen.

Eine Bewegung Viktors, die Lopez im Augenwinkel wahrnahm, ließ sie kurz zögern. Sie holte noch Luft, als Viktor sich an ihr vorbeidrängte und vor dem Kollegen aufbaute. Auf ihn hinabsah und nur ein- und ausatmete. Seine Brust hob und senkte sich wie ein Blasebalg. Der Polizist wich ein Stück zurück.

Lopez bemerkte, wie Viktor mit den Schultern rollte, wie er seinen Nacken knacken ließ. Was war los mit ihm? Dass sich die Situation so schnell zuspitzte, überraschte und verwirrte sie. »Er gehört zu mir. Viktor Saizew. Er begleitet mich«, beeilte sie sich zu erklären. Beruhigend legte sie Viktor ihre Hand auf den Arm. Und spürte, wie Viktor bebte. Wie er Wut in körperliche Hitze verwandelte. Als bereite sich ein Vulkan auf einen Ausbruch vor.

»Viktor!« Ihre Stimme klang wie von weit entfernt.

Langsam richtete er sich auf, trat zurück und löste seine Fäuste. Das Gesicht des jungen Beamten bekam wieder Farbe. Aber Lopez erkannte die Angst in seinen Augen und dass er sich jetzt erinnerte.

»Ich habe von Ihnen gehört. Es tut … es tut mir leid«, stotterte er. »Ich dachte, Sie liegen noch im …« Er verstummte, doch sie alle wussten, was er sagen wollte. Koma war das Wort, das alle scheuten.

»Ich bin wieder da. Und ich bin befugt«, behauptete Viktor seelenruhig. Er legte eine leichte Betonung auf »befugt«. Fast beiläufig. Als sei es wahr, als habe er nicht gerade einen Kollegen bedroht.

Der Beamte nickte wortlos und hob das Absperrband an. Sie beugten sich darunter hindurch und bewegten sich über verbranntem Grund auf eine Erhebung zu.

»Was war das?« Lopez betrachtete Viktor argwöhnisch.

Viktor zögerte. Nachdenklich antwortete er: »Keine Ahnung, woher das plötzlich kam.«

In seinen Augen erkannte sie die Überraschung darüber, dass er sich so hatte gehenlassen. Sein Gesichtsausdruck wirkte ehrlich. Lopez kannte Viktor in- und auswendig, so gut wie sich selbst, und musste gleichzeitig zugeben, dass er ihr für einen Augenblick fremd geworden war. Sie stellte fest, dass Viktor zwar als geheilt entlassen worden war, sich aber auf dem besten Weg befand, die Kontrolle wieder zu verlieren.

3

Du musst mitentscheiden. Ihre Leber macht es nicht mehr lang.«

Sie lauschte dem Schweigen in der Leitung.

»Warte kurz!« Sie hielt den Lautsprecher zu, gab Pete zu verstehen, dass es wichtig war, dass sie gleich wiederkommen würde, wandte sich vom Drehort ab, um unter einem Vordach Ruhe und Schatten zu suchen. Ein paar Meter weiter wuselten die Darsteller um Pete herum. Sie holte tief Luft, nahm sich vor, sich nicht aufzuregen, egal, was ihre Schwester von ihr verlangen mochte. »Was hast du gesagt?«

»Wir müssen die Geräte abschalten. Es dauert schon alles viel zu lange.«

Sie lachte kurz auf und fand es lächerlich, dass ausgerechnet ihre Schwester diese Formulierung wählte. Tatsächlich hatte vor allem sie all die Jahre auf einer Vollversorgung bestanden. Evelyn hätte gar nicht sterben können. Selbst wenn sie es gewollt hätte, denn ihre Schwester hatte es einfach nicht erlaubt. Sie konnte den Gedanken nicht ertragen, sie wollte keinen Schlussstrich ziehen. Aber all das sagte sie nicht. »Warum?«, fragte sie stattdessen.

»Ihre Organe versagen. Die Physiotherapie schlägt kaum noch an. Es« – ihre Stimme brach kurz weg –, »es ist schwer mit anzusehen.«

Schwer mit anzusehen. Das war schon immer so. Manche Dinge änderten sich nicht, es sei denn, man änderte sie. Sie seufzte.

»Ich bin mir unsicher, ob sie Schmerzen hat.«

Unsicher. Als hätte sich Evelyn in den vergangenen fünfzehn Jahren je dazu äußern können. Als hätte sie etwas gesagt, gewünscht oder festgestellt. Die Wut, die Verzweiflung, der Hass auf diese Schwester, auf die Welt, darauf, dass sie an ihnen hing wie an einem Heißluftballon der Ballast, den man nicht abwerfen konnte, der einen am Aufsteigen hinderte. Das war ein Fingerzeig. Es musste sein. Evelyns Körper traf endlich seine eigenen Entscheidungen. Und sie würden nur dabei helfen, sie zu unterstützen. »Du bist die Expertin. Das ist deine Welt, deine Verantwortung. Entscheide du!« Sollte sie doch die große Schwester sein! Sie bekleidete die Rolle par excellence. So wie alles an ihr perfekt wirkte. Jede Geste, jeder Satz und jede Tat. Wie einstudiert und mehrfach geprobt. Sie selbst hielt sich fern von Perfektion, denn die erstickte jegliche Originalität.

Es blieb still, ganz still. Außer ihren gemeinsamen leichten Atemgeräuschen. So setzte sie immer jeden in ihrem Umfeld unter Druck. Sie sagte nichts, wartete ab. Damit erzwang sie alles, was sie wollte.

»Dann stell die Maschinen ab!« Sogar für sie selbst klang es wie ein seelenloser Befehl. Allein das Wort »Maschinen«. Herzlos, grausam, pure Mechanik, unaufhaltsam und präzise. Ohne Gefühl. Es entsprach dem Bild, das alle von ihr besaßen.

Die Stimme am anderen Ende klang verunsichert. »Okay. Wenn du das willst.« Eine Pause. »Opa muss ins Heim.«

Der Tag der schlechten Nachrichten. Was würde jetzt noch kommen? Das Schicksal hatte ihre Familie doch schon auffallend dezimiert. Und so fragte sie das, was von ihr erwartet wurde, auch wenn sie die Antwort weder hören noch verstehen wollte. »Wieso?«

»Er hat mich am Wochenende nicht erkannt. Hat sich wieder verlaufen. Ein Polizist hat ihn zurückgebracht. Er wusste nicht mehr, dass die Marmelade früher im Keller stand, wo der Schlüssel dafür lag oder dass wir überhaupt einen Keller haben.«

Für einen Moment knisterte es in der Leitung wie bei einem Ferngespräch. Pete winkte heftig. Etwas Wichtiges musste geschehen sein. Vielleicht war der Caterer unerwartet zu Tode gekommen. Ein Drama, das das ganze Team betraf, das den reibungslosen Ablauf der Dreharbeiten stören würde. Oder der weiße Schoßhund von Barbarella spielte wieder mal verrückt. Er urinierte einfach überall hin oder bellte so laut, dass jedwede Aufnahme unmöglich wurde. Dieser Hund benahm sich wie ein dreimonatiges Kind mit Koliken. Aber Barbarella vergötterte das Tier. Ein Haustier ersetzte ihr das Goldene Kalb. Und Pete verhielt sich wie der Mitarbeiter, zu dem sie ihn erzogen hatte: Er traf keine eigenen Entscheidungen, weil sie das für sich beanspruchte.

»Wir müssen das besprechen. Nicht am Telefon. Du solltest hierherkommen. Du willst sie doch auch bestimmt noch einmal sehen«, hörte sie ihre Schwester sagen.

Sie wollte nichts besprechen, schon gar nicht von Frau zu Frau. Sie wollte niemanden sehen, schon gar nicht sie, die immer schwieg, nur starrte. Stete Anklage, immerwährende Vergifterin ihrer beider Leben. Und das, obwohl sie noch nicht einmal etwas tat. In ihrer Familie wurde Passivität als Waffe eingesetzt.

Pete winkte. Noch deutlicher, heftiger. Mit den Lippen formte er die Worte »jetzt sofort«. Sie sah auf die Uhr, ärgerte sich, weil sie in Verzug geriet. »Hör zu! Ich stecke gerade mitten in einem Dreh. Es tut mir leid, aber es geht einfach nicht. Ich kann nicht kommen. Aber ich melde mich.«

Sie legte auf. Etwas musste ihre Schwester noch erwidert haben, aber sie verstand es nicht. Nickte Pete kurz zu. Barbarella heulte jetzt laut und lamentierte, der Hund kläffte wie von Sinnen, ein Lieferwagen hupte, und der Lärm eines über sie hinwegfliegenden Motorflugzeugs zerriss für einen Moment jeden anderen Ton. Als andere Geräusche wieder an ihr Ohr drangen, erinnerte sie sich an den Ort, an dem sie damals noch die großen Ferien verbrachten. Pete schrie wieder etwas, hob jetzt hilflos die Arme. Dieser Dreh verkam zur Farce. Vielleicht würde sie es sich doch anders überlegen und dorthin fahren. Es war immerhin nicht weit nach Dänemark.

4

Viktor vernahm noch das Echo von Lopez’ Lieblingsfrage.

»Was siehst du?«

Rosa Lopez stellte diese Frage unweigerlich. An jedem neuen Tatort, so sicher, wie die Sonne unterging. So sicher, wie das Klima sich erwärmte, so sicher, wie in der Bundesliga immer nur Bayern München gewann. Die Frage begleitete ihre Arbeit wie der Refrain ein Lied. Diese verlässliche Wiederholung beglückte ihn. Rosa Lopez, seine natürliche Ergänzung, seine Schülerin, jetzt Kollegin, die Frau, die besser schoss als alle anderen beim LKA. Die eine natürliche Begabung besaß, den Dingen auf den Grund zu gehen. Minutiös, akribisch in der Sorgfalt, die sie aufbrachte, um einen Mord aufzuklären. Rosa Lopez, die eine Buchhalterin des Todes war, wenn es darum ging, nach Ursachen zu forschen und diese zu verstehen. Sie übersah nicht ein Detail, nicht eine Zahl, rechnete stets ein korrektes Ergebnis ab. Rosa Lopez, von der ihn jahrelang Welten getrennt hatten, weil nur ein Gedanke sie beseelte: Rache an demjenigen zu üben, der ihr den Sohn genommen hatte. Obwohl sie täglich gemeinsam daran arbeiteten, Unrecht wiedergutzumachen und das Recht durchzusetzen. Sie wahrten höflich Distanz zueinander und standen sich doch näher als manches Ehepaar. Symbiotisch und doch zwei, verschieden und doch gleich. Sie erkannten sich im jeweils anderen.

»Bereit?«, fragte sie zum zweiten Mal an diesem Tag.

War er bereit? Viktor wusste es jetzt nicht mehr genau. Ein kurzes Zittern überkam ihn, das sich bis in seine Fingerspitzen fortsetzte. Aber die ihm so vertraut gewordenen Wahrnehmungsstörungen blieben aus: Farben und Formen veränderten sich nicht. Nichts zerfloss oder dehnte sich, alles blieb im Gleichgewicht. Die Knochen vor ihm sahen genauso schwarz aus wie die Wolke am Himmel. Er schwankte nicht, das Zittern ebbte ab, und Viktor schob die kurze Unsicherheit einfach auf die Nebenwirkungen der Tabletten, deren Einnahme er zu oft vergaß. Ich bin gesund, sagte er sich. Ich bin nicht mehr verrückt.

»Nehmen wir an, es wäre Mord gewesen.«

Lopez nickte. »Gut. Nehmen wir mal an …« Doch bevor er weitersprechen konnte, fügte sie hinzu: »Ganz ehrlich: Was wären wir ohne Morde? Nutzlos, überflüssig, auf dem Abstellgleis. Wir sind abhängig von Tötungsdelikten. Sonst wären wir arbeitslos.« Lopez seufzte. »Schon mal darüber nachgedacht?«

Viktor hatte diesen Gedanken schon hundertmal gewälzt. Diese Überlegungen gereichten niemandem zur Ehre. Tatsache war: Ermittler brauchten Morde wie ein Bäcker Mehl, um Brot backen zu können. Ohne Opfer keine Ermittlungen. Es war ein trauriger Konflikt. Doch jemand musste sich mit diesen Verbrechen beschäftigen und sie aufklären, die Täter verfolgen. Darin bestand die Berechtigung ihres Berufsstandes. Es erschien Viktor einfach und kompliziert zugleich, weshalb er log und den Kopf schüttelte.

Lopez zog die Augenbrauen zusammen. Sie glaubte ihm kein Wort, deshalb beeilte er sich, zu ergänzen: »Einer muss es schließlich tun. Zum Beispiel du. Zum Beispiel ich.«

Lopez schwieg. Bis sie leise bemerkte: »Früher habe ich mich damit besser gefühlt.«

Viktor versuchte abzulenken. »Handy, Ausweis?«

»Nein. Noch nicht. Vielleicht mit den Leichen verschmolzen oder durch das Feuer zerstört. Aktuell nichts, womit wir arbeiten könnten.«

»Ihr Mann oder ihr Freund«, sagte Viktor nachdenklich. Keine Frage, eine Feststellung.

»Das denke ich auch«, stimmte Lopez zu.

»Sie liegt hier wie ausgestellt.«

»Sie liegen hier wie ausgestellt«, korrigierte sie ihn. Lopez hatte recht. Von zwei Menschen zu sprechen, das fiel Viktor seltsam schwer. »Diese Wut, die Frau und das Kind noch zu verbrennen. Sie auszulöschen bis zur Unkenntlichkeit.«

»Wut oder Hilflosigkeit«, ergänzte Lopez ruhig.

»Gibt es da einen Unterschied?«

Lopez antwortete nicht, weil sie wusste, dass er die Frage rein rhetorisch stellte. Viktor dachte an das Benzin. »Wenn er den Kanister mitgebracht hatte, war es heimtückischer Mord.« Bisher galt jede Theorie nur als Hypothese.

»Wenn es einen Ehemann gibt, wusste er von dem Kind«, warf Lopez ein. Sie sammelten ihre Eindrücke, glichen Wahrnehmungen miteinander ab.

»Warum?«, hakte Viktor nach.

»Bei einem Fötus dieser Größe konnte man bestimmt gut sehen, dass sie schwanger war.«

Viktor akzeptierte diese Theorie zunächst ohne Widerspruch. »In welchem Monat war sie wohl?«

»Sechster bis neunter Monat, würde ich schätzen. Genaueres weiß sicher die Rechtsmedizin.«

Lopez erwartete selbst gerade ein Kind. Für Viktor klang es, als würde eine Expertin sprechen.

»Vielleicht wollte er das Kind nicht haben.« Lopez sah weg.

Des Menschen Wille ist sein Himmelreich, kam es Viktor in den Sinn. Nicht, dass er das Sprichwort je verstanden hätte. »Vielleicht war das Kind von einem anderen. Und er wollte zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen«, ergänzte er nachdenklich und wunderte sich über Menschen und Himmelreiche.

»Dann ist es garantiert der Ehemann.« Lopez stellte es fest wie die Pointe eines müden Witzes, über die niemand mehr ernsthaft lachte.

Der Ehemann hatte den Butler und den Gärtner abgelöst. Auch Ermittlungsklischees wandelten sich zeitgemäß. Dennoch garantierte die Annahme laut Statistik eine hohe Trefferquote: Der Täter war tatsächlich häufig der Ehemann.

Ein Surren näherte sich. Der Lärm schwoll zu einem lauten Motorengeräusch an. Ein Flugzeug kreuzte die Rauchsäule und hielt im Tiefflug auf sie zu. Die Lichtung erstreckte sich weitläufig. Das Feuer hatte den Wald zusätzlich gelichtet, so dass Viktor die kleine Propellermaschine früh erkannte. Die Geier kamen schnell näher, wenn das Aas lang genug am Boden lag. Wenn die Meldungen über die sozialen Medien die Runde machten. Ein paar Kiffer hatten die Leiche entdeckt. Der weithin sichtbare Rauch des Feuers zog bald schon weitere Menschen an, obwohl es noch früh am Morgen war. Aber wer schlief bei dieser Hitze schon? Glücklicherweise reagierte die Feuerwehr rasch und sperrte den Brandherd weiträumig ab. Noch waren die Flammen nicht ganz gelöscht. Aber zuvor hatten die Kiffer schon ein paar Selfies mit der verkohlten Leiche gemacht. Der erste Schock wich Übersprungshandlungen. Viktor waren diese Gefühlsausbrüche auch ohne Drogenkonsum vertraut. Nicht selten lachten Zeugen abrupt, wenn der Tod in ihr Leben einbrach. Der Humor widersetzte sich dem Ernst, bis Trauer ihn erstickte. Die Belustigung, die doch alle beschämen sollte, diente als Ventil, mit dem Unbegreiflichen umzugehen. Und das war der Tod immer, wenn er geschah. Unfassbar. Und fremd.

Nun kreisten die Geier wieder, irgendwo auf Twitter, WhatsApp oder Instagram zogen sie ihre Kreise. Dort betrachteten die Ersten bereits die Schnappschüsse und rätselten, ob sie echt sein konnten, oder kommentierten sie ohne jegliche Skrupel. Je grausamer der Mord, desto schneller die Verbreitung. Meistens kursierten die ersten Beschreibungen, Urteile und Fotos schon, bevor das LKA überhaupt den Tatort erreichte. Die NSA war längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Jeder betätigte sich als Lauscher, als Voyeur. Nur selten generierte sich daraus Hilfreiches für die Polizeiarbeit. Neugierde tarnte sich als Informationsbedürfnis. Privates und Diskretion wirkten so antiquiert wie Relikte aus der Eisenzeit.

Viktor schirmte seine Augen mit den Händen ab und duckte sich unwillkürlich. Erst kurz vor ihm zog der Pilot das Flugzeug wieder hoch. Viktor bildete sich ein, das Öffnen des Linsenverschlusses hören zu können. Eigentlich unmöglich, und dennoch wusste er, dass es geschah. Klick, klick, klick! Serienaufnahmen. Der scharfe Windzug wirbelte die Asche auf. Verdammter Idiot, dachte Viktor, während Aggression erneut in ihm aufwallte. Menschliche Partikel wirbelten über der Leiche in einer feinen Wolke durch die Luft. Er konnte sich die abschätzigen Kommentare von Detlev aus der Kriminaltechnik förmlich vorstellen.

»Erst die Selfie-Idioten, jetzt zieht die Presse nach. In Kürze werden wir bekannter als bunte Hunde sein. Wir sind geliefert, bevor die Ermittlungen überhaupt begonnen haben«, stellte Lopez verärgert fest. Nicht nur das Feuer, auch die Nachrichten verbreiteten sich wie ein Flächenbrand. »Dieser Fall genießt jetzt schon zu viel Aufmerksamkeit!« Sie schirmte ihren Mund vor der Aschewolke ab und trat ein paar Schritte zurück.

Viktor wunderte es, dass Lopez sich so aufregte. Dass sie seinen Ärger spiegelte. Er verstand jedoch, was sie meinte. Weil sie jetzt noch mehr Druck bekommen würde. Nicht nur von Gunnar. Auch von der Öffentlichkeit. Dass sie sich vielleicht noch mehr als sonst beeilen mussten. Aber Eile machte nachlässig. Nichts fürchteten Ermittler mehr als die eigene Nachlässigkeit. Viktor wischte sich mit dem Handrücken über die feuchte Stirn. Nachdem das Motorengeräusch verklungen war, wog die Stille schwer.

»Wer ist diese Frau?«, murmelte Lopez resigniert.

Viktor konnte nur mit den Schultern zucken. Er hoffte, dass jemand bemerkte, dass sie verschwunden war. Dass jemand sie vermisste. Denn sie hatten keinerlei Anhaltspunkte. Keinen Hinweis, keine Anlaufstelle, nicht mal eine Idee.

5

Echarf. Sehr scharf,