Joseph Roth in Berlin

Ein Lesebuch für Spaziergänger

Herausgegeben von Michael Bienert

Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co. KG

Kurzübersicht

Inhaltsverzeichnis

Über Josef Roth und Michael Bienert

Joseph Roth, 1894 in Brody (Galizien) geboren, studierte Literaturwissenschaften und Philosophie in Lemberg und Wien. Teilnahme am Ersten Weltkrieg. Ab 1918 Journalist in Wien, dann in Berlin, 1923–1932 Korrespondent der Frankfurter Zeitung. 1933 Emigration nach Frankreich. Er starb 1939 in Paris.

 

Michael Bienert, geb. 1964, arbeitet seit 1990 als Stadtführer für »StattReisen Berlin«. Zahlreiche Veröffentlichungen – Reportagen, Kritiken, Essays – in überregionalen Zeitungen.

Über dieses Buch

Wenige Autoren haben das Berlin der 20er-Jahre so scharfsichtig und zugleich umfassend beschrieben wie Joseph Roth. Der Stadtführer und Publizist Michael Bienert ist seinen Spuren nachgegangen und hat ein Lesebuch zusammengestellt, mit dessen Hilfe sich das Berlin der 20er-Jahre in der Stadt von heute auffinden lässt.

Zahlreiche historische Abbildungen zeigen, was Roth damals gesehen hat. Eine ausführliche Einleitung, kurze Kommentare zu Joseph Roths Texten, ein Adressverzeichnis und ein Ortsregister machen das Buch zu einem nützlichen und außergewöhnlichen Begleiter auf Entdeckungsreisen durch Berlin.

Impressum

Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.

 

Erschienen bei KiWi Bibliothek

© 2018 Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln

 

Covergestaltung: Rudolf Linn, Köln

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

 

 

Impressum der Reprint Vorlage

ISBN (eBook) 978-3-462-41183-6

»In Berlin friert man schon bei plus 15 Grad Celsius«
Eine Reise durch die 20er-Jahre mit Joseph Roth

Warnung

Es gehört zu den Alltagserfahrungen im Berlin der 90er-Jahre, vom einen auf den anderen Tag nicht mehr vorzufinden, was scheinbar unverrückbar auf seinem Platz stand. Der folgende Text ist 1996 geschrieben worden. Ein Jahr später haben manche Passagen sich bereits in Zeitdokumente verwandelt: Von der Hochbahnstation Gleisdreieck (vgl. S. 30) aus ist bereits die neue Stadtsilhouette am Potsdamer Platz zu sehen, und das Panoptikum im Ku’damm-Eck (vgl. S. 37ff.) ist verschwunden. Die Leser mögen es mir bitte nicht übel nehmen, dass ich die Sisyphosarbeit scheue, den Text von Auflage zu Auflage den je aktuellen Gegebenheiten anzupassen. Erstens wird das Wesentliche von den dramatischen Veränderungen im Stadtbild gar nicht berührt. Zweitens werden es aufmerksame Spaziergänger zu schätzen wissen, wenn sie das, was sie sehen, nicht nur mit dem vergleichen können, was Joseph Roth sah, sondern überdies mit dem, was ich Mitte der 90er-Jahre gesehen und wichtig genommen habe.

I. Journalist in Berlin

Joseph Roth hat Berlin nicht gemocht. Seine Bindungen an die Stadt waren geschäftlicher Natur. Er kam im Sommer 1920 nach Berlin, um als Journalist Geld zu verdienen und Karriere zu machen. Beides gelang. In Berlin stieg er rasch zu einem der bestbezahlten Journalisten der Weimarer Republik auf. Hier fand er Verleger für seine ersten Bücher. Als Gegenleistung trug er zum damaligen Glanz Berlins als Literaturmetropole bei, und er hinterließ der Stadt einen Fundus von Texten, deren unschätzbarer Wert für ihr historisches Gedächtnis erst allmählich erkannt wird.

In Nazideutschland wurden die Bücher des jüdischen Schriftstellers verboten, und sein journalistisches Werk versank in Vergessenheit. Dass die großen Romane, durch die sein Name nach dem Krieg ins Bewusstsein der literarischen Öffentlichkeit zurückkehrte, zuerst in Berlin gedruckt worden waren, wurde leicht übersehen. Es entstand der noch immer nachwirkende Eindruck, Berlin habe in Roths Leben und Werk lediglich eine Nebenrolle gespielt. Sein Name wird eher mit Wien und Paris in Verbindung gebracht. Städte, die er liebte und die er mit größerer Zärtlichkeit beschrieb.

Erst in den letzten fünfzehn Jahren wurde Roths journalistisches Werk aus zerfallenden Zeitungsbänden geborgen. Seit Kurzem liegt eine Bibliografie vor, die mehr als 1300 gedruckte Beiträge auflistet. Berlin bildet in diesem Œuvre einen topografischen und thematischen Schwerpunkt. Keinen anderen Ort hat Roth vergleichbar umfassend beschrieben. In der Auseinandersetzung mit diesem ungeliebten Stoff ist er in den frühen 20er-Jahren gewachsen, an ihm hat sein Stil an Härte und seine Zeitkritik an Schärfe gewonnen.

In Wien hatte Roth zuvor bereits Erfahrungen als Journalist sammeln können. Seit dem Frühjahr 1919 verdiente er seinen Lebensunterhalt als Mitarbeiter der Zeitung Der neue Tag. Wegen der Wirtschaftskrise nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg ging das Wiener Blatt nach nur 13 Monaten ein. Ihren Literaturredakteur Alfred Polgar, den Großmeister der kleinen Form, sah Roth bald darauf in Berlin wieder. Der riesige, breit gefächerte Zeitungsmarkt der Stadt bot einem ganzen Heer von Journalisten ein Auskommen.

Binnen weniger Wochen gelang es Roth, sich einen festen Platz in einer Tageszeitung mit linker Tendenz, der Neuen Berliner Zeitung, zu erschreiben. Nach damaligen Begriffen handelte es sich um ein Boulevardblatt, nach heutigen um eine durchaus anspruchsvolle Zeitung. Karrierebewusst, wie er war, knüpfte Roth Kontakte zur Konkurrenz und wurde Anfang 1921 beim Berliner Börsen-Courier angestellt, einer Zeitung, die ein ähnlich hochkarätiges Feuilleton pflegte wie die Flaggschiffe der bürgerlichen Presse, das Berliner Tageblatt und die Vossische Zeitung. Roth publizierte auch im sozialdemokratischen Vorwärts und anderen linken Blättern. 1923 erreichte er das höchste Ziel, das es damals für einen Journalisten mit literarischen und zeitkritischen Ambitionen geben konnte. Er wurde Feuilletonkorrespondent der Frankfurter Zeitung, die, wie andere überregionale Blätter, eine Berliner Außenredaktion in der Nähe des Regierungsviertels unterhielt.

Vom Feuilleton wurde damals mehr verlangt als heute. Die Kulturberichterstattung spielte lediglich eine untergeordnete Rolle. Aktuell zu sein war Sache der Nachrichtenredaktion. Im bürgerlichen Feuilleton erwarteten die Leser literarische und essayistische Texte von zeitlosem Wert. Roth machte sich diesen Anspruch zu eigen. »Auf einer halben Seite gültige Dinge sagen« – so hat er 1921 die Aufgabe des Feuilletonisten definiert. Dabei war ihm bewusst, dass die Rubrik »unter dem Strich« den hohen Anspruch oft genug verfehlte und nur unterhaltsame Sonntagsplauderei ohne geistigen Nährwert zu bieten hatte.

Er verteidigte das Feuilleton gegen die heftige Kritik, die Karl Kraus übte: Man könne nicht die ganze Institution und das Genre des Feuilletons verwerfen, bloß weil viele Autoren ihren Lebensunterhalt mit dem Wiederkäuen literarischer Klischees bestritten, so Roth. In seinem eigenen Schreiben überführte er Elemente der Wiener Feuilletontradition – den subjektiven Blick auf das scheinbar Nebensächlichste, die Lust an der Sprachartistik – in die damals moderne, ja modische Form der literarischen Reportage. Dabei bediente er sich verschiedener Rollen und Perspektiven: der des Flaneurs, des Plauderers, des Berichterstatters, des Satirikers, des Kritikers.

Unter dem Eindruck der großstädtischen Lebenswirklichkeit und der Geschwindigkeit des gesellschaftlichen Wandels in den 20er-Jahren bestimmte Roth die Rolle der Institution Feuilleton neu. 1925 schrieb er in einem Brief an die Frankfurter Zeitung:

»Das Feuilleton ist für die Zeitung ebenso wichtig wie die Politik und für den Leser noch wichtiger. Die moderne Zeitung wird gerade von allem anderen, nur nicht von der Politik geformt werden. Die moderne Zeitung braucht den Reporter nötiger als den Leitartikler. Ich bin nicht eine Zugabe, nicht eine Mehlspeise, sondern die Hauptmahlzeit. … Mich liest man mit Interesse. Nicht die Berichte aus dem Parlament, nicht die Telegramme … Ich mache keine witzigen Glossen. Ich zeichne das Gesicht der Zeit. Das ist die Aufgabe einer großen Zeitung.«

Das Gesicht der Zeit zeichnen, hieß für Roth alles andere, als einfach nur Tatsachen nachzujagen, um sie aufzuschreiben. Reportagen, die nur rapportierten, also eine bloß zufällige Abfolge von Ereignissen nacherzählten, kritisierte er scharf. Seiner Meinung nach verfehlten sie die Wirklichkeit, die sie einzufangen vorgaben. »Das Ereignis ›wiederzugeben‹ vermag erst der geformte, künstlerische Ausdruck, in dem das Rohmaterial enthalten ist wie Erz im Stahl, wie Quecksilber im Spiegel«, heißt es 1930 in einer Positionsbestimmung unter dem Titel Schluss mit der »Neuen Sachlichkeit!« Eine Synthese aus Tatsachenkenntnis und Sprachkunst forderte Roth vom Tagesjournalisten genauso wie vom Romancier.

Als Journalist führte Roth ein Doppelleben. Vordergründig tat er dasselbe wie die meisten seiner Berufskollegen. Er schrieb über alle möglichen Themen, er passte sich an das jeweilige Blatt an, er benutzte unterschiedliche journalistische Formen, er wechselte ständig die Perspektive und arbeitete von Tag zu Tag. Aber er ging darin nicht auf. Immer ist die Anstrengung fühlbar, von der Beobachtung ausgehend durch Beschreibung zu weitergehenden Aussagen zu gelangen: über das Wesentliche am Beobachteten, über seine soziale, politische oder philosophische Dimension, über den darin sich ausdrückenden Geist der Zeit.

Der junge Roth war sehr neugierig und ehrgeizig. Die Millionenstadt Berlin, ihre Unüberschaubarkeit, ihr atemberaubendes Entwicklungstempo und ihre sozialen Gegensätze boten nicht nur einen unerschöpflichen Stoff, sie waren auch die denkbar größte Bewährungsprobe für einen werdenden Schriftsteller. Roth hat diese Herausforderung angenommen. Er hat Berlin verabscheut, aber das hat ihn nicht gehindert, die Stadt bis in ihre abgelegensten Winkel, in die sich sonst kaum ein Reporter verirrte, zu erforschen. Egal, ob ihm passte, was er sah, oder nicht: Er setzte sich schreibend damit auseinander. Seine Texte lassen sich im Nachhinein zu einem überraschend vollständigen und stimmigen Gesamtbild des damaligen Berlin zusammensetzen. Dieses Bild besticht einerseits dadurch, dass Roth wichtige Facetten des Stadtlebens überliefert, mit denen sich sonst kaum ein Autor von seinem Rang auseinandergesetzt hat; andererseits durch seine skeptische Perspektive auf die großen Themen jener Zeit: den Berliner Verkehr, das Tempo, das Kino, die literarische Szene, die »Neue Sachlichkeit« in den Lebensstilen und der Architektur.

Das Berlin der 20er-Jahre existiert im heutigen Bewusstsein von Berlinern und Nichtberlinern als ein Bild, dessen falscher Glanz mit der Gegenwart der Stadt wenig gemein zu haben scheint. Trotzdem – oder gerade deshalb – ist es ein mächtiges Bild, eines, dem das geteilte Berlin nachtrauerte und das heute den Mangel eines neuen, zeitgemäßen Leitbildes für die Stadt kompensieren hilft. Die absurde Legende von den »goldenen« 20er-Jahren geistert noch immer durch die Köpfe, obwohl kaum eine Periode der Stadtgeschichte so gut erforscht ist. Ihr Mythos sagt viel aus über die Sehnsüchte der Gegenwart, aber nur wenig über die Wirklichkeit der Vergangenheit.

Daneben gibt es versteckte, unbeachtete und überraschende Korrespondenzen zwischen dem Damals und dem Heute. Ein Weg, sie aufzufinden, besteht darin, die Wege nachzugehen, die Menschen früher einmal in der Stadt zurückgelegt haben. Literarische Texte und historische Fotografien erlauben es, heute noch existierende Orte aus der Sicht längst Verstorbener zu betrachten. Wer das eine Weile versucht hat, wird auch die heutige Stadt mit anderen Augen sehen. Umso mehr, wenn er sich einem so blickbegabten, hellsichtigen und geistreichen Führer anvertraut wie Joseph Roth. – Versuchen wir also, ihm zu folgen.

Volksbühne und Bülowplatz (der heutige Rosa-Luxemburg-Platz) 1935. Rechts das Liebknechthaus und das Kino Babylon.

II. Im Scheunenviertel: Pogrome und Straßenkampf

Wenn es Nacht wird über der Volksbühne, gehen drei hellblaue Leuchtbuchstaben am Großstadthimmel auf. OST steht über dem mächtigen Theater, das den Rosa-Luxemburg-Platz wie ein gestrandeter Panzerkreuzer beherrscht. Die Schrift signalisiert: Wo Osten ist, soll nicht Westen sein. Hier gelten andere Gesetze. Auf dieser Bühne wird für das ringsum lebende Ostvolk gespielt.

Das Zeichen auf dem Schnürboden des Theaters markiert ein Traditionsbewusstsein, das in den gemeinsamen Erfahrungen gewesener DDR-Bürger wurzelt, dessen Ursprung aber sehr viel weiter zurückreicht. Schon in den 20er-Jahren zählte der Rosa-Luxemburg-Platz zum »Osten«. Damit waren die endlosen Armutsquartiere gemeint, in die sich Bürger aus dem reicheren Westen kaum hineintrauten. Über dem Portal der Volksbühne prangte die Parole: DIE KUNST DEM VOLKE. Drinnen probte Erwin Piscator neue Formen des politischen Theaters. 1926 verlegte die KPD ihr Hauptquartier ins benachbarte Liebknechthaus, die heutige Parteizentrale der PDS. Der Platz vor der Volksbühne wurde zum Aufmarschplatz politischer Demonstrationen und, wie Carl von Ossietzky schrieb, »die klassische Berliner Arena erbitterter Partisanenkämpfe«.

Beim Gedanken an die Endzeit der Weimarer Republik, als sich hier Kommunisten erbitterte Schaukämpfe mit den Nazis lieferten, wird manchem PDS-Kämpfer immer noch warm ums Herz. Die Straßenschlachten beschäftigten noch Anfang der 90er-Jahre das Berliner Landgericht. Dort musste sich Erich Mielke seiner Vergangenheit stellen – nicht wegen seiner Verbrechen als Stasichef der DDR, sondern weil er als junger Rotfrontkämpfer an der Ermordung von zwei Polizisten beteiligt war.

Die tödlichen Schüsse fielen im August 1931 vor dem Kino Babylon. Ein typischer 20er-Jahre-Bau mit langen Fensterbändern und abgerundeten Ecken, von Hans Poelzig als Teil eines Kulturforums entworfen. Die alte Kinoorgel funktioniert noch. Aber der Hauptsaal ist wegen Baufälligkeit gesperrt. Ein Notkino im Foyer zeigt öfters Stummfilme, so wie sie in den 20er-Jahren zu sehen waren, in sorgsam rekonstruierten Fassungen mit Klavierbegleitung.

Joseph Roth kam häufig zum Rosa-Luxemburg-Platz, der damals noch anders hieß: Bülowplatz. Er stellte sich hinter die Auslagen eines fliegenden Buchhändlers und studierte die literarischen Neigungen der Berliner. Oder er besuchte die sonntägliche Märchenvorstellung eines fahrenden Marionettenspielers gleich neben der Volksbühne. Manchmal betrat er das Theater in einer Rolle, die ihm überhaupt nicht lag: als Theaterkritiker.

Wie Brandeis, eine Figur aus seinem Berliner Roman Rechts und links (1929), verabscheute er das moderne Regietheater. Beim Abfassen von Theaterkritiken versagte sein feuilletonistischer Esprit. Die Anstrengungen zeitgenössischer Regisseure wirkten auf ihn, den scharfen Beobachter, unwirklich neben dem Schauspiel, das sich rund um die Volksbühne bot. Der Vorplatz und die angrenzenden Straßen dienten als Straßenbörse und Rummelplatz. Der exotische Basar setzte sich in den übervölkerten Gassen des Scheunenviertels fort. Alte Kleider, frisches Geflügel und fromme Bücher wurden in den Hauseingängen feilgeboten. Orthodoxe Rabbis mit ihrem Gefolge mischten sich unter jüdische Zigarettenarbeiter, Prostituierte, Handwerker. Razzien gegen Schieber und Ausländer ohne Aufenthaltserlaubnis waren an der Tagesordnung.

Der Begriff Scheunenviertel bezeichnete damals wenige Straßenzüge, in denen zahlreiche Juden aus Osteuropa Zuflucht gefunden hatten: Hirtenstraße, Grenadierstraße (heute Almstadtstraße), Dragonerstraße (heute Max-Beer-Straße), Münzstraße und Schendelgasse. Das ursprüngliche Scheunenviertel existierte Anfang der 20er-Jahre schon nicht mehr. Seinen Namen hatte es von den Scheunen, die nach einer Feuerverordnung von 1672 gebaut wurden, um brennbare Materialien aus Berlin auszulagern: dahin, wo heute die Volksbühne steht. Es fiel der Hauptstadtplanung der Kaiserzeit zum Opfer. Die armen Leute, die seit dem 19. Jahrhundert in den engen Scheunengassen lebten, sollten verschwinden. Zwischen 1903 und 1908 kaufte die Stadt 119 Häuser auf, um sie abzureißen. Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges und der Eröffnung der Volksbühne im Dezember 1914 stockte die Neubebauung. Erst 1926 wurde nach Hans Poelzigs Plänen weitergebaut. Aus der Zwischenzeit stammen Roths Beobachtungen.

Besonders in der ersten Zeit nach seiner Ankunft fühlte er sich vom Scheunenviertel stark angezogen. Mit den Einwanderern, die hier lebten, verband ihn die gemeinsame Herkunft. Roth war in Brody aufgewachsen, einer überwiegend von Juden bewohnten Stadt an der österreichischrussischen Grenze. Brody war seit 1881 Durchgangsstation für jüdische Auswanderer, die vor Pogromen in Russland geflohen waren. Viele blieben im Berliner Scheunenviertel hängen, weil das Geld oder die Papiere fehlten, um über Hamburg nach Amerika weiterzureisen. In übervölkerten jüdischen Herbergen lernte Roth ihr Flüchtlingselend kennen. Für die Neue Berliner Zeitung schrieb er darüber in einer Mischung aus Anteilnahme und professioneller Distanz, die seiner Doppelrolle als Schicksalgenosse und Zeitungsreporter entsprach.

Anfänglich schildert er das Scheunenviertel als vitale, schillernde Ghettowelt, doch dieses Bild verdüsterte sich rasch. In seinem 1927 erschienenen Buch Juden auf Wanderschaft ist daraus ein Ort geworden, den kein Ostjude freiwillig aufsucht, ein Transitraum ins Nirgendwo. »So traurig ist keine Straße der Welt«, schreibt Roth über die Hirtenstraße. »Der Versuch, diese Berliner langweilige, so gut wie möglich sauber gehaltene Straße in ein Ghetto umzuwandeln, ist immer wieder stark. Immer wieder ist Berlin stärker. Die Einwohner kämpfen einen vergeblichen Kampf. Sie wollen sich breit machen? Berlin drückt sie zusammen.«

Sozialen Druck spürten die Bewohner des Scheunenviertels auf vielfältige Weise. Anfang der 20er-Jahre war die sogenannte »Ostjudenplage« Gegenstand erregter Debatten im preußischen Landtag. Die Asylsuchenden wurden von antisemitischen Politikern für Ernährungsengpässe und Wohnungsmangel verantwortlich gemacht. 1921 wurden Sammellager für Ausländer ohne Aufenthaltserlaubnis eingerichtet, die im Dezember 1923 nach Presseberichten über die skandalöse Behandlung der Insassen wieder aufgelöst werden mussten. Am 5. und 6. November 1923 kam es im Scheunenviertel zu brutalen Plünderungen, nachdem rechte Agitatoren Erwerbslose vor dem Arbeitsamt in der Alexanderstraße gegen die Ostjuden aufgehetzt hatten. Diesen Pogrom hat Bernhard Wicki in seiner Verfilmung von Roths Romanerstling Das Spinnennetz (1923) nachgestellt: Geschäfte werden gestürmt, Existenzen zertrümmert, armen Juden werden die Kleider vom Leib gerissen, in der Annahme, beim Auftrennen der Nähte versteckte Devisen zu finden.

Als Hauptstraße der Ostjuden galt die Grenadierstraße, die heutige Almstadtstraße. Doch nur etwa ein Drittel der Bewohner waren Juden, und seit Mitte der 20er-Jahre ging ihr Anteil kontinuierlich zurück. Viele Zuwanderer wurden abgeschoben, manchem gelang der Sprung nach Amerika, etliche wurden Berliner. Was blieb, war der Mythos vom jüdischen Schtetl in der Stadt: »Amerikareisende, die New Yorks Bowery genau studiert haben, kommen nach Berlin, lassen sich durch das jüdische Viertel führen und sind enttäuscht, hier nichts Gleichartiges zu finden. So wie den Amerikareisenden geht es zuweilen den Berlinern aus anderen Bezirken auch.« Das Zitat beschreibt die Erfahrung mancher Touristen von heute – aber es stammt aus dem Israelitischen Familienblatt vom 13. August 1931.

Für Joseph Roth verwandelte sich die Grenadierstraße in die Klagemauer, an der er das Schicksal der Ostjuden betrauerte. Er selber war ein Assimilant, einer, der im bürgerlichen Westen Karriere machte. Er spürte, dass das in Deutschland ein immerzu gefährdeter Status war. In seinen Veröffentlichungen beschrieb er den Weg der Assimilation als Selbstverlust. Je weiter er sich von der ostjüdischen Welt, aus der er herkam, entfernte, desto stärker verklärte er sie. In Not geraten, suchte er Rettung beim Glauben seiner Kindheit. So schickte er 1930 seinen Freund Stefan Fingal aus der Charlottenburger Grolmanstraße ins Scheunenviertel, um einen chassidischen Wunderrabbi zu holen. Der fromme Mann sollte Roths Frau Friedel, die an der Seite ihres unsteten Mannes langsam wahnsinnig wurde, den Teufel austreiben. Tagelang unterhielt sich Roth mit dem Rabbi auf Jiddisch über Gott und die Welt. Im selben Jahr erschien Hiob, Roths Roman über den Weg eines frommen Ostjuden nach Amerika.

In der Nazizeit wurden die im Scheunenviertel verbliebenen Juden deportiert und ermordet. Die Nazis tauften den Bülowplatz in Horst-Wessel-Platz um, das Liebknechthaus in Horst-Wessel-Haus, die Weydinger Straße in Horst-Wessel-Straße. Den 1931 vor dem Kino Babylon erschossenen Polizisten setzten sie ein Denkmal.

Nach dem Krieg machte das sozialistische Regime die kommunistische Tradition des Viertels auf Kosten der jüdischen Geschichte wieder sichtbar. Aus dem Horst-Wessel-Platz wurde erst der Liebknechtplatz, dann der Luxemburgplatz. Die Grenadierstraße wurde nach einem kommunistischen Widerstandskämpfer in Almstadtstraße umbenannt. Die Sanierung in den 80er-Jahren verwandelte sie in eine trostlose Wohnstraße, deren Aufgeräumtheit jede Erinnerung erstickt. Zwischen geglätteten Fassaden aus der Gründerzeit stehen Plattenbauten. Es gibt fast keine Geschäfte, und neben den geschlossenen Reihen parkender Autos zeigt sich selten ein Passant. Die Grenadierstraße war erfüllt von Begegnungen, Klatsch und frommen Geschichten – man kann es bei Joseph Roth nachlesen oder in Martin Beradts Roman Beide Seiten einer Straße. Heute ist die Straße stumm, als hätten die Gardinen in den Fenstern die Gewalt von Knebeln.

Manchmal öffnet sich ein Fenster, und über eine vorbeiziehende Touristengruppe ergießen sich ein Schwall Wasser oder antisemitische Pöbeleien. Ein einziger Anwohner verspürte den Wunsch, an die jüdische Geschichte der Straße zu erinnern. Im Hinterhof des Hauses Almstadtstraße 16, das bis 1938 dem Trägerverein der jüdischen Betschule »Ez Chaijm« (»Baum des Lebens«) gehörte, errichtete er ein Denkzeichen: Ein Rasenbeet in der Gestalt eines Davidsterns, mit einem Steinhaufen in der Mitte, wie man sie auf jüdischen Begräbnisplätzen findet.

III. Asyle

In der Nachbarschaft des Scheunenviertels ist auch Franz Biberkopf zu Hause, die Hauptfigur aus Döblins Roman Berlin Alexanderplatz. Als Biberkopf, der wegen Mordes an seiner Geliebten vier Jahre gesessen hat, im Herbst 1927 aus der Haft entlassen wird, kehrt er schnurstracks in sein altes Milieu zurück. Bald nimmt er seine alten Verbindungen zur Unterwelt wieder auf. Sie stammen noch aus der Zeit, in der Joseph Roth in einschlägigen Lokalen die Gebräuche von Einbrechern, Schiebern, Zuhältern und leichten Mädchen studierte.

Am ersten Tag der Romanhandlung wird Biberkopf zunächst von Ostjuden in der Dragonerstraße (heute Max-Beer-Straße) aufgenommen und durch Geschichtenerzählen wieder auf die Beine gebracht. Anschließend geht er ins Kino, dort, wo die Almstadtstraße auf die Münzstraße trifft. An dieser Stelle lässt sich über der Leuchtreklame einer Apotheke heute noch ein geschwungener Schriftzug entziffern: Münz-Theater. Im Hof sind die fensterlose Außenwand des Kinos und der große Ausgang erkennbar. Das ist alles, was von den zahlreichen Kinos in der Münzstraße geblieben ist.

Die kleinen, muffigen Abspielstätten glichen mehr Wärmestuben als Filmpalästen. Sie gehörten zu den Asylen für Unbehauste, die Roth mit Vorliebe aufsuchte und beschrieb. Wie kaum ein anderer Reporter war er in der Lage, sich in die Situation der Ärmsten hineinzuversetzen. Diese Fähigkeit entsprang seinem eigenen Unbehaustsein. Als er sich 1920 auf den Weg nach Berlin machte, soll er seinem Vetter Fred Grübel gesagt haben: »Ich gehe im Sommer nach Berlin, denn im Sommer kann man auf einer Parkbank übernachten und sich an einer Tüte Kirschen satt essen.« Roth wohnte bei Freunden, in Cafés, Pensionen und Hotels. Die Post ließ er an die Adressen der Redaktionen schicken, für die er arbeitete. Nur einmal mietete er in den Berliner Jahren eine Wohnung an, um sie schnell wieder aufzugeben.

Eine der vielen Kaschemmen im Dunstkreis des Scheunenviertels, die er besucht hat, ist heute noch auffindbar. Die vermauerten Bögen im Erdgeschoss des vor Jahren besetzten, jetzt renovierten Hauses in der Neuen Schönhauser Straße 13 lassen die frühere Nutzung als Schankraum noch erahnen. 1891 als Volkskaffeehaus eröffnet, war es Anfang der 20er-Jahre eine polizeibekannte Schieberkneipe. »Café Dalles – das war der Inbegriff alles Schmierigen, Düsteren und Hoffnungslosen … Kleine Diebe, kleine Hehler, Dirnen letzten Ranges und andere dunkle Gestalten verkehrten hier, und jede Razzia brachte der Polizei leichte Beute«, lesen wir im Vorwärts vom 28. Januar 1927. »Aber immer wieder mehr entwickelte sich das Café Dalles zum Zentralsammelpunkt des Berliner Lumpenproletariats, und schließlich musste die Polizei wegen der andauernden Belästigungen der ganzen Anwohner den Betrieb schließen. Monatelang stand das Lokal leer, es schien, als wäre die Stätte verfemt. Im Herbst endlich wagte es ein Unternehmer, in dem langen, korridorähnlichen Raum ein Kino aufzumachen. Vormittags um 9½ Uhr schon beginnt der Betrieb, und das Publikum der Obdachlosen hat dem neuen Unternehmen seine Gunst erhalten.«

Die zentrale Anlaufstelle für Menschen ohne festen Wohnsitz war das städtische Obdachlosenasyl im Bezirk Prenzlauer Berg (heute Städtisches Krankenhaus, Fröbelstraße 15). Der Reporter Roth hat es ebenso aufgesucht wie das Vormundschaftsamt in der Landsberger Allee, das verschwundene Polizeipräsidium am Alexanderplatz, ein Asyl für Künstler in der Klosterstraße, eine Anstalt für Nervenkranke und eine Hundepension in Charlottenburg. Zu seinen bevorzugten Themen gehörte der Überlebenskampf von Ausländern in der Stadt. Er schrieb über Russen, die vor dem Bürgerkrieg in der Sowjetunion geflohen waren, über Armenier, über Chinesen, über einen Azteken und einen indischen Fakir aus dem Passage-Panoptikum in der Friedrichstraße. Die Metropole mit ihrer babylonischen Bevölkerungsstruktur erscheint in seinen Texten als ungeheure Ansammlung von Asylen, in denen keiner recht heimisch wird: »Berlin ist eine Durchgangsstation, in der man aus zwingenden Gründen länger verweilt.«

IV. Unterwegs:
Verkehr, Technik, Architektur

Kurz nach dem Fall der Mauer kam ein Wiener Roth-Forscher nach Berlin, um sich ein Bild vom sagenhaften Tempo der Stadt zu machen. Angewiesen auf die öffentlichen Verkehrsmittel, benötigte er Stunden, um von einer der bekannten Adressen Roths zur nächsten zu gelangen. Es blieb ihm ein Rätsel, wie jener die Wege zwischen seinen Stammlokalen am Kurfürstendamm und den Redaktionsadressen am Potsdamer Platz, in der Zimmer- und Lindenstraße zurückgelegt haben mochte.

Ähnlich erging es allen, die sich während der Teilung Berlins mit der Vorkriegsgeschichte der Stadt beschäftigten. Die zentralen Verkehrsadern waren durchtrennt oder ganz stillgelegt, Knotenpunkte wie der Potsdamer Platz verödet. Nun wird das zerrissene Verkehrsnetz wieder zusammengeflickt. Räumliche Zusammenhänge, die man bloß aus alten Stadtbeschreibungen kannte, sind wieder Alltag.

Ein Schlüsselerlebnis war die Wiedervereinigung der U-Bahn-Linie 2 im Herbst 1993. Die Fahrzeit vom Zoo zum Potsdamer Platz verkürzte sich auf zehn Minuten. Bis zum Alexanderplatz fährt man zwanzig Minuten, auf der Stadtbahn geht es sogar noch schneller. Mit dem Auto ist das auf den verstopften Straßen nicht zu schaffen. Da dort ein Verkehrsinfarkt droht, soll nun das lädierte Berliner S-Bahn-Netz bis zur Jahrtausendwende wieder auf den Vorkriegsstand gebracht werden.

Der moderne Massenverkehr galt seit der Jahrhundertwende als das eigentliche Wahrzeichen Berlins. An Umsteigestationen wie dem Ostkreuz ist das frühere Fluidum der Verkehrsmetropole noch zu spüren. Auch der U-Bahnhof Alexanderplatz gehört dazu: eine gigantische Maschinerie zur reibungslosen Abwicklung von möglichst viel Verkehr in möglichst vielen Ebenen. So stellten sich die Planer der 20er-Jahre einen modernen Weltstadtplatz vor.

Joseph Roth hat den Berliner Verkehr aus sehr unterschiedlichen Blickwinkeln beschrieben. Er setzte sich hinter einen Fahrkartenschalter der Hochbahn und sah einer Verkäuferin lange über die Schulter. Er erzählte die Geschichte eines Mannes, der sich nach fünfzig Jahren Gefängnishaft im Getöse des Verkehrs nicht mehr zurechtfand. Er beschrieb die Erschöpfung von Bahnpassagieren, die während der Inflation aufs Land fuhren und mit Bündeln Brennholz heimkehrten. Er flanierte auch auf der Stadtbahn, blickte auf die vorüberziehenden Mietshäuser und hing seinen Fantasien nach. Und er machte sich über die Maßnahmen der Verwaltung lustig, die sich intensiv bemühte, dem Berliner Verkehr ein noch schnittigeres Aussehen zu verleihen, die 1924 einen Verkehrsturm aus Amerika auf dem Potsdamer Platz aufstellte und Ampeln einführte, um einen nach heutigen Begriffen äußerst spärlichen Autoverkehr zu regeln.

Die unter Intellektuellen damals modische Tempo- und Technikbegeisterung klingt auch bei Roth an, aber nur gebrochen. Er gehörte zu der Generation, die das Zerstörungspotenzial moderner Technik im Ersten Weltkrieg am eigenen Leib erfahren hatte. Die technische Organisation der Millionenstadt beeindruckte und beängstigte ihn. »Er saß auf den Dächern der Autobusse. Er stand vor jedem der hundert grauenhaften hölzernen Pfeile, die in Berlin Richtungen anempfehlen und verbieten. Er besaß die unheimliche Fähigkeit, den unheimlich vernünftigen Wahnsinn dieser Stadt zu begreifen«, heißt es 1927 im Roman Die Flucht ohne Ende. »Sie allein von allen Städten, die ich bisher gesehn habe, hat Humanität aus Mangel an Zeit und anderen praktischen Gründen. In ihr würden viel mehr Menschen umkommen, wenn nicht tausend vorsichtige, fürsorgliche Einrichtungen Leben und Gesundheit schützten, nicht weil das Herz es befiehlt, sondern weil ein Unfall eine Verkehrsstörung bedeutet und die Ordnung verletzt.«

Das Gleisdreieck, Kreuzungspunkt zweier Hochbahnlinien über den riesigen Rangierflächen des Anhalter und Potsdamer Bahnhofs, war Anfang der 20er-Jahre für viele Autoren ein Sinnbild der ganzen Stadt und ein Symbol des technischen Zeitalters. Joseph Roth dichtete ein Bekenntnis zum Gleisdreieck, inspiriert vom Klang der Hochbahnen, die das Eisen der tragenden Konstruktion noch immer zum Klingen bringen. Heutzutage spielt sich auf den ehemaligen Rangierflächen nur noch spärlicher Bahnverkehr ab. Güterzüge transportieren Baumaterial heran. Bagger türmen künstliche Berge auf, damit nebenan am Potsdamer Platz neue Hochhäuser in den Himmel schießen können. Die Organisation des Baugeschehens imponiert, selbst dann, wenn man der neuen Stadt, die da in die alte Stadtmitte hineingepfropft wird, mit Bangen entgegensieht. Widerstreitende Gefühle stellen sich ein, eine Mischung aus Faszination und leisem Grauen angesichts der umgepflügten Erde.

Ähnlich müssen die Hochbahnpassagiere in den 20er-Jahren empfunden haben, wenn sie am Gleisdreieck über eine Eisenbahnlandschaft aus Stahl und Rauch glitten. Roth übersetzt die Gefühlsambivalenz in ein raffiniertes rhetorisches Feuerwerk: Sein Bekenntnis zum Gleisdreieck rühmt die Überlegenheit der Technik über den Menschen, aber so übertrieben, dass es das Gegenteil von Begeisterung weckt.

Nur zu gerne hätte Roth in den Chor der Fortschrittsoptimisten eingestimmt. Das belegen seine Berichte über das erste, nie realisierte Berliner Hochhausprojekt am Bahnhof Friedrichstraße. Doch der Griff nach den Wolken, so erkannte er rasch, diente nicht der Verbesserung der Wohnverhältnisse, sondern dem Geschäft. Auch die Versachlichung der Architektur und des Designs in den 20er-Jahren war vor allem eine Mode, sie signalisierte keinen gesellschaftlichen Fortschritt. Daher gab es für Roth keinen Grund, sich dem Jubel vieler Intellektueller über das Tempo der Zeit und die neue Sachlichkeit Berlins anzuschließen.

V. Am Kurfürstendamm: Literaten-Lokale

Im Restaurant Marché am Kurfürstendamm 15 muss man sich heutzutage selber bedienen. Altberliner Stadtansichten und Porzellanelefanten hinter Glas verschönern die Wände. Aus einer Nische beobachtet der Mann mit dem Goldhelm die Besucher. Im Barockzimmer hängt in einem Goldrahmen Menzels Gemälde Das Flötenkonzert von Sanssouci. Dazu passend rieselt aus den braunen Stuckrosetten an der Decke dezente Discomusik.

Die Strohhüte des Personals wirken amerikanisch, die weiße Watte auf den Fachwerkattrappen im Flur weckt Sehnsüchte nach dem Schwarzwald. Im Sommer kann man draußen auf der Terrasse im Autolärm sitzen und das Geschiebe der Touristen auf dem Kurfürstendamm genießen. Selten verirrt sich ein Blick zu einer unscheinbaren Porzellantafel hoch über den Köpfen der Passanten: