Herbert Rosendorfer
Die Goldenen Heiligen oder Columbus entdeckt Europa
Roman
Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co. KG
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Herbert Rosendorfer, 1934 in Bozen geboren, war Jurist und Professor für Bayerische Literaturgeschichte. Er war Gerichtsassessor in Bayreuth, dann Staatsanwalt und ab 1967 Richter in München, von 1993 bis 1997 in Naumburg/Saale. Seit 1969 zahlreiche Veröffentlichungen, unter denen die ›Briefe in die chinesische Vergangenheit‹ am bekanntesten geworden sind. Herbert Rosendorfer, Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste sowie der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz, wurde mit zahlreichen bedeutenden Auszeichnungen geehrt, u.a. dem Tukan-Preis, dem Jean-Paul-Preis, dem Deutschen Fantasypreis, dem Bundesverdienstkreuz Erster Klasse und zuletzt 2010 mit dem Corine-Ehrenpreis des Bayerischen Ministerpräsidenten. Er lebte seit 1997 mit seiner Familie in Südtirol und starb am 20.9.2012 in Bozen.
Herbert Rosendorfer startet zu einer Zeitreise, diesmal (nach den »Briefen in die chinesische Vergangenheit«) in die Zukunft. Außerirdische landen in Deutschland, und unaufhaltsam bricht die Zivilisation, unterwandert von der Heilssüchtigkeit der Menschen, zusammen. Ein satirisches Welttheater, in dem Rosendorfers Fabulierkunst und grimmiger gesellschaftskritischer Witz einen weiteren Höhepunkt erreichen.
Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
Erschienen bei KiWi Bibliothek
© 2018 Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln
Covergestaltung: Rudolf Linn, Köln
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ISBN (eBook) 978-3-462-41219-2
Für Constantia, Laura und Olivia
Die Anweisung lautete: der Wurmfarn muß frisch gepflückt sein. Die Wirkung ist dann am stärksten, wenn auf den Blättern noch Tau liegt. Außerdem muß die Paste bei nüchternem Magen aufgetragen werden; also wohlgemerkt: nicht auf den (nüchternen) Magen. Die Paste ist auf den ganzen Körper gleichmäßig zu verteilen, nicht nur in der Magengegend, das alles aber bei nüchternem Magen.
Jessica – Tante Jessica von jener Nacht an – litt an … niemand wußte, woran sie litt. Hichter hieß sie: Fräulein Jessica Hichter. In ihrem Paß stand als Berufsbezeichnung: Designerin. Als sie sich vor Jahren für diesen Beruf entschieden hatte, hatte sie sich seine Ausübung ganz anders vorgestellt, ganz anders. Ihr Jogging-Anzug war von einer Farbe, die man als zwischen Wüstengelb und Erdbraun gelegen bezeichnen kann. Jessica bevorzugte diese Farbe neben Lößbeige und Kieselweiß. Äußerstenfalls munterte sie ihre Garderobe mit einem fahlen Torfgrün auf.
Da der Wurmfarn also in aller Früh gebrochen oder geerntet (oder wie man sagen will), und da die aus den Stengeln gewonnene Paste bei nüchternem Magen aufgetragen werden mußte und die Zubereitung der Paste eine Stunde in Anspruch nahm, verließ Jessica in jenen Wochen vor dem 12. Oktober 1992 immer schon um halb fünf Uhr das Haus. Karli Schwörer schlief um diese Zeit noch, selbstverständlich.
Jessica hatte die Wurmfarnkur am 12. September begonnen. Das Datum hatte, jedenfalls für Jessica, keine weitere Bedeutung, es war Zufall und kam daher, daß Frau Fäsold ihr am 11. September das Rezept für die Paste, die Anweisung für die Kur und das Geheime Pulver übergeben hatte. Jessica hatte viele Kuren hinter sich, Jessica war immer krank, aber niemand wußte, was Jessica Hichter fehlte. Es sei nicht verschwiegen, daß ihre Umgebung sich gelegentlich unschön über Jessicas Krankheiten äußerte. Ihre Schwester Cornelia – die in jener Nacht einen Knaben zur Welt brachte, der Gorbi Ivan Evo Menelik getauft wurde – sagte gelegentlich: »Jessica ist nur gesund, wenn sie krank ist«, und Onkel Emanuel Hichter, der literarisch gebildet war, zitierte Nestroy und bezeichnete Jessicas Krankheiten als »Entzündung mit Beklemmung«.
Es versteht sich, daß derartige Bemerkungen Jessicas die ohnedies allgemein mißmutige Stimmung noch mehr trübten. Sie kniff den Mund zusammen, kehrte das Gesicht nach oben und ging hinunter in ihr Zimmer.
Aus dem Wurmfarn, und zwar aus den Stengeln, aus denen klebrige Milch rinnt, war ein Brei zu stampfen. Der Brei war aufzukochen, mit abgekochtem Wasser zu verdünnen (und vor allem zu strecken) und mit dem Geheimen Pulver von Frau Fäsold zu versetzen. Das dauerte alles in allem eine Stunde. Da Jessica im Ortsteil Obermenzing wohnte und eine größere Wiese in der Nähe war, die einigermaßen Jessicas strengen biologisch-dynamischen Anforderungen entsprach, nahm die Wurmfarn-Ernte nur zehn Minuten in Anspruch. Die Paste war also etwa um dreiviertel sechs fertig – aber noch heiß. Karli Schwörer schlief immer noch. Jessica entkleidete sich, wartete etwa zehn Minuten, bis die Wurmfarn-Paste abgekühlt war, und strich sie dann auf ihren Körper, selbst an intimste Stellen. Es sei an dieser Stelle vermerkt, daß dieser Körper eher dürr war; kein Wunder bei einer Frau, die seit ihrem vierzehnten Lebensjahr litt.
Nun trat die Schwierigkeit auf, daß Jessica Hichter, nackt, aber kalkweiß überzogen, sich weder legen noch setzen konnte, weil sonst die Paste abgeblättert wäre. Sie stand also leicht breitbeinig mit angewinkelten Armen in ihrer Küche (im Zimmer schlief Karli Schwörer), und zu ihrer Unterhaltung schaltete sie, vorsichtig mit einem spitzen Finger, das Radio ein.
Jessica hatte schon viel mitgemacht. (»Weniger durch ihr Leiden«, sagte Onkel Emanuel, »als durch die Behandlung.«) Eine Zeitlang hatte sie einem Zirkel angehört, der sich zum Ziel gesetzt hatte, die antike Eingeweideschau wiederzubeleben, und hielt sich neben ihrem Studium der Design-Kunst viel auf dem Schlachthof auf. Ob sie dort, wie sie gelegentlich erzählte, wirklich in Blut badete, mag dahingestellt bleiben. Wahrscheinlich war das eher symbolisch gemeint. Jedenfalls aber hatte Jessica damals immer blutunterlaufene Augen, die sie fürchterlich rollte, wenn sie bei Vollmond nackt und dürr durch den Garten rannte und knurrende Laute von sich gab. »Mystik macht uns frei« war der Titel eines beliebten Musicals, das damals um die Welt ging. In einer Laienaufführung in Haar bei München spielte Jessica eine tragende Rolle darin. Das war schon später. Zu der Zeit hatte sie sich von der Eingeweideschau abgewandt und einem Zirkel mit schamanischer Weltschau zugesellt, der die gängige Vorstellung von Himmel und Hölle umgekehrt sah: Gott wohne, glaubte Jessica zu der Zeit, unten, die bösen Dämonen wohnten oben. Jessica wurde ganz sanft, lief nie mehr nackt durch den Garten, nahm etwas zu, blieb aber leidend. Danach kam das Ägyptische (kann auch sein: das Tibetanische) Totenbuch. Jessica hauchte nur noch, nahm wieder ab und schlief in einem Sarg. In dieser Phase lernte sie Herrn Dr. Mahler kennen, der einen Esoterischen Verlag betrieb. Der Verlag florierte, während – damals schon – die übrige Buchproduktion stagnierte. Die Leute lasen nichts mehr, hatte man das Gefühl, sie legten nur noch Karten, liefen mit Wünschelruten herum, rauchten bewußtseinserweiternden Tabak, standen Kopf, rechneten Horoskope aus und fürchteten sich vor düsteren Prophezeiungen.
Seit dem 12. September stand Jessica also jeden Tag wurmfarnpastenüberkrustet in der Küche und hörte das, was so gegen sechs Uhr bis nach sieben aus dem Radio perlt: Nachrichten und Verkehrsübersicht, »Gedanken für den Alltag«, das »Musikjournal« mit Gustl Weishappel, den »Heimatspiegel«, »Tu was für dich! – Die Frühgymnastik des Familienfunks« (an der sie sich natürlich nicht beteiligen konnte, weil sonst die Kruste abgesprungen wäre), die »Welt von morgen mit Presseschau und Börsendienst« und das »Divertimento musicale«. Karli Schwörer schlief, da konnte Jessica das Radio so laut drehen, wie sie wollte. Nach genau vierzig Minuten – »nicht einundvierzig und nicht neununddreißig«, hatte Frau Fäsold, die Naturheilkundige, gesagt – sprang Jessica ins Bad und duschte die Wurmfarnpaste weg.
Schon in der Schamanenzeit hatte Jessica viele Ärzte konsultiert.
Diejenigen Ärzte waren ihr am liebsten, die ihre Krankheit als vollkommen rätselhaft bezeichneten. Ärzte, die ihr ins Gesicht sagten, ihr fehle nichts, beschimpfte sie als Scharlatane. Am allerliebsten waren ihr Ärzte, die ihre Krankheit sowohl für unerklärlich hielten, als auch sich außerstande erklärten, eine Therapie zu verschreiben.
Einmal geriet Jessica an einen Professor, der die Patientin schlichtweg als medizinisches Phänomen bezeichnete. Der Professor hieß Zwirnsteiner, und als er Jessica verkündete, daß er eine Arbeit über ihre rätselvolle Krankheit verfassen wolle und daß diese Krankheit dann in Zukunft Morbus Zwirnsteiner heißen würde, war Jessica nahe daran, sich in den äußerlich eher unschönen und außerdem verheirateten Professor zu verlieben. Nur die Tatsache, daß die Krankheit Morbus Zwirnsteiner und nicht Morbus Hichter benannt werden sollte, dämpfte die hohe Stimmung.
Ob der Professor ein Schlitzohr war und Jessica einen Streich spielte, oder ob er an seinen Morbus Zwirnsteiner wirklich glaubte, ist unklar. Er machte jedenfalls Jessica den, von ärztlicher, ja professoraler Autorität bis in die Höhe eines Befehls gehobenen Vorschlag, daß sie sich der Fakultät vorstellen müsse. Jessica willigte freudig ein. Als sie das nächste Mal den Professor konsultierte, sagte er, wie üblich: »Machen Sie sich frei!«, und Jessica legte ihre wildschweinfarbene und steppengelbe Umhüllung ab. »Gänzlich, bitte!« sagte Professor Zwirnsteiner, worauf Jessica sich auch der dunkel-seidenen Unterwäsche entledigte. »Bitte, treten Sie da hinein«, sagte der Professor, und als Jessica durch die Tür trat, stand sie nackt in einem hell erleuchteten Hörsaal unter den Augen von vierhundert Studenten. Sogleich begann der Professor an Jessica seinen im Werden begriffenen Morbus Zwirnsteiner zu demonstrieren, und Jessica wagte es nicht, ihren dürren und langsam zu frieren beginnenden Leib der medizinischen Wissenschaft zu entziehen.
Als sie nach einer Stunde die Klinik im bekleideten Zustand wieder verließ, war sie nahe daran, gesund zu werden, allerdings nur nahe daran. Professor Zwirnsteiner konsultierte sie nicht mehr. Eine Zeitlang schwankte sie zwischen mehreren Homöopathen und Naturheilkundigen sowie Geistheilern und Biohypnotiseuren hin und her, zog sogar einen Veterinärmediziner in Betracht, da aber erfuhr sie von Dr. Dobler.
Dr. med. Alfred Cäsar Dobler bezeichnete sich als Facharzt für Magnet-Medizin, allerdings nur im privaten Kreis, denn die Magnet-Medizin war damals noch nicht als schulmedizinisches Fach anerkannt. (Rückständige Kollegen intrigierten, wie immer.) Die Gefahr der Entkleidung war gering, denn Dr. Dobler schaute die Patienten schon im angezogenen Zustand kaum an, geschweige denn, daß er das »Freimachen« verlangte. Er berührte seinen Patienten nicht. Meist saß er während der Behandlung (wenn man das so nennen kann) bei allerdings geöffneter Tür im Nebenzimmer, unsichtbar für den Patienten.
Sichtbar für den Patienten wurde nur eine Assistentin, die dem Patienten den Magneten einführte. Professor Dobler war der Ansicht, die er auch in Zeitschriften-Artikeln vertrat, daß der Mesmersche Magnetismus zu Unrecht vergessen worden sei. (Leider erschienen diese Artikel nie in medizinischen Fachzeitschriften; auch in den betreffenden Redaktionen intrigierten die bornierten Schulmediziner. Er war aber ständiger Kolumnist des »Allgemeinen Mitteilungsblattes für den Rohkosthändler«.) Dem Mesmerschen Magnetismus, argumentierte Dobler, ist es durch ungünstige Umstände in der Entwicklung der Naturwissenschaften versagt gewesen, sich, wie er es verdient hätte, voll zu entfalten. Mitten in der Blüte, so Dobler, sei der Mesmerismus rüde abgeschnitten worden. Niemand habe sich die Mühe gemacht, zu untersuchen, was im Mesmerismus wirklich alles stecke. »Nein«, rief Dobler aus, »die Medizin wandte sich von den Naturkräften, von dem schon von Passavant, einem Mesmerschüler, entdeckten Nervenäther und vom Od des Barons Reichenbach ab und mit vollen Segeln zu Pillen und Tabletten hin. Die Pharmaindustrie war es, die den Mesmerismus erstickte.«
Mesmer, dem zum Beispiel schon das sonst so seriöse Meyersche Konversationslexikon mit der scheinbar sachlichen Anmerkung »Franz Anton, nach anderen Friedrich« und »geboren in Iznang« an den Karren fahren will, lehrte und wirkte zunächst in Wien und München, später dann in Paris, wo er von 1778 ab großes Aufsehen erregte, was selbstverständlich sofort die Schulmediziner, die Pillenverordner, auf den Plan rief. Die Ärzte erwirkten, daß eine – angeblich neutrale – Regierungskommission Mesmers Methode untersuchen solle. Wer gehörte der Kommission an? Ärzte natürlich. Das Ergebnis kann man sich an fünf Fingern einer Hand abzählen. Mesmer mußte Paris verlassen und starb in Meersburg, verbittert, obwohl niemand Geringerer als Mozart in seiner Oper »Così fan tutte« dem Mesmerismus ein musikalisches Denkmal gesetzt hat. Das mehr als fragwürdige Urteil der damaligen französischen Kommission, so Dobler, hätten Generationen bornierter Schulmediziner ungeprüft übernommen, und so sei der Mesmerismus, sei die Magnetkur in Vergessenheit, ja in den Ruf der Lächerlichkeit geraten, bis er, Dobler, ihm wieder zu seinem Recht verholfen habe.
Die Assistentin Doblers arbeitete mit einem winzigen Magneten in einer Plastikkapsel. Der Patient mußte sich gut aufrecht hinsetzen und, den Kopf nach oben gereckt, den Mund aufreißen. Die Assistentin führte sodann denn Magneten an einem Draht ein und schloß ihn an einen Computer an.
Mesmerismus und Computer: überhaupt scheint die Mischung aus esoterischer Gesamtstimmung und nüchternen Einzelheiten das medizinische Faszinosum gewesen zu sein, das nicht nur den Zulauf Doblers, sondern auch die unbestreitbaren Heilerfolge erklärte. Außerdem gab die klinische Nüchternheit inmitten oder am Rand der Esoterik den in Anbetracht des Neides nichtesoterischer Kollegen dringend notwendigen Anstrich von Seriosität. Wo Dobler seine Professur herhatte, ist nie aufgeklärt worden, an welcher Universität er lehrte, war dunkel, den Patienten wohl auch gleichgültig.
Ein so nüchternes und imponierendes Schaltpult vor einer Batterie von Computern, die alle bunte und flimmernde Zeichen von sich gaben, die klinische weiße Ölfarbe, mit der die Möbel lackiert waren, das Chrom der Instrumente und die Schautafeln mit Darstellungen abstoßender Hautkrankheiten, Knochenbrüche und Trinkerlebern vermittelten die seriös-medizinische, das in Signalfarben gehaltene hypnotische Idealportrait Franz Anton (»nach anderen Friedrich«!) Mesmers in buddhistischer Kleidung, und der Geruch eines Räucherstäbchens, das die Assistentin entzündete, bewirkte die nicht minder seriöse esoterische Seite der Behandlung.
Nachdem der Magnet eine gewisse Zeit im Inneren des Patienten gewirkt hatte, begannen auf den Computern farblich ansprechende Graphiken zu erscheinen, Lautsprecher gaben Töne von sich. Der Magnet übertrug seine Diagnose »– sozusagen von innen heraus; was könnte genauer sein?« versicherte Dobler. Jessica war begeistert, obwohl die Magnet-Behandlung einen dicken Batzen Geld kostete. Die Krankenkasse übernahm die Kosten nicht; das Wassermann-Zeitalter war noch nicht bis zu ihr durchgedrungen. Der Magnet diagnostizierte bei Jessica unerhörte, nie gekannte Krankheiten von sozusagen astronomischer Exklusivität. Jessica war so krank, daß sie aufblühte und sich einen krapproten kurzen Lederrock und einen kanariengelben Hut kaufte.
Der tiefe Fall in die Enttäuschung ließ nicht lange auf sich warten. Eines Tages wühlte der Magnet so lustvoll in Jessicas Innerem, daß sie Zehenkrämpfe bekam, und zwar an beiden, wenn man so sagen kann, Zeigezehen. Sie japste und sprang, den Draht des Magneten hinter sich herziehend, ein wenig hin und her, dabei fiel ihr Blick ins Nebenzimmer, wobei sie sehen mußte, daß Dr. Dobler über der Lektüre einer Zeitschrift eingenickt war und eben tief im Traum aufseufzte und »– Astrid!« ächzte. Jessica heulte auf. Dr. Dobler rumpelte in die Höhe, die Zeitschrift entglitt ihm – wenn es wenigstens eine medizinische Zeitschrift gewesen wäre oder »Esoteric Monthly«, dann wäre die Sache noch zu reparieren gewesen. Aber es war das »Tennis-Journal«. Jessica war fast nicht in der Lage, so lange stillzuhalten, bis die Assistentin den Magneten wieder herausgezogen hatte (ein heikler Vorgang), dann aber warf sie dem Professor einen großen Packen alter Illustrierter, die fürs Wartezimmer dalagen, vor die Füße, schrie: »Behandeln Sie Ihre Astrid!« und entfernte sich. Wenig später erfuhr sie die Adresse von Frau Fäsold. Die Adresse wußte Michael.
Nach dem Duschen wickelte sich Jessica in ihren Morgenmantel aus lehmfarbenem Flausch-Stoff und legte sich zu Karli Schwörer ins Bett, der vielleicht ein Auge öffnete und murmelte: »Möchtest du?«
»Nein«, sagte Jessica streng, »ich habe doch eben die Kur gemacht.« Worauf Karli Schwörer wieder einschlief. Karli Schwörer war gut fünfzehn Jahre älter als Jessica, war lang und hatte entgegen der Mode (oder der Mode voraus, man wußte das nicht so genau) ganz kurze Haare, fast eine rasierte Glatze. Da er auch Geheimratsecken hatte, sah er aus, als habe er eine filzige Kappe auf in Form einer Mephistohaube, wie Eisschnelläufer sie tragen. Karli Schwörer war bis zur Waschlappigkeit gutmütig, schlief gerne lang, konnte kochen und kam nie zu irgend etwas, was er sich vornahm. Er war abgebrochener Student der Soziologie und verdiente seinen Lebensunterhalt in einer Autoausschlachterei, wo er – feinfühlig war er ja – die empfindlicheren Geräte, soweit sie unbeschädigt waren, aus den zerbeulten Autos ausbaute. Viel Geld erntete er damit nicht, vor allem auch, weil er immer zur Arbeit zu spät kam. Aber er hatte stets Freundinnen, die ihn miternährten.
Es gab aber auch Michael. Während Karli Schwörer bei Mutter, Schwester und Onkel Emanuel sozusagen offiziell vorgezeigt wurde, blieb Michael kryptisch. »Die Adresse von Frau Fäsold hat mir«, hatte Jessica mehr nebenbei gesagt, »ein gewisser Michael genannt.« Seitdem hieß der geheimnisvolle Mann, dessen Familiennamen Jessica nie verriet, der gewisse Michael.
Der gewisse Michael war das Gegenteil des Karli Schwörer, das war aber auch alles, was man von ihm wußte. Er schlüpfte zu Jessica herein, kurz nachdem sich Karli Schwörer seufzend endlich erhoben hatte, um zu seinem Autoausschlächter zu fahren. Entweder wußte dieser gewisse Michael kraft irgendwelcher übernatürlichen Kräfte, wann sich nach heftigen inneren Kämpfen Karli Schwörer aus dem Bett wälzen und aus dem Haus verschwinden würde, oder aber er hatte unbegrenzt Zeit zu lauern. Übernatürliche Kräfte im Zusammenhang mit Jessica wären nicht von der Hand zu weisen. Wahrscheinlich hat er aber doch eher gelauert.
Am 12. Oktober 1992 schlüpfte Jessica nicht mehr zu Karli Schwörer ins Bett. Sie war noch wurmfarnverkrustet, als ihre Mutter von oben herunterkam, an Jessicas Wohnungstür klopfte und schrie: »Es ist ein Bub! Jessica, hörst du? Du bist Tante! Eben ist aus der Klinik angerufen worden.«
»Ich kann nicht aufmachen«, schrie Jessica zurück, »ich bin noch in der Kur. – Wann?«
»Um halb vier«, rief die Mutter.
»Und wie heißt er?«
»Weiß noch nicht«, sagte die Mutter.
»Und kennt man jetzt den Vater?«
»Ach Gott, ach Gott«, murmelte die Mutter und schlurfte die Treppe wieder hinauf. Das war um fünf Uhr neunundfünfzig. Jessica hatte das Radio nicht nur zur Unterhaltung, sondern auch deswegen eingeschaltet, weil in diesen Morgenstunden so häufig die genaue Uhrzeit durchgegeben wird. Frau Fäsold hatte ja gesagt: nicht neununddreißig, nicht einundvierzig Minuten …
Um sechs Uhr kamen Nachrichten. Die Paste mußte noch drei Minuten an Jessicas Körper bleiben. Das reichte gerade bis zum Wetterbericht. Die letzte Meldung lautete:
»Paderborn. Nach noch unbestätigten Meldungen ist heute nacht in einem Waldstück östlich von Paderborn ein unbekanntes Flugobjekt gelandet. Erste Untersuchungen haben ergeben, daß es sich nicht um einen Scherz oder Unfug handelt. Die Behörden haben die Bevölkerung zu Besonnenheit und Ruhe aufgefordert. Polizei und Feuerwehr sind in Einsatzbereitschaft versetzt. Spezialeinheiten der Bundeswehr befinden sich auf dem Weg zur Landungsstelle, um den Vorgang zu untersuchen. Und nun das Wetter …«
Südlich von Bielefeld zieht sich der altberühmte Teutoburger Wald nach Südosten hin bis Detmold, alles ein Naturpark sowie für national denkende Deutsche, die es ja in großer Zahl wieder gibt, ein historischer, wenngleich langgestreckter Ort, an dem irgendwo, leider weiß man es nicht genau (jedenfalls nicht dort, wo das Denkmal steht) Hermann der Cherusker die Legionen des Varus schlug. Hätte er sie nicht geschlagen, hätten die Römer Germanien bis zur Oder kolonisiert, und die deutschen Altvorderen wären einige Jahrhunderte weniger Wildschweine gewesen. Aber das soll hier nicht die Frage sein. Der Naturpark Teutoburger Wald biegt bei Detmold nach Süden ab, heißt zwar immer noch so, das mäßig schöne, bewaldete Hügelland, das den Naturpark durchzieht, nennt sich aber das Eggegebirge. Dort, wo der ausgedehnte Staatsforst Altenbeken an den ebenfalls ausgedehnten Staatsforst Neuenheerse stößt, führt die Bundesstraße 64 durch den Nationalpark, die – östlich – Bad Driburg mit – westlich – Paderborn verbindet.
Am Fuße des nahe dieser Bundesstraße gelegenen, etwas hochstaplerisch Brocks-Berg genannten Hügels zweigt, wenn man von Bad Driburg kommt, eine Kreisstraße nach links ab, die in einen nicht weiter bedeutenden Ort namens Schwaney führt. Wenig neben dieser Abzweigung, hinter einem Gürtel von Bäumen verborgen, liegt eine Lichtung, auf der ein Haus stand, das dem Bürgermeister von Schwaney ein Dorn im Auge war. Das Haus, ein Holz- oder Blockhaus, rückte als Dorn in das Auge des Bürgermeisters erst etwa im Jahr 1970, obwohl es damals schon fast dreißig Jahre stand. Während des Krieges nämlich hatte eine Familie mit Namen Donner, ohne irgend jemanden zu fragen, dieses Haus auf der Lichtung errichtet und war eingezogen, weil ihre Wohnung in Paderborn durch einen Bombenangriff vernichtet worden war. Die Behörden drückten damals ein Auge zu, weil man froh war, daß die Leute ein Dach über dem Kopf hatten. Man achtete nur darauf, daß nicht andere dem Beispiel folgten und eine wilde Siedlung dort entstand. Das wäre nicht notwendig gewesen, denn die Familie Donner achtete selber wie die Schießhunde darauf, daß sich niemand anderer auf »ihrer« Lichtung festsetzte. Übrigens war das Ganze rechtlich natürlich nicht »ihre« Lichtung. Das betreffende Waldstück gehörte jemand anderem – man wußte nur nicht genau, wem. Seit mehr als zwei Generationen tobte ein Streit innerhalb einer überaus komplizierten und mit jedem Todesfall noch komplizierter werdenden Erbengemeinschaft, beschäftigte viele Gerichte und kam nie zu einem Ende. Das erleichterte die Situation der Familie Donner, die im übrigen zur damaligen Zeit mit Ausnahme eines Knaben namens Knut nur aus Frauen bestand, die – so erzählte man sich noch Jahrzehnte später in Schwaney – solche Furien gewesen wären, daß sich niemand auch nur auf hundert Metern dem Blockhaus zu nähern gewagt hätte. Nicht einmal die Engländer von den Besatzungstruppen nach 1945. Nach und nach kehrten diverse männliche Donners aus Krieg und Gefangenschaft zurück, die Verhältnisse normalisierten sich, die Wohnungen in Paderborn wurden wieder aufgebaut, ein Donner nach dem anderen verließ mit seiner Furie das Haus und siedelte wieder in der Stadt. Das Blockhaus übernahm – noch vor der Währungsreform – ein Rumäniendeutscher, ein Flüchtling namens Alt, der eine Zeitlang sehr einfache Holzbeine herstellte, für die damals, horribile dictu, unter den Heimkehrern ein gewisser Bedarf bestand, bis es wieder fachmännische Prothesen gab. Dann stellte Alt auf Strohhüte um, was kein geschäftlicher Erfolg war. Er verließ das Blockhaus um 1955 herum, und dann stand es leer. Die Gemeinde scheute zunächst die Kosten für den Abriß, dann wurde das Haus vergessen. Die Erbengemeinschaft bestand zu der Zeit bereits aus etwa dreihundert Personen, dazu achtzehn diverse Körperschaften, die von tückischen Erblassern testamentarisch bedacht worden waren, dem Tierschutzverein, zwei Klöstern und einem Hamster namens Baldur, der allerdings wenig später ohne Hinterlassung von Leibeserben und Testament durch Ableben aus der Erbengemeinschaft wieder ausschied. Insgesamt waren 21 Anwälte, 2 Amts-, 6 Land- und 3 Oberlandesgerichte, seit 1958 auch das Bundesgericht, mit den Prozessen beschäftigt. Im Blockhaus machten sich Ratten und Mäuse breit.
Die Ratten und Mäuse blieben fast zwanzig Jahre lang ungestört. Dann lernte, was nicht unmittelbar mit dem Ende der Ratten und Mäuse zu tun hat, Knut Donner, der damals knapp das vierzigste Lebensjahr erreicht hatte, Fräulein Swanhild Neufferding kennen. Fräulein Swanhild Neufferding war nicht nur Absolventin einer Waldorf-Schule, sie war sogar Tochter eines Lehrers der Eurhythmie und Enkelin eines evangelischen Pastors, der im Krieg auf einem U-Boot gedient hatte. Wer die Zusammenhänge kennt, weiß alles. Swanhild Neufferding trug dunkelbraune Socken, wadenlange Röcke und sehr oft eine selbstgestrickte Mütze in der Farbe einer Raucherlunge. Sie – Swanhild – rauchte natürlich nicht. Sie gehörte der Friedensbewegung an, war Vegetarierin und studierte Arabistik. Sie schenkte Knut Donner zu Weihnachten 1976 eine Schrotmühle. Im Herbst 1977 bereits trug Knut Donner – inzwischen geschieden und aus seinem Arbeitsverhältnis als Chemograph entlassen – eine selbstgestrickte furunkelfarbene Mütze und erinnerte sich an seine Jugend im Blockhaus draußen auf der Lichtung an der Abzweigung der Straße nach Bad Driburg. Knut und Swanhild fuhren mit ihrem Second-hand-Tandem hinaus, stapften durch das kniehohe Unkraut und fanden den Bau zu ihrem Erstaunen bewohnbar, sofern man an Komfort nicht zu hohe Ansprüche stellte.
»Das ist praktisch alles total alternativ«, sagte Swanhild, »man muß nur vielleicht ein paar Dachziegel ersetzen.«
»Und die Spinnweben abkehren«, sagte Knut.
»Bist du wahnsinni-i-i-i …«
»Was ist denn?« fragte Knut.
»Eine Maus!« schrie Swanhild.
»Mäuse sind ziemlich am Ende der Nahrungskette, glaube ich jedenfalls. Sie sind total wichtige Indikatoren.«
»Wenn ich eine Mausefalle aufstellen darf – selbstverständlich eine aus Holz, ungebeizt, dann darfst du die Spinnweben abkehren.«
»Kommt überhaupt nicht in Frage«, sagte Knut. »Die äußerste Konzession: eine Katze.«
»Ich bin allergisch gegen Katzenhaare.«
»Das bringt man mit linksdrehendem Besenginster weg.«
Linksdrehender Besenginster ist selten. Der Besenginster, der auf der Wiese unter dem Unkraut wuchs, war alles rechtsdrehender. Die Katze – sie hieß Mohamed – lief davon, die Mäuse und Ratten allerdings auch, nachdem eine andere Arabistikstudentin (Claudia) zu Knut und Swanhild gestoßen war. Claudia ernährte sich so gut wie ausschließlich von Knoblauch. Knut schimpfte zunächst und sagte, er halte es nicht aus, er kehre zu seiner geschiedenen Frau zurück und werde lieber wieder Chemograph, aber dann war es Swanhild, die auszog, nachdem sie Knut und Claudia erwischt hatte.
»Ja – und?« fragte Knut.
»Was: ja – und?« fragte Swanhild.
»Da macht dir der Knoblauchgestank nichts aus?«
»Ich geb’ dir gleich Knoblauchgestank!« fauchte Claudia.
»Du hast doch wohl nicht noch Reste bourgeoiser Moralvorstellungen?« sagte Knut und band sich seinen Zopf.
»Sie oder ich?!« schrie Swanhild.
»Du bist so schön in deinem Zorn«, sagte Knut.
Da warf Swanhild die Glasbatterie mit angesetztem Kefir nach Knut, packte ihre Jutetasche, setzte die raucherlungenfarbene Mütze auf und ging, wobei sie noch versuchte, die Tür zuzuschlagen, was nicht gelang, weil sie klemmte. Sie riß die Tür nochmals auf und schrie herein:
»Vielleicht bringt die Hure dich dazu, die Tür unten abzuhobeln. Ich habe es ja nicht geschafft.«
Die Tür hobelte aber erst etwa zwei Jahre später ein nicht ausgelernter Gärtner ab, der mit Claudia irgendwie verwandt war und sich vor seinem Bewährungshelfer versteckte. Er hieß Helmuth und war rothaarig. Claudia behandelte seine Haare, die zu Helmuths Kummer nie länger als bis über die Ohren wuchsen, mit Mäuseknochenasche. Helmuth sehnte sich danach, einen Zopf zu haben wie Knut. Er blieb nicht lange genug im Blockhaus, daß man den Erfolg der Behandlung hätte sehen können. Er hinterließ, als er in die DDR übersiedelte, eine Freundin namens Elke, die so dick war wie ein kleiner Walfisch, wobei sie immer Molke trank. Elke zog einen sehr kleinen, außerordentlich haarigen Tonio nach sich, der nicht sehr gut Deutsch sprach, aber Schnaps brennen konnte.
Um diese Zeit ging die Abfindungssumme zur Neige, die Knut im Arbeitsgerichtsprozeß gegen seinen ehemaligen Arbeitgeber gewonnen hatte, und die Kommune mußte sich nach Einnahmequellen umsehen. Elke begann Schafe zu züchten. Das heißt: sie kaufte vom letzten Geld der Abfindungssumme ein Lämmchen bei einem Bauern in Buke, band es an einen Pflock und wartete darauf, daß es sich vermehrte. Leben konnte man davon nicht.
»Vorerst!« sagte Elke.
Claudia begann ökologische Blockflöten zu schnitzen, die sie einem Dritte-Welt-Laden in Paderborn unterjubelte, das Stück für zwei Mark. Auch damit konnte man keine großen Sprünge machen.
Knut erfand die Kältebakterien. Er glaubte an ein Heilmittel gegen Aids. Aber die Ausarbeitung der Therapie war noch nicht soweit. Einzig Tonios Schnaps brachte Geld ein, aber man mußte beim Vertrieb so höllisch aufpassen. Auch wurden anfälligere Naturen nicht selten blind davon.
Die finanzielle Lage führte in letzter Zeit oft zu unschönen Auseinandersetzungen.
»Wie bourgeois, über Geld zu reden«, schrie Knut.
»Davon, daß man nicht davon redet, wird es auch nicht mehr«, keifte Yvonne Ybelacker.
Yvonne Ybelacker war von Tonio eingebracht worden. Sie legte Wert darauf, daß sie erstens wirklich Yvonne Ybelacker hieß, und zweitens, daß ihre Eltern Xaver Ybelacker und Walburga geborene Siebzehnrübel erst nach der Taufe bewußt geworden war, daß die Tochter wohl als einzige Person im deutschen Sprachbereich die Initialen Y.Y. aufweisen konnte. Yvonne war Schauspielerin. »Bei dem Namen«, pflegte sie zu sagen, »kommt nichts anderes in Frage.« Ein Engagement allerdings hatte sie, trotz der Initialen, noch nicht.
Auch am Abend des 12. Oktober 1992, als außer einem Laib Sechskornbrot (schon recht trocken), einem Glas Vierfruchtmarmelade und einer Scheibe Dreimilch-Käse (Kuh, Schaf, Ziege) nichts mehr zu Essen und vor allem kein Ein-Alkohol-Whisky für Tonio da war, gerieten sich die Kommune-Mitglieder in die Haare. Knut zertrümmerte das Glas Vierfruchtmarmelade, kratzte dann zwar reumütig die Marmelade zwischen den Scherben vom Boden heraus auf einen Teller, man ging aber dennoch unversöhnt schlafen.
Kurz vor vier Uhr erwachte Yvonne Ybelacker und ging aus dem Haus, um sich hinter einen Busch zu begeben. (So waren die Entsorgungsverhältnisse in dem Blockhaus. »Außerdem«, sagte Elke immer, »ist das ökologisch, sofern ihr euch richtig ernährt.«) Als Yvonne wieder hinter dem Busch hervortrat, sah sie, daß ein starker Lichtschein sich von oben auf die Lichtung und direkt auf das Haus senkte.
Yvonne schrie auf.
Das Schaf, das seitlich auf der Lichtung an einem etwa armdünnen Baum angebunden war, blökte (das letzte Mal in seinem Schafsleben).
Der Lichtschein senkte sich weiter, das Haus knirschte, heißer Wind erhob sich. Yvonne lief, nackt wie sie war, in Richtung der Bundesstraße davon.
Im Staatsforst Neuenheerse liegen verstreut einige Forsthäuser, darunter, direkt am Elbe-Bach, das Forsthaus Urenberg. Der Oberförster Dietmar Klein hatte am Abend des 12. Oktober, bevor er sich bereits nach der Tagesschau zu Bett begab, den Wecker auf halb drei Uhr gestellt. Am Tag zuvor hatten Schulkinder aus Schwaney einen toten Hasen gebracht, der, so glaubte Klein jedenfalls zu diagnostizieren, von einem Fuchs gerissen worden war.
»Warum hat der Fuchs dann den Hasen nicht aufgefressen?« fragten die Schulkinder.
»Wahrscheinlich«, sagte der Förster, »weil er gestört worden ist. Der Fuchs muß weg. Peng.«
»Der arme Fuchs«, schrie das eine der Kinder.
»Füchse haben überhaupt alle die Tollwut«, sagte der Förster. Deutsche Förster sehen bekanntlich ihre Hauptaufgabe darin, die Füchse auszurotten. Daß Füchse die Tollwut gar nicht haben können (eine veterinärmedizinische Tatsache), stört sie nicht.
»Den Hasen müßt ihr dalassen«, sagte Klein. Er gab ihn seiner Frau in die Küche, nachdem er daran gerochen hatte.
Die Schulkinder hatten den toten Hasen in der Nähe einer Lichtung gefunden, und da in Schwaney und Umgebung alles Unschöne, Unangenehme und vor allem Unlegale mit jenem Blockhaus in Verbindung gebracht wurde, nahm Oberförster Klein ohne nähere Nachfrage an, daß der Fuchs nirgendwo anders als auf jener Lichtung sein Unwesen treibe. Womöglich – das hatte Klein schon mehrfach geäußert – hält das »asoziale Gesindel« sich sogar einen Fuchs.
»Alternative Bande«, sagte der Apotheker in der Nebenstube (altdeutsch getäfelt) des Dorfkruges Bismarckeiche.
»Vegetarier«, sagte der Schuldirektor.
»Wer Vegetarier ist, endet nicht selten als Antialkoholiker«, sagte der Bürgermeister und bestellte eine neue Lage Doppelkorn.
»Kann man denn nichts dagegen tun? Ich meine, gegen die Bande? Ist ja wohl die reinste Unzucht.«
»Tu was bei diesen sozialistischen Mietgerichten.«
»Am besten wäre es«, sagte der Bürgermeister, »am besten wäre es – versteht ihr? –, am besten wäre es, die Bude würde eines Tages abbrennen. Wiederaufbauen – das würde kein Mensch genehmigen.«
»Abbrennen?« sagte der Oberförster.
»Darf man natürlich nicht laut sagen«, sagte der Apotheker. Der Oberförster ging nicht ungern bei seinen Dienstgängen über jene Lichtung. Dabei tat er, am Tag jedenfalls, ganz jovial. Im Sommer saßen oder lagen die Mädchen immer nackt im Gras. So alternativ kann keine sein, daß sie nackt nicht auch einem Oberförster gefällt. Daß auch Knut und – solange er da war – Helmuth nackt herumlagen, störte den Oberförster nicht, weil er da nicht hinschaute. Tonio allerdings trug immer eine Badehose.
In der Nacht, wenn Oberförster Klein vorbeikam, war er weniger jovial. (In der Nacht: das hieß am ganz frühen Morgen.) Dann schoß er gern ein-, zweimal in die Luft und freute sich an dem Gedanken, wie das antiautoritäre Gesindel in dem Blockhaus entweder aus dem Schlaf oder aus dem Gruppensex aufschreckte.
Um halb drei also läutete der Wecker. Um drei Uhr war Klein rasiert. Er ging nochmals ins Schlafzimmer, hob die Decke und Frau Anne-Gudula Kleins Flanellnachthemd in die Höhe und klatschte mit seiner nervigen Jägerhand auf eine jetzt eher fahle Rundung. »Es kommt kalt rein«, knurrte Frau Anne-Gudula. Er ließ die Decke wieder fallen und gab seiner Frau einen Kuß. »Putzt du dir nicht die Zähne?« fragte sie müde.
»Wieso? Für den Fuchs? Den erschieß ich ohnedies«, sagte Oberförster Klein, wandte sich zur Tür, nahm im Flur eine Ferlacher aus dem Gewehrschrank, pfiff dem reinrassigen Deutschen Schäferhund Rambo (nach Stammbaum: Bellerophon von der Heidehöhe) und schrie in das stets unaufgeräumte Gehilfenzimmer hinein: »Günther, biste fertich?«, worauf der Forstgehilfe z.A. Bronkhorst Günther verschlafen in seine Stiefel fuhr und hinter seinem Chef aus dem Haus tappte.
Als sich Rambo, Oberförster und Forstgehilfe (in dieser Reihenfolge) nach etwa einer Stunde der bewußten Lichtung näherten, zeigte der Hund, wie Klein später zu Protokoll gab, sichtliche Merkmale von Erregung. Er lief auf die Lichtung voraus, während Klein und Bronkhorst durch das Unterholz stapften, und kehrte ängstlich winselnd zurück. Als Oberförster Klein an der Lichtung war, sah er anstelle des anstößigen Blockhauses einen rötlich glühenden, großen Gegenstand. »Wie ein riesiges Kohlestück oder besser Brikett, was du eben aus dem Ofen nimmst.« Zunächst habe er, Oberförster Klein, geglaubt, die alternative Hütte sei endlich abgebrannt, dann aber habe er gesehen, daß sich ein rätselhaftes Ding, ein ziemlich großes, rätselhaftes Ding auf das »nunmehr ehemalige« (so Klein) Blockhaus gesetzt habe. »Ein Ufo von der Farbe – das ist eigentlich gar keine Farbe, eher so wie sehr helle Bonbons, wenn man sie ausspuckt.« Das Blockhaus sei »praktisch zusammengefaltet« gewesen. »So, wie wenn Se’ auf ’ne leere Coladose treten. Wie wenn ’n Elefant auf eine leere Coladose tritt, besser gesagt. War praktisch nur noch Folien, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
Klein kehrte rasch um; der Forstgehilfe selbstverständlich auch. Rambo war schon vorausgelaufen. Am Rand der Lichtung fand Klein ein geröstetes Schaf. Er ließ es liegen.
Der Fuchs war für dieses Mal gerettet.
Der Regular-Kanoniker des Paderborner Domkapitels, Monsignore Liborius Maria Altmögen, erwachte, wie schon seit einigen Jahren öfters, durch ein, wie er zu sagen pflegte, panisches Durstgefühl. Er ging in die Küche seines schönen, mit gepflegten Möbeln ausgestatteten Zweizimmer-Appartements und nahm eine Flasche Zitronenlimonade aus dem Kühlschrank. Wenn es vor Mitternacht gewesen wäre, hätte er zur Flasche Jever Pils gegriffen, die neben der Limonade stand, aber da es, wie er sich durch einen blinzelnden Blick überzeugte, bereits fast vier Uhr morgens war, nahm er die Limonade. (Er wollte um acht Uhr die Messe lesen und gehörte noch zur traditionellen Sorte von Geistlichen.)
Er goß die Limonade in ein Glas und trank sie in kleinen Schlucken, weil sie eiskalt war und weil es so außerdem gesünder ist.
Dabei schaute er ohne jeden Gedanken aus dem Fenster. Über den östlich von Paderborn beginnenden Erhebungen des Naturschutzparkes Südlicher Teutoburger Wald gewahrte er dabei einen schwefelgelben Lichtschein bei sonst völliger Dunkelheit der wolkenverhangenen Nacht. Auch den schwefelgelben Schein registrierte das Bewußtsein des schlaftrunkenen Monsignore nur unterschwellig, bis nach vielleicht zwei, drei Minuten die Seltsamkeit des Phänomens an die Bewußtseinsoberfläche stieg und die Frage »Nanu?« im plötzlich hellwachen Gehirn des Geistlichen aufzucken ließ.
Der Schein pulsierte, wurde dann ganz hell (»– goldfarben, fast sonnenartig –«, erzählte Monsignore am Nachmittag seinem Bischof), worauf er dann langsam, aber stetig an Helligkeit abnahm. »Wenn es ein Brand ist«, dachte Altmögen, »dann ein gigantischer.«
Der Monsignore zog sich rasch an (schwarzes Leder), ging in den Hof des Domkanonikats und schob seine Guzzi California mit Beiwagen aus der Garage. Um die anderen, die hier wohnten, nicht zu wecken, startete er die Maschine erst vor dem Haus. Er fuhr nach Osten. Die Straßen waren leer um diese Zeit, wie nicht anders zu erwarten. Der schwefelgelbe Schein sei, erzählte er dem Bischof, von der Straße aus zunächst nicht mehr zu sehen gewesen, aber dank seines relativ gut ausgebildeten Ortssinns habe er ziemlich genau ausmachen können, wo die betreffende Stelle zu finden sei.
Am Stadtrand von Paderborn tauchte im Lichtkegel des Motorrades ein Gegenstand auf, den Monsignore Altmögen im ersten Augenblick für einen sehr großen Pilz hielt. Es stellte sich dann aber heraus, daß es sich um einen sehr kleinen Mann mit einem Pfadfinderhut handelte. Der Mann war verfilzt und stark bärtig. Der Alte winkte. »Nicht nur aus Nächstenliebe«, räumte Monsignore Altmögen in einem der vielen Fernsehinterviews ein, die er bald geben mußte, »sondern auch, weil sich die Fahreigenschaften eines Beiwagengespanns verbessern, wenn der Beiwagen belastet ist, hielt ich an. Der Alte holte einen Rucksack, zwei Plastiktüten und einen stark nach Salmiak riechenden Pappkoffer, der mit mindestens vier Riemen verschiedener Farbe verschnürt war, aus dem Straßengraben, außerdem vier oder fünf große, verbeulte, an den Henkeln mit Spagat zusammengebundene Kochtöpfe. Die Kochtöpfe verursachten einen Heidenlärm, der fast das Motorengeräusch übertönte, was, wie jeder weiß, der je mit einer Guzzi gefahren ist, einiges heißt. Ich kann Ihnen, wenn Sie wollen, die Kochtöpfe zeigen.«
Monsignore Altmögen kam also auf der Bundesstraße 64 gut, den Beiwagen ausgelastet, wenngleich von Scheppern begleitet, voran, bog, seinem Augenmaß folgend, nach circa 6 km in die Kreisstraße nach Schwaney ein, nahm einen scharfen Geruch war (vermutete, er rühre vom Koffer des Alten her), hielt an, weil er kurz überlegte, ob er in einen für Motorradfahrer verlockend holprigen Feldweg nach links einbiegen sollte. Nahezu gleichzeitig sprang in diesem Moment der Alte mit dem Ruf: »Da ist was!« aus dem Beiwagen, und eine junge Frau, mit nichts als sandgelben Birkenstock-Sandalen bekleidet, brach durch das Gebüsch auf die Straße und lief, schrecklich klappernd, in Richtung Paderborn.
Monsignore Altmögen glaubte zunächst an eine zölibatäre Zwangsvision (früher hätte man für so etwas andere Ausdrücke gehabt), aber als auch der Alte im Pfadfinderhut verdutzt stehenblieb und dem hinter der nächsten Biegung verschwindenden weiblichen Popo nachstarrte, zweifelte der Geistliche nicht mehr an der Realität des Vorkommnisses. Alles dauerte nur Sekunden. Der Alte schlüpfte durch die Büsche, kam sofort danach aber wieder zurück, starrte den Monsignore mit weit aufgerissenen Augen an, wedelte mit den Armen windmühlengleich, versuchte irgend etwas zu sagen, was er aber nicht herausbrachte, und flüchtete nach wenigen Augenblicken unter Hinterlassung seiner Habseligkeiten in die Richtung, in der das Birkenstock-Mädchen verschwunden war.
Der Monsignore stieg vom Motorrad und stellte den Motor ab. Hinter den Bäumen leuchtete es schwefelgelb. Altmögen zog den Reißverschluß der Ledermontur über der Brust auf und faßte sein Kanonikerkreuz mit beiden Händen. Dann stapfte er durch das Unterholz, wo das Mädchen und dann der Alte herausgekommen waren. Er kam auf die Lichtung …
Trotz aller Bemühungen, trotz einer nicht unbeträchtlichen Summe, die die Fernsehstation RTL aussetzte, fand man den Alten mit dem Pfadfinderhut nicht mehr. Das Mädchen schon.
Jessica Hichter bewohnte das Parterre des kleinen Einfamilienhauses in Obermenzing. Im ersten Stock und in der Mansarde lebten Jessicas Mutter und die ältere Tochter Cornelia. Noch Jessicas Vater, der städtische Amtmann a.D. Hichter, hatte die beiden Wohneinheiten trennen und unten ein eigenes Bad einbauen lassen. Jessica lebte also in einer abgeschlossenen Wohnung. Im übrigen war das Verhältnis zwischen Mutter, Schwester und Jessica sehr gut, getrübt nur gelegentlich, und dann auch nur kurzzeitig, durch mehr gutmütige Sticheleien über Karli Schwörers mangelnde Fähigkeit, den Bettzipfel loszulassen, und über die kryptische Existenz des »gewissen Michael«.
Als Jessica, obwohl elektrisiert von der Meldung in den Sechs-Uhr-Nachrichten, pünktlich – nicht nach neununddreißig und nicht nach einundvierzig, sondern nach vierzig Minuten – die weiße Paste mit dem Schaber aus Zedernholz abschabte (was ihr zeitweilig lustvollere Gänsehaut verschaffte als die Berührungen seitens des gewissen Michael, von denen Karli Schwörers ganz zu schweigen), war sie bereits entschlossen. Sie wußte, um ein großes Wort zu gebrauchen, was sie zu tun hatte. Aber zunächst duschte sie sich noch rasch, packte ihre wildkaninchenfarbene Reisetasche, verabschiedete sich von Karli Schwörer, was dieser nicht bemerkte, und fuhr zum Bahnhof.
Die Sieben-Uhr-Nachrichten hörte Jessica noch zu Hause, grade noch, die späteren aus den Transistor-Geräten ihrer Mitreisenden, die von Stunde zu Stunde aufgeregter wurden wie alle Welt. Schon in den Acht-Uhr-Nachrichten war die bewußte Meldung etwas nach vorn gerückt, rückte dann immer weiter vor, und die Elf-Uhr-Nachrichten begannen bereits mit ihr. Um ein Uhr sprach der Bundeskanzler. Um diese Zeit erhob sich Karli Schwörer ächzend, sagte: »Ist es schon neun Uhr?«, aber Jessica war schon seit drei Stunden unterwegs.
Jessica fuhr nach Norden: sie erwischte grade noch – ohne sich vorher erkundigt zu haben – einen Intercity nach Köln, stieg dort um, war kurz vor siebzehn Uhr in Münster und nach nochmaligem Umsteigen gegen neunzehn Uhr in Paderborn. Auf dem Bahnhofplatz winkte sie einem Taxi.
»Zum Ufo?« fragte der Taxifahrer.
»Wohin?« fragte Jessica.
«Na ja, wohin heute jeder will«, sagte der Taxifahrer, »zum Ufo, zu den Außerirdischen. Sie sind schon die achtzehnte Fuhre für mich heute. Ich fahr’ Sie gern, Fräulein, zweiunddreißig Mark, kann ich inzwischen auswendig. Aber ich sage Ihnen gleich: zu sehen ist gar nichts. Jedenfalls nicht für einen gewöhnlichen Sterblichen.«
»Trotzdem«, sagte Jessica und setzte sich neben den Fahrer. Der fuhr los.
»Sie waren schon dort?« fragte Jessica.
»Wie gesagt: achtzehnmal, summa summarum. Aber Sie kommen nicht näher als auf, sagen wir, fünfhundert Meter heran. Die Bundeswehr hat weitläufig abgesperrt. Sind auch schon jede Menge Minister da und Generäle und so. Der Bundeskanzler läßt sich laufend informieren, hat das Radio gemeldet. Finde ich großartig. Den wähle ich wieder. Läßt sich laufend informieren. Da bin ich beruhigt. Wenn nur der Bundeskanzler laufend informiert ist.«
»Wer sind sie?«
»Wer? Die den Bundeskanzler informieren?«
»Nein. Sie. Die gelandet sind.«
»Da müssen Sie den Bundeskanzler fragen. Der ist laufend informiert. Ich nicht. Ich weiß nur, was sie in den Nachrichten gesagt haben.«
»Ich bin den ganzen Tag im Zug gefahren, da habe ich nicht immer Nachrichten gehört.«