Moritz Matthies
Letzte Runde
Roman
FISCHER E-Books
Moritz Matthies ist ein Pseudonym. Bei FISCHER sind von ihm die Romane ›Ausgefressen‹, ›Voll Speed‹, ›Dumm gelaufen‹ und ›Dickes Fell‹ lieferbar. Die Hörbücher sind bei Argon erschienen und werden von Christoph Maria Herbst gelesen.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de.
Der letzte Fall für Ray und Rufus
Im Berliner Zoo ist seit neuestem nachts die Hölle los: Mysteriöse Eindringlinge treiben die Tiere in den Wahnsinn. Löwe Kunze vermisst seine Mähne, Elefant Heiner seine Stoßzähne, und einer der Flamingos ist gleich ganz verschwunden. Als dann auch noch eine Betäubungspatrone, die eigentlich für den Bisonbullen Jonas gedacht war, im Hintern von Opa Reinhard landet, weiß Erdmännchen-Detektiv Ray: So geht es nicht weiter! Er überredet seinen menschlichen Partner Phil, der sich eigentlich zur Ruhe setzen wollte, neuer Nachtwächter des Zoos zu werden. Und schon stecken Ray, Rufus und Phil in einem neuen Fall …
Das Team für alle Fälle:
RAY lebt mit seinem Erdmännchenclan im Berliner Zoo. Allerdings ist er etwas aus der Art geschlagen. Mit dem Graben hat er es nämlich nicht so. Dafür hat er sich seinen Traum erfüllt: Privatdetektiv zu sein. Mit seiner Spürnase ist er der perfekte Schnüffler. Und als der Zoo von nächtlichen Ruhestörern heimgesucht wird, kann er wieder mal sein Können unter Beweis stellen.
RUFUS – Rays Bruder – hat sich mit Hilfe der Zeitungen, die jeden Tag im Mülleimer am Gehegezaun landen, das Lesen beigebracht. Außerdem ist er ein genialer Tüftler. Mithilfe seines mindestens ebenso genialen Sohnes Archibald hofft er, den Tätern bald auf die Spur zu kommen. Doch anscheinend gibt es einen Maulwurf im Zoo …
ROCKY – der Erstgeborene – ist Clanchef, überforderter Vater und für seine Frau Roxane als Ehemann nur noch bedingt tauglich. Der Antrag auf Scheidung wurde vom seinem Vater jedoch abgelehnt. Nach einer Ehetherapie bekam Roxane jetzt auch wieder Nachwuchs – allerdings von ihrem Therapeuten Rufus. Bei so vielen privaten Sorgen ist Rocky gar nicht mehr in der Lage, sich mit dem neuen Fall zu befassen… Was nicht heißt, dass er sich nicht einmischen würde.
Erschienen bei FISCHER E-Books
© 2016 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Coverabbildung: www.buerosued.de
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-403576-5
Kracks.
»Es ist wirklich erstaunlich …«
Von der Rückseite unseres Feldherrenhügels blickt Rufus hinunter in den Steinbruch und macht eine Pause, die lang genug ist, um sie mit einem ganzen Leben zu füllen. Also richtig lang. So lang, dass es keinen Zweifel daran geben kann, wie wichtig das ist, was nach der Pause kommt, wie wohl überlegt, wie erlebt und durch Erfahrung verdichtet. Vier Worte und eine Pause genügen meinem Bruder also, um mir mal wieder gesteigert auf die Nerven zu gehen.
Aber es kommt noch besser, denn bevor ich Gelegenheit habe, Rufus’ Pause für einen Power-Nap zu nutzen, fährt er fort: »Sobald man eigene Junge hat, verschieben sich zwangsläufig die Prioritäten.« Erneute Pause. »Dann lüftet sich der Schleier, und du erkennst, was im Leben wirklich wichtig ist.«
Gemeint ist natürlich der Schleier, der mich nachwuchslosen Tropf noch immer umgibt, weshalb ich gar nicht wissen kann, wovon mein Bruder so redet und froh sein muss, wenn er überhaupt das Wort an mich richtet.
Kracks.
Er wolle seine »Ressourcen bündeln«, hat Rufus mir erklärt, weshalb er »mittelfristig« sein »Engagement als Privatermittler drosseln« werde. So redet der. Übersetzt heißt das: Ich bin raus, Ray – ich habe jetzt Kinder. War toll – die Fälle, die wir zusammen gelöst, die Abenteuer, die wir erlebt haben. Aber: Ich habe jetzt Kinder! Setz dein Leben künftig alleine aufs Spiel, Ray. Ich habe jetzt Kinder!! Ich dagegen kann und will nicht anders, als zu denken: Leck mich an meinem pelzigen Arsch, Rufus. Du hast ja jetzt Kinder!!!
Dabei stimmt es nicht einmal. Rufus hat keine Kinder. Er hat ein Kind. Einzahl. Und das ist offiziell gar nicht seins, weil er es nämlich während einer Therapiesitzung mit Roxane gezeugt hat, die nicht nur unsere Schwester, sondern zudem Rockys Weibchen und somit unsere Clanchefin ist. Roxanes gesamter zweiter Wurf besteht also aus einem einzigen Erdmännchen. Archimedes. Benannt nach einem afrikanischen Sternenforscher, glaube ich. Von den meisten im Clan wird er Archi gerufen – außer von Rufus, der ihn ausschließlich mit seinem vollständigen Namen anredet, sowie den Girls aus dem fünften Wurf, die ihn vorzugsweise Arschi nennen.
Kracks.
Ich bin ja sonst nicht so der Fan von den Ladies aus dem fünften Wurf – also von Marcia, Minka und Mitzi. Von den Jungs aus dem fünften Wurf übrigens auch nicht, aber darum geht’s jetzt nicht. Sicher ist, Archi kann einem gehörig auf den Keks gehen. Der Spitzname kommt also nicht von ungefähr. Wie auch immer: Ma hat Rocky verboten, Archi und Rufus und Roxane und noch ein paar andere aus dem Clan zu werfen, oder sie, wie Rocky es gerne gemacht hätte, an das Gehege von Quasikongo zu binden. Von innen.
Quasikongo ist übrigens der Sekretärvogel bei uns im Zoo. Natürlicher Lebensraum: Savanne. Lieblingsnahrung: Kleinsäuger, die ebenfalls in der Savanne beheimatet sind. Kleinsäuger wie beispielsweise Erdmännchen. Jedenfalls hat Ma es ihm verboten. Wir würden schließlich nicht mehr im Mittelalter bei den Indianern leben.
Rufus hat mir gesteckt, dass es in der Savanne keine Indianer gibt. Und was die Sache mit dem Mittelalter angeht – das haut wohl so auch nicht hin. Allerdings hat er sich verkniffen, Ma zu korrigieren. Ich weiß gar nicht, wie er das geschafft hat. Andere zu verbessern ist ein Reflex bei Rufus. Kann er nichts gegen machen. Die offizielle Sprachregelung lautet seither: Rocky ist der Vater von Archimedes, Rufus sein »Patenonkel«. So würden es die Menschen auch machen, meinte Ma, und die hätten Erfahrung in so was.
Kracks.
Archi war kaum auf der Welt, da war praktisch jedem im Clan klar, dass Rocky ihn unmöglich gezeugt haben konnte. Ein paar Tage später war dann ebenfalls klar, dass für die Vaterschaft eigentlich nur einer in Frage kam. Es war so offensichtlich, dass man es nicht einmal unserem Clanchef erklären musste – und das, wo man Rocky normalerweise schon erklären muss, dass man bei Regen nass wird.
Rufus meint, Archimedes sei eine »Inselbegabung«. Ich weiß nicht genau, was das ist, aber wenn damit gemeint ist, dass Archi womöglich irgendwann auf die Weltformel stößt, aber auf sich gestellt schneller von einem Autoreifen zerquetscht werden würde, als er von einer Brücke fallen und ertrinken könnte, dann stimmt es vermutlich. Es ist, als ob Rufus sämtliche mathematischen und sonst welchen Spezialgene einzeln aus seinen Spermien herausgelöst und sie zu einem Superspermium zusammengebastelt hätte – für das eine, einzige Junge, das er jemals haben wird und das er jetzt keine Sekunde mehr aus dem Auge lässt, weshalb er, wie bereits erwähnt, ab sofort sein »Engagement als Privatermittler drosseln« wird.
Kracks.
Sein genialer Sohn ist auch der Grund, weshalb wir hier im Schatten hocken und in den Steinbruch blicken. Da unten sitzt er, im Schneidersitz. Archimedes, die Inselbegabung. Von hier oben sieht die Insel seiner Begabung ganz schön einsam aus. Rocky hat ihn nach dem Frühstück dort abgestellt mit der Anweisung: »Steine kloppen!« Soll schließlich mal ein richtiger Erdmann aus ihm werden, wo er schon offiziell Rockys Sohn ist. Und das am vielleicht heißesten Tag des Jahres. Natürlich denkt Archi nicht im Traum daran, Steine zu zerdeppern. Ganz im Gegensatz zu Colin übrigens, Rockys »wahrem« Sohn aus Roxanes erstem Wurf. Den hat unser Clanchef ebenfalls dort unten abgestellt, und der kann vom Steinekloppen gar nicht genug kriegen, egal, wie heiß es ist.
Also hat Archi sich einen windgeschützten Platz gesucht und seit Sonnenaufgang in unermüdlicher Filigranarbeit etwas aufgeschichtet, das schwer nach Kunst aussieht, womöglich aber auch als Architektur durchgehen könnte – einen Turm, der eigentlich in sich zusammenstürzen müsste, es aus irgendeinem Grund aber nicht tut. Ich muss zugeben: Bei mir wäre das Ding schon längst eingekracht. In diesem Moment platziert Archi den letzten Kiesel auf der Spitze, betrachtet kritisch sein Werk und fragt sich, ob er auch nichts vergessen hat.
»Sieh dir das an, Ray«, flüstert Rufus. »Das ist angewandte Physik.«
Ich sehe, wie Colin von hinten an Archi herantritt. Ich glaube, er versucht zu schleichen, aber da er einen riesigen Stein über dem Kopf balanciert, ist Schleichen definitiv das falsche Wort. Jedenfalls stellt sich Rockys Ältester hinter Archi, grinst breit und wuchtet mit beeindruckender Leichtigkeit den Brocken über dessen Kopf hinweg. Im nächsten Augenblick wird Archis der Schwerkraft trotzende Säule geräuschvoll unter einer grauen Masse zermalmt.
Kracks.
»Das auch«, erwidere ich.
Mit in die Hüfte gestemmten Klauen wartet Colin, bis der Staub sich verzogen hat, anschließend wirft er seinem Halbbruder den Blick des siegreichen Zerstörers zu.
»Kaputt«, stellt er fest. Offenbar erwartet er einen Orden oder so was.
Archi sieht wortlos zu ihm auf. Er ist noch nicht lange auf der Welt, doch zeigt sein Gesicht bereits jetzt Spuren jener Müdigkeit, die Rufus’ Schultern jedes Jahr ein bisschen tiefer sinken lassen, weshalb sein Hals inzwischen nahtlos in den Bauch übergeht.
Archi wartet einen Moment, ganz der Papa. Dann erwidert er: »Ich würde mir die Schwäche erlauben, über Vergeltung nachzudenken, Colin. Die Sache ist nur: Was könnte ich bei dir schon kaputt machen?«
Mit diesen Worten erhebt er sich aus dem Schneidersitz, klopft sich den Staub aus dem Bauchfell, dreht Colin den Rücken zu und trottet aus dem Steinbruch.
Mein Bruder neben mir schnauft wie ein Stier. Rockys Einfältigkeit, die er eins zu eins an Colin vererbt hat, war bereits Rufus’ tägliche Arsendosis, wie er sagt, als er noch keinen eigenen Nachwuchs hatte. Mit ansehen zu müssen, wie Colin die Inselbegabung von Archi dem Erdboden gleichmacht, ist mehr, als er hinnehmen kann.
»Die Freiheit des einen endet da, wo die des anderen anfängt«, knirscht er mit den Zähnen.
Ich überlege, was genau damit gemeint sein könnte, als Colin einen walnussgroßen Stein aus dem Geröllhaufen pickt, ihn in der Klaue wiegt, Archi nachsieht, die Entfernung abschätzt, ausholt und …
»COLIN!!!«
Rufus ist so schnell auf den Hinterbeinen, dass ich die Bewegung nicht einmal gesehen habe. Colin zuckt zusammen. So hat er seinen Onkel noch nie erlebt. Ich übrigens auch nicht. Um ehrlich zu sein: Ich bin sicher, nicht einmal Rufus hat sich selbst je so erlebt. Mit beschwörend von sich gestreckten Vorderklauen donnert seine Stimme in den Steinbruch hinab: »Wenn du das tust, dann reiße ich dir am Arsch das Fell auf und ziehe es dir über deine verlausten Ohren!«
Colin ist so perplex, das er tatsächlich den Stein fallen lässt. Alles andere erstarrt.
»Sollte ich auch nur ein einziges Mal erleben«, schickt Rufus hinterher, »wie sich deine stumpfsinnige Gewalt nicht länger gegen Dinge richtet, sondern gegen meinen Sohn – also meinen Patensohn –, dann schwöre ich bei Gott, werde ich dir am Arsch das Fell aufreißen und es dir über die Ohren ziehen!«
Das hast du zwar eben schon gesagt, denke ich, aber Colin etwas nur einmal zu sagen ist, wie ihn mit einer Stubenfliege zu bewerfen.
Der Angebrüllte scheint nachzudenken, allerdings ist auch in dieser Disziplin die Ähnlichkeit mit seinem Vater unverkennbar: Man kann nicht mit Bestimmtheit sagen, ob im Inneren seines Kopfes Informationen transportiert werden.
»Das sag ich Papa!«, mault er schließlich und stampft beleidigt aus dem Halbrund.
»Ja!«, ruft Rufus ihm nach. »Tu das! Geh petzen! Alles andere wäre bei einem tumben, feigen und überhaupt bemitleidenswert unterdurchschnittlich intelligentem Geschöpf wie dir eine echte Überraschung!«
Die Klauen mit den gespreizten Krallen noch immer von sich gestreckt, wartet Rufus, bis Colin außer Sichtweite ist. Erst dann lässt er die Vorderbeine sinken, atmet durch und sagt: »Quod erat demonstrandum.«
Dass ich auch noch da bin, scheint Rufus vergessen zu haben. Im nächsten Moment nämlich wandelt er selbstvergessen über den Hügel zurück zum Rest des Clans, den Zoobesuchern, den sich im vollgepinkelten Becken streitenden Geschwistern und vor allem seinem Sohn. Und ich sitze hier und blicke in den verlassenen Steinbruch hinunter.
In dem Jahr, als Deutschland Weltmeister wurde, lag morgens irgendwann eine schwarz-rot-goldene Fahne im Gehege. Die Fußballjunkies aus dem vierten Wurf knoteten das Ding am Zaun zu den Fenneks fest und stimmten Jubelgesänge an. Inzwischen hält von den vier Knoten nur noch einer, die Fahne baumelt träge am Maschendraht und ist so ausgeblichen, dass man die Farben lediglich deshalb erkennt, weil man weiß, wie sie mal ausgesehen hat. Rufus hat mir erzählt, in der Savanne gebe es keine Zäune, nirgends. Keine Zäune, keine Wärter, keine Rotznasen, die einen mit Liebesperlen bewerfen.
Die Sonne hat ihren höchsten Punkt erreicht. Ab jetzt geht’s bergab, denke ich. Ab jetzt werden die Schatten länger. Bis sie irgendwann eins werden mit der Finsternis.
Tja.
Das war’s dann wohl.
So endet die Ära von Ray und Rufus, den genialen Detektivbrüdern aus dem Berliner Zoo.
»Ach, hier steckst du. Ich such dich schon überall.«
Es ist Natalie, die mich aus meiner Teilnahmslosigkeit erlöst. Noch so eine endlose Geschichte. Sie kommt mir verändert vor heute, irgendwie melancholisch. Möglich, dass es an mir liegt und nicht an ihr. Die Schatten sind länger geworden.
»Da ist dieser Freund von dir«, sagt sie.
»Ich hab keine Freunde.«
»Boah, wie bist du denn drauf?« Sie stellt sich so vor mich, dass ich unmöglich an ihren schlanken Schenkeln vorbeisehen kann. »Logisch hast du. Dieser Typ – du weißt schon –, der Mensch, der Erdmännisch versteht.«
Ich muss mit der Klaue meine Augen abschirmen, um zu ihr aufzusehen. »Phil?«
»Ja, genau – mit dem du immer diese krassen Abenteuer erlebst und so.«
An dieser Stelle sollte ich erwähnen, dass Phil nicht mein Freund, sondern vor allem mein Partner ist. Wir sind Privatermittler, ein Team. Wenn ich so drüber nachdenke: Er ist beides. Partner und Freund. Und so, wie es aussieht, ist er außerdem der letzte Lichtblick in meinem ansonsten trostlosen Leben.
»Komme«, sage ich.
An der Bewegung ihres Schattens erkenne ich, dass Natalie sich sanft in den Hüften wiegt. Die Sonne scheint ihr zwischen den Beinen hindurch. Man kann von Natalie sagen, was man will, aber wie man bei Männchen Paarungswilligkeit hervorruft, das hat sie voll drauf.
»Wie wär’s mit einem ›Danke, Natalie?‹«, fragt sie, »oder einem ›Nett von dir, dass du mir Bescheid gesagt hast?‹.«
Vielleicht liegt es doch nicht nur an mir, dass Natalie mir heute verändert erscheint. Am Ende entspringt dieses Sich-in-den-Hüften-Wiegen auch nur der Sehnsucht nach Aufmerksamkeit. Ich raffe mich auf, meine Wirbel knacken. Als hätte ich nicht Stunden, sondern Tage hier gesessen.
»Danke, Natalie.«
Ich lasse sie stehen, steige den Hügel hinauf, die Stimmen werden lauter, und dann breitet sich der ganze Irrsinn vor mir aus: die Touristen mit ihren Grinseballons, der Geruch von zu oft recyceltem Bratfett, Roxane, die sich vor aller Welt mit einem Kajalstift die Fellränder um die Augen nachzieht, Nino, der mit einem Tampon Propeller spielt, mein ganzer bekloppter Clan. Und Phil. Gott sei Dank.
Auf den ersten Blick sieht mein menschlicher Partner aus wie immer: das sandfarbene Leinensakko, die Sonnenbrille, die Hände in den Taschen. Beim Näherkommen aber bemerke ich auch an ihm eine Veränderung. Ist nicht so einfach zu greifen. Er wirkt weniger … nachlässig als früher. Offenbar war er beim Friseur, und auch das Sakko sitzt irgendwie straffer.
»Lust auf einen Ausflug?«, fragt er.
Es gibt also doch noch Dinge, die mein Herz höher schlagen lassen: »Ein neuer Fall?«
Er verzieht einen Mundwinkel. Da liegt etwas Wehmütiges drin. Ein sonderbares Gefühl beschleicht mich.
Nein. Kein neuer Fall. Phil lässt seinen Blick in die Ferne schweifen. Mit dem stimmt etwas nicht. Trauer? Was ist denn heute nur los, denke ich, da schwebt auch schon Phils Umhängetasche ins Gehege.
Ohne meine Frage wirklich beantwortet zu haben, sagt er: »Steig ein, kleiner Mann.«
Wir cruisen Richtung Norden. Schwitzende Menschen, Kinder, die entweder ein Eis haben oder eins wollen, Hunde, die nach Schatten lechzen. Ich dagegen könnte eine Heizdecke gebrauchen. Phils neuer Wagen hat eine Klimaanalage. Eine, die er gerne abschalten würde – aber nicht weiß, wie. Ich habe keine Ahnung, bei wie viel Grad wir gerade gefriergetrocknet werden, aber die Pinguine würden ihre halbe Sippe verscherbeln, wenn ihnen jemand so ein Ding ins Gehege einbaute. Klar könnten wir die Fenster runter- und warme Luft reinlassen. Theoretisch. Phil allerdings meint, das brächte die Klimaanlage so auf Touren, dass die Elektronik des Wagens ausfallen würde. Ist wie bei der Bahn, hat er gesagt.
Das Auto stammt übrigens aus Korea. Ob das auch in Afrika liegt, weiß ich nicht. Auf jeden Fall muss es dort echt heiß sein, wenn die Leute dort so scharf darauf sind, sich den Arsch abzufrieren. Phil hat mir auch gesagt, wie der Hersteller heißt, aber ich konnte mir nur merken, dass es wie etwas klingt, dass man besser nicht auf eigene Faust behandelt, sondern lieber mal einen Spezialisten draufgucken lässt. Aber ich schweife ab.
Den alten Volvo hat mein Partner geschrottet, als er damit in die Villa von Mecki Messer gecrasht ist und wir in letzter Sekunde Mo und Lea aus dem Panikraum befreien konnten. Mann, war das eine Nacht! Wahrscheinlich die längste meines Lebens. Unglaublich, was wir schon alles erlebt haben – wenn man so drüber nachdenkt. In seinem Volvo könnten wir jetzt jedenfalls mit geöffneten Fenstern fahren. Der hatte keine Klimaanlage. Musik gibt’s in der neuen Kiste auch keine mehr. Phil durchblickt das Infotainment-System ebenso wenig wie die Klimaanlage, und einen Schlitz, wo die CDs aus seinem alten Wagen reinpassen würden, hat er nirgends finden können. Nicht, dass ich seinen Musikgeschmack geteilt hätte. Ständig trällerte dieser komische Italiener seine Liedchen. Wie hieß der noch? Ein Name wie ein Käse. Paul Comté oder so. Hab das Gedudel nie gemocht, aber jetzt fehlt es mir. Soll einer verstehen.
Um die Stimmung etwas aufzulockern, frage ich: »Keine Mucke heute?«
Phil dreht mir den Kopf zu: »Hast du etwas gesagt?«
Ich deute auf das Infotainment-Display. »Düdeldidüdeldidü?«
Statt zu antworten, blickt Phil nur wieder auf die Straße.
Irgendwann hält mein Partner den Wagen an und dreht den Zündschlüssel. Der Motor verstummt. »Wir sind da«, sagt er.
Ich erblicke akkurat gefegte Bürgersteige und getrimmte Hecken. An der nächsten Straßenecke befindet sich eine Telefonzelle. Als würden sie hier noch immer darauf warten, ans Netz angeschlossen zu werden. Neben der Zelle steht ein Mann, über einen Rollator gebeugt. Er trägt Hausschuhe und einen dazu passenden Bademantel. Seine letzten grauen Haare stehen in alle möglichen Richtungen vom Kopf ab. An seinen Rollator angeleint ist ein ebenfalls ergrauter Cockerspaniel. Es sieht aus, als würde der Hund sein Herrchen ausführen, nicht umgekehrt.
»Wir sind wo?«, will ich wissen.
In dem Moment öffnet sich die Tür des Reihenendhauses, vor dem Phil geparkt hat, eine strahlende Lea mit Wuschelkopf und sommerlich gestreiftem Rock erscheint, hopst die Stufen zum Plattenweg hinunter und kommt auf uns zugelaufen.
»Da seid ihr ja endlich!«
Phil öffnet die Gartenpforte und setzt mich auf dem Plattenweg ab. Ich bin noch damit beschäftigt zu ahnen, was das alles bedeutet, da springt ein Mischlingshund mit vierfarbigem Fell auf mich zu.
»Ich bin ein Geschenk!«, brüllt er mich an.
Du bist eine Laune der Natur, denke ich – nachdem die zu viel LSD eingeworfen hat.
Lea kniet sich neben mich und krault der Töle begeistert die verfilzten Ohren. »Das ist Susi«, erklärt sie mir.
»Ich bin aus dem Tierheim!«, bellt Susi gleichermaßen begeistert. »Für Lea. Phil hat mich ihr geschenkt. Zum Einzug!« Abrupt wirft sich Susi auf den Rücken und wälzt sich im Gras, als wolle sie sich eingraben. »Das ist alles …«, brüllt sie freudig und springt wieder auf die Beine, »… meiiin Rasen!« Sie tänzelt auf der Stelle wie ein Boxer, dann wirft sie den Kopf in den Nacken, dass die Ohren nur so schlackern. »Alles MEINS!!!«
Zum Einzug?
Ich würde Phil gerne fragen, ob ich nicht vielleicht nur in einem Albtraum gefangen bin, doch mein Partner ist gerade im Haus verschwunden. Neben der Haustür stehen übereinandergestapelte Umzugskartons, der Briefkasten ist frisch beschriftet. Nein, das ist kein Albtraum. Das Reihenendhaus mit der umzäunten Rasenparzelle ist Phils neues Zuhause. Seins und das von Lea und Mo und Susi, der, wie ich jetzt weiß, der gaaaanze Rasen gehört.
»Na, habt ihr Euch schon angefreundet?«, fragt Lea.
»Au ja!«, bellt Susi in der Lautstärke eines Pumas, »Freunde sein, Freunde sein!« Urplötzlich drückt mir die Töle ihre triefnasse Sabberzunge in den Nacken und raubt mir damit die letzte Hoffnung, ich könne doch in einem Albtraum gefangen sein.
»Mach das noch mal!«, ich fahre warnend eine Kralle aus, »und ich schlitz’ dir die Zunge auf, klar? Und föhn mich nicht zu, wenn ich direkt vor dir stehe.«
Für eine Millisekunde hält Susi die Luft an, zieht die Zunge ein und legt den Kopf schief. Dann brüllt sie: »Freunde sein?«
Phil taucht wieder auf und führt mich um das Haus herum. Auf der Rückseite stehen unter einer Markise ein paar Klappstühle und ein Campingtisch. Es riecht nach Selbstgebackenem. Mir erscheint das alles verdächtig inszeniert.
»Alles noch ein bisschen provisorisch«, entschuldigt sich mein Partner und hebt mich auf den Stuhl neben seinem.
Lea und Susi tummeln sich auf dem Rasen. Lea hält lachend einen rosa Gummiring in die Höhe, den Susi zu schnappen versucht. Dabei kläfft der Hund immerfort: »Stöckchen! Stöckchen!«
Es gibt Kuchen. Mo trägt ihn vor sich her, als sie durch die Terrassentür kommt. Wie der Kuchen sieht auch sie blendend aus. »Gelöst« ist das Wort, das mir dazu einfällt. Sie lächelt, ihre gewellten Haare umspielen das Gesicht, ihr Gang ist beschwingt.
»Hallo, Ray!«, begrüßt sie mich und streicht mir über den Kopf. »Geht’s dir gut?« Ihre Handgelenke duften nach Orchidee. Sie legt Phil eine Hand auf die Schulter, die beiden lächeln einander an. »Cappuccino?«, fragt sie.
»Das wär’ großartig«, gibt Phil zurück.
Sie streicht auch ihm über den Kopf, dann verschwindet sie ebenso beschwingt im Haus, wie sie zuvor herausgekommen ist. Neuerdings ist ein Cappuccino also etwas Großartiges, denke ich.
Wir schweigen. Wie auf der Herfahrt. Ich lasse meinen Beobachterblick über das Gelände schweifen. Der Garten ist noch kleiner als unser Zoogehege. Aber auch hier gilt: Zäune, wo man hinsieht. Das Einzige, worauf Menschen noch mehr stehen als Zäune, sind Autos und Fernsehen. Alles drei Dinge, die man in der Savanne vergeblich sucht. An der Grenze zum Nachbargrundstück steht ein rundes Trampolin mit Sicherheitsnetz. Susi neben sich herspringend, bewegt sich Lea darauf zu.
Mo kommt und stellt den Cappuccino vor Phil ab. »Zucker ist schon drin«, sagt sie. Ihr Blumenkleid umschmeichelt ihre Hüfte, um die Phil jetzt seinen Arm legt.
»Danke«, säuselt er. Die Zeit der doppelten Espressos mit Zitrone und einem Schuss Single Malt scheinen der Vergangenheit anzugehören.
Mo blickt über den Rasen: »Vergiss nicht, dir die Schuhe auszuziehen, bevor du raufgehst, Schatz!«
»Ja, Mama!«, tönt es vom Zaun herüber.
»Und schön den Reißverschluss zuziehen!« Mo löst zärtlich Phils Hand von ihrer Hüfte: »Fangt ruhig an. Ich bin gleich bei euch.« Und nach einem Seitenblick auf mich: »Ihr habt ja auch noch etwas zu besprechen.«
Mit diesen Worten tritt sie unter der Markise hervor und gleitet in Wellenbewegungen zu ihrer Tochter und dem Trampolin hinüber.
Phil lädt sich ein Stück Torte auf den Teller und reicht mir eine kleine Tupperdose. Unter dem milchigen Deckel bewegt sich etwas. Als ich ihn öffne, erblicke ich ein Knäuel aus Tausendfüßlern, und nicht irgendwelchen. Schwarze Schnurfüßer, meine Lieblingssorte. Die sind am saftigsten, weil sie normalerweise in feuchten Waldgebieten herumkrabbeln. Es sei denn, sie stecken in Tupperdosen gefangen. Nicht einfach zu finden.
Ich klemme mir einen Tausendfüßler zwischen zwei Krallen, führe meine Klaue zum Maul und sauge ihn ein wie eine Nudel. Steh ich voll drauf – wenn die Beinchen auf der Zunge kribbeln.
»Danke«, sage ich.
Phil scheint seine Torte nicht halb so gut zu schmecken wie mir die Tausendfüßler. Während ich ihn dabei beobachte, wie er im Kuchen herumstochert, wird mir klar, warum sein Sakko neuerdings straffer sitzt.
»Du hast zugenommen«, sage ich.
»Vier Kilo«, erwidert er nicht ohne Stolz und lässt die Gabel in seinem Mund verschwinden. Auf der Oberlippe bleibt ein Klecks Sahne zurück. Mit vollem Mund spricht er weiter. »Mo findet, es steht mir.«
Na dann, denke ich.
Er blickt hinüber zu Mo, die mit dem Rücken zu uns am Trampolin steht und ihrer Tochter dabei zusieht, wie sie mit Susi im Kreis läuft. Die Blumen auf ihrem Kleid scheinen sich um ihre Beine zu ranken. Kann man schon mal einen Blick drauf verschwenden.
Nach dem vierten Tausendfüßler wird es mir zu blöd. Also sage ich: »Spuck’s aus, Partner. Was ist es, das wir noch zu besprechen haben?«
Phil versenkt die Gabel so in der Torte, dass ihr Stiel herausragt wie ein Fahnenmast. »Es ist so, dass ich … Na ja, ich werde mich beruflich verändern.«
Ich kann mich täuschen, aber habe ich diese Scheiße nicht heute schon einmal so ähnlich von meinem Bruder gehört? Da hieß es »Ressourcen bündeln« und »Engagement drosseln«.
»Soll heißen?«, frage ich vorsichtig.
»Ich hab einen Job angenommen, bei Siemens.« Er rührt mit seinem Fahnenmast im Kuchen herum. Am Rand quellen Kirschen aus dem Teig. Anscheinend will er irgendetwas vergraben. Oder er hofft, auf Öl zu stoßen. »Ende des Monats fange ich an, im Innendienst, als Security-Advisor.«
»Und das bedeutet?«
»Nun, ich schätze, das bedeutet, dass ich ab sofort eine ruhige Kugel schieben und ein monatliches Gehalt einstreichen werde. Und nach zwanzig Jahren hab ich dann Anspruch auf eine Zusatz-Betriebsrente.«
Mir bleibt der Schnurfüßer im Hals stecken, vielmehr hängt er mir halb aus dem Maul und windet sich.
Schließlich würge ich ihn herunter: »Betriebsrente?«
»Ist gar nicht so übel«, erwidert Phil. »Da sind die bei den großen Konzernen ziemlich spendabel.«
»Und die Detektei?«
»Werde ich wohl aufgeben. Ich hab jetzt Familie, weißt du? Da muss ich …«
Sag es nicht, Phil.
»… Also da muss ich …«
Ich bitte dich, Phil: SAG ES NICHT!!!
»… meine Ressourcen bündeln.«
Ich könnte kotzen.
Er wartet, bis sich die Informationen mit ihrem vollständigen Gewicht auf mich herabgesenkt haben. Dann sagt er: »Wir kommen dich ab und zu besuchen, Ray. Versprochen.«
Ich könnte doppelt kotzen.
»Was ist mit dem halbfertigen Citroen-DS in deinem Hinterhof?«, will ich wissen. Der Oldtimer war stets Phils großer Traum.
»Interesse?«, fragt er.
Ich antworte nicht. Mir ist nicht nach Scherzen.
»Hab ihn inseriert«, fährt Phil fort. »Morgen kommt jemand und sieht ihn sich an.«
Ich hoffe, dass mein Schweigen die Sahnetorte sauer werden lässt. Phil verkauft seinen Traum, einfach so. Und unsere Partnerschaft wird entsorgt wie etwas, das beim Umzug nutzlos geworden im Keller aufgetaucht ist.
»Ich kann mir vorstellen, was du jetzt denkst, Ray. Aber die Sache ist die …«
Bevor mir Phil jetzt noch mit »gedrosseltem Engagement« kommen kann, hebe ich abwehrend eine Klaue und falle ihm ins Wort: »Ich sage dir, was Sache ist, Phil. Die Sache ist die, dass ich meinen Traum niemals preisgeben werde, während du deinen Traum gegen ein eingezäuntes Rasenstück und einen …« Ich beuge mich über die Stuhllehne und tippe mit ausgestreckten Krallen gegen die schwarzglänzende Metallschale mit dem verchromten Dreifuß, die neben mir unter der Markise steht, »… Gartengrill eingetauscht hast. Ich werde eines Tages die Savanne sehen, Phil. Du dagegen hast deine Savanne aufgegeben.«
Phil überlegt eine Weile, bevor er antwortet. Immerhin denkt er über meine Worte nach. Hinten am Zaun hilft Mo ihrer Tochter und Susi vom Trampolin herunter. Anschließend wenden sich die drei uns zu und kommen freudestrahlend über die Wiese. Mo hat ihren Arm um Lea gelegt, Susi läuft schwanzwedelnd vor den beiden her.
»Ich hab meine Savanne nicht aufgegeben«, sagt Phil. »Ich hab sie gefunden, Ray. Das hier ist meine Savanne.«
Mo und Lea sind unter der Markise eingetroffen. Lea setzt sich bei Phil auf den Schoß, während Mo ihm die Hand auf die Schulter legt.
»Bereit für noch einen Cappuccino?«, fragt sie.
Susi kommt und setzt sich auf die Hinterbeine, im Maul hält sie den rosa Beißring. Zusammengenommen sehen die vier aus wie ein schlecht gestelltes Familienfoto.
»Darf ich dich um einen letzten Gefallen bitten, Phil?«, frage ich.
»Das versteht sich ja wohl von selbst.«
»Bring mich von hier weg!«
»Läuft nicht, Kurzer«, knarzt Kong.
Der Gorilla sitzt auf seiner Europalette, den mächtigen Rücken gegen die grünlichen Fliesen gelehnt, und blickt hinauf zu der Milchglasscheibe, durch die tagein, tagaus diffuses Licht in sein Privatgemach sickert. In seinem Schoß liegt – ich hab es längst bemerkt, auch wenn Kong es zu verstecken versucht – Leas Schminkkästchen. Es ist mit einer Märchenlandschaft in Rosa und Hellgrün verziert. Sobald man es öffnet, richtet sich eine kleine Ballerina auf, dreht sich vor dem Spiegel, der im Deckel eingelassen ist, und eine Spieluhr beginnt zu spielen.
Lea hat es Kong als Andenken geschenkt. Bei unserem letzten – nennen wir ihn der Einfachheit halber Fall – haben wir Phils Tochter vor ein paar sehr bösen Buben in Sicherheit bringen müssen und sie deshalb vorübergehend bei Kong versteckt. Leider war sie nicht einmal hier richtig sicher, wie sich herausstellte. Hat Kong bis heute nicht verwunden – dass er nicht in der Lage war, sie zu beschützen. Obwohl am Ende alles gut ausging. Ist was Persönliches, meint er.
Damals machte Kongs Gemach einen deutlich lebensbejahenderen Eindruck. Es gab einen Kaufmannsladen, überall lag Kinderzeug verstreut. Auch ein Spielzelt hatte er für seinen »Ehrengast« besorgt. In dem hat sich Lea immer versteckt. Kong durfte sie nicht eher finden, bis er in jeder Ecke mindestens hundert Mal nachgeschaut und geschnaubt hatte: »Das gibt’s doch nicht. Ich hätte schwören können …« Dann musste er wenigstens drei Mal »Mäuschen piep einmal!« rufen, was Lea auf unerklärliche Weise verstand, und Lea flüsterte »Piep!«, und er musste so tun, als wisse er nicht, woher dieses »Piep« kam. Erst dann durfte er laaangsam den Reißverschluss aufziehen, den Kopf ins Zelt stecken und »Hab ich dich endlich!« ausrufen, und Lea sprang ihm quietschend in die Arme, während Kongs Lachen die Wände zum Wackeln brachte.
Inzwischen sieht alles wieder so aus wie vorher, nur dass es einem jetzt viel trister vorkommt. Gelacht hat hier auch länger niemand mehr. Einige Tage, nachdem Lea weg war, hat Kong eines Nachts einen Baseball durch die Milchglasscheibe gedroschen, der am nächsten Morgen drei Gehege entfernt bei den Flamingos im Teich wiedergefunden wurde. Er habe die Sterne sehen wollen, wie er sagte. Tags darauf setzten sie eine neue Scheibe ein – diesmal eine vergitterte –, und das war es dann gewesen. Geblieben ist ihm einzig das Kästchen mit der Spieluhr. Allerdings beherbergt es nicht länger die Schminksachen und Haarspangen, mit denen Lea ihren behaarten Freund so gerne »verschönert« hat, sondern eine Palette illegaler Substanzen, die Kong derzeit durchprobiert, in der Hoffnung, auf eine Kombination zu stoßen, die seine Erinnerung an Lea auslöscht. Und ebendiese Substanzen sind der Grund, weshalb ich hier bin.
Ich will auch was von dem Zeug. Phil hat sich aus meinem Leben verabschiedet, mein Bruder hat jetzt Nachwuchs, und die Erinnerung an Elsa ist so verblasst, dass ich an ihrer Echtheit zu zweifeln beginne. Mein Clan geht mir derart auf die Eier, dass mir die Worte dafür fehlen, und die Savanne ist in unendlich weite Ferne gerückt. Ich brauche dringend etwas, das meine Erinnerung auslöscht – und mich am besten gleich mit.
»Komm schon, Kong«, erwidere ich also, »was soll das? Ich bitte dich um einen Gefallen – als Freund. Gib mir ein paar von den Blauen und ein paar von den Gelben und gut ist.«
Kong starrt weiter zu dem grauen Rechteck empor, derweil seine riesige Pranke das Kästchen in seinem Schoß umschließt. »Hier ist der Gefallen, den ich dir tue«, gurgelt er, »als Freund …«
Na bitte.
In Super-Slowmotion wandert sein Blick durch den Raum, bis er wie zufällig auf mich trifft. »Mein Gefallen ist: Ich gebe dir einen Rat. Lass die Klauen von dem Zeug! Für Kleinsäuger ist das nichts.«
»Dein Rat in Ehren, Kong, aber wenn ich eine Belehrung will, dann geh ich zu Minerva und lass mir ein hübsches Orakel basteln. Ich brauche keinen Rat. Ich brauche etwas, dass mich den Rest der Welt vergessen lässt – und zwar so schnell und so nachhaltig wie möglich. Je illegaler, desto besser.«
»So, wie du drauf bist? Kann ich nicht machen, Ray. Sieh dich mal an: Das könnte verheerende Folgen haben. Komm wieder, wenn du gut drauf bist, dann reden wir drüber.«
»Was soll ich mit Drogen, wenn ich gut drauf bin?«, knurre ich. »Außerdem: Was soll denn das heißen – ›So, wie du drauf bist?‹ Sieh dich mal an! Da liegt eine halbe Tonne Schwermut vor mir auf der Palette wie nach einem K.O.-Schlag. Du bist kein Fitzelchen besser drauf als ich und wirfst dir den ganzen Tag irgendwelchen Scheiß ein.«
»Was ich mache oder auch nicht mache …« Kongs Rücken löst sich von der Wand. Plötzlich wird er sehr, sehr groß, und in seinem Gemach wird es sehr, sehr dunkel, »… steht nicht zur Diskussion.«
Seine Drohgebärde bringt mich nur noch mehr in Rage. Ist doch lächerlich. Und da mir ohnehin alles egal ist, erwidere ich: »Was soll denn das geben, bitte? Einen Rückfall in deine alten Zeiten als Zoopate? Ich dachte, die Nummer hätten wir hinter uns.«
Mein Spruch ist ihm nicht einmal eine Antwort wert. Und wahrscheinlich war es gar keine Drohgebärde. Hat Kong nicht nötig. Wenn er mir das Rückgrat stauchen will, dann klopft er mir vorsichtig auf den Kopf, und damit hat sich’s. Stattdessen stellt er umständlich das Schminkkästchen ab, dreht sich zur Wand, ruckelt an der Palette herum – woraufhin eine Latte abbricht, die er achtlos über die Schulter wirft – und zieht das Allerheiligste, nämlich seinen silbernen Alukoffer, unter der Palette hervor. Noch nie hat jemand den vollständigen Inhalt des Koffers gesehen, weshalb sich die wildesten Mythen darum ranken. Anschließend dreht er sich wieder mir zu, stellt den Koffer vor sich ab, legt rechts und links seine Pranken auf die Kanten und lässt die Scharniere aufschnappen.
Während ich im aufgeklappten Deckel mein niederschmetternd trauriges Spiegelbild betrachte, kramt Kong in seinem Koffer herum. »Ich kann mir vorstellen, dass das hart für dich ist«, höre ich ihn grunzen. »Phil, der den Familienvater in sich entdeckt, Rufus und sein« – am oberen Deckelrand erscheinen schwarz behaarte und zu Krallen geformte Finger und deuten Anführungszeichen an – »Patensohn …«
»Woher weißt du denn das schon wieder?«, beschwere ich mich.
Die behaarten Finger verschwinden und kramen im Koffer. »Manchmal muss man Dinge gar nicht wirklich wissen, um sie zu wissen.« Es ist, als würde der blöde Aludeckel mit mir sprechen. »Ah, da ist sie ja …« Kong schließt den Deckel, lässt die Scharniere einrasten und schiebt den Koffer zur Seite. »Was ich dir sagen will, ist: Dein Leben mag sich unnütz anfühlen, Ray. Du wirst nicht mehr gebraucht. Das ist hart und lässt einen auf düstere Gedanken kommen. Aber es ist nicht das Ende. Hier …«
Seine Monsterpranke hält mir etwas vor die Nase. Eine Spielkarte. Wenn das nichts ist.
Zögerlich greife ich danach, drehe sie um und schaue mir an, was darauf abgebildet ist: »’ne Quartettkarte mit ’nem Gorilla drauf?«
»Ist das Beste, was ich für dich tun kann«, verkündet Kong und lehnt sich wieder gegen die Fliesen.
Vorsichtshalber betrachte ich noch einmal die Karte – damit mir auch ja nichts entgeht. Ein Foto von einem Berggorilla in freier Wildbahn, darunter Spalten mit Zahlen. »Ist ein Witz.«
»Was du da in deinen kleinen Patschepfötchen hältst, ist keine normale Quartettkarte. Diese Karte besitzt außergewöhnliche Fähigkeiten.«
»Lass mich raten: Sie ist biologisch abbaubar?«
»Spott«, philosophiert Kong, »will immer nur Unwissenheit überdecken. Die Karte, Ray, ist eine Schützerkarte – vom Dalai Lama persönlich gesegnet. Trag sie bei dir, und sie wird dich vor dem Schlimmsten bewahren.«
Zu spät, denke ich. Phil ist weg, Rufus nicht länger zurechnungsfähig, und Kong quatscht mir Quartettkarten auf, wenn ich ihn um Drogen bitte. Wie viel schlimmer kann es noch kommen?
»Vertrau mir«, raunt Kong.
»Toll«, stoße ich beleidigt hervor, »eine Schützerkarte – und noch dazu von einem Lama gesegnet.« Ich mache eine Beschwörungsgeste. »Uuuh-uuuuhh! Danke. Bist ein echter Kumpel.«
Mit diesen Worten drehe ich ihm den Rücken zu und klettere in die rote Verbindungsröhre, die sein Haus mit dem Gehege verbindet.
Als ich in Trauer und Selbstmitleid versunken unser Gehege ansteuere, hat der Zoo bereits seine Pforten geschlossen. Den ganzen Tag lang haben sich die Pflastersteine aufgeheizt, jetzt versengen sie mir die Hinterklauen. Der Geruch von Seniorenschweiß, Pommes und Sonnencreme hängt in der Luft.
Ich stapfe blindlings den Weg entlang, als mich bei Erwins Gehege eine Überraschung erwartet. Da lehnt eine halbvolle Schnapsflasche im Gebüsch. Eine von denen, die wie ein Flachmann geformt sind. Das allerdings ist nicht die Überraschung, die ich meine. Die eigentliche Überraschung ist »Erwins Gehege«. So nenne ich es in Gedanken: Erwins Gehege. Es ist nicht länger Elsas Gehege, in dem jetzt eine peruanische Hasenmaus vor sich hinmuffelt, sondern es ist Erwins Gehege. Ich schaue zu dem Kupferdach hinauf, in dem sich die Abendsonne spiegelt, und es passiert – nichts. Ich spüre nichts mehr, mein Herz ist erkaltet. Innerlich bin ich bereits tot. Nur äußerlich noch nicht. Da müsste sich doch Abhilfe schaffen lassen, denke ich, und es ist dieser Gedanke, der mich einen folgenschweren Entschluss fassen lässt.
Ich trete an das Gebüsch heran, lasse Kongs Quartettkarte zu Boden segeln und schraube mühevoll den Deckel von der Schnapsflasche. Der Geruch fiesen Fusels zieht mir in die Nüstern und von dort direkt ins Gehirn. Bestens. Mit letzter Kraft setze ich die Flasche an, stemme sie in die Höhe, sehe Luftblasen in der braunen Flüssigkeit aufsteigen, zwinge den Inhalt meine Kehle hinunter und lasse die Flasche nicht eher zu Boden fallen, bevor nicht der letzte Tropfen seine Feuerspur auf meiner Zunge hinterlassen hat.
Ha!
HaaaaaAAAAAAAAHHHHH!!!!!
Offensichtlich bin ich innerlich doch noch nicht tot, jedenfalls nicht vollständig. Mein Herz mag erkaltet sein, aber dass ich nichts spüren würde, kann ich nicht sagen, beim besten Willen nicht. Keuchend und mit heraushängender Zunge finde ich mich auf allen vieren wieder. Ich unterdrücke eine Reihe von Würgereflexen. Gibt es wirklich Menschen, die dieses Zeug freiwillig trinken? Und sogar noch Geld dafür ausgeben? Was für eine bemitleidenswerte Spezies, der Mensch. So muss es sich anfühlen, wenn im Magen ein Satz Chinaböller explodiert.
Ich könnte nicht sagen, wie lange es dauert, bevor ich wieder in der Lage bin, mich aufzurichten, aber als es soweit ist, hat Mutter Erde deutlich an Stabilität eingebüßt. Ich scheine nicht länger zu gehen, sondern zu surfen. Kein Wunder – so wie der Weg sich plötzlich an den Rändern nach oben wellt. Hossa! Und wie das Kupferdach plötzlich auf den Wellen schaukelt. Auch der Gorilla auf Kongs bekloppter Schützerkarte ist zum Leben erwacht und schneidet mir Grimassen.
Ich halte die Karte auf das, was mir wie Augenhöhe vorkommt, und versuche, den Gorilla scharfzustellen. »Du willst mein Schützer sein?«, brülle ich. Mein Atem lässt die Karte beschlagen. »Dann zeig mal, was du draufhast!«
Weiß man ja eigentlich: dass eine Idee nicht zwingend eine gute Idee sein muss, nur weil es einem in einem bestimmten Moment so vorkommt, als sei sie eine. In meinem Fall ist es noch schlimmer. Ich weiß, dass meine Idee totale Grütze ist, und dennoch finde ich sie genial!
Nachdem es mir irgendwie gelungen ist, erst durch unseren Geheimgang in den Bau und dann von der Minus-2