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Als Ravensburger E-Book erschienen 2013

Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH
© 2009 Ravensburger Verlag GmbH

Umschlag und Innenillustrationen: Betina Gotzen-Beek
Lektorat: Jo Anne Brügmann

Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH

ISBN 978-3-473-47453-0

www. meerprinzessin.de
www.ravensburger.de

Für Jo Anne Brügmann,
das fantasievollste Seepferdchen von uns allen

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1

Krokodilfüße zum Anfassen

„Nella!“

Keine Antwort.

„Nella, komm ins Haus! Es gibt Sturm heute.“

Nella musste sich anstrengen, um nicht laut loszukichern und ihr Versteck zu verraten.

Zu komisch sah Oma Ida aus. Weil sie gerade Kuchen backte, klebte noch ein Rest Teig an ihrer Wange und ihr blauer gepunkteter Rock war mit Mehl bestäubt. Scheinbar hatte sie sich in aller Eile eine zu große gelbe Regenjacke geschnappt und Opa Josts Pudelmütze windschief über ihre kurzen schwarzen Haare gezogen. Ihre bloßen Füße steckten in grünen Gartenschuhen aus Gummi und sahen aus wie Krokodilmäuler.

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Nella lag bäuchlings im hohen Gras und verbarg ihren feuerroten Lockenkopf so tief wie möglich hinter den buschigen Dünenrosen. Dabei achtete sie sorgsam darauf, dass sie die zarten Blütenköpfe nicht zerquetschte. Bei ihren Rosen verstand Oma Ida nämlich keinen Spaß. Nun sah man kaum noch mehr von ihr als eine winzige weiße Nasenspitze.

Die Dünenrosen, aus denen Oma Ida im Herbst Hagebutten für leckeren Tee trocknete, trugen denselben ungewöhnlichen Namen wie Nella: Pimpinella.

„Nella! Mach keinen Unsinn. Wo steckt diese Krabbe nur schon wieder?“ Oma Ida machte einen weiteren Schritt in den blühenden Garten.

Nella atmete tief ein und hielt die Luft an. Oma Ida roch nach frisch geschnittenen Äpfeln. Also gab es Apfelkuchen. Lecker!

Doch leider hatte Nella überhaupt keine Lust, ihren allerersten Ferientag drinnen im Haus bei Oma Ida zu vertrödeln. Auch wenn es ihren Lieblingskuchen zum Tee gab.

Oma Ida arbeitete als Krankenschwester in dem kleinen Fischerdorf, in dem Nella zusammen mit ihren Großeltern wohnte.

Sie hatte schon einmal dem Bürgermeister höchstpersönlich den oberen linken Backenzahn gezogen, als der Zahnarzt gerade im Skiurlaub gewesen war. Kein Wunder also, dass Oma Ida sehr beliebt war.

Allerdings, fand Nella, war Oma Idas wirklicher Beruf Apfelkuchenbäckerin. Mit ihrem köstlichen Apfelkuchen hatte sie schon dreimal hintereinander den Pokal beim Hafenfest gewonnen.

Ihr geheimes Apfelkuchenrezept lag sicher verwahrt in einer echten Schatztruhe, die Opa Jost von einer Weltreise mitgebracht hatte. Nur er selbst besaß einen Schlüssel dafür. Und diesen geheimnisvollen Schlüssel trug er sogar nachts an einem speckigen Lederband um seinen Hals. Bestimmt tausendmal hatte Nella Opa Jost, der von allen nur der Käpt’n genannt wurde, angebettelt, sie in die Truhe hineinschauen zu lassen.

Aussichtslos!

Immer wieder spann der Käpt’n neues Seemannsgarn und dachte sich die abenteuerlichsten Begründungen dafür aus, dass der heutige Tag auf gar keinen Fall für einen Blick in die Truhe infrage kam. Irgendwann war Nella deshalb richtig wütend geworden. Eines Nachts, als Oma Ida und der Käpt’n schliefen, hatte sie heimlich versucht, das Schloss mit einer spitzen Nagelschere aufzuknacken.

Vergeblich!

Opa Jost war viele Jahre um die ganze Welt geschippert, bis er das Herumreisen sattgehabt hatte und von einem Tag auf den anderen Leuchtturmwärter geworden war. Der beste Leuchtturmwärter weit und breit! Wenn Nella nicht zur Schule gehen musste, blieb sie manchmal einen ganzen Tag lang mit ihm auf dem Turm. Dann kletterte er mit ihr die dreihundertsechs Stufen bis unter das eiserne Dach hinauf und ließ sie durch sein Fernglas schauen. Nella war fest davon überzeugt, dass man dort oben bei gutem Wetter bis nach Australien gucken konnte.

Mittlerweile waren Oma Idas Krokodilfüße zum Anfassen nahe.

Echt witzig.

Oma Ida schüttelte besorgt den Kopf. „Das Kind wird sich doch nicht plötzlich unsichtbar machen können,“ murmelte sie. „Hoffen wir das Beste.“

Nella spürte ein nicht aufzuhaltendes Glucksen. Um nicht alles zu verderben, presste sie schnell beide Handflächen so fest wie möglich auf ihren Mund. Sie schüttelte sich lautlos vor unterdrücktem Lachen.

In Gedanken versunken ging Oma Ida ins Haus zurück und schloss die Tür.

Endlich!

Die Erwachsenen machten sich immer viel zu viele Sorgen um Kinder, dachte Nella. Immerhin war sie beinahe zehn Jahre. Steinalt also. Sie konnte sehr gut auf sich selber aufpassen.

Nella sprang ungeduldig auf. Ein kleiner Windstoß blies Pimpinella Ozeana Filomena Petersilie Seestern, wie Nella mit vollem Namen hieß, doch nicht ins Meer hinaus. Schließlich stammte sie aus einer waschechten Seemannsfamilie.

Übermütig hechtete sie über den Gartenzaun und stürmte barfuß hinunter zum Meer.

Sie hatte heute nämlich noch sehr viel vor.

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2

Ein gefährliches Versteck

Um das Fischerdorf, in dem Nella aufwuchs, auf einer Landkarte zu finden, brauchte man eine sehr gute Lupe. Es war nämlich winzig klein.

Trotzdem gab es alles, was seine Bewohner für ein angenehmes Leben brauchten: einen sicheren Hafen und stabile Holzschuppen für die Boote und Netze der Fischer. Eine frisch gestrichene Schule mit zwei Lehrern. Außerdem einen kleinen Sandstrand zum Baden und natürlich Opa Josts Leuchtturm vor der steilen Klippenwand mitten im Meer. Opa Jost sorgte gewissenhaft dafür, dass die Steuermänner ihre Fracht auch bei schlimmstem Sturm und Regen mit heiler Haut um die gefährlichsten Stellen führten.

Und zu guter Letzt gab es – Nellas geheime Felsenhöhle.

Wenn Pimpinella Ozeana Filomena Petersilie Seestern, die alle bloß Nella riefen, nicht gerade versuchte, hinter das Rätsel von Opa Josts Schatztruhe zu kommen, kümmerte sie sich um ihren eigenen geheimen Schatz.

Und der war noch viel geheimer als jedes Apfelkuchenrezept der Welt! Er lag gut versteckt in der Felsenhöhle.

Allerdings war das keine Höhle, in die man wie in einen Tunnel hineinklettern und darin herumspazieren konnte. Eher musste man sich diese Höhle wie ein großes, vor dem Meerwasser geschütztes Loch in den Klippen vorstellen. Nella konnte bequem hineingreifen und Dinge darin verstecken, die niemand finden sollte. Denn am Strand konnte man jede Menge interessante Sachen auflesen, die angeschwemmt worden waren. Nach einem heftigen Sturm war die Ausbeute ganz besonders toll.

Eine echte Flaschenpost mit fünf bunten Haargummis darin und einen Brief, den man leider nicht mehr lesen konnte, weil die Tinte zerflossen war. Oder eine Zahnspange mit schicken Glitzersteinchen. Ein Postpaket voller Süßigkeiten, die aneinandergeklebt waren. Vor allem die Gummibärchen schmeckten ganz scheußlich nach Meersalz. Und was man sonst noch alles an einem Strand fand: Badehosen – witzig, leere Zigarettenschachteln – eklig.

Heute war die Ausbeute leider mager. Bis auf eine verbeulte Coladose mit ekligen aufgeweichten Pommes war nichts zu entdecken.

Nella stromerte ziellos über den menschenleeren Strand. Ein paar Möwen staksten beleidigt zur Seite, als sie an ihnen vorbeihüpfte. Sie liebte das Meer und konnte stundenlang über das Wasser schauen. Wenn sie groß war, wollte sie auf einem riesigen Dampfer um die ganze Welt reisen. Das hatte sie sich ganz fest vorgenommen.

Aber jetzt waren erst einmal Ferien. Ein ewig langer Sommer ohne jeden Tag Schule erwartete sie. Und am allermeisten freute sich Nella auf ihren Geburtstag. Weil sie zehn Jahre alt wurde, hatte Opa Jost ihr eine besondere Feier versprochen.

In zwei Tagen war es so weit. Juchhu!

Zusammen mit ein paar Freunden wollte Nella hinaus zum Leuchtturm rudern, dort Omas Apfelkuchen mit Bergen von Schlagsahne verspeisen und mit Opa Jost gemeinsam Nachtwache halten.

Wenn sie es sich genau überlegte, war eigentlich nur Max ein richtiger Freund.

Ihr allerbester Freund.

Im Gegensatz zu Nella, die keine Sekunde still sitzen konnte und ständig auf den Beinen sein musste, mochte es Max lieber gemütlich. Vielleicht war das der Grund, warum er ein echtes Schwergewicht war. Sein Spitzname in der Schule war „Klops“. Das fand Max allerdings nicht so lustig wie die anderen Kinder. Einmal hatte Nella ihn dabei beobachtet, wie er in der großen Pause heimlich weinte. Da hätte sie am liebsten gleich mitgeheult.

Oma Ida war ja der Meinung, Max sei nur ein zu klein geratener Riese. Sie behauptete, wenn er weiter wachsen würde, könnte er mit seiner Nasenspitze irgendwann sogar die Wolken hin und her schieben.

Nella spürte, wie der Wind in ihre Locken fuhr und darin herumstöberte. Sie schüttelte sich, weil es angenehm kitzelte. Nella mochte stürmisches Wetter und sauste noch einen Zacken schneller über den Strand. Der feuchte Sand zwischen ihren Zehen fühlte sich angenehm kribbelig an.

Endlich war sie an den Klippen. Sie hatte das Gefühl, dass sie schon ewig nicht mehr hier gewesen war. Oma Ida sah es nicht gerne, wenn sie alleine an den Felsen spielte. Furchtlos kletterte sie über die steilen Felsbrocken hinauf zu ihrer geheimen Höhle. Sie steckte beide Arme tief hinein und holte ein knallbuntes Wolltuch heraus, das mit einem Doppelknoten zugebunden war.

Nella legte das Bündel vorsichtig auf eine Felsplatte und öffnete den Knoten. Schillernde Muscheln in allen Formen und Farben kamen zum Vorschein. Nella seufzte vor Freude laut auf, als sie ihre schöne Sammlung betrachtete. Ordentlich legte sie eine Muschel neben die andere, dabei sortierte sie sie nach Farben und Größen. Schließlich pustete sie noch ein paar störende Sandkrümel weg.

Behutsam nahm sie eine besonders schöne grünblaue Muschel in die Hand und rieb ihre Oberfläche mit ein wenig Spucke blitzblank.

Im gleichen Moment tauchte zum ersten Mal an diesem wolkigen Tag die Sonne am Himmel auf. Sie warf ihr grelles Licht auf Nella und die Muschel. Die grünblaue Schale begann augenblicklich in allen Regenbogenfarben zu schillern. Wie in einem Spiegel erblickte Nella ihr Gesicht auf der glänzenden Oberfläche. Sie streckte ihrem Spiegelbild frech die Zunge heraus. Ihr Spiegelbild grinste keck zurück. Nella erwiderte das Grinsen.

So ging das eine ganze Weile hin und her. Und dann hatte Nella für einen klitzekleinen Augenblick das Gefühl, ein zweites Gesicht in der Muschel zu entdecken, das sie neugierig ansah.

Seltsam!

Urplötzlich verschwand die Sonne hinter einer riesigen grauen Wolkenwand. Ein greller Lichtblitz durchzuckte den Himmel und färbte die Wolken dunkellila. Ein Donnerschlag rollte sekundenschnell hinterher. Der Knall jagte den vor sich hin träumenden Wasservögeln am Ufer einen furchtbaren Schrecken ein. Zeternd flogen sie auf und segelten über das schäumende Wasser davon.

Schlagartig färbte sich die Spiegelmuschel purpurrot. Flammen loderten aus dem Muschelinneren. Nella schrie laut vor Entsetzen und ließ die Muschel auf einen der Felsbrocken fallen. Ihr Ruf schwappte über das weite Meer hinaus und kehrte als unheimliches Echo zurück auf die Klippen.

Die Muschel zerbarst in hundert winzige Splitter und zerfiel zu schwarzem Staub.

Nella starrte geschockt auf die rußigen Überreste ihrer schönsten Muschel. Eine Gänsehaut nach der anderen jagte über ihren Rücken. Regen prasselte aus dicken Wolken auf sie herab. Er schien aus allen Himmelsrichtungen gleichzeitig zu kommen.

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„Nella, komm sofort runter. Deine Oma sucht dich überall.“ Max spähte neugierig zu Nella auf den Felsen hinauf. „Was machst du denn auf den glitschigen Steinen?“ Seine braunen Augen waren vor Erstaunen kugelrund.

„Max!“, rief Nella erleichtert. Vor Furcht und Kälte klapperte sie heftig mit den Zähnen. Ohne nachzudenken, sprang sie mit ein paar gewagten Sätzen von der Klippe und landete direkt vor Max’ Füßen im Sand.

„Was hast du denn da oben Schönes versteckt?“, fragte er gespannt.

„Meine Muscheln!“, rief Nella aufgeregt. „Fast hätte ich meine Muscheln vergessen.“

Max liebte Muscheln über alles. Zu Hause in seinem Zimmer hatte er eine Muschel aus der Karibik, die war größer als sein Kopf. Wenn man sein Ohr an die Öffnung hielt, konnte man sogar die Fische flüstern hören, behauptete Max. Begeistert kletterte er mit Nella zurück auf die Felsen und half ihr, alle übrigen Muscheln sorgfältig in ihrem Versteck zu verstauen.

„Nicht, dass du dich bei den anderen verplapperst“, ermahnte sie ihn dabei. „Das ist mein Geheimnis!“

„Ab heute sind die Höhle und deine Muscheln unser Geheimnis“, antwortete ihr Max strahlend. „Ganz allein von dir und mir. Ich schwöre!“ Er hob drei Finger zum Schwur.

Dann bemerkte er das rußige Häufchen Staub. „Da hat einer gekokelt“, murmelte er und vermischte die Asche mit seiner Fußspitze sorgfältig mit dem weißen Sand.

„Oma Ida macht bestimmt Apfelmus aus mir“, beschwor Nella düster die Zukunft. „Dann erbst du meine Muscheln.“

Max nickte. „Ich werde sie für immer in Ehren halten“, versprach er ernst.

Schon kletterten die beiden die Klippe hinunter und rannten im Dauerlauf los.