Harald Welzer
Alles könnte anders sein
Eine Gesellschaftsutopie für freie Menschen
FISCHER E-Books
Spätestens seit seinem Bestseller »Selbst Denken« gilt Harald Welzer als einer der anregendsten Intellektuellen Deutschlands. Mit seiner Initiative »Die offene Gesellschaft« mischt er sich durch Aktionen, Konzerte und Perfomances bundesweit in die politischen Debatten ein; die Stiftung »Futurzwei«, deren Direktor er ist, sammelt Geschichten von besseren Lebensstilen und einer gelingenden Zukunft. Außerdem lehrt er Transformationsdesign an der Universität Flensburg sowie an der Universität St. Gallen. In den Fischer Verlagen sind von ihm zuletzt erschienen: »Selbst denken«, »Die smarte Diktatur. Der Angriff auf unsere Freiheit« sowie »Wir sind die Mehrheit«. Seine Bücher sind in 21 Ländern erschienen.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Früher war die Zukunft besser. Heute scheint keiner zu glauben, dass es unseren Kindern mal besser gehen wird. Muss das so sein?
Muss es nicht! Der Soziologe und erprobte Zukunftsarchitekt Harald Welzer entwirft uns eine gute, eine mögliche Zukunft: Darin gibt es Städte ohne Autos, Schulen ohne Gebäude, die Menschen erhalten ein Grundeinkommen, und Grenzen gibt es auch nicht mehr. Erfrischend und Mut machend zeigt Welzer: Die vielbeschworene »Alternativlosigkeit« ist in Wahrheit nur Phantasielosigkeit. Alles kann tatsächlich anders sein. Man braucht nur eine Vorstellung davon, wie es sein sollte. Und man muss es machen.
Erschienen bei FISCHER E-Books
© 2019 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: Sonja Steven, Büro KLASS
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-490922-6
Christoph Süß, Morgen letzter Tag. Ich und Du und der Weltuntergang. München: Knaus 2012, S. 11f.
Rutger Bregman, Utopien für Realisten. Reinbek: Rowohlt 2017, S. 15ff.
Ebd., S. 9.
Dies ist trotz der horrenden Zahl kein Widerspruch zu dem, was Pinker herausgearbeitet hat. Gemessen an der Weltbevölkerungsgröße im 20. Jahrhundert kommen immer noch relativ weniger Gewaltopfer heraus als in den vorhergehenden Jahrhunderten. Nur die absolute Größe im vergleichsweise kurzen Zeitraum (1914 – 18 bzw. 1939 – 45) bildet einen historischen Rekord.
Erich Fromm, Die Furcht vor der Freiheit. München: dtv 1993.
Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. München: Piper 1991; Sebastian Haffner, Geschichte eines Deutschen. München: Pantheon 2014.
Neu ist, und das ist kein gutes Zeichen, dass diese gesellschaftliche Ordnung jetzt angegriffen wird, ohne dass eine wirtschaftliche Krise existieren würde. Demokratiefeindlichkeit in Zeiten von Hochkonjunktur ist eine für moderne Gesellschaften neue Erscheinung.
Wir verzeichnen gegenwärtig in globaler Perspektive erstens einen Rückgang von Demokratien und zweitens einen wirtschaftlichen Aufstieg von Autokratien wie China, die ihre Herrschaftstechnologien mittels Digitalisierung ausbauen. Zugleich zerstört die Digitalisierung in den existierenden Demokratien eine ihrer Voraussetzungen: die Trennung von privat und öffentlich. Drittens erfolgt ein Angriff von politisch antidemokratischer Seite: von der traditionellen Rechten, die von den beiden anderen Angriffen profitiert, auch wenn sie selbst nichts Neues zu bieten hat.
Claudius Seidl, Der Mann aus der Zukunft, in: Dana Giesecke et al. (Hg.), Welzers Welt. Störungen im Betriebsablauf. Frankfurt/M.: Fischer 2018, S. 374ff.
Ebd., S. 375.
Ebd., S. 377.
Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus. Logisch-philosophische Abhandlung. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1980, S. 105f.
Günther Anders, Besuch im Hades. Auschwitz und Breslau 1966. München: Beck 1997.
François Rochat & Andre Modigliani, Authority: Obedience, Defiance, and Identification in Experimental and Historical Contexts, in: Martin Gold & Elisabeth Douvan (Hg.), A New Outline of Social Psychology. Washington 1997, S. 235–247.
Zit. nach Marianne Gronemeyer, Die Grenze. München: oekom 2018, S. 117.
Ansprache beim Welttreffen der Volksbewegungen, Santa Cruz de la Sierra, 9. Juli 2015. Zitiert nach: vatican.va, 9. Juli 2015.
Eine eindrucksvolle filmische Untersuchung des Aufeinandertreffens zweier Kulturen liefert Nicholas Roegs Film »Walkabout« (1971), in dem es um die nicht mögliche Beziehung zweier gleichaltriger Kinder geht, eines bürgerlichen Mädchens und eines jungen Aborigine, dem »Walkabout«.
Hans-Paul Bahrdt, Schlüsselbegriffe der Soziologie. München: Beck 1985, S. 78.
Andrew T. Jebb, Louis Tay, Ed Diener & Shigehiro Oishi, »Happiness, income satiation and turning points around the world«, Nature Human Behaviour Vol. 2 (Januar 2018): 33. https://doi.org/10.1038/s41562-017-0277-0.
»Weltweit gilt: Wo das durchschnittliche Einkommen der Menschen unterhalb von 20000 US-Dollar pro Kopf liegt, führt mehr Einkommen dazu, dass Menschen glücklicher werden. In Ländern oberhalb dieses Durchschnitts führt Wirtschaftswachstum nicht zu glücklicheren Menschen.« Mathias Binswanger in Stapferhaus Lenzburg (Hg.), Geld. Jenseits von Gut und Böse. Lenzburg: Stapferhaus 2014, S. 44.
Das Bewusstsein über einen Sachverhalt hat nicht zwingend Verbindung zur Handlungsmotivation, und wo sie eine hat, kann die Handlung unerwartet ausfallen. Die Schaffung von Bewusstsein über den menschengemachten Klimawandel kann zum Beispiel zum Kauf eines riesigen SUVs führen, weil der Käufer annimmt, dass solche Fahrzeuge bald verboten werden. Bewusstsein über denselben Sachverhalt kann auch die Funktion haben, dass man »mitreden«, sich also als informierter und besorgter Zeitgenosse zeigen kann. Es kann auch dazu führen, dass man ironische Selbstkommentare an Berichte über eigenes klimaschädliches Verhalten hängt (»Ja, ich weiß, diese Reise war echt klimafreundlich, haha«).
Der neue Fischer-Weltalmanach 2019. Zahlen Daten Fakten. Frankfurt/M.: Fischer 2018, S. 22.
Mark Twain, Tom Sawjers Abenteuer und Streiche, übers. v. Margarete Jacobi, www.gutenberg.spiegel.de/buch/tom-sawyers-abenteuer-und-streiche-1673/3.
Olivia Zaleski, »Inside Airbnbs Battle to Stay Private«, Bloomberg, 6. Februar 2018. Letzter Zugriff am 19. September 2018. https://www.bloomberg.com/news/articles/2018-02-06/inside-airbnb-s-battle-to-stay-private.
Harald Welzer, Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden. Frankfurt/M.: Fischer 72007.
Kate Raworth, Die Donut-Ökonomie: Endlich ein Wirtschaftsmodell, das unseren Planeten nicht zerstört. München: Hanser 2018.
Ralf Dahrendorf, Die Globalisierung und ihre sozialen Folgen werden zur nächsten Herausforderung einer Politik der Freiheit. An der Schwelle zum autoritären Jahrhundert (https://www.zeit.de/1997/47/thema.txt.19971114.xml).
Die folgenden Gedanken sind angelehnt an den Bericht zu einem Forschungsprojekt zur Gemeinwohlökonomie, das an der Europa-Universität Flensburg und an der CAU Kiel durchgeführt wurde (Gemeinwohlökonomie im Vergleich unternehmerischer Nachhaltigkeitsstrategien. Unv. Projektbericht, Europa-Universität Flensburg 2018).
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 29.7.2018, S. 1.
Süddeutsche Zeitung, 8./9.9.2018, S. 24.
J. Darley, & C.D. Batson, »From Jerusalem to Jericho: A study of situational and dispositional variables in helping behaviour«, Journal of Personality and Social Psychology 27 (1973): 100–108.
Gronemeyer weist auch auf die Kontrollfunktion hin, die durch das Fürsorgemonopol ausgeübt wird: Man brauche, schreibt sie, »um seinen Mitmenschen zu helfen, eine Genehmigung. Und darum müssen Menschen, die sich bereit erklären, Flüchtlingskinder Deutsch zu lehren, eine pädagogische Ausbildung, möglichst akademisch, und einschlägige Berufserfahrung nachweisen. Der Kontrollfuror ist die dunkle Kehrseite des Sozialstaates.« (Gronemeyer, Die Grenze (wie Anm. 15), S. 184.)
Richard Muller, Die größte Umweltkatastrophe, in: John Brockman (Hg.), Neuigkeiten von Morgen. Frankfurt/M.: Fischer 2018, S. 66.
Alois Stutzer & Bruno Frey, Stress that doesn’t pay: The Commuting Paradox. Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit: Discussion Paper 1278, 2014.
Zitiert nach Harry Walter, Wie sich das Auto ganz von selbst abschaffen könnte, in Dana Giesecke et al. (Hg.), Welzers Welt. Frankfurt/M.: Fischer 2018, S. 402.
Ivan Illich, Entschulung der Gesellschaft, 1987, S. 147, zit. nach Gronemeyer, Die Grenze (wie Anm. 15), S. 77.
Fahrmeir, Andreas, »Nineteenth Century German Citizenships: A Reconsideration«, The Historical Journal (40:3) 1997: 721–752.
Valentin Groebner, Der Schein der Person. Steckbrief, Ausweis und Kontrolle im Mittelalter. München: Beck 2004, S. 167.
Ebd., S. 168.
Alle Zahlen aus der Süddeutschen Zeitung vom 11./12.8.2018, S. 8.
Hans-J. Markowitsch & Harald Welzer, Das autobiographische Gedächtnis. Hirnorganische Grundlagen und biosoziale Entwicklung. Stuttgart: Klett-Cotta 2005.
Zeit, schreibt Elias, ist eine »symbolische Synthese auf sehr hoher Ebene, eine Synthese, mit deren Hilfe Positionen im Nacheinander des physikalischen Naturgeschehens, des Gesellschaftsgeschehens und des individuellen Lebensablaufs in Beziehung gebracht werden können.« (Norbert Elias, Über die Zeit. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1984, S. XXIV.)
https://www.deutschlandfunk.de/vor-125-jahren-einfuehrung-der-mitteleuropaeischen-zeit-das.871.de.html?dram:article_id=414463.
https://www.br.de/themen/wissen/mitteleuropaeische-zeit-einfuehrunggeschichte-100.html.
Diese Bezeichnung hat sich eingebürgert, obwohl der »Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften« von der schwedischen Reichsbank erst 1968 gespendet wurde. Er wird aber zugleich mit den anderen Nobelpreisen verliehen.
Von Ikarien (Uwe Timm 2017) bis zu Otto Mühls AAO (Aktionsanalytische Organisation) ist die Geschichte voll von Gemeinschaftsprojekten, die mit guten Absichten gestartet sind, aber gerade in ihrer hermetischen Absetzung von der Normalgesellschaft Machtverhältnisse und Abhängigkeiten, Allmachts- und Gewaltphantasien hervorbrachten, die gruselig waren.
Dirk van Laak, Alles im Fluss. Die Lebensadern unserer Gesellschaft. Frankfurt/M.: Fischer 2018, S. 206ff.
Ebd., S. 119
Harald Welzer, Mentale Infrastrukturen. Wie das Wachstum in den Geist und in die Seele kam. Berlin: boell-stiftung 2011.
Michael Kopatz, Ökoroutine. München: oekom 2017; Reinhard Loske, Politik der Zukunftsfähigkeit. Frankfurt/M.: Fischer 2017.
Das kommt aus den USA, wird aber auch in Europa gerade Mode. Auf einer Konferenz zum Thema »Krieg« beschwerte sich gerade eine Studentin darüber, dass ich in meinem Vortrag von Vergewaltigungen gesprochen habe, ohne vorher die Trigger-Warnung ausgegeben zu haben, dass ich über Vergewaltigungen sprechen würde.
Odo Marquard, Skepsis in der Moderne. Philosophische Studien. Stuttgart: Reclam 2007, S. 63.
YouGov, YouGov Survey Results (London: YouGov plc., 2015). Letzter Zugriff am 19. September 2018. https://2d25d2506sfb94 s.cloudfront.net/cumulus_uploads/document/g0h77ytkkm/Opi_InternalResults_150811_Work_W.pdf; Will Dahlgreen, »37 % of British workers think their jobs are meaningless«, YouGov, 12. August 2015. Letzter Zugriff am 19. September 2018. https://yougov.co.uk/news/2015/08/12/british-jobs-meaningless/
David Graeber, Bullshit-Jobs: Vom wahren Sinn der Arbeit. Stuttgart: Klett-Cotta 2018.
Bronnie Ware, 5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuen. München: arkana 2013.
Zitiert nach Alexander Kluge, »Wer ein Wort des Trostes spricht, ist ein Verräter.« 48 Geschichten für Fritz Bauer. Berlin: Suhrkamp 2013.
Was ich Realismus nenne, ist bitte nicht zu verwechseln mit dem rührenden Positivismus, den der Philosoph Markus Gabriel vertritt, indem er der Auffassung ist, dass Menschen »die Dinge an sich, also so wie sie auch unabhängig von uns wären, erkennen können. Wenn ich zum Beispiel herausfinde, dass es mehr als eine Milliarde Galaxien gibt, finde ich heraus, wie die Dinge auch gewesen wären, selbst wenn ich es nicht herausgefunden hätte. Und zwar ganz unproblematisch. In dem Fall durch die Methoden der Wissenschaft kombiniert mit vernünftigem Nachdenken usw. Das können wir. Menschen sind Wesen, die Wissen erlangt haben und ihr Leben an dieser Tatsache ausrichten. Wir wissen nicht nur, sondern wir wissen sogar, dass wir wissen.« (https://www.theeuropean.de/markus-gabriel/11902-interview-mit-markus-gabriel) Da staune ich als Nicht-Philosoph, was in dieser Disziplin heute so alles durchgeht.
https://www.welt.de/wirtschaft/article140455786/Wer-von-der-Migration-wirklich-profitiert.html.
Die Bundesregierung der Republik Deutschland, Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Abgeordneten Markus Frohnmaier, Dietmar Friedhoff, Ulrich Oehme und der Fraktion der AfD in Drucksache 19/3186 (2018): 9–14. Letzter Zugriff am 19. September 2018. http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/19/031/1903186.pdf.
Rutger Bregman, Utopien für Realisten. Reinbek: Rowohlt 2017, S. 212ff.
Natürlich ist auch in der Utopie nichts einfach: Wenn mehr Menschen in Konsumentenklassen aufsteigen, müssen die Weltführer im Konsum ihren eigenen natürlich reduzieren. Aber die haben in utopischer Perspektive ja ohnehin schon längst damit angefangen, wenn die Grenzen fallen.
Valentin Groebner, Retroland. Geschichtstourismus und die Sehnsucht nach dem Authentischen. Frankfurt/M.: Fischer 2018, S. 14.
Van Laak, Alles im Fluss, S. 103.
Das ist natürlich eine Anspielung auf Adornos Definition von Liebe aus der »Minima Moralia«.
Julian Grah, Nicole Hasenkamp, Vera Herzmann, Theresa Pham & Andreas Schwendener, Die Zukunft der Solidarität. Unv. Seminararbeit 2018.
Der Gini-Index oder Gini-Koeffizient misst die Größe der Ungleichheit innerhalb einer Gesellschaft.
Dirk Messner, Die Our-Country-First-Internationale stoppen, in Dana Giesecke et al. (Hg.), Welzers Welt. Störungen im Betriebsablauf. Frankfurt/M.: Fischer 2018, S. 254ff.
Frank Rieger, Die Aufmerksamkeitsvampire. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 19.9.2018, S. 43.
https://www.welt.de/wirtschaft/plus175939955/Jeff-Bezos-Sein-Weg-zum-reichsten-Menschen-der-Welt.html.
Christian Felber, Gemeinwohlökonomie. Das Wirtschaftsmodell der Zukunft. Wien: Deuticke 2010.
Bernd Sommer, Harald Welzer & Ludger Heidbrink, Gemeinwohlökonomie im Vergleich unternehmerischer Nachhaltigkeitsstrategien. Unv. Projektbericht April 2018.
Vgl. als Überblick Silke Helfrich (Hg.), Commons. Für eine neue Politik jenseits von Staat und Markt. München: oekom 2012.
Gemeingüter, deren Nutzungsmöglichkeiten begrenzt sind, sind von solchen zu unterscheiden, die unbegrenzt genutzt werden können. Das ist der Unterschied zwischen einer Wiese und einem Wikipedia-Eintrag, man nennt das »rivalisierende« bzw. »nicht-rivalisierende Güter«.
Süddeutsche Zeitung, 8./9.9.2018, S. 24.
Mariana Mazzucato, Das Kapital des Staates. München: Kunstmann 2014.
Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. München: Beck 2009, S. 937.
https://www.tagesspiegel.de/weltspiegel/sonntag/ex-puma-chef-jochenzeitz-ich-will-nicht-der-freak-sein-der-in-afrika-eine-ranch-hat/12956818.html.
Siehe hierzu www.futurzwei.org sowie die drei FUTURZWEI-Zukunftsalmanache. Eine gute Übersicht gibt auch Uwe Schneidewind, Die große Transformation. Frankfurt/M.: Fischer 2018.
Frank Olin Wright, Reale Utopien. Wege aus dem Kapitalismus. Berlin: Suhrkamp 2017.
Hans Diefenbacher et al., Zwischen den Arbeitswelten. Der Übergang in die Postwachstumsgesellschaft. Frankfurt/M.: Fischer 2016.
Rob Hopkins, Einfach Jetzt Machen. Wie wir unsere Zukunft selbst in die Hand nehmen. München: oekom 2014.
Benjamin Barber, If Mayors Ruled the World: Dysfunctional Nations, Rising Cities. Yale: University Press 2014.
Jean Claude Bolay et al. (Hg.), Learning from the Slums for the Development of Emerging Cities. München & New York: Springer 2016.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.9.2018, S. N2.
https://www.detail.de/artikel/abgehoben-wohnhaus-am-dantebad-in-muenchen-30313/.
Es gab ja diesen kurzen Moment des Aufblitzens von Vernunft, als im Kontext des Dieselskandals erwogen wurde, den öffentlichen Nahverkehr kostenlos zu machen, um Individualverkehr und damit Feinstaubemissionen zu reduzieren. Als man damit fertig war, sich die Augen zu reiben, um sicherzugehen, dass man nicht träumte, war der Vorschlag schon wieder vom Tisch.
Richard David Precht, Jäger, Hirten, Kritiker. Eine Utopie für die digitale Gesellschaft. München: Goldmann 2018.
Zit. nach Bernd Sommer & Harald Welzer, Transformationsdesign. Wege in eine zukunftsfähige Moderne. München: oekom 2014, S. 201.
Schulformen des Gelingens finden sich im Archiv der Zukunft http://www.archiv-der-zukunft.de/.
Will Steffen et al., Trajectories of the Earth System in the Anthropocene. https://doi.org/10.1073/pnas.1810141115. In einem Kommentar zu dem Überblicksartikel auf der Seite des Potsdamer Instituts für Klimafolgenforschung erklärt Steffen: »Unsere Arbeit weist darauf hin, dass eine vom Menschen verursachte Erwärmung von 2 Grad Celsius andere Prozesse des Erdsystems anstoßen könnte (oft als Rückkoppelungen bezeichnet). Diese wiederum könnten die Erwärmung weiter vorantreiben – selbst wenn wir aufhörten, Treibhausgase auszustoßen.« Man fragt sich wirklich, was die Autoren mit solchen Mitteilungen erreichen wollen, außer auch noch die Gutwilligsten zu entmutigen.
Max Horkheimer & Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Frankfurt/M.: Fischer 1973.
Steven Pinker, Aufklärung jetzt. Für Vernunft, Wissenschaft, Humanismus und Fortschritt. Eine Verteidigung. Frankfurt/M.: Fischer 2018, S. 170.
Josef H. Reichholf, Stabile Ungleichgewichte. Die Ökologie der Zukunft. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2008, S. 99ff.
Ebd.
PBL Netherlands Environmental Assessment Agency, Global climate action of cities, regions and businesses, Report no. 3356, 30.8.2018.
Forum für Verantwortung, Wälder für die Welt. Waldlösungen im Klimaschutz. Unv. Projektskizze, 2018.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.9.2018, S. 15.
Pinker, Aufklärung jetzt (wie Anm. 91), S. 171.
Als Stoffwechsel oder Metabolismus bezeichnet man die gesamten chemischen und physikalischen Vorgänge der Umwandlung chemischer Stoffe bzw. Substrate (z.B. Nahrungsmittel und Sauerstoff) in Zwischenprodukte und Endprodukte im Organismus von Lebewesen. Diese biochemischen Vorgänge dienen dem Aufbau, Abbau und Ersatz bzw. Erhalt der Körpersubstanz sowie der Energiegewinnung für energieverbrauchende Aktivitäten und damit der Aufrechterhaltung der Körperfunktionen und damit des Lebens. (Wikipedia)
Man muss tatsächlich erst mal daran erinnern: Menschen sind Lebewesen, daher brauchen sie trinkbare Flüssigkeiten, essbare Substanzen und Sauerstoff, um ihre Überlebensfunktionen aufrechtzuerhalten. Der Stoffwechsel erfordert Böden und Gewässer und Atemluft. Daten, Autos und Kreuzfahrten kann man weder essen noch trinken, sie produzieren auch keinen Sauerstoff.
Jede Gesellschaftsutopie muss davon ausgehen, dass das Überleben aller Menschen sichergestellt ist. Das ist nicht trivial. Erstens: Weil das in der Gegenwart keineswegs für alle Menschen schon so ist. Zweitens: Weil in hochgradig fremdversorgten Gesellschaften vergessen wird, dass Leben Voraussetzungen hat, die nicht künstlich sind. Drittens: Weil der gesellschaftliche Stoffwechsel heute durch eine Wirtschaft organisiert wird, die an den grundlegenden Voraussetzungen des Lebens nicht interessiert ist. Was viertens anders werden muss.
Vor einigen Jahren hatte ich das große Vergnügen, eine traumhafte Flussfahrt zu machen, geführt von einem Fischer in seinem kleinen Boot, auf das gerade mal acht Passagiere passten. Das Licht war großartig an diesem frühen Tag, und wir sahen Scharen von Seeschwalben und Bekassinen auf dem Wasser, Milane und Fischadler hoch am Himmel, Biber am Ufer und sonst noch alles Mögliche. Zwischendurch picknickten wir, und der Fischer holte Räucherfisch, Hechtsalat und Bier aus seinen Kühltaschen. Ich dachte: Das Leben kann schon sehr gelungen sein!
Der Fluss, den wir herabfuhren, war nicht der Amazonas, es war auch nicht der Mississippi, obwohl das Grundgefühl schon sehr Mark-Twain-mäßig war. Es war: die Havel, und wir fuhren von Havelberg (wo Elbe und Havel zusammenfließen) in Richtung Berlin. Die Havel wird gerade renaturiert, das heißt: Uferbefestigungen werden beseitigt, abgeschnittene Flussarme wieder angeschlossen, Überflutungswiesen wieder mit dem Fluss verbunden. Daher diese beeindruckende Landschaft; irgendwann einmal, wenn dieses größte Flussrenaturierungsprojekt Europas abgeschlossen ist, wird man einen Eindruck bekommen können, wie so ein Fluss aussieht, wenn er nicht industriell genutzt wird. Aber auch jetzt schon war die Natur überwältigend.
Als wir gegen Nachmittag zurückfuhren, fragte ich meine Mitreisenden, allesamt ökobewegt und beim NABU oder beim WWF oder so, was sie denn im tiefsten Innersten antreibe, sich für die Umwelt zu engagieren (und, wie wir alle, tief berührt von so einem Ausflug zu sein). Die Antwort, die mich am nachhaltigsten beeindruckt hat, war die von Rocco Buchta, der für den NABU das Projekt der Renaturierung leitet und der uns auf unserer kleinen Reise auch am meisten über die Havel erzählt hatte.
Rocco stammt nämlich aus der Gegend. Sein Großvater war ein Kind dieser Region, kräftig, vital – eine Art Traumopa für kleine Jungs, die zu so einem Großvater aufschauen. Der kannte die Havel noch im ursprünglichen Zustand, aber dieser Fluss, sein Fluss, war immer weiter verschwunden. Mit ihrer zunehmenden Nutzung als Wasserstraße in DDR-Zeiten, ihrer Begradigung und Vertiefung und auch ihrer Verschmutzung wurde die Havel immer trüber und armseliger, und genauso erging es, wie Rocco erzählte, auch seinem Großvater. Der wurde immer verdrießlicher und trauriger, und die Veränderung betraf nicht nur die Stimmung. Auch körperlich baute der gewaltige Mann stark ab, wurde »immer weniger«, und Rocco litt mit ihm, aber natürlich konnte er ihm nicht im Geringsten aus seiner Misere helfen. Der Mann ging mit seiner Landschaft zugrunde. Und der Zwölfjährige, der den Zusammenhang klar verstand, sagte dem verzweifelten Großvater: »Opa, ich verspreche dir: Ich mach das wieder gut!«
Und tatsächlich: Da saß er nun, Rocco, und machte die Havel wieder gut.
Mir scheint, das ist eine gute Geschichte, um dieses Buch zu beginnen. Das ist nämlich ein positives Buch. Was nicht gleichbedeutend ist mit: ein optimistisches Buch. Es geht nur, wie Rocco, davon aus, dass ziemlich viel falsch gelaufen ist in der Vergangenheit, was aber nicht heißt, dass man das Falsche nicht korrigieren, wiedergutmachen kann. Und es bedeutet auch nicht, die Vergangenheit als so etwas wie einen Irrtum zu betrachten; denn wirtschaftlich machte die Nutzung der Havel zu jener Zeit, als ihr Ökosystem angegriffen wurde, Sinn. Auch das DDR-Regime war ja interessiert daran, den Wohlstand seiner Bürgerinnen und Bürger zu erhöhen.
Das alles war übrigens nicht anders als im Westen in der Nachkriegszeit, auch nicht, was den brutalen Umgang mit den natürlichen Gegebenheiten anging: Dort verwandelte man buchstäblich Flüsse in Abwasserkanäle, wie die Emscher im Ruhrgebiet, und als sie zu sehr stank, packte man Betondeckel drauf; da ist die Havel sogar noch gut weggekommen. Die Wirtschaftswunder beiderseits des Eisernen Vorhangs, versinnbildlicht in Wachstumskennziffern und Neubauten, in Autobahnen und Schulgebäuden, machten das Leben und dessen Standard für die Menschen besser, ob sie nun aufstrebende Mittelschichtler im Westen waren oder verdiente Genossen im Osten.
Die Natur war lediglich Mittel zum Zweck ihrer maximalen und oft gnadenlos rücksichtslosen Ausbeutung. Aber eben: Genau diese Ausbeutung hob die Lebensqualität, auch wenn Roccos Großvater und gewiss nicht wenige andere darunter litten wie die Hunde.
Wir befinden uns heute in viel größerem Maßstab in Roccos Situation: Denn was »wiedergutzumachen« ist, das ist ja wahnsinnig viel. Mehr noch: Der besinnungslose Raubbau, der die europäische und US-amerikanische Nachkriegszeit prägte, findet heute global, also in noch viel größerem Maßstab statt. Aber trotzdem: In Roccos Lebenszeit hat sich so viel zum Positiven verändert, dass sein eigentlich ganz unmögliches Versprechen schließlich doch einlösbar wurde.
Man könnte auch sagen: Aus etwas ganz und gar Unrealistischem wurde eine Wirklichkeit. Und die konnte es nur werden, weil sich zwischenzeitlich die Gesellschaft so entwickelt hatte, dass sie andere Prioritäten zu setzen in der Lage war: Die Verfechter eines durch nichts gebremsten Wirtschaftswachstums waren angesichts offensichtlicher ökologischer Desaster in die Defensive geraten, und nur Illusionisten wie FDP-Politiker und manche Wirtschaftswissenschaftler träumen heute noch von Märkten, deren Wachstumsdrang durch nichts beschränkt wird. Das ist wahrlich unrealistisch. Ganz im Gegensatz zu Roccos Realismus der Hoffnung. Der hat viel mehr Wirklichkeit auf seiner Seite.
Denn die Zeiten haben sich geändert. Aber natürlich nicht genug. Im Gegenteil: Die Veränderungsdynamik, die mit der Ökologiebewegung der 1970er aufgekommen ist, ist längst abgeebbt, ja, der modernen Gesellschaft insgesamt scheint jegliche Vorstellung abhandengekommen zu sein, dass sie anders, besser sein könnte, als sie ist. Sie hat keinen Wunschhorizont mehr, sondern ihre Zukunft offenbar schon hinter sich. (Die Einzigen, die Zukunft anzubieten haben, und dafür ordentlich Reklame machen, sind die digitalen Konzerne, aber deren Zukunft ist total von gestern – sie dynamisieren nur das gestrige fossile Konsumverhalten.)
Keine Zukunft zu haben ist kein Zustand, der gute Laune macht. Und genau deshalb ist unsere Gegenwart vor allem durch schlechte Laune gekennzeichnet, was ein bisschen absurd ist: Warum ist man denn so furchtbar reich geworden, wenn man am Ende doch nur so mies drauf ist wie schon seit Jahrzehnten nicht mehr? Oder man, wie die Glücksforschung zeigt, etwa in den USA heute, trotz vervierfachtem Bruttoinlandsprodukt unglücklicher ist als vor einem Vierteljahrhundert. Oder wo die digitale Gesellschaft Nr. 1, nämlich Singapur, hinsichtlich des empfundenen Lebensglücks nur einen traurigen 26. Platz belegt. Wozu der ganze Aufwand, wenn er das Glück nicht hebt? Oder sogar noch Angst vor allem Möglichen gebiert, obwohl man zum Beispiel in Deutschland (Glücksindex Platz 14) in der sichersten Gesellschaft lebt, die es menschheitsgeschichtlich jemals gegeben hat.
»Vor der Finanzkrise und der Bankenkrise. Dem Euro. Griechenland. Überhaupt vor Europa. Vor dem Klimawandel. Dem Ökofaschismus. Überschwemmung. Wassermangel. Vor Überfluss. Vor Knappheit. Vor Terroristen. Fundamentalisten. Idealisten. Kommunisten. Kapitalisten. Dem Antichristen. Christen. Moslems. Juden. Hindus. Sekten. Insekten. Langeweile. Amerikanern. Chinesen. Indern. Pakistanis. Polen. Negern. Überhaupt Ausländern. Nachbarn. Männern mit Bart. Frauen mit Bart. Der Wissenschaft. Verblödung. Vor Gutmenschen. Vor bösen Menschen. Unmenschen. Übermenschen. Untermenschen. Überhaupt vor Menschen. Vor Bakterien und Viren. Vor der Zerstörung der Umwelt. Vor Staus. Vor der Kernkraft. Davor, dass der Strom ausfällt. Vor Windrädern. Monokultur. Vielfalt. … Vor Armut. Demütigung. Dem Teufel. Gott. Der Jugend. Dem Erwachsenwerden. Dem Alter. Vor Giften. Medikamenten. Peinlichkeit. Kleinlichkeit. Heimlichkeit. Engen Räumen. Weiten Plätzen. Zu fett werden. Anorexie. Alzheimer. Nicht vergessen können. Liebe. Einsamkeit. Vor dem Chef. Den Kollegen. Vor Mobbing. Teilnahmslosigkeit. Vor Isolation. Vor Sattheit. Vor dem Hunger. Dekadenz. Askese. Vor dem Internet. Davor, kein Netz zu haben. Vor Arbeitslosigkeit. Stress. Burn-out. Langeweile. Der Zukunft. Der Vergangenheit.« Usw.[1]
Ängste treiben die Menschen in einer Welt um, in der die Lebenserwartung so hoch und die Gewaltkriminalität so niedrig ist wie niemals zuvor. Der Prozess der Zivilisierung ist, wie Steven Pinker (2012) einerseits und Yuval Noah Harari (2015) andererseits gezeigt haben, dadurch charakterisiert, dass das Niveau der körperlichen Gewalt, die Menschen gegenüber anderen Menschen ausüben, beständig absinkt. Nie war es, besonders in funktionierenden Rechtsstaaten, so unwahrscheinlich wie heute, Opfer einer Gewalttat zu werden. In modernen Gesellschaften liegt das insbesondere daran, dass der Staat das Gewaltmonopol hat, weshalb jede Form der willkürlichen und nicht gesetzlich legitimierten Gewalt verfolgt und bestraft wird. Im Ergebnis hat das zu einer drastisch gesunkenen Gewaltrate geführt. Aber nicht nur statistisch leben wir heute in der friedlichsten aller Zeiten, auch ein kurzer Blick auf das, was wir für normal und was wir für kriminell halten, hat sich allein im letzten halben Jahrhundert radikal verändert.
Ich bin wie viele Altersgenossen zum Beispiel in der Schule bis in die 1970er Jahre hinein noch von Lehrern geschlagen worden – wobei übrigens die politische Einstellung keine Rolle spielte: Ein späteres Gründungsmitglied der GRÜNEN und Anhänger der antiautoritären Erziehung schlug damals ebenso schmerzhaft zu wie ein beliebiger Altnazi. Auch in den Familien wurden Kinder noch verprügelt, ebenso wie das Verhältnis zwischen den Geschlechtern nicht selten von körperlicher Gewalt geprägt war. Die Vergewaltigung in der Ehe gilt in der Bundesrepublik erst seit 1997 als Straftat, und die #metoo-Debatte, die gerade auf Hochtouren lief, als ich dieses Buch schrieb, dreht sich vor allem um Fälle, die drei, vier Jahrzehnte zurückliegen – was nichts anderes heißt, als dass damals Gewalt weit alltäglicher und somit akzeptierter war als heute.
Der Skandal kommt in diesem Licht genauso verspätet wie umgekehrt die Vorstellung, dass Gewalt ständig zunehme. Das Gegenteil ist der Fall. Jedes einzelne Gewaltdelikt fällt gerade darum besonders auf, weil die direkte Gewalt aus unserem Alltag so weitgehend verschwunden ist.
Die Berechnungen, die Steven Pinker akribisch durch die Menschheitsgeschichte hindurch anstellt, weisen mit Nachdruck darauf hin, dass selbst im berüchtigten 20. Jahrhundert mit zwei Weltkriegen, einem Holocaust und mehreren anderen Völkermorden relativ weniger Menschen eines gewaltsamen Todes gestorben sind als in den Jahrhunderten davor. Es gibt heute auch in globaler Perspektive weniger Gewalt als je zuvor. Dasselbe gilt für die medial hyperpräsente und geradezu hyperventilierende Terrorgefahr: Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, in Deutschland Opfer eines Terroranschlags zu werden? Jährlich gibt es weltweit etwa 25000 Terroropfer, die allermeisten in armen islamischen Ländern, nur gerade ein Prozent davon im reichen Westen. Jedes Jahr sterben in Deutschland fast 10000 Menschen an Haushaltsunfällen, über 3000 im Straßenverkehr (das sind neun jeden Tag), 400000 werden durch Verkehrsunfälle verletzt, bis zu 6000 sterben infolge von Feinstaubemissionen. Das Auto tötet massenhaft, dem Terror hingegen fielen in der Bundesrepublik im Jahr 2016 vierzehn Menschen zum Opfer, in den Jahren 2017 und 2018 kein einziger. Trotzdem geben in Umfragen zwei Drittel der Deutschen die Angst vor dem Terrorismus als ihre größte Angst an (und die Politik instrumentalisiert diese Angst, womit sie den Terrorismus über jedes von ihm selbst erreichbare Maß hinaus erfolgreich macht).
Überall dort, wo keine funktionierende Staatlichkeit herrscht, wo die Behörden und die Polizei korrupt sind, hat man es mit alltäglicher Gewalt zu tun. Und in Diktaturen sowieso: Dort schützt kein Recht vor willkürlicher Gewalt durch die staatlichen Organe; die Bürgerinnen und Bürger sind ihr in jeder Form ausgeliefert: als permanente Drohung, als sexuelle Gewalt, als Entführung, als Verhaftung, als Folter, als Totschlag. Schauen Sie in die Türkei und überlegen Sie, was Ihnen als unbescholtener Bürgerin dort passieren kann, wenn es jemandem einfällt, Sie als Anhängerin der Gülen-Bewegung, der PKK oder auch nur als Gegnerin der Regierung zu denunzieren. Von dem Augenblick an haben Sie keine Kontrolle mehr über Ihr Leben. Ebenso wie im Mittelalter die meisten Frauen und Männer keine Kontrolle über ihr Leben hatten: Der Gutsherr vergewaltigte nach Lust und Laune, Armeen hoben Rekruten aus, Gewalt war ein alltägliches Geschehen. Fragen Sie in der eigenen Familie, wie das früher war. Mein Großvater zum Beispiel war ein uneheliches Kind, und niemand weiß bis heute, wer seine extrem junge Mutter (also meine Urgroßmutter) geschwängert hatte. Das Baby wurde als »Wechselbalg« auf einen anderen Hof gegeben und wuchs dort auf, verhasst und ganz unten in der sozialen Hackordnung. Das war nicht im Mittelalter und auch nicht in Afghanistan. Das war im protestantischen Norddeutschland, vor gerade mal drei Generationen.
Was für ein unglaublicher Fortschritt also: Sie leben heute in einem modernen liberalen Rechtsstaat sicherer an Leib und Leben als je ein Mensch vor Ihnen. Deshalb ist übrigens auch Ihre Chance, länger zu leben als ihre Vorfahren, erheblich größer. Es ist ja ein weitverbreiteter Irrtum, die heute gegenüber dem 19. Jahrhundert verdoppelte Lebenserwartung hauptsächlich auf die Segnungen der Medizin, des iPhone-überwachten Morgensports und die bessere Ernährung zurückzuführen. Früher wurden einzelne Menschen genauso alt wie heute. Es kamen nur weniger dahin; die meisten wurden vor dem Erreichen ihres natürlichen Lebensendes totgeschlagen, verhungerten oder starben im Kindbett. Und natürlich war die im Vergleich zu heute exorbitant hohe Kindersterblichkeit ein wesentlicher statistischer Grund für die durchschnittlich geringe Lebenserwartung – noch vor einem halben Jahrhundert starb jedes fünfte Kind vor seinem fünften Geburtstag.[2] Ein wesentlicher Grund ist auch der Rückgang der Armut: Vor 200 Jahren lebten 84 Prozent aller Menschen in extremer Armut, heute sind es etwa 10 Prozent.[3]
Dass man heute mehrheitlich ein hohes Lebensalter erreicht, hat primär eine gesellschaftliche Ursache: Mit dem modernen Rechtsstaat ist eine Form von Gesellschaft geschaffen worden, die ein weitgehend sicheres und unbeschädigtes Leben für alle ermöglicht. Das ist, man muss es deutlich sagen, nicht Nichts.
Nicht Nichts ist übrigens auch der Sachverhalt, dass ein Land wie Deutschland seit mehr als 70 Jahren mit seinen Nachbarn in Frieden lebt. Ein Blick auf die simple Animation »Europe in the last thousand years« auf Youtube zeigt eindrücklich, was das heißt: Dieser kleine Kontinent befand sich mehr als 900 Jahre lang in beständiger Veränderung, weil andauernd ein Reich ein anderes bekämpfte, weil Herrschaft mit Eroberungen ausgebaut und gesichert wurde. Zwei Drittel eines Jahrhunderts Frieden wäre den Menschen ganz undenkbar erschienen, ein Drittel eines Jahrhunderts Krieg hatte es dagegen durchaus schon gegeben. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs mit seinen Millionen Toten, Ermordeten, Deportierten und Vertriebenen ist hierzulande – nichts mehr passiert. Das ist historisch betrachtet eine Sensation. Es ist historisch betrachtet auch die einsame Ausnahme. Zwar gibt es Länder, die – wie zum Beispiel Schweden – noch viel länger an keinem Krieg mehr beteiligt waren. Aber auf der Ebene eines ganzen, national und regional höchst diversen Kontinents ist eine Friedenszeit, die mehr als zwei Generationen umspannt, einzigartig.
Jaja, ich weiß natürlich, dass das nur ein Teil der ganzen Geschichte ist – dass europäische Länder viele Stellvertreterkriege und Gewaltregime in Afrika oder Südamerika mit zu verantworten haben, dass deutsche Unternehmen wie die Volkswagen AG Diktatoren unterstützt und Zwangsarbeiter beschäftigt haben und dies bei sich bietender Gelegenheit vermutlich auch heute tun würden. Aber Kritik können wir alle sehr routiniert. Weniger geübt sind wir im Aufzählen dessen, was positiv zu Buche schlägt. Oder anders gesagt: bei dem, was es Rocco ermöglicht hat, sein Versprechen wahr zu machen.
Ist Ihnen, um gleich weiterzumachen, eigentlich klar, dass Ihr persönlicher Lebensstandard weit besser ist als der von Ludwig dem XIV.? Okay, Sie haben keinen Hermelinmantel und nicht so schicke Schühchen. Aber Sie haben: fließend Wasser, warm und kalt, Heizung, ein dichtes Dach, Fenster, durch die es nicht zieht, regendichte Kleidung, Schuhe für jede Jahreszeit, Fortbewegungsmittel aller Art, einen Zahnarzt, Betäubungsspritzen, minimalinvasive Chirurgie, Gleitsichtgläser, Zahnspangen, Schulen, Universitäten, Vereine, Schwimmbäder, Urlaubsreisen und insgesamt so viel mehr, dass die Aufzählung dessen, was Ihnen ganz allein und ganz persönlich verfügbar ist, den Umfang dieses Buches sprengen würde. Jedenfalls hungern Sie nicht, und Ihre Wohnung ist komfortabel geheizt, was man vom Versailler Schloss nicht sagen kann.
Und: Sie durften in die Schule gehen, eine Ausbildung machen, vielleicht studieren. Ihr Studium abbrechen. Ein anderes beginnen. Unglaublich: Wir leben in einer Gesellschaft, die Menschen – nach einer Drogenkarriere, nach einer lebensgeschichtlichen Verwirrung – zweite und dritte Chancen gibt. Wir hatten einen ehemals Molotowcocktails werfenden Außenminister, der hohes internationales Ansehen genoss. Einem ansonsten erfolglosen Kanzlerkandidaten wurde zugutegehalten, dass er seine Alkoholsucht überwunden hatte. Wir leben in einer Gesellschaft, die Fehler verzeiht. Das ist historisch neu. Einzigartig.
Und diese Form von Gesellschaft – die offene moderne Gesellschaft – eröffnet ihren einzelnen Mitgliedern die größtmögliche Freiheit, über die Menschen je verfügen durften. Sie können tun und lassen, denken und sagen, was sie wollen, und um es mal ganz deutlich festzuhalten: In solch einer Gesellschaft braucht es überhaupt keinen Mut, seine Meinung zu äußern, für andere einzutreten, eine Bürgerinitiative zu gründen oder was auch immer. Mut braucht man in Diktaturen. Hier ist Mut ersetzt durch ein Gesetzbuch und Institutionen, die Ihre Freiheit schützen.
Da ist es kein Wunder, dass die Oma einer Mitarbeiterin von mir jedes Jahr den Tag ihrer Ankunft in Deutschland feiert. Sie war vor mehr als einem halben Jahrhundert aus Rumänien geflohen und lebt seither in diesem Land. Sie ist sehr glücklich darüber. Merkwürdigerweise feiern die restlichen 80 Millionen Deutschen nie, dass sie in diesem Land leben. Im Gegenteil: Wie verwöhnte zu groß geratene Kinder sind sie chronisch unzufrieden und machen irgendwen – Angela Merkel, das Großkapital, die Flüchtlinge, die Vogonen – dafür verantwortlich.
Und dabei habe ich vom unglaublichen Reichtum, von der Kaufkraft, von allem, was man an Produkten und Dienstleistungen konsumieren kann, noch gar nicht gesprochen. Das will ich auch gar nicht, Sie wissen selbst, dass Sie von allem zu viel haben und dass das meiste davon nichts taugt. Ich habe genug dazu geschrieben und gesagt, Wiederholungen sind langweilig. Nur eins noch: Die Welt beginnt sich im globalen Maßstab gerade erst in eine Konsumhölle zu verwandeln und soll bald überall genauso aussehen wie Oberhausen oder der zum Konsumgulag degradierte Alexanderplatz in Berlin. In diesem Prozess wird sie, wie Roccos Großvater, zugrunde gehen. Wenn nichts dagegen unternommen wird. Nein, falsch: Wenn Sie und ich nichts dagegen unternehmen.
Das Problem ist: Alles, was die unglaublichen zivilisatorischen Fortschritte möglich gemacht hat, die ich eben aufgezählt habe, basiert auf der Vorstellung, dass die Naturressourcen, aus denen wir Autos, Häuser, Nahrungsmittel, Smartphones, Kleider, Alexanderplätze und Raketen machen, unbegrenzt vorhanden sind. Diese Vorstellung ist sogar so irre, dass die meisten Ökonomen und Politiker glauben, dass die Materialmenge, die für die Verwandlung in Produkte jeder Art nötig ist, immer noch anwachsen kann, genauso wie die Menge der Energie, die für die Umwandlung gebraucht wird. Das widerspricht, so hat es der Historiker Yuval Noah Harari formuliert, so ziemlich allem, was wir über das Universum wissen. Ja, es widerspricht dem, was Kinder in der Schule lernen und damit auch der allgegenwärtigen Reklame, wir lebten in einer »Wissensgesellschaft«. Nichts könnte falscher sein: Wir leben in einer Gesellschaft, in der Wissen gelehrt und Unwissen praktiziert wird, ja, in der Tag für Tag gelernt wird, wie man systematisch ignorieren kann, was man weiß. So wird in den Tagen, da ich dieses Kapitel schreibe, unter zähem Ringen ein Koalitionsvertrag – das ist ein Regierungsprogramm – verabschiedet, der ohne jede Rechenschaft gegenüber den naturalen Bedingungen unserer wirtschaftlichen Existenz auskommt – und zwar der gegenwärtigen wie der zukünftigen.
Und dabei sind es gerade die Bedingungen einer künftigen Wirtschaft, die neu entwickelt werden müssen: Denn all die großartigen Errungenschaften, auf die man zurückblicken kann, sind nur um den Preis zu haben gewesen, dass man weder auf die natürlichen Gegebenheiten noch auf die Lebenssituationen von Menschen in anderen Teilen der Welt Rücksicht genommen hat. Ulrich Brand und Markus Wissen haben das zutreffend als »imperiale Lebensweise« bezeichnet; Stephan Lessenich nennt unsere Gesellschaft die »Externalisierungsgesellschaft«: Wir holen alles, was wir zur Erzeugung unseres Wohlstands brauchen, von außen, und genau dorthin schaffen wir auch das meiste weg, was nach dem Gebrauch der Dinge übrig bleibt: Schrott, Abfall, Emissionen.
Die paradoxe Lage, in der wir uns befinden und über die ich mir seit Jahren den Kopf zerbreche, sieht so aus: Wir können als Bewohnerinnen und Bewohner der Moderne auf eine – vielfältig gebrochene und oft ambivalente, aber doch – atemberaubende Geschichte humanen Fortschritts zurückblicken und einen zivilisatorischen Standard in Sachen Freiheit, Teilhabe, Sicherheit und Wohlstand genießen, der historisch beispiellos ist. Aber der Stoffwechsel, auf dem dieser Fortschritt beruht, ist nicht fortsetzbar im 21. Jahrhundert, dazu ist er – für das Erdsystem, das Klima, die Biosphäre, die Meere, viele Menschen – zu zerstörerisch. Darüber gibt es eine Unmenge von Studien, Büchern, Filmen. Wir haben keinen Mangel an Wissen über den Zustand der Welt, aber Mangel an Willen, diesen Zustand zu verbessern. Aus meiner Sicht gibt es eine Verantwortung, die idealistisch betrachtet für alle Mitglieder einer solchen Gesellschaft gilt, eine Art minimalistischer kategorischer Imperativ:
Du musst helfen, diesen zivilisatorischen Standard zu bewahren.
Es ist klar, dass mit »zivilisatorischem Standard« nicht der materielle Überfluss gemeint ist, sondern die immateriellen Güter: Freiheit, Sicherheit, Recht, Institutionen der Bildung, Gesundheit, Versorgung. Wenn wir das alles erhalten und – weil die Welt sich verändert – modernisieren wollen, dann müssen wir unseren materiellen Stoffumsatz verändern. Man könnte in Abwandlung eines berühmten literarischen Zitates auch sagen: Wir müssen alles verändern, damit vieles bleiben kann, wie es ist.
Eines der größten Probleme beim Suchen nach einem Ausweg aus dieser paradoxen Lage besteht darin, dass die wenigsten Menschen sie als paradox empfinden. Denn die komfortablen Lebensverhältnisse haben sich so sehr in uns eingelebt, dass sie gar keine Voraussetzungen zu haben scheinen. Als ich etwa bei einer Führung durch ein Hightech-Unternehmen, das ganz vorn in der Robotik ist, den Geschäftsführer fragte, wo denn die Rohstoffe für seine Geräte herkämen, schaute er mich irritiert an und antwortete: »Die werden hier angeliefert!« Solches bewusstes Unwissen ist unter den gesellschaftlichen Eliten – also den sogenannten Entscheidungsträgern in Wirtschaft, Verwaltung, Medien und Bildung – weit verbreitet. Die allermeisten bevorzugen den Aberglauben, dass alles irgendwie schon so weitergehen wird, wenn man nur regelmäßig Glaubenssätze (»Ohne Wachstum ist alles nichts«) wiederholt, Rituale befolgt (»Wir haben hochkarätige Speaker eingeladen«) und bloß niemals über Gründe spricht (»Wir müssen die Fluchtursachen bekämpfen«).
Wirtschaftsmagazine sind die Pornoheftchen von heute. Auf jeder dritten Seite gibt es das Porträt eines Mannes (seltener einer Frau), der oder die mit irgendetwas besonders erfolgreich sein soll. Sehr hoch gehandelte Pornostars sind im Augenblick Männer wie Elon Musk oder Peter Thiel, Sie wissen schon, venture capital, paypal, Tesla usw. Der bundesdeutsche Entscheidungsträger sieht nicht so gut aus, sondern mehr wie Joe Kaeser, der Siemens-Chef, der sich gelegentlich durch scham- und haltlose Anschleimerei an noch größere Entscheidungsträger auszeichnet. Super sind auch die Vorstände von Daimler, die kollektiv seit einem Besuch im Silicon Valley, wo man ja bekanntlich keine Schlipse trägt, keine Schlipse mehr tragen.
Abb. 1: Schlipslos nach Führerbefehl: Daimler-Vorstand.