Susanne Kaloff

Angst ist nichts für Feiglinge

Mein Exit aus der Panik

FISCHER E-Books

Inhalt

Über Susanne Kaloff

Bestsellerautorin Susanne Kaloff, Jahrgang 1969, schreibt seit zwanzig Jahren unter anderem für die »Welt am Sonntag«, »Emotion«, »Brigitte« und »Myself«. Sie ist außerdem seit acht Jahren wöchentliche Kolumnistin der »Grazia«. Ihr letztes Buch »Nüchtern betrachtet war’s betrunken nicht so berauschend« erschien 2018. Susanne Kaloff lebt in Hamburg.

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Über dieses Buch

Wenn einer sagt: »Ich habe einen Bandscheibenvorfall«, dann kann man raten: »Mach’ doch mal mehr Sport«, und die Nummer seines Osteopathen weiterreichen. In einer geselligen Runde darf fallen gelassen werden, unter Reizdarm oder Migräne zu leiden. Mensch, lässt sich da nichts mit der Ernährung machen? Aber das A-Wort soll bitte zu Hause hinter verschlossenen Türen bleiben. Warum das so ist? Vielleicht, weil uns von klein auf eingetrichtert wurde: Du brauchst keine Angst zu haben. Du darfst keine Angst haben. Und wenn du sie hast, behalte sie um Himmels Willen für dich

Impressum

Originalausgabe

 

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

© 2020 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main

 

Covergestaltung: Büro KLASS, Hamburg

Coverabbildung: Brita Sönnichsen

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-10-491227-1

Frankie Goes to Hollywood, The Power of Love.

Ich bin keine Wissenschaftlerin, keine Psychologin, und ich habe keinen Doktortitel. Was ich allerdings habe: seit jeher die Hosen voll. Dieses Buch ist weder ein Ratgeber noch eine psychologisch fundierte Abhandlung. Es ersetzt keinen Arztbesuch, keine Therapie, es bietet nicht Antworten auf alle Fragen und ist kein Versprechen. Es ist eher mein Tagebuch, das ich anfing im Geist zu schreiben, seit ich mit zwölf Jahren neben meinem Vater im Theater saß und aus scheinbar heiterem Himmel panische Angst bekam, jetzt sofort auf der Stelle in dieser Sitzreihe zu sterben, wenn ich diesen Ort nicht schnellstmöglich verlassen darf. Bis zu diesem Abend kannte ich das Wort Panikattacke nicht, aber ich spürte, dass mein Herz zu schnell schlug, dass meine innere Unruhe zu alarmierend war, um gelassen dem Stück zu folgen, dass meine Aufmerksamkeit nicht mehr dort war, wo ich in diesem Moment saß. Vor allem war ich sicher, jeden Moment tot umzufallen. Angst isst nicht die Seele auf, wie es Rainer Werner Fassbinder mal meinte, sie ist wie ein Schatten, der immer da ist, wo du bist. Der dich begleitet, sich nicht abhängen lässt, er ist dir immer voraus, geht furchtlos voran. Und wenn du denkst, alles ist in Ordnung, tippt er dir aus dem Nichts mit einem knochigen Finger von hinten auf die Schulter.

In diesem Buch beschreibe ich, wie mich meine Angst begleitete, mir folgte, mich das Fürchten lehrte, weil ich seit diesem Abend im Theater immer wieder völlig unvorhersehbar etwas hatte, das meine Eltern nur als »das« bezeichneten. Wie mir irgendwann klar wurde, was »das« eigentlich bedeutet. Wie ich mit der Angst gerungen und mich doch wieder im Kreis gedreht habe, wie ich nach langer Reise herausfand, dass ich sie weder bekämpfen noch vor ihr weglaufen muss oder kann, sondern sie eher fragen sollte, wo sie herkommt, was sie von mir möchte und ob ich ihr irgendwie helfen kann. Und wie ich eines Tages verstand: Sie will mir nichts Böses. Im Gegenteil.

Ich fiel übrigens wider Erwarten nicht tot um. Weder an dem Abend im Theater noch in den darauffolgenden 38 Jahren, in denen ich immer wieder fest davon überzeugt war, es nun doch zu tun. Von diesen Situationen, Lebensstationen, Umwegen, Reisen zum Ich, Rückschlägen, von Niederlagen, den Therapien, den Triumphen, von der Angst vor der Angst, den Siegen,

Von meinem letzten Buch habe ich gelernt, dass ich noch deutlicher machen muss, dass es sich um eine, meine subjektive Meinung handelt. Ausschließlich um meine persönliche Geschichte, die dennoch kein Einzelfall ist. Das Spektrum von Angst ist weit und groß. Reicht von kleinen Schreckmomenten beim Anblick einer Maus bis hin zu lähmenden Zuständen, die verhindern, dass man sein Zuhause verlassen kann. Ich weiß das. Und ich habe nicht die eine konkrete Lösung, keinen Masterplan, keine zehn Schritte, um sie abzuhängen, sie zu besiegen. Was ich habe, ist meine eigene Erfahrung. Und den absoluten Glauben, dass es mehr Menschen gibt, die ähnliches empfinden wie ich, denen es vielleicht hilft, zu lesen, was mir

Reise zu meinem inneren Ungeheuer

Ich sitze auf einer Insel im Nirgendwo und frage mich, wie ich es überleben soll. Wie zwei Wochen von morgens bis abends mit mir aushalten, ohne Begleitung, ohne Zerstreuung, ohne eine Aufgabe? Dabei habe ich in Wahrheit eine große Aufgabe: ein Buch schreiben über die Angst. Ein Thema, das zwar meine eigene Idee war, mir jedoch in der Umsetzung absurderweise so viel Angst macht, dass ich erst mal ein paar Wochen gelähmt bin, dann panisch beschließe wegzurennen. Eine automatische Reaktion auf alles, was ich fürchte: Bloß fort von hier! Die erste Frage, die ich mir stelle: Wohin? Die zweite: Vor was genau fliehst du eigentlich? Sobald du verrätst, dass du Abstand brauchst, eine Situation hinter dir lassen, deine Heimat vorübergehend verlassen willst, teilt dir jeder Klugscheißer unaufgefordert mit: »Na ja, du weißt schon, man nimmt sich immer selbst mit.« Diese populäre Weisheit stimmt nur zum Teil. Ja, du nimmst dich immer mit, aber du bringst niemals den gleichen Menschen wieder mit zurück.

Es ist der erste Abend von vierzehn. Die vor mir liegende Zeit erscheint mir so lange, als seien es vierzehn Jahre. Vermutlich habe ich deshalb Literatur für einen entsprechenden Zeitraum eingepackt. Mehr Bücher in meinem Gepäck als Schuhe. Es ist schwere Kost, Ratgeber mit Titeln wie »Die Grundformen

Später, als ich längst meinen Flug und mein Apartment auf

Die Frau am Nachbartisch hätte ich früher sein können, in all ihrer Unsicherheit, mit ihren 600 Befürchtungen in einer Minute, was alles passieren, nicht passieren, schiefgehen, nicht perfekt sein könnte, und dem verzweifelten Versuch, Aufmerksamkeit für ihre Neurosen zu bekommen. Eine Katze streicht um meine Beine, ich bin frei wie ein Vogel. Als ich

Angst ist eine einsame Insel

Am nächsten Morgen werde ich selbst zum Ungeheuer, wache auf und habe kein WLAN in dem Apartment, das ich für die nächsten zwei Wochen angemietet habe. Schlechte Bedingungen zum Arbeiten, ich eile ins nächste Café am Hafen, heute ist eine Deadline, die ich einhalten muss. Die alten Männer am Nachbartisch rauchen stinkige Kippen und machen so laute Geräusche mit ihren Gebetsketten, deren Name mir nicht einfällt, außerdem wackelt der Tisch, und ein Kleinkind hämmert mit einem Löffel auf die Tischplatte. Stresslevel hoch. Ja bitte, einen Greek Coffee, einen doppelten. Es ist unwahrscheinlich heiß, so wie damals auf Symi, nur, dass ich dort gleich am ersten Tag eine Grippe bekam, röchelnd hoch oben auf der Terrasse lag und mir leidtat, während die anderen unten am Meer Spaß hatten. Als die Sommergrippe überstanden war, machte mir das Klima zu schaffen, diese Bruthitze, dieser Schwindel, diese Mückenstiche, dieses Dies, dieses Jenes, dieses ganze ewige Kreisen um meinen eigenen Bauchnabel. Ich erinnere

Als ich die Sache mit dem WLAN und dem Text schließlich im Griff habe, bleibe ich weiter im Café sitzen und beobachte Menschen. Ich sitze nur so rum, lasse meine Finger los, strecke meine Beine aus, lasse meinen Kopf, mein Handy, lasse meine Pläne los, lasse alles los, was hinter, und alles, was vor mir liegt. Sagt man nicht, dass alles, was wir haben, das Jetzt ist? Es fühlt sich gar nicht mal so wenig an. Ich bin dort, wo ich mich befinde, nicht dort, wo ich mich befinden will oder mal befand.

 

Suzanne takes you down to her place near the river

You can hear the boats go by

And you can spend the night beside her

And you know, that she’s half crazy

But that’s why you want to be there

And she feeds you tea and oranges

That come all the way from China …

 

In der schönen Bucht steigt gerade ein dunkelbraungebranntes Paar aus Skandinavien mit dem Schnorchel ins Wasser, ich gucke ihnen zu, sie wirken liebevoll miteinander. Sie sind vielleicht Ende fünfzig und vermutlich schon lange zusammen, überlege ich. Die Frau scheint unabhängig von dem, was ihr Mann macht, komplett vollständig, in sich selbst ruhend. Als habe sie keine Bedürfnisse, die er stillen müsse, als sei sie zufrieden mit sich und würde sich selbst gut um ihre Bedürfnisse kümmern. Als brauche sie nicht seine Aufmerksamkeit, seinen Beifall oder seine besorgten Blicke, um sich richtig zu fühlen. Sie fragt nicht, ob sie was im Auge hat, ob der Schnorchel korrekt sitzt, sie schwimmt, kommt wieder aus dem Wasser raus, zuppelt auch nicht unsicher an ihrem Bikini rum, setzt sich

Am nächsten Tag kaufe ich auch einen Schnorchel bei einem Opi im Dorf, bei dem sicher auch schon Henry Miller einen gekauft hat. Der Opi hat einen Laden, in dem es alles gibt, von Postkarten über Ledersandalen bis Pingpong und Schnorchel. Er sieht so alt und gebrechlich aus, dass er im nächsten Sommer wahrscheinlich nicht mehr hier sein wird. Er wird begraben werden unter der Erde, oder seine Asche aufs offene Meer wehen, er wird dort hinfliegen, wo auch Leonard Cohen, meine Oma und meine Freundin Alexandra hingeflogen sind. Wo auch ich eintreffen werde, eines Tages. Ich bezweifle, dass es der Himmel über uns ist, und fürchte mich 24 Stunden am Tag vor diesem unbekannten Ort. Um das nicht 24 Stunden am Tag zu spüren, kaufe ich nun ein Paar Ledersandalen und den Schnorchel. »Good for you«, sagt er, als ich frage, ob der Unisex sei. »Good for you.« Ich vertraue ihm, fünfzehn Euro, wird schon passen. Wie viele Schnorchel ich in meinem Leben schon hatte, in jedem Urlaub war das Schnorcheln ein Thema. Damals in Italien, auf dieser Insel, die gegenüber dem Vesuv lag. Wir fuhren mit dem Schiff und unserem Sohn hinaus aufs Meer, sprangen von Bord, hinein ins tiefe Meer. Nein, das ist bloß meine blühende Phantasie, in Wahrheit kraxelte ich ängstlich die Leiter des Bootes hinab und hatte die Bikinihose voll, vor Angst, unser damals sechsjähriger Sohn könne absaufen. Ich vergewisserte mich hundertmal, dass mein Mann gut auf ihn aufpasst, ihn nicht aus den Augen oder von der Hand lässt. Ängstliche Mütter sind das Schlimmste, was einem Kind

Am zweiten Tag auf Hydra steige ich mit meinem neuen Schnorchel ins Meer, schwimme vorsichtig über die Korallen, nah am Ufer entlang. Als ich nur wenige Meter rausgeschwommen bin, entdecke ich unter mir Schwärme von Sardellen, sie glitzern in der Sonne. Ich treibe auf dem Wasser, höre meinen Atem, ein und aus, gleichmäßig, er beruhigt mich, ich entdecke orange-grüne Fische, solche, die Schuppen haben wie Echsen, gelb-schwarze, und dann: den Abgrund. Das Meer hier fällt steil bergab, und das nicht etwa weit draußen, schon unweit vom Ufer wird es richtig tief. So tief, dass ich einen Schreck bekomme und panisch wende. Was war das gerade? Es war schwarz und bodenlos und zog mich hinab ins Unbekannte. Am nächsten Tag gehe ich trotzdem wieder rein, schwimme vorsichtig über die Korallenbänke, immer weit genug entfernt vom Abgrund, in sicherer Entfernung. Am dritten Tag werde ich waghalsiger. Einen halben Meter weiter, noch ein Stück, siehst du, es passiert gar nichts, da ist kein Sog, wie du dir das vorstellst, es ist nur in deinem Kopf, siehst du da unten den großen silbernen Fisch, und daneben den Seeigel, siehst du das? Ich lächle unter Wasser, unter meinem Mundstück, und verschlucke mich am Salzwasser, glücklich, so glücklich, hier zu sein, unter der Oberfläche mit mir allein. Nichts, denke ich da unten, nichts kann dir jemals wieder Angst machen, wenn du das einmal gesehen hast, wie friedlich die Welt hier unten ist. Vielleicht sind die Seelen der Toten gar nicht im Himmel, vielleicht sind sie hier. Als ich wieder den Kopf über der

Am vierten Tag freue ich mich schon beim Aufwachen aufs Abtauchen, dabei ist es kein Tauchen, es ist das Harmloseste, was man tun kann im Meer, es ist für kleine Kinder, einfach den Kopf ins Wasser stecken und gucken. Diesmal schwimme ich bis zum Abgrund, dorthin, wo es unter mir unergründlich aussieht, ich den Meeresgrund nicht mehr sehen kann, nur ganz kurz, dann kehre ich um. Und ich werde belohnt für meinen Mut, Schwärme von Fischen unter mir, die ich drei Tage zuvor noch nicht gesehen hatte, das Schwarz wirkt weniger bedrohlich, je länger ich es aushalte. Dann kommt der Punkt, an dem es reicht, schnell den Kopf rausstrecken, vergewissern, dass ich noch so nah an den Felsen bin, dass ich mein Handtuch sehen kann, so nah, dass ich jederzeit wieder festen Boden unter den Füßen habe, so nah, dass ich raus kann, wann immer ich raus möchte aus dieser Situation. Ich kann das nur, wenn der Notausgang im Meer in sichtbarer Nähe ist, und tue so, als würde ich Apnoetauchen. Dabei bin ich nur alberne zehn Meter vom Steg entfernt. Ich brauche vier Tage, bis ich es bis zum Rand des Riffs schaffe. Ich bezweifle, dass andere Menschen dafür das Wort Mut in den Mund nehmen würden.

Für alles in meinem Leben habe ich eine Exit-Strategie. Meine

Wenn es so weit ist, kannst du dich immer noch fürchten

Man hat nicht immer vier Tage, um sich was zu trauen. Manchmal nicht mal vier Minuten. So wie vorletztes Jahr in Australien, ich war auf einer Pressereise, einer der Programmpunkte lautete »Schwimmen mit den Buckelwalen«. Große

Die australische Meerjungfrau, die für unsere Truppe zuständig war, sah mich an, als hätte ich gesagt, ich könne nicht laufen, als ich die Sache mit dem offenen Meer zugab. Wir mussten im Vorfeld einen Fragebogen ausfüllen, ob und wie gut wir schwimmen könnten, ob es Probleme gebe mit »open waters«. Ich meine, was heißt das denn überhaupt »auf dem offenen Meer«, gibt es auch ein geschlossenes, fragte ich mich, während ich bereits mit den Wellen und meiner Furcht kämpfte, obwohl ich noch an einer Strippe befestigt probeweise ums Boot trieb. Ich hasse Flossen, wie soll ich in Flossen denn Froschbewegungen machen? Man erklärte mir wieder mal, dass man mit Flossen aber doch viel schneller vorankäme, man