Christian Metz
Kitzel
Genealogie einer menschlichen Empfindung
FISCHER E-Books
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Originalausgabe
Erschienen bei FISCHER E-Books
© 2020 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstraße 114, D-60596 Frankfurt am Main
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ISBN 978-3-10-403580-2
»Es gibt tatsächlich Menschen, deren Haut – immer ist es ja die Haut, die beim Kitzeln angesteckt wird – erweist sich als ebenso unstimulierbar, wie manch anderer partout nicht zu erschrecken ist.« Knut Ebeling, Kitzeln. Zur Subversion der Kommunikation bei Georges Bataille, in: Mirjam Schaub, Nicola Suthor, Erika Fischer-Lichte (Hg.), Ansteckung. Zur Körperlichkeit eines ästhetischen Prinzips, München 2005, S. 25–34, hier S. 27.
Robert R. Provine, Curious Behavior. Yawning, Laughing, Hiccuping and Beyond, Cambridge, London 2012.
Johan Schloemann, »Was juckt uns das?«, in: Süddeutsche Zeitung, 11. Dezember 2012, S. 16.
Zur Unterscheidung zwischen Empfindung und Gefühl: Vgl. Rainer Maria Kiesow u. Martin Korte (Hg.), Emotionales Gesetzbuch. Dekalog der Gefühle, Köln, Weimar und Wien 2005. Christoph Demmerling und Hilge Landweer, Philosophie der Gefühle. Von Achtung bis Zorn, Stuttgart und Weimar 2007, S. 28ff.
Martha C. Nussbaum, Love’s Knowledge, Oxford 1990, S. 261–313.
Michael Brecht u. Shimpei Ishiyama, Neural correlates of ticklishness in the rat somatosensory cortex, in: Science (16) 2016, S. 757–761.
Die Neurowissenschaft bestätigt dies auf ihre Weise. Das Kitzeln verursacht demnach eine »hippocampale Zellproliferation«. Der äußerliche Kitzelreiz bewirkt, dass sich im Hippocampus des Gehirns vermehrt neue Zellen ausbilden. Kitzeln lässt das Gehirn wachsen. Die Ratten, an denen die Experimente durchgeführt wurden, geben dabei lachartige Laute von sich. Marie Kehl, Einblicke in den Zusammenhang zwischen Neurogenese und Affekt. Kitzeln induziert hippocampale Zellproliferation in Ratten, die appetitive 50kHz Ultraschallvokalisation ausstoßen, Marburg 2011.
Marcel Mauss, Die Techniken des Körpers, in: ders., Soziologie und Anthropologie, Bd. 2, München 1974, S. 197–220.
Auf eine ontologische Irritation zielt Slavoj Žižeks Subjektphilosophie ab. Seine berühmte Schrift Die Tücke des Subjekts trägt den Originaltitel: The ticklish subject. Žižek beweist ein feines Sensorium für den Kitzel, ohne allerdings in seiner Studie weiter auf ihn einzugehen. Slavoj Žižek, The Ticklish Subject. The Absent Centre of Political Ontology, New York u.a. 1999. Ders., Die Tücke des Subjekts, Frankfurt am Main 2001.
Anne-Rose Meyer, Homo Dolorosus. Körper – Schmerz – Ästhetik, München 2011, S. 11.
Dieser Frage und ob es einen Unterschied macht, ob jemand von einem Mann oder einer Frau gekitzelt wird, hat sich Clarence Leuba gewidmet. Vgl. Clarence Leuba, Tickling and Laugther: Two Genetic Studies, in: Journal of Genetic Psychology 58 (1941), S. 201–209.
Zu den häufig diskutierten Fragen gehört, warum man sich nicht selbst kitzeln kann. Doch diese Frage ist eigentlich längst geklärt. Das Bewusstsein berechnet die Stelle voraus, an welcher der Kitzel spürbar wird. Es ist unmöglich, sich selbst zu überraschen. Fällt das Überraschungsmoment weg, so bleiben Kitzelempfindung und Lachreaktion aus.
Zu dieser Differenzierung und zum Begriffspaar »Garagalesis« (harter Kitzel) und »Knismesis« (sanfter Kitzel) vgl. Stephen Hall, The Physiology of Tickling, Laughing and the Comic, in: American Journal of Psychology 9 (1897), S. 1–41. In direkter Antwort: Hirma M. Stanley, Remarks on Tickling and Laughter, in: The American Journal of Psychology 9 (1898), Nr. 2, S. 235–240.
Dieser Streit zieht sich durch die Forschungsliteratur. Für die strikte Trennung plädiert Max Buch: ders., Über den Kitzel, in: Max Rubner (Hg.), Archiv für Physiologie, Leipzig 1909, S. 1–26, hier S. 13. Für die Theorie, der sanfte Kitzel erzeuge ein Zucken, Schaudern und Lächeln, die bei größerer Berührungsintensität in Abwehrreaktion, Angst und Lachen umschlagen würden: M. von Frey, Über die Beziehung zwischen Kitzel-, Berührungs- und Druckempfindung, in: Skandinavisches Archiv für Physiologie 3 (1923), S. 93–100.
Der Physiologe Max Buch weigert sich, den sexuellen Kitzel überhaupt als solchen zu verhandeln. Max Buch, Über den Kitzel, S. 1ff. Michael Brecht hingegen zieht ganz selbstverständlich Schlüsse vom Kitzelverhalten auf die sexuelle Lust.
Wolf Schneider macht klar: »deutsche Zusammensetzungen haben mitunter eine besondere Kraft: wie der Nervenkitzel, der ungleich anschaulicher ist als der englische thrill.« Wolf Schneider, Speak German. Warum Deutsch manchmal besser ist, Reinbek bei Hamburg 2009, S. 17.
Im englischen »thrill« schimmert das lateinische Ursprungsverb »titillare« zwar noch unter der Wortoberfläche durch, aber die kitzlige Wirkung ist im Vergleich zum Nervenkitzel stark zurückgenommen. Zum »thrill« und seiner Übersetzung ins Deutsche vgl. Michael Balint, Angstlust und Regression, Stuttgart 1960, S. 5ff. Bei Christoph Demmerling und Hilge Landweer heißt es knapp: Man »sucht den Effekt des ›Thrills‹; Ziel ist der Nervenkitzel.« Dies., Philosophie der Gefühle, S. 75.
In den Neurowissenschaften liegt der Forschungsschwerpunkt bislang einseitig auf dem Schmerz statt auf der Lust. Michael Brecht, Studying fun: http://agencia.fapesp.br/studying-fun-is-a-serious-matter-says-neuroscientistmichael-brecht/27903/, zuletzt aufgerufen am: 17.7.2019.
Sarah Blakemore, D.M. Wolpert, C.D. Frith, Central Cancellation of self-produced tickle-sensation, in Nature Neuroscience (7), 1998, Heft 7, S. 635–640. Sarah Blakemore, Why can’t we tickle ourselves, in: NeuroReport 11 (2000), S. 11–16. Blakemores Experimente bestätigen die Versuche des Psychologen Larry Weiskrantz aus den 1970er Jahren. L. Weiskrantz, J. Elliot und C. Darlington, Preliminary Observations on Tickling Oneself, in: Nature 230 (1971), S. 598–599. Zum Selbstkitzel ebenfalls: Ingrid Johnson, Why can’t you tickle yourself? And other bodily curiosities, Warner Booka 1993. Christine H. Harrys, The mystery of ticklish laughter, in: American Scientist (1987) 4, S. 344–348. K. Carlsson, P. Petrovic, S. Skar, K.M. Petersson u. M. Ingvar, Neural processing in anticipation of a sensory stimulus, in: Journal of Cognitive Science (2000) 12, S. 691–703. P. Ekman, R.W. Revensen und W.V. Friesen, Autonomic nervous system activity distinguishes among emotions, in: Science (1983) 221, S. 1208–1210. C. Leuba, Tickling and Laughter, S. 201f. C.K. Yoon, Don’t make me laugh: scientists tackle tickling, in: J. NIH Research (1997) 9, S. 43–35.
Vgl. Exploration of the Neural Correlates of Ticklish Laughter by Functional Magnetic Ressonance Imaging, http://doc.rero.ch/search.py?p=990__a:20120418120822-YG, zuletzt aufgerufen am: 22.7.2019.
Adam Phillips, Vom Küssen, Kitzeln und Gelangweiltsein. Aus dem Englischen von Klaus Laermann, Göttingen 1997. Robert R. Provine, Laughter. A Scientific Investigation, New York 2000. Robert R. Provine, Curious Behaviour, S. 164–175.
Auffällig ist, dass die Komik- und Lachforschung wenig mit dem Kitzeln anzufangen weiß. Exemplarisch hierfür steht Prüttings 1200 Seiten umfassende Lachstudie, in der Kitzeln nur an zwei Stellen erwähnt wird: Lenz Prütting, Homo ridens. Eine phänomenologische Studie über Wesen, Form und Funktion des Lachens, 3 Bde., München 2013. Das Kitzeln fehlt auch in den einschlägigen Handbüchern der Komik oder bleibt eine Marginalie.
Manfred Schneider, »Diebs-Mörders-Dichters-Kitzel«. Hegels Kritik der Phrenologie, in: Gert Theile (Hg.), Anthropometrie. Zur Vorgeschichte des Menschen nach Maß, München 2005, S. 79–92.
Knut Ebeling, Kitzeln, S. 27.
Ebd.
Ebd. Wichtige Fundstellen zusammentragend: Kathrin Busch, Über das Kitzeln, in: Christian Grüny (Hg.), Ränder der Darstellung. Leiblichkeit in den Künsten, Weilerswist 2015, S. 179–188.
Harald Kämmerer, Nur um Himmels willen keine Satyren […]. Deutsche Satire und Satiretheorie des 18. Jahrhunderts im Kontext von Anglophilie, Swift-Rezeption und ästhetischer Theorie, Heidelberg 1999.
Ebd., S. 282.
Carsten Zelle, Angenehmes Grauen, Literaturhistorische Beiträge zur Ästhetik des Schrecklichen im achtzehnten Jahrhundert, Hamburg 1987, S. 279.
Rainer Stollmann, Groteske Aufklärung. Studien zu Natur und Kultur des Lachens, Stuttgart 1997. Rainer Stollmann, »Angst ist ein gutes Mittel gegen Verstopfung«. Aus der Geschichte des Lachens, Berlin 2010. Aus den Zusammenhängen, die Stollmann in seinen instruktiven Monographien entwickelt, hat er seither eine Reihe weiterer Publikationen entfaltet. In ihrer These bleiben diese stets dem Kern der Monographien treu.
Zwar kündigt Manfred Spitzers Titel Nervenkitzel eine solche Monographie an, aber der Kitzel kommt kein einziges Mal in dem Buch vor. Manfred Spitzer, Nervenkitzel. Neue Geschichten vom Gehirn, Frankfurt am Main 2006. Auch Mary Beards grundlegende Arbeit über die Lachkultur im antiken Rom trägt das Kitzeln im Titel, geht aber nur an zwei Stellen kurz auf das Phänomen ein: Mary Beard, Laughter in Ancient Rome. On Joking, Tickling and Cracking up, University of California Press, Berkeley 2014.
Die Feuilletontauglichkeit des Themas hat Aaron Schuster in seinem Essay »A Philosophy of Tickling« im Magazin »Cabinet« unter Beweis gestellt. In atemberaubender Rasanz kompiliert Schuster Kitzelfunde von Platon bis Derrida, von Ebeling bis Metz. Aaron Schuster, A Philosophy of Tickling, in: Cabinet 50 (2013), S. 3–14.
Joseph J. Winkler von Mohrenfels, Vom Kützeln, in: ders., Hebe. Ein Pendant zum Ganymed, Leipzig 1789, S. 54–70, hier S. 67.
Den »Emotional turn« der Literaturwissenschaft leitete u.a. ein: Thomas Anz, Literatur und Lust. Glück und Unglück beim Lesen, München 1998. Winfried Menninghaus, Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung, Frankfurt am Main 1999. Simone Wilko, Kodierte Gefühle. Zu einer Poetik der Emotionen in lyrischen und poetologischen Texten um 1900, Berlin 2003. Seither hat sich in der Literaturwissenschaft eine rege Diskussion über Empfindungen, Emotionen und Gefühle entwickelt. In diesen Resonanzraum fügt sich die vorliegende Studie ein.
Duden. Das Herkunftswörterbuch. Etymologie der deutschen Sprache, Berlin, Mannheim u. Zürich 2014, S. 404.
In der Umgangssprache versteht man unter Klitoris (Kitzler) einen »aufrichtbare[n], dem Penis entsprechende[n] Teil der weiblichen Geschlechtsorgane, am oberen Zusammenstoß der kleinen Schamlippen«, Gerhard Wahrig, Fremdwörter-Lexikon, Gütersloh 1976, S. 312. Zur Konstanz dieser Einschätzung vgl. Sabine zur Nieden, Weibliche Ejakulation, Gießen 2004, S. 22.
Als Erklärung führt Pober in ihrer Fußnote an: »Die Motivation von kitzler für Klitoris ist unter dem Verb kitzeln im Etymologieduden belegt; eine Ableitung, der kitzel, wird als leichter Juckreiz, bzw. Verlangen beschrieben: ›Kitzler‹ ›Klitoris‹ (18. Jh.; eigentlich Organ, das bei Berührung einen Sinnesreiz auslöst) (D/7, 1989: 344–345); in dieser Definition fehlt die genaue Definition des weiblichen Geschlechtsorgans, da Organ nicht gleich Geschlechtsorgan ist, wie dies bei den Definitionen des männlichen Geschlechts der Fall ist.« Maria Pober, Gendersymmetrie. Überlegungen zur geschlechtersymmetrischen Struktur eines Genderwörterbuchs im Deutschen, Würzburg 2007, S. 324.
Rebecca Chalker, Klitoris. Die unbekannte Schöne. Aus dem amerikanischen Englisch von Ekpenyong Ani und Anke Mai. Mit einem Vorwort von Mithu M. Sanyal. Illustrationen von Fisch, Berlin 2012, S. 9.
Ute Frevert, Was haben Gefühle in der Geschichte zu suchen?, in: Geschichte und Gesellschaft, Jg. 35, Nr. 2 (2009), S. 183–209, hier S. 202.
Zu diesem Anspruch: Eva Illouz, Warum Liebe weh tut. Eine soziologische Erklärung, Berlin 2011, S. 23.
Barbara Duden, Der Frauenleib als öffentlicher Ort. Vom Mißbrauch des Begriffs Leben, München 1991, S. 17ff.
Gleichursprünglichkeit heißt, dass es – body that matters – sehr wohl auf biologische Dispositionen (berührungsempfindliche Haut, Nervensystem, Reizleitung etc.) ankommt, diese sich aber stets mit kulturellen Zuschreibungen überlagern. Zur Zurücknahme der Opposition von Natur und Kultur vgl.: Bruno Latour, Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie. Aus dem Französischen von Gustav Roßler, Frankfurt am Main 2002. Aus vollkommen anderer Perspektive, aber in diesem Aspekt mit demselben argumentativen Fluchtpunkt: Judith Butler, Körper von Gewicht, Frankfurt am Main 2007.
Die Semantik des Kitzels ist ihrerseits von medialen, materialen, technischen und historischen Faktoren geprägt. Umgekehrt sind in der jeweiligen Kitzelsemantik das Beziehungsgeflecht der Diskurse, Medien, Praktiken, Materialien sowie die Zirkulation des Begriffs durch verschiedene Wissensbereiche lesbar.
Das haben die Neurowissenschaften selbst erkannt, die sich gegen den monolithischen Erkenntnisanspruch des eigenen Fachs mit dem Begriff des »Neuro-Reduktionismus« wehren. Zugleich wurde in Frankfurt am Main 2013 das Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik gegründet. Dort wird die ästhetische Wirkung von Denkmustern und Ritualen untersucht, die zu den hier vorgestellten »Kitzelweisen« analog sind. Bezeichnenderweise wurde das Institut vor seiner Gründung unter dem vielsagenden Titel »Der physiologische Kitzel des Schönen« angekündigt. http://www.dradio.de/dlf/sendungen/kulturheute/1940883/, zuletzt aufgerufen am: 15.12.2012.
Christiane Voss, Narrative Emotionen. Eine Untersuchung über die Möglichkeiten und Grenzen philosophischer Emotionstheorien, Berlin 2004. Zur Historizität der Emotionen: Dominik Perler, Transformationen der Gefühle 1270–1670. Philosophische Emotionstheorie, Frankfurt am Main 2011. Johannes F. Lehmann, Im Abgrund der Wut. Zur Kultur- und Literaturgeschichte des Zorns, Freiburg 2012.
Ohne diese Wissenselemente wäre der Kitzel nicht als solcher identifizierbar. Der Gekitzelte ebenso wie der Kitzelnde muss stets wissen, was er fühlt, um es fühlen zu können. In Texten gilt derselbe Fall: Dort muss das Wissen ebenfalls vorhanden sein, damit der Kitzel dort als Kitzel gelesen werden kann.
Als Beweis für den kognitiven Charakter des Kitzels gilt, dass man sich nicht selbst kitzeln kann. Denn das Gehirn nimmt jeweils vorweg, an welcher Stelle man sich kitzeln wird. Die kognitive Schleife ist das Einfallstor des kulturell Vermittelten in das Individuelle.
Zur Rationalität der Emotion: Jon Elster, Alchemies of the Mind. Rationality and the Emotions, Cambridge 1999. Ronald de Sousa, The Rationality of Emotion, Cambridge 1987. Antonio R. Damasio, Descartes’ Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn, München 1995. Martha C. Nussbaum, Upheavals of Thought. The Intelligence of Emotions, Cambridge 2001.
Grundsätzlich hierzu: Barbara Duden, Der Frauenleib als öffentlicher Ort, S. 13ff. Diese Position korreliert mit der unhintergehbaren Sprachlichkeit des menschlichen Weltzugangs, den die Humanwissenschaften des 20. Jahrhunderts vertreten. Zu Emotion und Erzählung vgl. Martha C. Nussbaum, Narrative Emotions. Becket’s Genealogy of Love, in: dies., Love’s Knowledge, Oxford 1990, S. 286–313. Albrecht Koschorke, Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer allgemeinen Erzähltheorie, Frankfurt am Main 2012, S. 10.
Jean M. Mandler und Nancy S. Johnson, Remembrance of Things Parsed: Story Structure and Recall, in: Cognitive Psychologie 9 (1977), S. 111–151, hier S. 112.
Umgekehrt entspricht das begrifflich Fassbare nie der Empfindung insgesamt. Es gibt immer das andere, Unbegreifbare des Emotionalen. Zur »strukturellen Syntax« von Gefühlen und Emotionen vgl. zuletzt Jutta Stalfort, Die Erfindung der Gefühle. Eine Studie über den Wandel menschlicher Emotionalität (1750–1850), Bielefeld 2013, S. 108ff.
In der Schreibweise, so Barthes, überkreuzt sich das Individuelle des Schreibens (das man gemeinhin als Stil bezeichnet) mit den allgemeinen Gesetzmäßigkeiten der Schrift (Grammatik, Syntax etc.), die in ihrer jeweiligen historischen Prägung und Regelformation das Schreiben bestimmen. Roland Barthes, Am Nullpunkt der Literatur, in: ders., Am Nullpunkt der Literatur. Objektive Literatur. Zwei Essays. Übersetzt von Helmut Scheffler, Hamburg 1959, S. 17f.
Wer »Kitzel«, »kitzlig« oder »tickle« in die einschlägigen Suchmasken eingibt, erhält mit einem Knopfdruck Tausende von Treffern.
Zu einer solchen Konzeption des Körperlichen (als symbiotischem Mechanismus) im Moment, in dem alle (symbolisch generalisierten) Kommunikationsmedien zusammenbrechen, vgl. Niklas Luhmann, Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt am Main 1994.
Michel Foucault, Nietzsche, die Genealogie, die Historie, in: ders., Von der Subversion des Wissens. Herausgegeben und aus dem Französischen und Italienischen übersetzt von Walter Seitter, Frankfurt am Main 1987, S. 69–90, hier S. 72.
Anders gesagt: Das Universum des Wissens ist semiotisch konfiguriert. Ansgar Nünning, Kulturwissenschaft, in: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, hg. von. A. Nünning, Stuttgart, Weimar 2011, S. 355.
Die Bewegung zur Empfindung hin schließt explizit nicht ein, dass sie diese auch erreicht.
Methodisches Vorbild für diese Metaphorologie ist Hans Blumenberg. Denkstilprägend führt er sein Verfahren u.a. in Schiffbruch mit Zuschauer durch. Hans Blumenberg, Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher, Frankfurt am Main 1997. Zur Notwendigkeit, Begriffsgeschichte, Semiologie und späterhin auch Narratologie zu vereinen, vgl. Carsten Dutt, Begriffsgeschichte als Aufgabe der Literaturwissenschaft, in: Christoph Strosetzki (Hg.), Literaturwissenschaft als Begriffsgeschichte, Hamburg 2010, S. 97–110. Hans Ulrich Gumbrecht, Historische Textpragmatik als Grundlagenwissenschaft der Geschichtsschreibung, in: Lendemains 6 (1977), S. 125–135.
Solche Gewebe von Bedeutungen sind ihrerseits medial, material oder auch technologisch organisiert. Ihre Struktur hängt beispielsweise davon ab, aus welchen Materialen die Zeichen bestehen. Umberto Eco, Zeichen. Einführung in einen Begriff und seine Geschichte, Frankfurt am Main 1995, S. 173.
Umberto Eco, Zeichen, S. 173.
Wenn man diesen Prozess von Goethes Verständnis des »Symbols« aus betrachtet, dann kann man sagen: Das Symbolische stellt einen Prozess dar. Vgl. zu dieser Konzeption: Frauke Berndt, Symbol/Theorie, in: Frauke Berndt und Christoph Brecht (Hg.), Aktualität des Symbols, Freiburg 2005, S. 7–30, hier S. 13.
Paul de Man, Blindness and Insight. Essays in the Rhetoric of Contemporary Criticism, Minneapolis 1997, S. 17.
Dieser diskursanalytische Ansatz unterliegt zwar der Vorgehensart der Untersuchung, bildet aber nicht ihre oberste Priorität.
Roland Barthes bezeichnet diese Struktur als dynamisches Gewebe: ders., Die Lust am Text. Aus dem Französischen von Traugott König, Frankfurt am Main 1974, S. 94. Zum rhizomatischen Charakter des Wissensuniversums und damit jeder symbolischen Ordnung vgl. über Deleuze/Guattaris »Rhizom« hinaus: Umberto Eco, Semiotik und Philosophie der Sprache, München 1985, S. 129.
Jean-François Lyotard, Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, hg. von Peter Engelmann, Wien 1986, S. 67.
Roland Barthes, Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen, in: ders., Das semiologische Abenteuer. Aus dem Französischen von Dieter Hornig, Frankfurt am Main 1988, S. 102–143, hier S. 102.
Für die Erkenntnis, dass auch außerhalb der Epik erzählt wird, gilt noch immer Hayden Whites Studie zum historischen Diskurs als grundlegend. Hayden White, Auch Klio dichtet. Die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses, Stuttgart 1986. Die Erkenntnis hat sich auf alle anderen Wissensfelder ausgeweitet. Zur Narrativik von kognitiver Verarbeitung, Erinnerung und Gedächtnis: Martin Kreiswirth, Merely Telling Stories? Narrative and Knowledge in Human Sciences, Poetics Today (2000) 21, H. 2, S. 293–318.
Außerhalb des Rhetorischen lässt sich nicht über den Kitzel sprechen. Der Fokus der Untersuchung liegt auf den Erzählungen über den Kitzel, da die Rhetorik des Kitzels sich als Bestandteil der Erzählung sehr gut erfassen lässt. Umgekehrt setzt Rhetorizität nicht unbedingt ein Erzählen voraus.
Aufgrund dieser Engführung ist die vorliegende Studie keine Begriffsgeschichte im herkömmlichen Sinne. Zur allgemeinen Erzähltheorie: Albrecht Koschorke, Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer allgemeinen Erzähltheorie, Frankfurt am Main 2012.
Enggeführt werden die drei Methoden in der Überzeugung, dass Erzählungen ihr Wissen stets im Zuge einer dekonstruktivistischen Doppelbewegung aus Bedeutungskonstitution und -entzug generieren. Patrick O’Neill, Fictions of Discourse. Reading Narrative Theory, Toronto 1994. Sandra Heinen, Postmoderne und poststrukturalistische (Dekonstruktionen der) Narratologie, in: Ansgar und Vera Nünning (Hg.), Neue Ansätze in der Erzähltheorie, Trier 2002, S. 243–264.
Die Kulturwissenschaft fasst diese Interferenz im Bild der Fäden, die aus den unterschiedlichen kulturellen Bereichen in das semiotische Gewebe eines einzelnen Textes hinein- und wieder aus diesem herausführen. Vgl. Moritz Baßler, New Historicism, Cultural Materialism und Cultural Studies, in: Ansgar und Vera Nünning (Hg.), Konzepte der Kulturwissenschaften. Theoretische Grundlagen – Ansätze – Perspektiven, Stuttgart 2003, S. 134.
Albrecht Koschorke, Wahrheit und Erfindung, S. 24.
Foucault verwendet dieselbe Theater-, Bühnen- und Schauspielmetaphorik, um den Verlauf einer Genealogie zu beschreiben, wie Roland Barthes sie benutzt, um das »Schauspiel der Semiose« begrifflich zu bestimmen. Späterhin bezeichnet Roland Barthes solcherart Scharnierstellen als »Katalysen«. An ihnen bieten sich dem Handlungsverlauf mehrere Möglichkeiten, wie sie weiter verlaufen könnten, die sie dann zugunsten einer einzigen Option ausschlagen. Roland Barthes, Einführung in die strukturale Analyse, S. 104ff.
Die Gewebemetapher scheint mir aufgrund ihres Bezugs zu »textum«/Text weiterhin sinnfällig, um die Textualität der Kultur zu beschreiben. Alternativen wären das Bild der Kristallbildung, bei der sich an die erste Erzählung immer neue Erzählungen anlagern, oder das Bild der hochaktiven »Cloud«, in der sich die Elemente zu Wolken fügen.
Hartmut Böhme (Hg.), Transformation. Ein Konzept zur Erforschung des kulturellen Wandels, München 2011.
Hans Blumenberg, Aspekte der Epochenschwelle: Cusaner und Nolaner. Erweiterte und überarbeitete Neuausgabe von der Legitimität der Neuzeit, vierter Teil, Frankfurt am Main 1993, S. 16.
Zur »Geschichte der Gegenwart« vgl. Michel Foucault, Dispositive der Macht. Aus dem Französischen von Walter Seitter, Frankfurt am Main 1986. Ders., Archäologie des Wissens. Aus dem Französischen von Ulrich Köppen, Frankfurt am Main 1994.
Zur Vermittlung von Systemtheorie und Narratologie vgl. Albrecht Koschorke, Codes und Narrative. Überlegungen zur Poetik der funktionalen Differenzierung. In: Dorothee Kimmich, Rolf G. Renner u. Bernd Stiegler (Hg.), Texte zur Theorie der Literaturtheorie der Gegenwart, Stuttgart 2008, S. 545–558, hier S. 547.
Albrecht Koschorke, Codes und Narrative, S. 554.
Ebd.
Was für die Literatur gilt, betrifft ebenfalls Kunst, Musik und Film, soweit sie sich im Sinne von Koschorkes Definition als kulturelle Texte verstehen.
Die Studie geht davon aus, dass ästhetische Erscheinungen etwas spezifisch anderes auf andere Weise erzählen als andere Textformen. Sie vermitteln damit auch andere (Er-)Kenntnisse. Eine solche Herangehensweise vertritt ein emphatisches Verständnis von Ästhetik.
Aristoteles, Die Glieder der Geschöpfe (Über die Teile der Lebewesen), übersetzt und erläutert von Wolfgang Kullmann, Aristoteles Werke, Bd. 17, Zoologische Schriften II, Berlin 2007, S. 81 (672b-673).
Standard ist, Aristoteles’ Anmerkungen zum Kitzel für akzidentiell zu halten. So etwa: Marius Reiser, Von allen Lebewesen lacht nur der Mensch – Die griechisch-römische Lachkultur, in: Winfried Wilhelmy (Hg.), Seliges Lächeln und höllisches Gelächter. Das Lachen in der Kunst des Mittelalters, Regensburg 2012, S. 15–25, hier S. 22.
Ursula Link-Heer beurteilt die Darstellung des Kitzels in den Problemata so: »Bei den problemata des Kitzelns erscheint Aristoteles’ Auffassung nirgends einleuchtend.« Ursula Link-Heer, Physiologie und Affektenlehre des Lachens im Zeitalter Rabelais’. Der medico-philosophische »Traite du Ris« (1589) von Laurent Joubert, in: Werner Röcke, Helga Neumann (Hg.), Komische Gegenwelten. Lachen und Literatur in Mittelalter und Früher Neuzeit, Paderborn u.a. 1999, S. 251–282, hier S. 273. Aristoteles, Problemata Physica, in: ders., Werke in deutscher Übersetzung. Übers. von Hellmut Flashar, Bd. 19, Darmstadt 1991.
Mary Beard, Laughter in Ancient Rome. On Joking, Tickling and Cracking up, University of California Press, Berkeley u.a., 2015, S. 30.
Vgl. hierzu: Ärzte und ihre Interpreten. Medizinische Fachtexte der Antike als Forschungsgegenstand der Klassischen Philologie. Hg. von Carl Werner Müller u.a., Einleitung, Leipzig 2006, S. 4.
Zu dieser Aristoteles-Stelle: Stephen Halliwell, Greek Laughter. A Study of Cultural Psychology from Homer to Early Christianity, Cambridge 2008, S. 307ff.
Aristoteles, Über die Teile der Lebewesen, S. 80.
Ebd., S. 81.
Zur elementaren Funktion des Zwerchfells für die antike Anthropologie, Philosophie und Medizin vgl. Esther Fischer-Homberger, Zwerchfellverletzung und psychische Störung, in: Gesnerus, Vierteljahreszeitschrift für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften 35 (1978), S. 3–35. Susanne Schroeder, Lachen ist gesund. Eine volkstümliche und medizinische Binsenweisheit im Spiegel der Philosophie, Berlin 2002, S. 41ff. Dorothee Kimmich, Das Zwerchfell – Der Sitz des Lebens, in: Ze hove und an der strâzen. Die deutsche Literatur des Mittelalters und ihr »Sitz im Leben«. Festschrift für Volker Schupp zum 65. Geburtstag, Stuttgart, Leipzig 1999, S. 125–133.
Aristoteles, Über die Teile der Lebewesen, S. 80.
Ebd.
Problemata physica: »Es sind doch wohl dies die Stellen, wo die kleinen Adern liegen, die (die Stellen), wenn sie sie (die Adern) abkühlen oder die gegenteilige Verfassung annehmen, feucht werden oder sich aus Feuchtigkeit in Luft verwandeln. […] Diese Luft aber lassen wir, wenn sie sich in größerer Menge angesammelt hat, auf einmal heraus.«
Wenn man sich selbst nicht kitzeln kann, ist das Kitzeln kein Reflex. Vielmehr bringt Aristoteles an dieser Stelle das Bewusstsein ins Spiel. Der Gekitzelte muss die Situation erkennen. Kitzeln muss gelernt und als Kitzel identifiziert werden. Damit öffnet Aristoteles der Kultur die Tür.
Aristoteles, Problemata Physica, Was die Wirkung der Berührung betrifft, XXXV, S. 283.
Hippokrates, Über die Natur des Menschen, in: Jutta Kollesch und Diethard Nickel (Hg.), Antike Heilkunst. Ausgewählte Texte aus den medizinischen Schriften der Griechen und Römer, Stuttgart 1994, S. 73.
Aristoteles, Problemata physica, Buch XXXV, 8., S. 284. Direkt im Anschluss leitet Aristoteles zum Niesen und somit zum medizinischen Diskurs über: »Ebenso lösen wir auch beim Niesen, wenn wir mit der Feder die Nase erwärmen und berühren, (Feuchtigkeit) in Luft auf. Und wenn es dann eine größere Menge (Luft) geworden ist, stoßen wir sie heraus.« Ebd., S. 284.
Aristoteles, Problemata physica, Buch IV, 15., S. 53.
An dieser Kardinalstelle führt Aristoteles seine Theorie des Kitzels mit epikureischen Denkmustern eng. Epikur postulierte zwar die Lust als oberstes Lebensprinzip (Epikur, Brief an Menoikeus, Fragment 129). Er relativiert diese Aussage aber insofern, als er das Vergnügen als Befreiung von körperlichen Schmerzen versteht. Als Ideal schwebt ihm ein Zustand der »Meeresstille«, die ataraxía, vor. Obwohl er in der Rezeptionsgeschichte zum Vertreter der ungehemmten Lust umgedeutet wird, sind seine Vorstellungen mit der lustbetonten, doch nie den Rahmen sprengenden aristotelischen eudaimonia kompatibel. Epikur, Brief an Menoikeus, Fragment 131: »Für uns bedeutet Lust (hedoné): keine Schmerzen haben im körperlichen Bereich und im seelischen Bereich keine Unruhe verspüren.« Epikur, Philosophie der Freude. Eine Auswahl aus seinen Schriften, übersetzt, erläutert und eingeleitet von Johannes Mewaldt, Stuttgart 1973, S. 46. Zu Epikurs Kitzel vgl. bereits Leon Dumont, Vergnügen und Schmerz. Zur Lehre von den Gefühlen, Leipzig 1876, S. 30–35; zum Lachkitzel S. 242, 255. Selbst bei Cicero spielt der Kitzel eine Rolle, wenn er das Vergnügen bei Epikur erklärt: »das höchste Gut besteht in Vergnügen und das höchste Übel in Schmerz. Wir verstehen unter Vergnügen nicht so wohl oder nicht allein einen angenehmen Kitzel, sondern vielmehr eine Abwesenheit oder Befreiyung aller cörperlichen Schmerzen, aller Seelenleiden.« (Cicero, Liber V, l. c.)
Andreas Kablitz, Komik, Komisch. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 2, hg. v. Harald Fricke u.a., Berlin 2000, S. 289–294, hier S. 289.
Aristoteles, Über die Teile der Lebewesen, S. 81.
Diese Behauptung stellt Aristoteles in seiner Schrift »Sinn und Sensibilität« (De sensu et sensibilibus) auf. Aristoteles, de sensu et sensibilibus, hg. von Olof Gigon, Berlin 1960, Buch IV 441a1–2.
Aristoteles unterscheidet zwei Arten von Kitzeln: Kitzlig-Sein der Haut (Berührungsbegriff) und Lachkitzlig-Sein, also über den Haut-Zwerchfell-Lach-Mechanismus verfügen.
Aristoteles’ Vorstellung, vom Kitzeln aus ordne sich die Welt, korrespondiert mit analogen Erzählungen aus anderen Kulturkreisen. Claude Lévi-Strauss hat anhand amazonischer Mythen herausgearbeitet, dass dort die Frage nach dem Menschsein sowie nach der Gründung der Kultur ebenfalls anhand des Lachkitzels gestellt wird. Kann ein Lebewesen sein Lachen unterdrücken, während es gekitzelt wird, so wird es dem Menschen statt den Tieren, den Jägern statt den Gejagten, den Herrschern statt den Beherrschten zugeordnet. Aristoteles’ Ordnungsmuster stünde in diesem Falle also nicht alleine da. Claude Lévi Strauss, Mythologica I. Das Rohe und das Gekochte. Frankfurt am Main 1990, S. 162ff.
Aristoteles führt diese kognitive Dimension nicht weiter aus, aber sie bildet dennoch einen wichtigen Bestandteil seiner Vorstellung vom Kitzel. Vgl.: Stephen Halliwell, Greek Laughter. A Study of Cultural Psychology from Homer to Early Christianity, Cambridge 2008, S. 350ff.
Aristoteles, Über die Teile der Lebewesen, S. 80f.
Ebd., S. 80.
Die Bemerkung, dass die Schwingung des Zwerchfells auch durch den Aufstieg von Wärme aus dem unteren Bereich ausgelöst werden kann, eröffnet das Einfallstor für die Wirkung des sexuellen Kitzels, der dem unteren Körperbereich zugeordnet ist, auf das Denken (vgl. Kapitel III, Platons Kitzel).
Platon entwickelt seine Seelenkunde vor allem im Timaios. Dort geht er von einer Dreiteilung der Seele aus. Sie besteht für ihn aus einem göttlichen Teil, den die Götter im Kopf untergebracht haben, damit er nicht unnötig vom Leiblichen befleckt wird. Der Hals fungiert als feine Trennlinie zum leiblichen Teil der Seele, der unterhalb dieser Grenze seine Wohnstätte hat und im Brustkasten eingeschlossen ist. Auch der leibliche Teil zerfällt wieder in einen besseren und einen schlechteren Bereich. Beide sind getrennt durch eine Scheidewand – das Zwerchfell: »Aus Scheu demnach, den göttlichen Teil der Seele irgendwie über das Nötige hinaus zu beflecken, wiesen sie dem sterblichen Teil eine Wohnstätte getrennt von jenem in einem anderen Teil des Leibes an, indem sie, um die Trennung durchzuführen, zwischen Kopf und Brust eine schmale Gasse als Grenzscheide durch Zwischenlegung des Halses herstellten. So schlossen sie den sterblichen Teil der Seele in die Brust, in den sogenannten Brustkasten ein, und da sie ihrerseits wieder in einen schlechteren Teil zerfällt, so teilten sie wiederum die Höhlung der Brust in zwei gesonderte Räume, gleichsam in ein Frauen- und ein Männergemach, durch Zwischenlegung einer Scheidewand, nämlich des Zwerchfells.« Platon verortet das Zwerchfell mitten im vitalen Zentrum der Seele. Dort übernimmt es eine Funktion, die in den Vorstellungsmustern des 18. Jahrhunderts dem Gehirn zukommen wird. Platon, Timaios, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 5, Politikos, Philebos, Timaios, Reinbek 1964, S. 69f.
Fridolf Kudlien, Der Beginn des medizinischen Denkens bei den Griechen von Homer bis Hippokrates, Zürich u. Stuttgart 1967, S. 83.
Ebd.
Aristoteles, Über die Glieder der Geschöpfe, S. 80.
Aristoteles stärkt den Zusammenhang von Kitzeln und Sprechen an anderer Stelle erneut. In den »Problemata physica« zählt er die Lippen zu den Körperteilen, an denen der Mensch am kitzligsten sei: »Deshalb aber sind am meisten kitzlig unter allen Stellen am Kopf die Lippen, die fleischig, daher aber am leichtesten in Bewegung zu setzen sind.« Aristoteles, Problemata physica, Buch XXXV, S. 284.
Vgl. zu diesen Zusammenhängen und ihrem Zusammenspiel mit der Architektur und der politischen Praxis in der antiken Polis: Richard Sennett, Fleisch und Stein. Der Körper und die Stadt in der westlichen Zivilisation. Aus dem Amerikanischen von Linda Meissner, Frankfurt am Main 1997, S. 53–55.
Bei Hippokrates sind gleichermaßen die Atome aller Körperteile, die Humorales und die einzelnen Gewebe beteiligt. Vgl. Heinz-Jürgen Voß, Making Sex Revisited. Dekonstruktion des Geschlechts aus biologisch-medizinischer Perspektive, Bielefeld 2010, S. 58ff.
Philipp Sarasin sieht diese Zusammengehörigkeit noch in der christlichen Sexualmoral und in der bürgerlichen Konvention des 19. Jahrhunderts als gegeben. Erst im Übergang zum 20. Jahrhundert driften sie auseinander, Philipp Sarasin, Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 1765–1914, Frankfurt am Main 2001, S. 375.
Hippokrates, Über die Natur des Kindes (»De genitura« und »De natura pueri«), hg. und ins Deutsche und Italienische übersetzt und textkritisch kommentiert von Franco Giorgianni, Wiesbaden 2006, S. 264. (Kapitel 1: Ursprung des Samens, 1.1, Z. 10).
Ebd., S. 147 (Kapitel 1: Ursprung des Samens, 1.1, Z. 10).
Ebd., S. 153. Kapitel 4, Auch die Frau ejakuliert einen eigenen Samen, Z. 4. Analog zur Übersetzung von Giorgianni: »Das Weib aber fühlt während des Beischlafes durch die Reibung der Schamtheile und durch die Aufregung der Gebärmutter eine Art Kitzel, und dieser erregt im übrigen Körper das Gefühl der Wollust und Wärme.«
Die griechische Antike steht mit den Entwürfen zum Zusammenhang von Kitzel und Zeugung nicht allein da. Zum Kitzeln in den Zeugungstheorien der altindischen Sexualwissenschaft vgl. Renate Syed, Zur Kenntnis der »Gräfenberg-Zone« und der weiblichen Ejakulation in der altindischen Sexualwissenschaft. Ein medizinhistorischer Beitrag, in: Sudhoff’s Archive (1999) 83, H. 2, S. 171–190.
Zur Pangenesislehre vgl. Erna Lesky, Die Zeugungs- und Vererbungslehren der Antike und ihr Nachwirken, Wiesbaden 1950, S. 70ff. (S. 1294).
Michael Lück, Prothetische Körper. Zur Zeugungslehre des 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr., in: Elke Hartmann (Hg.), Sexualität, Medizin und Moralvorstellungen in der Antike, Berlin 2006, S. 50–77, hier S. 57.
Hippokrates, Über die Natur des Kindes (»De genitura« und »De natura pueri«), hg. und ins Deutsche und Italienische übersetzt und textkritisch kommentiert von Franco Giorgianni, Wiesbaden 2006, S. 264 (Kapitel 1: Ursprung des Samens, 1.1, Z. 10).
Erna Lesky, Die Zeugungs- und Vererbungslehren der Antike und ihr Nachwirken, S. 158 (S. 1382).
Zur Egalität der Frau in Hippokrates’ Befruchtungstheorie vgl. Lesley Dean-Jones, Women’s Bodies in Classical Greek Science, Oxford 1994, S. 157. Die Egalität geht noch so weit, dass beide Geschlechter sowohl über männliche als auch über weibliche Samen verfügen. Der männliche Samen allerdings gilt als kräftiger gegenüber dem schwächeren weiblichen. Das Geschlecht des Kindes hängt davon ab, welche Samen miteinander verschmelzen. Treffen zwei schwache Samen aufeinander, entsteht ein Mädchen, aus starken Samen entstehen Jungen. Mit dieser Definition bedient Hippokrates dann doch die stereotype Geschlechterdifferenz. Heinz-Jürgen Voß, Making Sex Revisited, S. 58.
Ebd., S. 60