Vier Frauen und ein See

VIOLA SHIPMAN

VIER FRAUEN UND EIN SEE

Roman

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch
von Anita Nirschl

FISCHER E-Books

Inhalt

Über Viola Shipman

Viola Shipman arbeitet regelmäßig für People.com, Entertainment Weekly und öffentliche Rundfunkprogramme. Ihre Romane »Für immer in deinem Herzen«, »So groß wie deine Träume«, »Weil es dir Glück bringt« und »Ein Cottage für deinen Sommer« waren sofort Bestseller. Viola Shipman schreibt im Sommer in einem Ferienort, inspiriert von der grandiosen Kulisse des Michigansees.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Über dieses Buch

Elizabeth, Veronica, Rachel und Emily lernten sich 1985 im Feriencamp kennen, wo sie vier Sommer lang die Clover Girls waren - unzertrennlich für diese magischen Wochen der Freiheit. Bis kleine Intrigen und ein großer Verrat das Kleeblatt auseinander riss. Jetzt, in mittlerem Alter, kämpfen die Frauen mit ihren Ehen, ihren Kindern und ihren Karrieren, als Liz, V und Rachel plötzlich jeweils einen Brief von Emily erhalten. Sie bittet die drei, die einst ihre besten Freundinnen waren, noch ein Mal im Camp Birchwood am Lake Michigan zusammenzukommen.  Eine Woche, um sich an die Mädchenträume von damals zu erinnern und alte Wunden zu heilen. Werden sie sich überhaupt noch etwas zu sagen haben? Eine Woche Auszeit vom eigenen erwachsenen Leben erscheint doch ganz schön lang. Was hat Emily sich dabei nur gedacht? 

Impressum

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

Die amerikanische Originalausgabe erschien
unter dem Titel »The Clover Girls« bei Graydon House Books, Toronto.
Copyright © 2021 by Viola Shipman.

 

Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2022 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114,
D-60596 Frankfurt am Main.

 

Redaktion: Susanne Kiesow

 

Covergestaltung: Cornelia Niere, München,

nach einer Idee von Gigi Lau/Harlekin Enterprises ULC

Coverabbildung: David Prado/Stocksy

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-10-491546-3

 

Ihr bringt mich zum Lachen, ihr bringt mich dazu, Dinge zu tun, die ich bereue. Aber vor allem bringt ihr mich dazu, daran zu glauben, dass ich immer noch alles tun und alles sein kann, was ich mir erträume. Ihr inspiriert mich jeden Tag aufs Neue.

Briefe nach Hause

EMILY

Liebe Mom, lieber Dad!

 

Die erste Woche im Ferienlager hat total schrecklich angefangen.

Ich habe mich in einer alten Scheune versteckt, wo sie die ganzen Kanus und Kajaks lagern, und eine Stunde lang geweint. Ich kannte noch keines der Mädchen und hab mich SO allein gefühlt.

Aber dann ist etwas passiert! Drei Mädchen aus meiner Hütte haben gemerkt, dass ich fehle, und mich gesucht. »Es wird alles gut«, haben sie gesagt. »Da müssen wir alle durch, und gemeinsam schaffen wir das.«

Auf dem Weg zurück zum Camp haben wir eine Abkürzung durch dieses riesige Kleefeld genommen, das auf einer Seite vom Lake Birchwood liegt. Das ist sooo schön. Der Klee bewegt sich im Wind, als wäre er lebendig und würde atmen, und das Grün und Weiß passen zu den kleinen Wellen auf dem See. Auf dem Rückweg haben wir uns alle an den Händen genommen und sind durch die Wiese zurückgegangen. Und da ist es passiert! Ich habe ein vierblättriges Kleeblatt direkt vor meinen Füßen gefunden. Ich habe einfach hinuntergesehen, und da war er, dieser winzig kleine Glücksklee auf der riesengroßen Wiese. Wir sind alle total ausgeflippt und zurück zum Camp gerannt.

Mrs. Nigh hat uns erzählt, dass es im Paradies Klee gab und dass Eva ein vierblättriges Kleeblatt mitgenommen hat, um sich an die

Jetzt wissen wir es! Wir waren immer dazu bestimmt, uns zu begegnen! Und wir sind alle schon total beste Freundinnen. Wir sind alle SO verschieden, aber jede von uns hat irgendwas Cooles, das die Gruppe komplett macht, fast so, als würden wir vier zusammen einen perfekten Menschen ergeben, genau wie die vier Blätter des Glücksklees. Sie heißen Veronica, Elizabeth und Rachel, und wir kommen alle von woanders! Jetzt ist Camp Birchwood total cool geworden!

Wie ich schon sagte, am Anfang war ich super nervös. Am ersten Abend kannte ich beim Abendessen noch niemanden. Wir saßen alle an einem großen Tisch, und die älteren Mädchen haben gelacht und über die Jungs im Camp Taneycomo geredet. Man konnte die Jungs sogar über den See nach den Mädchen rufen hören, sie haben geklungen wie gestörte Eulen. Ein paar von uns kannten sich aus der Schule, aber die meisten saßen einfach herum und kauten an ihren Hot Dogs vor sich hin. Also, die Jugendleiter (unsere heißt Dana, und sie ist SO nett!) wollten, dass alle neuen Camper sich vorstellen, indem wir etwas Künstlerisches machen, das repräsentiert, wer wir im Innern wirklich sind. Manche Mädchen haben gesungen, manche haben getanzt, manche haben Szenen aus Stücken aufgeführt, manche haben Bilder von sich und ihren Familien gemalt, aber WIR vier?! Wir haben ALLE das gleiche gemacht! Wir haben Freundschaftspins gebastelt! Und sie waren alle grün! Die Jugendleiter dachten, das wäre, weil wir alle in derselben Hütte wohnen und dass wir deswegen grün genommen haben, aber wir haben es gemacht, weil es unsere Lieblingsfarbe ist. Und als wir fertig waren und ich auf unsere Turnschuhe hinuntergeschaut habe, bin ich total ausgeflippt! Unsere Schnürsenkel sind jetzt alle voller Freundschaftpins!

Und Veronica so: »Äh, ja, wir wissen, wie wir heißen.« Liz meinte nur: »Geht’s dir gut?« Und dann hat Rachel angefangen, auf sich selbst zu zeigen, dabei hat ihr Arm so heftig gezittert, dass ihr Marshmallow ins Feuer gefallen ist. Wir dachten alle, sie albert nur rum, aber dann hat sie aufgehört und jede von uns angesehen, dass ihr Gesicht durch die Flammen ganz unheimlich war. »Du bist Emily!«, sagte sie zu mir. »Du bist Veronica. Du bist Elizabeth. Ich bin Rachel.«

»Wir haben’s kapiert«, lachte Veronica.

»Nein, habt ihr nicht«, sagte Rachel. »Die Anfangsbuchstaben unserer Namen … E-V-E-R! Wie in forever. Vier Freundinnen für immer! Kapiert? FOUR-ever!«

Wir alle sahen einander an, und dann haben wir es auch kapiert.

Jedenfalls, genau als Rachel das sagte, fing auf dem Transistorradio von einem der älteren Mädchen Girls Just Want to Have Fun an zu spielen, und wir haben alle gleichzeitig geschrien, sind aufgesprungen und haben angefangen zu tanzen, genau wie Cyndi Lauper, ohne uns darum zu kümmern, was irgendjemand sonst denkt. Und gleich danach kam That’s What Friends Are For, und wir haben angefangen, uns zusammen im Takt zu wiegen und zu singen. Jetzt nennen wir Camp Birchwood das ›Girls-Just-Wanna-Have-Fun-Camp‹, und alle Jugendleiter nennen uns die ›Clover-Girls‹, weil wir alle vier Grün lieben und grüne T-Shirts tragen. Aber besonders weil wir wie der vierblättrige Glücksklee sind, den ich am ersten Tag gefunden habe. Wir bringen einander Glück.

 

 

Ich will versuchen, euch die Clover Girls zu beschreiben.

Veronica wird ›V‹ genannt, und sie ist wunderschön. Sie sieht genauso aus wie eine High-School-Prinzessin, sie ist so selbstbewusst und witzig. Sogar die älteren Mädchen sind neidisch auf sie, und die Jungs in Taneycomo haben ihr schon Briefe geschickt, die sie auf kleinen Flößen über den See hertreiben lassen. Sie ist so was wie die Anführerin der Clover Girls, ohne sich auch nur dafür anstrengen zu müssen. Ich glaube, wenn sie nicht meine Freundin wäre, könnte ich sie nicht ausstehen.

Liz sieht aus, als käme sie direkt aus einem Madonna-Video auf MTV. Ihre Haare brauchen eine eigene Schlafkoje, sie bindet sich Spitzenbänder und Tücher hinein und macht lauter T-Shirts mit wilden Schriftzügen in unseren Bastelstunden. Sie hat uns allen ›Clover Girls‹-T-Shirts gemacht, aber die lassen sie uns nicht anziehen, weil wir zuallererst Camp Birchwood sind, dann Haus Pinewood und zuletzt erst Clover Girls. Sie hat die obercoolste Add-a-bead-Halskette – mit ungefähr einer Million Perlen dran –, die sie zusammen mit all ihren Freundschaftsnadeln und Freundschaftsbändchen trägt. Sie sagt, sie hat Forenza-Pullis in jeder Farbe, und sie trägt sie verkehrt rum mit dem V-Ausschnitt nach hinten – ist das zu fassen? Verkehrt rum! Auf die Idee wäre ich nie gekommen!

Rachel ist unser Filmstar. Sie sieht aus wie die Zwillingsschwester dieser Schauspielerin aus Footloose. Sie kann singen und tanzen, und sie hat den letzten Talentwettbewerb gewonnen! Als Campfrischling! Wir haben sie gestylt wie einen Zombie, und sie hat Thriller gesungen. Sie kannte sogar jede Tanzbewegung. Rachel will nach New York oder LA ziehen und ein Star werden. Wir alle wissen, dass sie es schaffen wird!

Ich schätze, ich bin so was wie die Mutter der Gruppe, genau wie du, Mom. Ich sorge mich um jede und will einfach nur, dass alle glücklich sind. Außerdem fühle ich mich wie der Klebstoff, der die

Jeden Abend, bevor wir ins Bett gehen, läutet die Glocke, und das ganze Camp singt Land of the Silver Birch. Das ist so unheimlich und schön zugleich, und bei der Art und Weise, wie die Stimmen aller über den See hallen, bekomme ich Gänsehaut, fühle mich aber auch geborgen.

 

Blue lake and rocky shore,

I will return once more,

Boom, didi, boom, boom,

Boom, didi, boom, boom,

Boom, didi, boom, boom … Booooom.

 

Und dann sagen die Clover-Girls alle gute Nacht zueinander, genau wie bei den Waltons. Und jedes Mal, wenn wir das tun, direkt bevor ich die Augen zumache und einschlafe, verstehe ich, warum ihr wolltet, dass ich ins Ferienlager gehe. Damit ich mich nicht so allein fühle. Und ich werde nie mehr allein sein, solange ich Freunde habe. Deswegen habt ihr mich hierhergeschickt, nicht wahr? Um Freunde zu finden.

Ich habe noch niemandem von Todd erzählt. Ich meine, wie erzählt

Ich erlaube mir jetzt nur noch zu weinen, wenn ich mit dem Schwimmreifen auf dem See treibe und weit weg von allen anderen bin. Dann heule ich, sogar noch heftiger als an dem Tag, an dem ihr vom Camp fortgefahren seid und mich allein zurückgelassen habt. Aber das weiß niemand. Nur der See und die Fische und die Falken.

Und Todd.

Aber jetzt habe ich Freundinnen. Und sie sorgen dafür, dass ich jeden Tag etwas weniger weine.

Ich liebe euch, Mom und Dad. Und ich liebe das Camp! Wir sehen uns im August!

 

Em

VERONICA

Einkaufsliste

Milch (Hafermilch, Kokosmilch, Sojamilch)

Mineralwasser (Kirsch-, Limetten-, Wassermelone-, Waldfrucht-Aroma)

Chips (Linsen, Quinoa, Grünkohl, Rote Bete)

Müsli (Vollkornflocken, Hafergrütze, NICHT genetisch verändert! SEHR WICHTIG!)

Was ist nur aus einer Sorte Milch von einer Kuh, einer Sorte Wasser aus dem Hahn und einer Sorte Chips aus Kartoffeln geworden?

Meine beiden Teenager Ashley und Tyler sitzen einander gegenüber an den Enden des riesigen modernen halbkreisförmigen Sofas, ein original Milo Baughman, das David und ich für unser neues Mid-Century-Haus in Los Angeles bestellt haben. Sie jonglieren Getränke, während sie auf ihren Handys herumfummeln, und ich muss mich mit jeder Faser meiner Seele zusammenreißen, um nicht auszuflippen. Das ist das teuerste Möbelstück, das ich mir jemals gekauft habe. Es war sogar noch teurer als die Studiengebühren für meine ersten zwei Jahre am College und mein erstes Auto, ein roter Plymouth Reliant K, der an roten Ampeln ständig absoff.

Das war vor lang vergangener Zeit, als ich diese Art von negativen Gedanken nie gehabt hätte, als das K nur für Kool oder Kolossal gestanden hätte. Aber das war eine andere Welt, eine andere Zeit, ein anderes Leben und ein anderer Ort.

Ein anderes Ich.

Eine andere V.

Ich legte meinen Stift auf dem Schreibblock ab, den das Logo des Architekturbüros meines Mannes ziert: David Berzini & Associates.

Los Angeles ist der jüngste Stopp für uns. Nachdem Davids Karriere als Architekt durchstartete, ist meine Familie mehr in der Welt herumgekommen als eine Diplomatenfamilie. Er ist jetzt einer der besten Architekten der Welt. David hat mit einigen der berühmtesten Mid-Century-Modern-Architekten gearbeitet – Albert Frey, William Krisel, Donald Wexler – und hat nun ihr Amt übernommen, besonders da die Beliebtheit von Mid-Century-Modern-Architektur gestiegen ist. Jetzt arbeitet er an einer atemberaubenden neuen Bibliothek in LA, die sein Vermächtnis werden wird.

Ich blicke von meinem Block auf. Eine Auswahl an Hochglanzmagazinen – Architectural Digest, Vogue, Harper’s Bazaar – liegt kunstvoll auf einem Beistelltisch verstreut. Die schönen Models starren mich an.

Das war mein Vermächtnis.

»Mom, kann ich was zu essen haben?«

Das ist mein heutiges Vermächtnis.

Ich sehe meine Kinder an. Alles, was früher mal in Mode war, ist wieder angesagt. Ashley trägt dieselbe Art von High-waist-Jeans, die ich früher in den 80ern privat und auf dem Laufsteg getragen habe, und Tylers Haare – seitlich vom Friseur hochrasiert und zu einer hohen schwarzen Tolle zurückgegelt –

Ja, alles hat ein Comeback.

Bis auf mich.

Ich sehe auf meine Liste.

Und Kohlenhydrate.

Meine Kinder haben genau wie mein Mann nie ein Pop-Tart, eine Schachtel Cap’n Crunch, eine Jeno’s Pizza Roll oder ein Ding Dong gesehen. Meine ganze Familie gleicht langgliedrigen Rennpferden, bereit loszupreschen. Ich bin aufgewachsen, als die Basis einer Nahrungspyramide ein mit Vanillecreme gefülltes Twinkie war.

Wieder setze ich den Stift aufs Papier und schreibe in meinem eigenen Geheimcode den Buchstaben L über den ersten Buchstaben des Namens meines Mannes. Falls jemand zufällig einen Blick auf das Blatt Papier werfen sollte, würde er denken, ich hätte einfach nur herumgekritzelt. Aber ich weiß, was ›LD‹ bedeutet, und es wird mich erinnern, sobald ich zum Laden komme.

Little Debbies.

Ehrlich gesagt bunkere ich diese süßen kleinen Köstlichkeiten überall in unserem neuen Heim, was nicht leicht ist, da das ganze Haus so schlank und minimalistisch ist und gute Verstecke Mangelware sind. Es hat viel Mühe gekostet, aber ich war auch mal so schlank und minimalistisch wie dieses Haus, so kantig und faszinierend wie seine Architektur. In unserem Haus mit Schmetterlingsdach in den Bird Streets hoch über dem Sunset Strip – wo die Straßen nach Goldamseln und Nachtigallen benannt sind und Hollywoodstars wohnen – ist alles Deplatzierte verdächtig.

Sogar jetzt, an einem weiteren perfekten Tag in L.A., an dem der Sonnenschein alles auf träge Weise schön und in Glitzer getaucht wirken lässt, kann ich eine Staubschicht auf den

Swiffertücher, schreibe ich auf den Block, bevor ich das ›LD‹ mit dem Stift unterstreiche.

David hasst es, dass ich zugenommen habe. Es ist ihm peinlich.

Oder bilde ich mir das nur ein? Bin ich die Einzige, der es peinlich ist, wer ich geworden bin?

David sagt nie etwas zu mir, aber er geht immer öfter allein zu Galas und sagt, ich müsse auf die Kinder aufpassen (obwohl sie gar keinen Babysitter mehr brauchen) und dass es besser für ihre Stabilität sei, wenn ein Elternteil bei ihnen ist. Aber ich kenne die Wahrheit.

Was erwartet er, das mit meinem Körper nach zwei Kindern und endlosen Umzügen passieren würde? Was erwartet er, das passieren würde, nachdem ich meine Karriere, meine Identität und mein Selbstwertgefühl verloren habe? Es ist so ironisch, weil ich nicht wütend auf ihn oder mein Leben bin. Ich bin einfach nur …

»Warum gibst du das alles nicht einfach in die Notizen-App auf deinem Handy ein?«

»Oder bittest den Kühlschrank, er soll dich dran erinnern?«

»Ja, Mom«, sagen meine Kinder gleichzeitig.

Ich blicke zu ihnen hinüber. Sie haben meine Schönheit und Davids Energie geerbt. Ash und Ty sehen gerade lang genug von ihren Handys hoch, um die Augen über mich zu verdrehen, wie Teenager es tun – wie Teenager es schon immer getan haben –, auf diese Weise, die sagt: Kein Mensch auf der Welt kann so peinlich und uncool sein wie du, Mom. Und darauf folgt stets »der Seufzer«.

»Ich mache es gern so«, antworte ich.

»NIEMAND, Mom!«, echot Tyler.

»Handschrift ist total out, Mom«, fügt Ashley hinzu. »Geh mit der Zeit.«

Ich starre meine Kinder an. Sie sind oft die liebsten Kinder der Welt, aber ab und zu kommen ihre bösen Zwillinge durch, die mit den spitzen Zungen und ätzenden Worten.

Haben sie das von mir? Oder von ihrem Vater? Oder sind sie einfach so, wie Kinder heutzutage sind?

Die Sonne wandert langsam herum, und die Lichtreflexe vom Wasser des Pools tanzen an den weißen Wänden, wodurch es aussieht, als lebten wir in einem Aquarium. Ich blicke den langen Flur entlang, wo sich der Pool spiegelt, den einzigen Ort, an dem David mir erlaubt hat, meinen ›Krimskrams‹ zu haben: einen Korridor mit alten Fotos, einen Raum mit Erinnerungsstücken.

Mein Leben blitzt vor mir auf: unsere Familie vor dem Weihnachtsbaum des Rockefeller Centers in New York, beim Naschen bunter Macarons in einem Café in Paris, Sonnenbaden am Strand von Barcelona und beim Angeln mit meinen Eltern in ihrem Sommercottage am Lake Michigan. Und dann, als ultimativer Kontrast, hängt da ein altes Foto von mir, meinem Teenager-Ich, in einem Bikini am Lake Birchwood, direkt neben einem alten Sports-Illustrated-Cover von mir. Darauf posiere ich an dem Meer, an dem ich David kennengelernt habe. Ich ducke mich auf den Strand wie ein zum Sprung bereiter Tiger. Diese Pose war mein Markenzeichen, die Pose, die ich erfunden hatte und die alle anderen Models nachahmten, die Tigerpose.

Ich war damals eines dieser Mädchen mit nur einem einzigen Namen: Madonna, Iman, Cher, V. Alles, was ich brauchte, war sogar nur ein einziger Buchstabe, um mich zu identifizieren. Jetzt ist V verschwunden. Ich habe einen richtigen Namen.

»Mittagessen. Bitte!«

Meine Augen wandern zurück zu unserem Pool. Heute würde ich mich schämen, einen Bikini zu tragen. Ich bin nicht das, was die meisten Leute für übergewichtig halten würden. Aber ich habe ein Bäuchlein, meine Oberschenkel sind schwabbelig und mein Kinn bekommt allmählich einen besten Freund. Es war dieses Foto in allen Klatschmagazinen vor etwa einem Jahr, das mich fertiggemacht hat. Paparazzi hatten mich erwischt, wie ich eine Eistüte verdrückte, während ich meinen Wagen auftankte. An dem Tag hatte ich die Kinder bei dreiundvierzig Grad herumkutschiert und trug einen wallenden Kaftan. Ich sah massiger aus als mein SUV. Und die Schlagzeilen:

V wie voluminös!

V wurde verschluckt von dieser Frau!

Wenn man mich in echt sähe, würde man wahrscheinlich sagen, ich bin narzisstisch oder gehe viel zu streng mit mir ins Gericht, aber es ist genauso schwer, in L.A. fünfzehn Pfund zu verstecken wie ein geblümtes Zierkissen in diesem Haus. Ich verwende Botox, Filler und Faltenunterspritzung und mache alles, was ich kann, um mein Aussehen zu erhalten. Aber ich habe schreckliche Angst davor, hier ins Fitnessstudio zu gehen. Ich schäme mich, in einer Stadt, in der eine Größe achtunddreißig schon als adipös gilt, nach einem Kleid zu suchen. Die Klatschblätter warten nur auf die kleinste Bewegung von mir.

Meine Augen wandern zurück zu den Fotos.

Ich habe keine Identität mehr.

Ich habe keine Freunde mehr.

»Erde an Mom? Kannst du mir was zu essen machen?« Tyler sieht mich an. »Danach gehe ich zu Justin.«

»Und mich musst du um vier zu Lily fahren, schon vergessen?«

»Mom?«

Ashley sieht mich an.

Es gibt eine Art und Weise, wie deine Kinder und dein Mann dich ansehen oder, besser gesagt, ab einem bestimmten Punkt in deinem Leben nicht mehr ansehen –, ganz zu schweigen von Kindern auf der Straße, jungen Frauen beim Einkaufen, Männern in Restaurants, Davids Kollegen, glücklichen Familien im Supermarkt.

Sie sehen durch dich hindurch. Als wärst du ein Fenster.

Es ist, als wären Frauen über vierzig nie jung gewesen, nie klug, modisch, cool … Als wären wir nie wie sie gewesen, hätten nie Hoffnungen, Träume und noch meilenweise Leben vor uns gehabt.

Was stimmt nicht mit der heutigen Gesellschaft Amerikas?

Warum werden wir Frauen, wenn wir ein ›gewisses Alter‹ erreichen, zu Geistern? Nein. Das ist keine zutreffende Analogie: Das würde implizieren, dass wir tatsächlich eine Stimmung erzeugen, eine Angst, irgendein Gefühl. Dass wir eine Persönlichkeit haben. Ich konnte einst eine Tüte mit Kartoffelchips hochhalten, einen davon essen, mir die Finger ablecken und damit eine Million Tüten Junkfood für diese Firma verkaufen. Jetzt bin ich nicht mal mehr erinnernswert genug, um ein Geist zu sein. Das Model ist zu einer Requisite geworden. Einem Möbelstück. Nicht wie das stylische Möbel, auf dem sich meine Kinder ausstrecken, sondern von der zuverlässigen, strapazierfähigen, allgegenwärtigen Möbelhaussorte, ohne jede Tiefe oder Substanz, ohne Gefühl, Attraktivität oder Sexualität. Ich bin einfach nur da. Wie die Luft. Nötig zum Überleben, aber etwas, das man weder sieht noch bemerkt.

Früher wurde ich bemerkt. Früher wurde ich gesehen. Begehrt. Bewundert. Gewollt.

Ich atme tief durch und notiere ein paar weitere Dinge auf meiner antiquierten handgeschriebenen Einkaufsliste, dann stehe ich auf, um meinen Kindern Mittagessen zu machen.

Sie sind heranwachsende Gesundheitsfreaks und schon jetzt besessen von jedem Bissen, den sie zu sich nehmen. Sind genetisch veränderte Zutaten enthalten? Wie ist das Eiweiß-Kohlenhydrate-Verhältnis?

Habe ich ihnen das angetan? Ich glaube nicht.

Sogar als Model habe ich Pizza gegessen, aber das war damals, als Kurven noch sexy waren und ein Bikini ausgefüllt sein musste. Ich nehme ein paar Spicy Tuna Rolls heraus, die ich bei Gelson’s geholt habe, und arrangiere sie auf einer Platte. Ich wasche und schneide ein paar Erdbeeren klein und gebe sie in eine Schale. Dann sehe ich meinen Kindern zu, wie sie ihre Teller füllen.

Ashley ist Cheerleaderin und Möchtegern-Schauspielerin, Tyler ist ein skatebordender, kreativer Technikfreak, der sich an der UCLA – der University of California – beworben hat, um Film und Regie zu studieren. Ashley will auf die Northwestern gehen, um als Hauptfach Theaterwissenschaft zu studieren. Sie werden beide später in diesem Sommer spezielle Feriencamps besuchen, Ashley für Cheerleading und Schauspiel, Tyler für Filmemachen und zur optimalen Vorbereitung auf seine Aufnahmeprüfung. Mein Blick wandert zurück zu meiner Fotowand, und ich muss lächeln. Sie werden allerdings nicht ihre Tage damit verbringen, einfach Spaß zu haben, Lagerfeuerlieder zu singen, sich im Krieg der Farben zu messen, Bogenschießen zu üben, in einem kalten See zu planschen, Marshmallows zu rösten und Freunde zu finden. Das Leben eines Kindes

Draußen raschelt etwas, und Ashley wirft ihren Teller aufs Sofa und rennt zur Tür. In L.A. sind sogar die Postboten heiß, und unserer sieht aus wie Zac Efron. Wenige Sekunden später kommt Ash wieder zurück, wobei sie sich dramatisch mit der Post Kühlung zufächelt.

»Du wirst mal eine großartige Schauspielerin«, sage ich lachend. Ashley will die Post einfach auf die Küchenzeile werfen, doch ich hindere sie daran. »Leg die Post für deinen Dad in den Organizer.«

Ja, sogar die Post hat in unserem Heim ein eigenes Zuhause.

»Hey, du hast einen Brief bekommen«, sagt sie.

»Wer schreibt denn heutzutage noch Briefe?«, fragt Tyler.

»Alte Leute«, antwortet Ashley. Die beiden lachen.

Ich setze mich an unseren original Tulip-Esstisch von Saarinen und mustere den Brief. Er hat keinen Absender. Vorsichtig betaste ich den Umschlag. Er ist dick. Ich öffne ihn und fange an, einen von Hand geschriebenen Brief zu lesen.

Liebe V,

 

Wie geht es dir? Es tut mir leid, dass es eine Weile her ist, seit wir miteinander gesprochen haben. Du warst beschäftigt, ich war beschäftigt. Weißt du noch, als wir nur ein Stockbett voneinander entfernt waren? Wir konnten unsere Köpfe über den Rand lehnen und uns unsere dunkelsten Geheimnisse anvertrauen. Das waren noch Zeiten, nicht wahr? Als wir unschuldig waren. Als wir uns so nahestanden wie der Klee, der auf der Wiese wuchs, die sich zum See hinunterzog.

Wie lange ist es her, dass du mit Rach und Liz gesprochen hast? Über dreißig Jahre? Ich schätze, dieses vierblättrige Kleeblatt, das ich damals gefunden habe, hat doch nicht so viel Glück gebracht, oder? Oh, du und Rach habt so viel Erfolg gehabt, aber bist du glücklich, V?

Früher habe ich mich dafür gehasst, allen erzählt zu haben, was in unserem letzten gemeinsamen Sommer passiert ist. Danach war es, als würden Dominosteine umfallen, ein Geheimnis nach dem anderen wurde enthüllt, die Fassade unserer Freundschaft zerrissen, wie wenn man das vierte Blatt von diesem Kleeblatt abreißt, das ich immer noch gepresst in meinem Poesiealbum habe. Aber ich hasse Geheimnisse. Sie reißen uns nur auseinander. Hindern uns daran, die zu werden, die wir werden müssen. Die Dunkelheit hindert Dinge am Wachsen. Das Licht ist es, das den Klee hervorbringt.

Unser ganzes Glück flog zur Hüttentür hinaus und dann – Blatt für Blatt – auch unser Vertrauen ineinander, gefolgt von jeder Hoffnung, die wir vielleicht noch in unsere Freundschaft gesetzt haben mochten, und schließlich wurde jede Liebe, die noch geblieben war, durch Hass ersetzt, dann durch einen dumpfen Schmerz und dann durch überhaupt nichts mehr. Das ist das Schlimmste, nicht wahr, V? Überhaupt nichts zu fühlen.

Ein großer Teil meines Lebens war erfüllt von Reue, und das ist einfach eine schreckliche Art zu leben. Ich will versuchen, das wiedergutzumachen, bevor es zu spät ist. Ich will versuchen, die Freundin zu sein, die ich hätte sein sollen. Ich war einmal der Klebstoff, der uns alle zusammenhielt. Dann war ich die Schere, die uns alle auseinandergerissen hat. Sollten Freunde nicht füreinander da sein, egal, was passiert? Du warst nicht einfach nur schön, V, du warst selbstbewusst, so witzig und voller Leben. Vor allem hast du Licht ausgestrahlt, wie der See bei Sonnenuntergang. So werde ich dich immer in Erinnerung behalten.

Ich habe ähnliche Briefe an Rach und Liz geschickt. Mit Liz bin ich in Kontakt geblieben … und Rach … nun, du kennst ja Rach. Aus irgendeinem Grund habt ihr alle mir vergeben, jedoch euch gegenseitig nicht. Ich schätze, weil ich nur eine unbeteiligte Zuschauerin

Lass mich direkt zum Wesentlichen kommen, liebe V. Stell dir einfach vor, ich lehne meinen Kopf über den Rand des Stockbetts und verrate dir mein tiefstes Geheimnis.

Wenn du diesen Brief erhältst, werde ich tot sein …

Meine Hand beginnt zu zittern, was den noch verbliebenen Inhalt des Umschlags herausfallen lässt. Ein gepresstes vierblättriges Kleeblatt und ein paar alte Polaroidfotos verstreuen sich auf dem Tisch. Ohne Vorwarnung stöhne ich auf.

»Alles okay, Mom?«, fragt Tyler, ohne sich zu mir umzusehen.

»Von wem ist der?«, fragt Ashley, immer noch auf ihr Handy starrend.

»Einer Freundin«, gelingt es mir zu murmeln.

»Cool«, sagt Ashley. »Du brauchst Freundinnen. Du hast gar keine, bis auf dieses eine Mädchen aus dem Ferienlager.« Sie verstummt kurz. »Emily, richtig?«

Die Fotos auf der Marmortischplatte sind von uns vier im Camp, lachend, singend, uns an den Händen haltend. Wir sind so … so jung, und ich frage mich, was mit den Mädchen passiert ist, die wir einmal waren. Ich starre auf ein Foto von Em und mir zusammen unter einer Decke in derselben Koje. In diesem Moment bemerke ich, dass das Foto auf etwas liegt. Ich schiebe das Bild zur Seite und lächle. Eine Freundschaftsnadel mit E-V-E-R in einem Meer aus grünen Perlen leuchtet mir entgegen.

Ich schaue hoch, und Wasser spiegelt sich durch die Oberlichtfenster unseres Hauses … und plötzlich ist jede dieser

Warum habe ich meine Freundinnen verraten?

Warum habe ich meine Identität so leicht aufgegeben?

Warum bin ich reicher, als ich mir je erträumt habe, und fühle mich trotzdem so leer und verloren?

Oh, Em.

Ich blinzle, und da wird mir bewusst, dass es nicht der sich in den Fenstern spiegelnde Pool ist, der meine Augen verschwimmen lässt, es sind meine Tränen. Ich weine. Und ich kann nicht damit aufhören.

Unvermittelt stehe ich auf, reiße die Terrassentüren auf und springe in den Pool, um schreiend auf den Grund zu sinken. Meine Kinder brüllen.

»Mom! Bist du okay?«

Als ich zu ihnen hochsehe und ihnen zuwinke, entspannt sich ihre Haltung.

»Es geht mir gut«, lüge ich, als ich wieder an die Oberfläche komme. »Tut mir leid. Ich wollte euch nicht erschrecken.«

Sie schauen einander an und zucken mit den Schultern, bevor sie wieder reingehen.

Wenigstens sehen sie mich endlich, denke ich.

Ich atme tief ein und tauche noch einmal unter. Unter Wasser kann ich mein Herz laut in meinen Ohren pochen hören. Es trommelt in einem so perfekten Rhythmus, dass ich die Melodie, die meine Seele spielt, sofort erkenne. Ich kann sie hören, als wäre es erst gestern gewesen.

Boom, didi, boom, boom … Booooom.