Veit Etzold
STAATSFEIND
Thriller
Knaur e-books
Veit Etzold ist Autor von sieben Spiegel-Bestseller-Thrillern, die in sieben Sprachen übersetzt wurden. Er studierte internationales Management an der IESE Business School mit Stationen in Barcelona, New York, San Francisco / Silicon Valley und Shanghai. Er arbeitete für die internationale Strategieberatung Boston Consulting Group in Europa, Asien und den USA, Booz & Company, die Allianz Gruppe und als Berater für die globale Bergbaufirma Gaia Mineral Resources und die Investmentholding African Development Corporation in Ruanda, Hong Kong und Peking. Er ist Berater des Auswärtigen Amtes, Mitglied in unterschiedlichen Expertengruppen der Atlantikbrücke und Dozent für Geopolitik an der IESE Business School und an der Singapore Management University. http://www.veit-etzold.de/
© 2019 der eBook-Ausgabe Droemer eBook
© 2019 Droemer Verlag
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Redaktion: Antje Steinhäuser
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ISBN 978-3-426-44413-9
»Denn Könige sind nicht nur Gottes Gouverneure auf Erden und sitzen auf Gottes Thron. Von Gott selbst werden sie Gott genannt«, nach E. H. Kantorowicz: »The King’s Two Bodies«
»Nur die Wahnsinnigen haben Erfolg. Nur die, die Erfolg haben, definieren, was Vernunft ist.«
Übersetzung des Autors nach
No man is an island, entire of itself.
Every man is a piece of the continent, a part of the main.
Every man’s death diminishes me because I am involved in mankind.
So never send to know for whom the bell tolls; it tolls for thee.
Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/John_Donne
Der Naturzustand ist der Krieg aller gegen alle.
Der künstliche Zustand aber ist der Frieden.
Um diesen Frieden zu erreichen, geben die Menschen einen Teil ihrer Freiheit an den Herrscher, den Leviathan ab, der die Menschen im Gegenzug vor sich selbst schützt.
Thomas Hobbes, Leviathan
For kings are not only God’s lieutenants upon earth, and sit upon God’s throne, but even by God himself they are called gods.
King James I.[1]
• Judith Richter, Hauptkommissarin beim Staatsschutz, Berlin
• Iwo Retzick, ehemaliger Elitekämpfer des Kommandos Spezialkräfte (KSK) im Rang eines Oberleutnants, jetzt Ausbilder des KSK und des Sondereinsatzkommandos SEK, Berlin, Calw, Osnabrück
• Tahir Nadal, Kollege von Judith Richter, Hauptkommissar beim Staatsschutz, Berlin
• Joachim Richter, Ehemann von Judith Richter, Leiter des Staatsschutzes, Berlin
• Karl Brandt, Polizeipräsident des Landes Berlin
• Norbert Schuster, Leiter des SEK, Berlin
• Dr. von Weinstein, stellvertretender Leiter des Instituts für Rechtsmedizin, Berlin
• Udo Mertens, Chef des Verfassungsschutzes, Berlin
• Jasmin Walters, Mitglied der Ermittlungsgruppe »Nemesis«, Bundesnachrichtendienst (BND), Berlin
• Gerhard Winkler, Innensenator des Landes Berlin
• Gerold Hansen, Assistent von Innensenator Winkler
• Hajo Klose, Fahrer von Innensenator Winkler
• Sabine Schiller, Chefin der Senatskanzlei des Regierenden Bürgermeisters von Berlin
• Philipp Arnoldsen, ehemaliger Fallschirmjäger und Kamerad von Iwo Retzick, vormals Führungskraft bei dem Waffenhersteller Grünwald AG und seit Kurzem Parteichef der neuen Partei Deutschland zuerst
• Hermann von Stahleck, ehemaliger Wehrmachtsgeneral, Gründer und Präsident der »Nazi Connection«, einem weltumspannenden Ring von Waffenhändlern, zur Haupthandlung von Staatsfeind bereits verstorben
• Dr. Carl Cohagen, Anwalt und Zögling Hermann von Stahlecks, Berlin und Wiesbaden
• Stephan Skowronek, Sohn von Siegfried Skowronek, Mitglied des SS-Eliteverbandes »Leibstandarte Adolf Hitler«, Strippenzieher und Verbindungsmann zum Islamischen Kalifat, Dubai
• Victor Rastow, Mitglied des Bewaffneten Widerstandes, Berlin
• Alexey, genannt »Molotok der Hammer«, Leibwächter und Auftragskiller von Carl Cohagen, Moskau, Berlin, Frankfurt am Main
• Abdel al Thalib, Gründer des Islamischen Kalifats, Mossul, Irak
• Abu Qatada, Stellvertreter von Abdel al Thalib, Islamisches Kalifat, Mossul, Irak
• Amid Ghazi, Fahrer der Diplomaten der Britischen Botschaft, Berlin
• Khalid, Verbindungsmann des Islamischen Kalifats, Berlin
• Ulrike Brückner, Journalistin bei Global News, Berlin
• Djamila Nadal, Ehefrau von Tahir Nadal, Leiterin des Kreditgeschäfts der Islamischen Amanah Bank, Berlin
• Gerald Stalk, Gründer und CEO von »Stalk & Company«, Investor, Spekulant, Hedgefonds Manager und Philanthrop, New York
• Laura Best, Assistentin von Gerald Stalk, New York
• Finn Richter, Sohn von Judith Richter, Berlin
9. November 1989
Alle Menschen liefen Richtung Westen.
Die zwei Männer gingen Richtung Osten.
Wer an diesem Tag in Berlin war, erlebte Weltgeschichte. Das wussten die beiden Männer, die sich entgegen dem Strom Richtung Osten bewegten und die offene Stelle in der Berliner Mauer am Brandenburger Tor Richtung Pariser Platz durchquerten. Sie wussten auch, dass die Geschichte diejenigen belohnte, die mutig genug waren, in die andere Richtung zu laufen. Zumindest der Ältere der beiden wusste es, und der Jüngere würde es lernen. Tausende von Menschen drängten an ihnen vorbei Richtung Westen. Auf dem Weg zur Straße des 17. Juni.
»Alle wollen raus, wir wollen rein«, sagte der Ältere der beiden. Hermann von Stahleck musste über achtzig Jahre alt sein, doch er bewegte sich immer noch mit der aufmerksamen Angespanntheit eines Mannes, der überall mit Feinden rechnete. »Noch am 7. Oktober hat alles anders ausgesehen. Vierzigster Jahrestag der DDR, im Palast der Republik hörten sie den ›Wach auf‹-Chor aus Wagners ›Meistersingern‹. Aber niemand ist aufgewacht.«
Die vergangenen Wochen waren noch derart präsent, als wären erst ein paar Stunden vergangen. Der 7. Oktober 1989. Sobald Gorbatschow nach den Feierlichkeiten des 7. Oktobers abgereist war, hatte Stasichef Erich Mielke das Ruder übernommen. »Jetzt ist Schluss mit dem Humanismus«, hatte er gesagt und seine Schlägertrupps gegen die Demonstranten losgeschickt, die schon den ganzen Tag auf dem Alexanderplatz protestiert hatten.
»Manches kann man ahnen, aber manches nicht«, fuhr von Stahleck fort. »Nur: Gegen den Strom zu schwimmen hat sich schon oft ausgezahlt, meinen Sie nicht, Cohagen?«
Carl Cohagen war etwa Mitte dreißig. Seine schwarzgrauen Haare waren genauso kurz wie der Bart, der sein Gesicht umrahmte. Seine Augen so schwarz wie der Rahmen seiner Brille. Er zuckte die Schultern, als würde ihm keine passende Antwort einfallen, die gleichzeitig bestätigend und ehrfürchtig genug klang. Denn Ehrfurcht hatte er vor von Stahleck, das musste er zugeben. Vor seinem Wissen, seinen Verbindungen in höchste Kreise und all den Geschichten, die man über ihn erzählte.
Es war bereits geraume Zeit her, dass ein leichter Regen auf den Pariser Platz niedergegangen war. Der nachtschwarze Himmel wie ein dunkles Laken, das nur an einigen Stellen von Lichtstrahlen unterbrochen wurde. Davor Schatten von Menschen, die auf der Mauer tanzten. Ansonsten wenig Wolken an diesem 9. November 1989. Nachts würde es auf zwei Grad abkühlen, und am 10. November würde den ganzen Tag die Sonne scheinen.
Cohagen blickte sich um. Ein Mann um die vierzig mit Wollpullover und Schirmmütze schaute verwundert durch das Loch in der Mauer am Brandenburger Tor. Überall waren Breschen in den Stein geschlagen worden. Hier, am Checkpoint Charlie und an der Bernauer Straße. An der Bornholmer Straße, zwischen Prenzlauer Berg und Wedding, so hieß es, war der Andrang am größten. Die Leute wollten »rüber«, und nichts konnte sie aufhalten. Auch die Grenzsoldaten nicht, die ohne Befehle von oben ratlos die Tausenden von Menschen gen Westen passieren ließen. Schlagbaum hoch lautete dann auch der einzige Befehl, der vonseiten des Stasioberleutnants an diesem Abend gegeben wurde. Der Mann mit Wollpullover und Schirmmütze schaute durch das Loch, ein scheuer Blick auf die andere Seite, ein Blick in ein verbotenes Zimmer, das vorher das Ende der Welt gewesen war. Für achtundzwanzig Jahre. An der Mauer hörte alles auf. Und jetzt war die Mauer gefallen. Sektkorken knallten, Trabants und Wartburgs fuhren über die Straße des 17. Juni Richtung Ku’damm. Weiter im Westen, so sagte man, rund um die Gedächtniskirche, solle es ein riesiges Open-Air-Spektakel geben.
Cohagen schaute nach Süden Richtung Potsdamer Platz. Dort waren ganze Menschenscharen, unterstützt von Volkspolizisten und Mitgliedern der Nationalen Volksarmee, dabei, mit Hammer und Meißel Breschen in die Mauer zu schlagen. Mauer muss weg, schallte aus tausend Kehlen durch die Nacht. Und die Mauer kam weg. Stück für Stück. Stein für Stein.
Fahrzeuge mit Sirenen zerschnitten den Verkehr wie ein Messer, schwarze Limousinen kreuzten durch die Nacht. Außenminister Hans-Dietrich Genscher und seine Staatssekretäre waren für erste Verhandlungen auf dem Weg zum Staatsratsgebäude, dorthin, wo einmal das Berliner Residenzschloss der Hohenzollern gestanden hatte, das im Zweiten Weltkrieg beschädigt worden war und das das Zentralkomitee der SED unter Walter Ulbricht hatte sprengen lassen.
Jugendliche mit Gorbi-Stickern liefen an den beiden Männern vorbei. Alles, was mit Russland zusammenhing, war auf einmal cool in der DDR. Perestroika hieß wörtlich übersetzt Umbau, und der Umbau der DDR ging vielen ihrer Bürger zu langsam. Fraglich war allerdings, ob das schon arg morsche sozialistische Haus nicht unter dem von Gorbi verordneten Umbau zusammenbrechen würde. Genau das fürchtete die SED-Führung. Den Jugendlichen mit den Gorbi-Stickern aber war das egal. Hinter den Männern liefen Soldaten der Nationalen Volksarmee, auch sie waren auf dem Weg nach Westen, gingen durch die Breschen in der Mauer. Eben hatten sie die Öffnungen selbst in den Stein geschlagen. Einige Tage vorher hatten sie dieselbe Mauer noch mit Waffengewalt verteidigt.
»Schauen Sie sich die Uniformen an«, sagte von Stahleck und zeigte auf die NVA-Männer. »Sehen die aus wie die von der Bundeswehr?«
Cohagen musste nur kurz hinschauen. »Nein. Der Stahlhelm ist der 44er-Stahlhelm von der deutschen Wehrmacht. Dünner Stahl, der abgeschrägt ist, nachdem im Verlauf des Zweiten Weltkrieges die Verluste durch Kopfschüsse zu hoch waren.«
Von Stahleck nickte anerkennend. »Und der Schnitt der Uniformen?«
»… ist preußisch«, sagte Cohagen.
Von Stahleck nickte wieder. »Genauso preußisch wie damals die Uniformen der Wehrmacht. Das war Absicht.« Ein Lächeln zog über von Stahlecks Gesicht. »Stalin wollte, dass sich die NVA an der Wehrmacht orientiert, nicht an den GIs, wie es die Bundeswehr getan hat. Die NVA war eine deutsche Armee und sollte deutsche Uniformen tragen.«
»Aus Respekt?«
Von Stahleck nickte. »Stalin wusste, zu was die Wehrmacht fähig war. Etwa fünfzehn Millionen tote russische Soldaten. Stalin war klar, dass das nicht jeder Gegner schafft.«
»Wobei Stalin ja selbst nachgeholfen hat.«
Von Stahleck nickte. »Klar. Die NKWD, der Vorläufer des KGB, bestand aus Terrortruppen. Geheimdienstbataillone, die den Truppen hinterherzogen und Deserteure exekutierten oder in Arbeitslager verfrachteten. Einige der Kämpfer in den zweiten und dritten Reihen hatten nicht einmal Gewehre. Die sollten sie sich von den Toten nehmen, die gerade eben gefallen waren. Jedenfalls fürchtete und schätzte Stalin die Wehrmacht. Und er zeigte damit schon einmal seine Verachtung für die USA.«
»Die Vorboten des Kalten Krieges?«, fragte Cohagen.
»Kein Krieg bricht einfach so aus«, sagte von Stahleck. »Die ersten schwachen Signale sind lange vorher zu sehen.«
Die beiden gingen schnellen Schrittes aus dem Gedränge und standen auf dem Pariser Platz, während rechts und links die Menschenmassen weiter unvermindert Richtung Westen strömten. »Meinen Sie«, begann Cohagen, »es hat Bestand? Das, was hier passiert?«
Von Stahleck nickte. »Vorläufig schon. Der Vater hat sein Kind verstoßen. Und so wird es bleiben.«
»Die Sowjetunion?«, fragte Cohagen. »Glasnost und Perestroika?« Links von ihm trampelten einige Jugendliche auf einer DDR-Fahne herum. Noch vor ein paar Tagen hätte man sie dafür für lange Zeit in eine Zelle in Hohenschönhausen verfrachtet.
»Ja. Die Russen wollen die DDR loswerden. Die machen das aber nicht aus Idealismus. Die sind pleite.« Von Stahleck schaute Richtung russischer Botschaft Unter den Linden. »Es gibt kaum mehr Erdöllieferungen für die DDR, schon seit 1982 läuft das so und jetzt erst recht. Und es gibt kein Geld mehr und kein Verständnis. Russland muss sich öffnen. Sonst ist es pleite. Das hat die CIA gut gemacht.«
Cohagen hob die Augenbrauen. »Die CIA?«
Von Stahleck lächelte wieder sein Lächeln, in dem sich eine leichte Spur von Überheblichkeit mit einem Schuss von Sadismus mischte. Es war die Mimik von jemandem, der nicht nur wusste, dass etwas schiefgeht, sondern sich auch darüber freute, wenn der naive Optimismus anderer enttäuscht wurde. Es war die Mimik eines Menschen, der sogar darauf wettete und Geld verdiente, wenn etwas schiefging. »Die CIA war der Ansicht, dass Russland ein eigenes Vietnam braucht. Ein Krisenherd, der sie lange beschäftigt hält und Geld kostet. Viel, viel Geld. Die haben den Russen einen Ring hingehalten. Und die Russen sind gesprungen.«
»Afghanistan?«
»Genau.« Von Stahleck nickte. »Die Russen haben zwei Probleme. Moskau ist gegenüber Europa durch keine Gebirgskette geschützt, und im Winter sind die Häfen gefroren. Der Zugang zu einem Warmwasserhafen sollte über Afghanistan gehen. Sie wollten, so lautete der alte russische Traum, ihre Stiefel im warmen Wasser des Indischen Ozeans waschen.«
»Also marschierten die Russen ein?«
»Ja. Wobei der Hindukusch auch noch im Weg stand. Das Gebirge ist nicht gerade klein. Aber ja, sie marschierten ein. Allerdings erst, nachdem die CIA bei den unterschiedlichen Clans in Kabul durch Bestechung für maximales Chaos gesorgt hat. Russentreue Kommunisten gegen US-freundliche muslimische Guerillatruppen. Die Russen mussten einmarschieren. Mussten eingreifen. Für Ordnung sorgen. Gegen die Mudschaheddin. Die russentreuen Kommunisten sind aber zu hart gegen die Afghanen vorgegangen, dann kam es zum Bürgerkrieg, und man hatte Angst, dass auch der muslimische Süden Russlands in den Krieg hineingezogen wird. Die Russen schickten Truppen, die noch härter zuschlugen als die Kommunisten zuvor. Ansonsten wäre nicht nur ihr Traum von einem Warmwasserhafen geplatzt, sondern der Krieg hätte sich nach Norden hinaufgefressen. Vielleicht sogar bis nach Moskau. 1979 marschierten russische Truppen in Afghanistan ein. Von da an ging es abwärts.« Er schaute Cohagen an. »Noch niemand hat jemals Afghanistan erobert. Darum ist der zweite Name von Afghanistan auch Graveyard of Empires.«
»Friedhof der Großreiche.« Cohagen wiegte den Kopf hin und her, als wüsste er nicht, ob diese Bezeichnung nun dichterisch oder zynisch klang. »Und wie ging es weiter?«
»Moskau konnte es sich immer weniger leisten, die DDR durchzufüttern. Sie standen selbst mit dem Rücken zur Wand. Der Riesenkredit, den die DDR mit der BRD 1983 verhandelt hatte, hat den Niedergang vielleicht aufgehalten. Aber nicht verhindert. 1985 kam Gorbatschow. Er musste handeln. Und Honecker musste sich neue Freunde suchen.«
»China?«, fragte Cohagen.
Von Stahleck nickte, sichtlich erfreut, dass sein Adlatus verstanden hatte, worauf er hinauswollte. »China. Die Kommunistische Partei hatte den Studentenaufstand am 4. Juni 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens brutal niedergeschlagen.« Cohagen hatte die Berichterstattung noch im Kopf, als wäre sie gestern gewesen. Das Foto mit dem einsamen Demonstranten, der vor dem chinesischen Panzer stand, war um die Welt gegangen. Von Stahleck sprach weiter. »Und Honecker verkündete, dass für die DDR die chinesische Lösung die richtige wäre, nicht die russische. Er entsandte sogar Delegationen nach Peking. Doch irgendwann gab es kein Halten mehr. Spätestens als der Politbürosprecher Günter Schabowski seine legendären Worte sprach.
Jeder kann ausreisen.
Ab wann tritt das in Kraft?
Das tritt nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich.
Mit diesen Worten brach nicht nur die Mauer zusammen. Sondern auch das Ende des Kalten Krieges und des Sozialismus war gekommen.«
»Und die BRD?«, fragte Cohagen, als beide vor der bröckeligen Fassade des Hotels Adlon standen. »Glauben Sie, es wird eine Wiedervereinigung geben?«
»Die BRD wird schnell eingreifen müssen. Sonst haben wir ein Rennen zwischen dem Kapital, das von der BRD nach Osten geht, und den Menschen, die von Osten nach Westen gehen. Und wahrscheinlich werden die Leute schneller sein.«
»Werden die Alliierten einer Wiedervereinigung zustimmen?«
»Unter Bedingungen, ja. Vorausgesetzt, die Deutschen geben ihre Atombombe auf.«
Cohagen wusste, was von Stahleck meinte. Die britische Premierministerin Margaret Thatcher hatte die D-Mark immer »Deutschlands Atombombe« genannt.
»England und Frankreich werden einem vereinigten Deutschland nur zustimmen, wenn es die D-Mark aufgibt. Und dann gibt es eine europäische Währung.«
»Und damit einen europäischen Superstaat?«
»Vielleicht. Und der wird vielleicht wieder eine Art Sowjetunion, und das ganze Spiel beginnt von Neuem. Und dabei …« Von Stahleck blieb stehen und tippte Cohagen mit dem Zeigefinger auf die Brust, »…gewinnen wir immer dann, wenn etwas passiert. Wie an der Börse. Wenn Kurse steigen oder fallen, gibt es Geld. Unser Feind ist der Stillstand.«
»Dann stehen wir nicht vor einem Zeitalter des Friedens?«, fragte Cohagen. »Einem Ende der Geschichte?«
Von Stahleck schüttelte den Kopf. »Mit Sicherheit nicht. Es ist ein ständiger Kreislauf«, sagte er. »Aktion, Reaktion. Evolution, Revolution. Kriege schaffen den Umsturz, der ein neues System hervorbringt. Das bringt kurzzeitig Stabilität, bringt dann aber neue Kriege hervor.«
»Und den Umsturz wollen Sie schaffen?«
»Wir müssen. Wie sagen es die Chinesen so schön: Um etwas zu fangen, muss man es erst einmal entkommen lassen.« Er drehte sich zu Cohagen. »BRD und DDR sind zwei riesige Tanker. Die Frage ist, ob sie auf dem richtigen Kurs sind. Und ob nicht eines Tages die Revolution von anderer Seite wiederkommt.«
»Wer könnte das sein?«
»Der Feind, den noch keiner auf dem Radar hat.« Von Stahleck grinste. »Die Sowjetunion wird vielleicht untergehen. Und auch die DDR. Aber nicht Afghanistan.« Er vergrub die Hände in den Manteltaschen. »Die CIA hat den Russen eingeredet, dass sie über Afghanistan den Zugang zur See brauchen. Dann hat sie für ausreichend Chaos in Kabul gesorgt, sodass die Russen eingreifen mussten. Und ihnen damit ihr eigenes Vietnam geschenkt. Ein Vietnamkrieg, der die Russen fast ausgeblutet hat. Afghanistan wird bleiben. Und auch die Mudschaheddin.« Er schaute Cohagen an. »Sie sind Krieger des Heiligen Krieges. In dem Wort Mudschaheddin steckt das Wort Dschihad. Sie haben da etwas aufgeweckt, das so schnell nicht zur Ruhe kommen wird.«
»Was werden sie tun?«
»Die Mudschaheddin? Sie werden weiter das System bekämpfen. Vielleicht in anderer Form. Aber sie werden es bekämpfen. Die CIA hat da etwas geweckt, was wir nicht mehr einschläfern können. Sie werden kämpfen. Egal, ob es nun die Sowjetunion ist oder die USA oder Europa. Ihre Waffe wird keine Armee sein. Keine Panzer. Sondern etwas anderes. Wahrscheinlich Schlimmeres.«
»Klein und gefährlich?«, fragte Cohagen. »So wie die RAF?« Es war noch nicht allzu lange her, dass die Rote Armee Fraktion in Deutschland Terror und Schrecken verbreitet hatte. »Ist das der Preis für die Freiheit? Der Preis für den Sieg der westlichen Demokratie über den Kommunismus?«
»Was immer es ist und wie immer wir es nennen. Wenn es ein Sieg ist, dann wird der Preis für den Fall des Eisernen Vorhangs …«, er ließ seine Worte eine Weile wirken. »… der Terror sein.« Von Stahleck drehte sich um. »Lassen Sie uns zurückgehen. In den … Westen.«
Sie durchschritten wieder das Brandenburger Tor, gingen durch die Öffnung in der Mauer und wurden fast gezogen von den Menschenmassen um sie herum, die alle nur eine Richtung kannten. Raus. Nach Westen. Überall schlugen Hämmer und Meißel. Der Hammer, der sowohl auf dem Wappen der Sowjetunion prangte als auch auf dem der DDR, half dabei, das Symbol ihrer einstigen Macht zu zerstören.
Cohagen wiederholte die Worte von Stahlecks in seinem Kopf. Der Preis für den Fall des Eisernen Vorhangs wird der Terror sein.
»Und diese Menschen?«, fragte Cohagen. »Sind die jetzt frei?«
Von Stahleck lächelte wieder.
»Sie sind frei … Jedenfalls für eine Weile.«
Herrscher ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.
Carl Schmitt
19. Dezember 2018
Constanta, Rumänien
Er fuhr den Mann auf dem Stuhl in den weißen Raum.
Sie nannten ihn Molotok.
Auf Russisch Der Hammer.
Der Name kam noch aus der Zeit, als Molotok meistens rohe Gewalt anwandte, um das zu bekommen, was er brauchte. Er holte es sich mit reiner Körperkraft. Was er brauchte, waren Informationen. Und die bekam er nun einmal am besten mit roher Gewalt. Früher hatte er den Menschen Nadeln in die Oberschenkel gebohrt. Die Reaktionen waren immer gleich gewesen. Die Männer rissen die Augen auf. Ihre Münder öffneten sich abrupt. Erst still. Wie eine Katze, die das Maul öffnet, ohne zu miauen. Irgendwie verzögert. Dann kam der Schrei. Er hallte an den feuchten Steinen und Fliesen des Kellers wieder. Hallte und verhallte ungehört. Denn dieser Keller in einem ehemaligen Gebäude der früheren rumänischen Geheimpolizei Securitate hatte schon viele Schreie gehört. Vielleicht zu viele. Und auch heute würde der Keller die Schreie gleichgültig zur Kenntnis nehmen.
Der Mann auf dem Stuhl schrie noch nicht. Dafür blickte er sich verwundert um. Sah den weiß gekachelten Raum.
»Ich höre?«, fragte Molotok.
Der Name des Mannes auf dem Stuhl war Abu Bakr. Er war stolz darauf, dass er den gleichen Namen hatte wie Abu Bakr al-Baghdadi, der Anführer des Islamischen Staates. Jedenfalls war er stolz darauf gewesen, bevor er die Kollegen von Molotok kennengelernt hatte. Jetzt war er nur noch ein zitterndes Bündel von Angst, das sich schon dreimal in die Hose gemacht hatte. Zweimal Urin und dann noch … na ja, halt noch etwas mehr. Molotok roch den Gestank, aber das war nun einmal Teil des Jobs. Die anderen hatten ihn noch auf die altmodische Art angefasst. Nur hatte es nichts gebracht. Und darum war jetzt Molotok mit seiner neumodischen Methode dran. Weiße Folter nannte er das. Schwarze Folter hinterließ Spuren, so wie es seine dummen Kollegen gemacht hatten. Oft auch bleibende Schäden. Ein Finger, der abgehackt wurde, blieb ab. Dann konnte jeder sehen, was mit dem Gefangenen passiert war, und man konnte ihn dann nicht mehr so schnell umdrehen und als Doppelagenten losschicken. Graue Folter war schon nicht ganz so schlimm. Und weiße Folter war unsichtbar, aber nicht unbedingt leichter zu ertragen. Nicht umsonst war Weiß in Asien die Farbe des Todes. Passend dazu war der Raum blitzend weiß. Ganz anders als der Gefangene. Abu Bakrs schwarzer Bart war verfilzt, das Gesicht übersät von Platzwunden und Hämatomen. Es war nicht das erste Mal, dass der Mann auf dem Stuhl Bekanntschaft mit irgendwelchen Folterknechten gemacht hatte. Und jetzt würde er Bekanntschaft mit Molotoks weißem Raum machen. Das funktionierte meist am besten. Waterboarding dauerte viel zu lange, alle anderen Formen der Folter waren zu umständlich. Doch das, was auf ihn warten würde, das würde Molotok der Hammer seinem Kunden erst beim nächsten Schritt zeigen.
Molotok hieß eigentlich Alexey. Oder Alex. Doch das war unwichtig. Er war Contractor. Ein Profi, der für Geheimdienste arbeitete. Einer der vielen, die irgendwann mit vierzig Jahren nicht mehr fit genug für eine der Eliteeinheiten waren, in denen sie vorher gearbeitet hatten. Speznas, Navy SEALs, KSK oder was immer es gab. Die irgendwann einen Job suchten und meistens in der Nähe ihrer früheren Auftraggeber blieben. Sie machten einen Job auf Honorarbasis. Basierend auf einem Honorarvertrag. Oder Kontrakt. Daher Contractor. Ein Contractor machte die Drecksarbeit, von der Geheimdienste nicht zugeben durften, dass sie genau so etwas machten. Dafür brauchten sie Leute wie Alexey, genannt der Hammer.
Warum nennt man Sie den Hammer?, fragten die Auftraggeber dann immer. Alexey zeigte ihnen dann immer ein Foto. Auf dem Foto ein Kopf. Oder das, was davon übrig war. Viel rosa. Viel rot. Gehirnmasse und Blut. Darum nannten sie ihn den Hammer. Dann hatten die Auftraggeber meist keine Fragen mehr und wussten, dass Alexey der Richtige für ihren Job war.
Es lief immer ähnlich ab. Irgendjemand von der CIA oder NSA hörte irgendwelche Gespräche ab. Die NSA entschlüsselte dann die Chats zwischen Terroristen, die sich über Xboxes oder verschlüsselte Apps wie Threema unterhielten. Manchmal kam NSA oder CIA dann zu der Ansicht, dass sich in Deutschland eine Person aufhielt, die zum Beispiel Abdul hieß und die eine Gefahr für die nationale Sicherheit darstellte, weil sie Anschläge plante oder davon wusste. Dann stellten sich die US-Behörden eine wichtige Frage: War die Gefahr, die von Abdul ausging, wirklich groß? Lautete die Antwort: Nein, gab man die Information an die deutschen Behörden. War die Gefahr hingegen groß, kümmerte man sich lieber selber darum, da die deutschen Ermittlungsbehörden nur Falschparker und Steuerhinterzieher erfolgreich jagten und Abdul normalerweise wieder freigelassen wurde, nach drei Tagen Waheed hieß, mit neuer Identität in drei Städten Hartz IV beantragte und mit diesem Dschihad-Stipendium genug Zeit und Geld hatte, um weiter an seinem geplanten Anschlag zu basteln. Wenn also Abdul wirklich gefährlich war, dann rief die CIA einen wie Molotok an. Der lauerte Abdul dann auf, unterstützt von ein paar CIA-Leuten, betäubte ihn und fuhr mit ihm nach Ramstein, zur US-Luftwaffenbasis, dem größten Militärstützpunkt der USA außerhalb der USA. In der Mitte Europas. Dort wartete schon eine Militärmaschine, die Molotok und Abdul in irgendeinen Folterkeller im ehemaligen Ostblock brachte. Zum Beispiel im rumänischen Constanta und dort in den Keller der Securitate. Denn die CIA durfte nicht auf US-Territorium und auch nicht auf deutschem Boden operieren, und foltern durfte sie dort schon gar nicht. Das musste sie aber auch gar nicht, denn der nächste Ort, an dem so etwas möglich war, lag ja eben meist nur anderthalb Flugstunden entfernt. Jedenfalls in Europa.
An diesem Ort presste Molotok die Wahrheit aus diesen Leuten heraus. Wenn sie geplaudert hatten, wurde alles dokumentiert. Wenn Abdul noch irgendwelche Mitwisser verpfeifen oder in die Falle locken konnte, blieb er noch eine Weile am Leben. Wenn nicht, wurde er erschossen, die Leiche in ein Fass gesteckt, mit Benzin übergossen, angezündet, und die Reste wurden dann in eine tiefe Grube geworfen, die ein Bagger zuschüttete. Manchmal steuerte Alexey selbst den Bagger. Das konnte er. Er hatte sogar einen Führerschein für Baumaschinen und Lkw, schließlich wusste er nicht nur, wie man professionell Leute tötete, sondern auch, wie man sie bestmöglich verscharrte. Wer Müll produzierte, musste ihn schließlich auch fachmännisch entsorgen. Das hatte er von den Deutschen mit ihrem Mülltrennungsfimmel gelernt.
Was die Jungs von CIA und NSA allerdings nicht wussten, war, dass Molotok eigentlich für jemand anderen arbeitete. Diesen Jemand würde Molotok nach dem Verhör anrufen, und dieser Jemand würde überlegen, ob Molotok die Informationen, die er aus dem Mann herausgepresst hatte, an die Sicherheitsbehörden weitergab. Oder nicht.
»Redest du?«, fragte Molotok. Freundlich und leise.
Der Mann sagte keinen Ton.
»Gut«, sagte Molotok. »Wenn du still bleibst … Andere bleiben nicht still.«
Damit ließ er den Mann in der Mitte des Raumes stehen. Ging nach draußen. Und schloss die Tür. Dann stellte er die Musik an.
Für einige war es vielleicht Musik. Grindcore, Blastbeats, Death Metal. Und zwar von der absolut unmelodischen Sorte. Er hatte seiner Sammlung eine neue CD beigefügt. Embalmer hieß die Band. Der Titel des Albums There Was Blood Everywhere. Auf dem Cover ein seltsamer Zombie auf einem Berg von zerstückelten Leichen, der einen abgehackten Finger als Pinsel nutzte, mit dem er die blutigen Worte schrieb. Manche hörten sich solche Musik gern an. Die Frage war, ob sie das auch noch in einem gekachelten Raum bei 130 Dezibel taten. 130 Dezibel waren die Grenze. Von da an waren bleibende Schäden möglich.
Molotok stellte die Musik ab. Zehn Minuten waren vergangen.
»Und?«, fragte er.
Abu Bakr schwitzte, das Gesicht blass, Speichel und Schaum liefen ihm aus dem Mund.
»Dieser Idiot von Amri hat damals alles versaut«, stieß Abu Bakr keuchend hervor. »Hat allein losgelegt, statt sich abzustimmen. Sonst wäre es viel größer geworden!«
»Anis Amri? Der Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt am 19. Dezember 2016? Der Breitscheidplatz?« Molotok sah auf die Uhr. »War das nicht vor genau zwei Jahren?«
»Ja.«
»Und?« Molotok beugte sich vor.
»Nichts und …«
»Du willst mir nichts mehr sagen?«
Abu Bakr presste den Mund zusammen. Offenbar war ihm gerade eingefallen, was seine Auftraggeber mit ihm machen würden, wenn er hier alles verpfiff. Doch Molotok kannte solches Verhalten. »Wir sind hier nicht im Kloster! Wir machen hier keine Schweigeexerzitien! Mach den Mund auf, sonst redet die Musik wieder!«
»Mehr weiß ich nicht!«
»Sicher?« Molotok machte Anstalten, auf dem Absatz umzudrehen. Die Tür zu schließen. Und die Musik wieder anzustellen.
»Nein!«, schrie Abu Bakr. Sein Schrei hallte an den gekachelten Wänden wider.
»Gen- … Gendarmenmarkt«, keuchte er.
Alexey senkte seinen Kopf und blickte dem Mann direkt in die Augen. »Der Gendarmenmarkt? Der Weihnachtsmarkt auf dem Gendarmenmarkt?«
Abu Bakr nickte schmerzverzerrt. »Viel besser als der verdammte … Breitscheidplatz.«
April 2002
Helikopter von Masar-i-Scharif
nach Kabul, Afghanistan
Iwo Retzick hörte das Rauschen der Rotorenblätter, die immer etwas Einschläferndes hatten. Seit November waren sie jetzt hier. Am 7. Oktober hatte der Einsatz begonnen. Afghanistan, dachte er. Das Land ohne Wiederkehr.
Vielleicht würde es ihnen genauso gehen wie den Israelis, die nach dem Sechstagekrieg im Jahr 1967 selbstsicher geworden waren. Vielleicht zu selbstsicher. Er kannte den Witz mit den zwei israelischen Soldaten.
Was machen wir heute?, fragte der eine.
Lass uns doch einfach Kairo erobern, sagte der andere.
Gut, aber was machen wir nach dem Mittagessen?
Er schaute in die Gesichter seiner Kameraden. Philipp war da. Hendrik war da. Nur Tom fehlte. Vielleicht würden sie ihn finden. Vielleicht auch nicht.
Sie waren von Masar-i-Scharif nach Kabul unterwegs, in Helikoptern, die noch nicht einmal der Bundeswehr, sondern einer ukrainischen Vertragsfirma gehörten. Drei der Mi-17 Hubschrauber donnerten über die Berge. Die Gipfel waren zum Greifen nahe. Die Luken des Helikopters waren geöffnet, die MGs schussbereit. Wind wehte durch den Transporter. Kühlte in der Hitze. Der Wind hielt wach, dennoch waren einige schon eingeschlafen. Die Ausrüstung war so schwer, dass niemand im Schlaf von den Sitzen rutschen würde. Sie waren zwar auch angeschnallt, doch allein durch die 15 Kilo Ausrüstung saßen sie dort wie festgetackert.
Tom Schneider, dachte er. Sie durften ihn nicht zurücklassen. Sie mussten ihn finden.
Doch erst einmal mussten sie etwas anderes erledigen. Sie mussten nach Kabul. Wo ein Wassertransporter explodiert war. Ein Lkw, der in seinem Tank kein Wasser, sondern Sprengstoff geladen hatte. Direkt auf dem Marktplatz war er explodiert, direkt in der Mittagszeit im Diplomatenviertel. Die Explosion hatte über hundert Menschen in den Tod gerissen. Die Täter hatten gewusst, wann wo am meisten los war.
Hätten die Terroristen, die am 11. September die Flugzeuge in die Twin Towers gesteuert hatten − was der Grund war, warum Retzick und seine Kameraden jetzt hier saßen und nicht in der Kaserne in Calw −, in New York auch die Mittagszeit gewählt, die Zahl der Toten wäre sehr viel höher gewesen.
Ivo schaute nach unten. Wüste und Felsen. Irgendwo dahinter vielleicht Stammeskrieger. Taliban, die damals Osama bin Laden bei sich aufgenommen hatten, auch wenn sie mit ihm vielleicht erst einmal gar nichts anfangen konnten. Denn er kam aus einer reichen, saudischen Familie, seine Herkunft wollte erst einmal gar nicht zu den derben Nomadenvölkern am Hindukusch passen.
Ein Brigadiergeneral aus Kabul hatte sich mit Retzick angefreundet. Und er mit ihm. Der Mann hatte gesagt, dass er viel gelernt habe von den Deutschen. Taktik, Logistik und Operationen.
Vielleicht hatten Retzick und die anderen Deutschen jetzt auch etwas gelernt. Das Gleiche, was auch schon die Russen unter großen Schmerzen hatten lernen müssen. Dass man einen Guerilla, der zu allem bereit ist und der in seiner Heimat kämpft, nicht unterschätzen darf. Die Mudschaheddin hatten aber alle unterschätzt. Die Mudschaheddin und Afghanistan. Den Graveyard of Empires.
Auch Retzick und seine Kameraden hatten Afghanistan zunächst nicht ernst genommen.
Hoffentlich spannender als Jugoslawien. Und nicht schon wieder Kosovo. Und Bosnien ist auch zu langweilig. Da kann ich ja meine Oma hinschicken.
Bekommen hatten sie Afghanistan.
Sei vorsichtig mit deinen Wünschen, sagte man, sie könnten in Erfüllung gehen.
Er schaute sich um. Langsam fielen alle Augen hinter den Sonnenbrillen zu.
Tom Schneider, dachte er. Sie konnten ihn doch nicht allein lassen.
Der Wind pfiff durch seinen Helm wie ein Wiegenlied.
Dann schlief auch Retzick ein.
30. Dezember 2018
Zwischen Tempelhofer Damm und Hermannplatz, Berlin
Die Geschichte wiederholt sich nicht, hatte Judith einmal gehört. Aber sie reimt sich.
Judith saß im Wagen. Ihre Augen brannten, sie hatte schlecht geschlafen. Im Hintergrund knisterte der Polizeifunk. Morgen war Silvester. Und heute stand noch eine Razzia an. Mit Sondereinsatzkommando, Festnahmen, Hausdurchsuchungen und dem ganzen Zirkus. Das SEK hatte gerade angerufen: Der Ort war gesichert, die Gefährder in Gewahrsam. Jetzt konnte der Staatsschutz kommen. Also Judith und ihre Kollegen. So hatte sie sich das Jahresende nicht vorgestellt.
Razzia, SEK und Staatsschutz. Das volle Programm. Und das Ganze einen Tag vor Silvester. Sie hatte vorhin noch in ihr Horoskop in irgendeiner Frauenzeitschrift geschaut, die sie doch häufiger las, als sie sich eingestehen wollte. Im neuen Jahr wird es Überraschungen geben, hatte ihr Horoskop ihr gesagt. Das klang irgendwie ein bisschen bedrohlich. So ähnlich wie Das neue Jahr wird interessant werden. Denn in ihrem Job gab es keine guten Überraschungen. Nur schlechte. Darum sagten die Chinesen auch zu Menschen, die sie nicht mochten: Mögen ihre Kinder in interessanten Zeiten leben.
An der roten Ampel klappte Judith den Spiegel herunter und schob die Abdeckung des kleinen Schminkspiegels zurück. Sie blickte in ihre grünen Augen. Gleichzeit müde und durchdringend, dachte sie. Vielleicht auch nur müde? Vielleicht nur erschöpft? Sie atmete aus. Blickte noch einmal prüfend in den Spiegel. Das eher runde, aber herbe Gesicht, die blonden Haare, die sie eben zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte. Judith war eine der Frauen, die attraktiv waren, aber nicht unbedingt klassisch schön. Heute ist dein Aussehen egal, du gehst ja noch nicht zu einer Silvesterparty, sondern zu einem Einsatz, sagte sie sich, als sie den Spiegel wieder nach oben klappte und am Mehringdamm Gas gab. Wobei sie sich überlegte, ob sie überhaupt zu irgendeiner Silvesterparty gehen wollte. Silvester. Morgen war es mal wieder so weit. Das alte Jahr ging vorbei, ein neues Jahr fing an. Sie wusste nicht, ob 2019 besser werden würde als 2018. Sie wusste nur, dass sie Silvester hasste. Der Dreck, der Lärm und die bescheuerte Hoffnung darauf, dass im neuen Jahr alles besser werden würde und dass man das auch irgendwie hinbekommen werde, wenn man nur genug in sich hineinkippte und genügend Böller anzündete.
Dass zu Silvester zwanzig Prozent des Feinstaubs eines gesamten Jahres in die Luft gepustet wurden, war den sonst so umweltbewussten Deutschen völlig egal, genauso wie die Tiere, die wahrscheinlich jedes Jahr den Schrecken ihres Lebens bekamen. Was für ein Schwachsinn. Vielleicht war Silvester die einzige Möglichkeit, wie eine ideologisch-pazifistische Nation doch noch irgendwie Krieg oder besser Bürgerkrieg spielen konnte. Die Dinge wurden anders, aber die Dinge wurden nicht unbedingt besser. Sie kannte das Facebook-Posting, das immer zum Ende des Jahres herumgeschickt wurde. Dort stand dann: 10 Kilo abnehmen. Im nächsten Jahr stand dort: 15 Kilo abnehmen. Oder: Gehaltserhöhung durchsetzen, dann: Boss die Meinung sagen, und dann: Neuen Job suchen. Eine Freundin hatte ihr per WhatsApp einen Spruch zugeschickt: Wollte dieses Jahr 10 Kilo abnehmen. Fehlen noch 13. Von Januar bis Ostern waren die Fitnessstudios immer gerammelt voll, es wurde für das Personal Urlaubssperre verhängt. Und spätestens um Ostern wurde es leer, und die Studios freuten sich, denn die neuen Mitglieder hatten für mindestens ein Jahr bezahlt, waren aber nur knapp drei Monate aufgetaucht, wenn überhaupt.
Die meisten schafften das, was sie sich vorgenommen hatten, ohnehin nicht, waren es nun Vorsätze oder irgendwelche anderen Lippenbekenntnisse. Und auch Judith war seit dem Ausspruch der Kanzlerin »Wir schaffen das« nicht mehr dieselbe. Alle hatten dasselbe gefragt: Wer ist eigentlich »wir«? Am Ende waren es Menschen wie Judith, die hinter anderen herräumen mussten. Die im September 2015 an der Grenze standen und diese Grenze erst sichern sollten. Und dann doch nicht. Sie hatte lange nicht gemerkt, wenn es zu viel war, hatte einfach weitergemacht und konnte eines Tages nicht mehr aufstehen und war heulend den ganzen Tag im Bett geblieben. Denn der Zusammenbruch kam. Er war nicht der Blitz aus heiterem Himmel. Es war eher wie der Frosch im heißen Wassertopf, der gar nicht merkte, dass er allmählich verbrühte und starb. Doch auch diese Zeit war vorbei. Denn jetzt spürte sie es deutlich. Irgendwann war es zu viel. Es war so, wie es der Hobbit Bilbo Beutlin in ihrem Lieblingsroman Herr der Ringe beschrieben hatte: Zu wenig Butter über zu viel Brot verstrichen. Als die Flüchtlingswelle ab dem September 2015 nach Deutschland rollte, sprang eine bürgerliche Hilfsbereitschaft ohnegleichen für den hilflosen Staat ein. Eine Überraschung war es dennoch nicht, denn die Bundeskanzlerin hatte schon in der Weihnachtsansprache 2014 darauf hingewiesen, dass eine große Zahl Menschen vor der Tür stehen würde. Verschwörungstheoretiker gingen davon aus, dass hiermit auch die Zumutbarkeit der deutschen Bevölkerung getestet werden sollte: Wie viel lässt der deutsche Untertan mit sich machen? Steht er mit Carepaketen am Bahnhof, begrüßt er die Neuankömmlinge frenetisch, bürgt er finanziell für sie und nimmt sie auch bei sich zu Hause auf? All das war eingetreten, aber irgendwann war die Stimmung dann doch gekippt. Viele Polizisten auf der Straße waren dankbar gewesen, doch viele Leiter in den Behörden hatten sich schon geschämt, dass die Sicherheitskräfte in einem Zustand waren, in dem sie den Bürger um Hilfe bitten mussten. Doch der Staat konnte sich nicht immer auf Freiwillige verlassen, wozu nahm er schließlich Steuern ein und das zunehmend in Rekordhöhe, ohne dass der Staat seinen Bürgern dafür irgendeine Gegenleistung brachte. Das Wort Staatsversagen traf es da in Judiths Augen durchaus.
Es war vieles anders geworden und nur wenig besser. Früher einmal Polizistin mit Leib und Seele, spürte Judith immer mehr, wie die vielen Einsätze, die Anfeindungen und die Veränderungen in der Gesellschaft ihre Ideale ausgehöhlt und zudem noch ihre Ehe ruiniert hatten. Sie hatte schon ein paarmal überlegt, sich von ihrem Mann Joachim scheiden zu lassen, doch am Ende hatte sie es nicht getan. Sie hatte sogar ein paarmal ernsthaft überlegt, zur Dienstwaffe zu greifen. Hatte einmal tränenüberströmt an ihrem Spind gestanden, die SIG Sauer in den zitternden Händen. Die Waffe war fertig geladen, wie man es nannte. Schussbereit. Sie hatte sie in den Mund gesteckt. Und einmal auf das Metall gebissen. Wie eine Mutprobe. Den Finger hatte sie nicht am Abzug gehabt. Es wäre ein hässlicher Tod gewesen. Sich erhängen sollte besser sein, hatte ihr jemand aus der Rechtsmedizin erzählt. Oder einfach ganz weit weg abhauen. Sie hatte den Mund wieder geöffnet, die Waffe rausgezogen, entladen und das Magazin entfernt. Und dabei gehofft, dass sie niemand dabei gesehen hatte. Denn am Ende hatte sie sich gesagt, dass sie eine Familie hatte. Na ja, vielleicht keine Familie, aber immerhin noch einen Sohn, der sie doch irgendwie brauchte. Vielleicht nicht gerade sie, aber ihr Geld. Auch wenn sie zu Finn eigentlich auch keinen Zugang mehr fand und der oft den ganzen Tag vor seinem Computer saß, Death Metal hörte und nur das Nötigste mit ihr redete. Vielleicht war es auch völlig unmöglich, gleichzeitig eine Familie zu haben und Polizistin zu sein. Dass Joachim, ihr Nochehemann, Kriminaloberrat war und somit eigentlich ihr Vorgesetzter, machte nicht nur ihr Privatleben, sondern auch ihren Arbeitsalltag zur Hölle. Kriminaloberrat, dachte sie kurz. Das klang steif, preußisch und gravitätisch. So wie der Herr Studienrat, der Herr Pfarrer und der Herr Professor. Doch es gab wohl keinen korrupteren Menschen als Joachim Richter, ihren Mann.
Morgen ist erneut Silvester, dachte sie, während sie die Sonnenallee in Neukölln entlangfuhr.
Die Silvesternacht in Köln 2015 wurde damals als die längste Nacht Deutschlands bezeichnet. In den Folgejahren hatten die Ordnungskräfte die Symptome einigermaßen in den Griff bekommen, aber nicht die Ursachen. »Feiern weitgehend friedlich. Ausgelassene Stimmung …« stand am 1. Januar 2016 im Polizeibericht. Einigen war aufgefallen, dass der Kölner Dom mit Raketen beschossen worden war. Warum wohl gerade der, hatte sich nicht nur Judith gefragt. Einige Sozialpädagogen hatten den Frauen, die begrapscht worden waren, gesagt, dass sie den Grapschern ja sozial überlegen seien. Als ob das ein Trost wäre. Mit der gleichen Logik, dachte Judith, hätte man damals den Zwangsarbeitern in den Konzentrationslagern auch sagen können, dass sie den SS-Wachen moralisch und bildungstechnisch überlegen waren, da viele von den Gefangenen, im Gegensatz zu den Nazi-Schergen, einen Studienabschluss hatten.
Aber eigentlich, dachte Judith, war auch Silvester 2015 in Köln nicht so viel anders als sonst gewesen. Silvester war in Deutschland eigentlich immer Anarchie. Sie fragte sich, warum das eigentlich so war. Warum gerade in Deutschland, wo man doch so pazifistisch und umweltfreundlich war? Vielleicht, weil es wirklich noch einmal die letzte Möglichkeit war, um politisch korrekt Krieg spielen zu dürfen.
Judith war Hauptkommissarin im Staatsschutz in der Abteilung 5 im Landeskriminalamt Berlin. Verhinderung und Bekämpfung politisch motivierter Straftaten im Rechts- und Linksradikalismus im In- und Ausland. Und dann auch noch Bekämpfung von Islamismus und Terrorismus, als würden die anderen beiden Aufgabengebiete noch nicht reichen. Und falls dann noch Langeweile herrschte, durften es auch gern noch Delikte geheimdienstlicher Agententätigkeit und ein paar Sprengstoffdelikte sein.
Vor knapp zwei Jahren hatte Judith einen Abschluss an der Deutschen Hochschule der Polizei in Münster-Hiltrup für den Aufstieg in den höheren Dienst gemacht.
»Geh in den höheren Dienst«, hatte man ihr gesagt. »Du willst doch nicht ewig in der Schutzpolizei bleiben und dich mit Flaschen bewerfen lassen?«
Nein, das wollte sie nicht. Doch von selbst befördert wurde man heute nicht mehr. Bei ihrem Chef war das noch anders gewesen. Der war ursprünglich Polizeimeister und dann plötzlich Obermeister, was in Berlin so viel wie Kommissar hieß. Einfach so, per Handschlag, ohne Lehrgang, ohne Abitur, ohne irgendetwas dafür zu tun.
Hiltrup. In der Nähe von Münster. Sie hatte viel gelernt. Aber dort auch viel gefeiert. Und es genossen. Sie hatte dort in einer Band Gitarre gespielt. Coversongs, Summer of 69 und so etwas. Hatte von den Stahlsaiten Hornhaut an den Fingern der linken Hand bekommen. Wenn sie Gitarre spielen konnte, war sie glücklich gewesen. Hiltrup lag jetzt knapp zwei Jahre zurück. Im Oktober letzten Jahres war sie auf ihre neue Position gekommen. Die Gitarre stand noch bei ihr im Wohnzimmer, doch sie spielte selten darauf. Und hatte kaum mehr Hornhaut an der linken Hand. Wenn die Hornhaut da war, war sie glücklich. War sie verschwunden, war sie unglücklich. Sie brauchte etwas, was sie ablenkte. Etwas, in dem sie versinken konnte und die Zeit vergaß. Aber das gab es nicht. Oder nicht mehr. Die Hornhaut auf ihren Fingern war dafür wie eine Art Seismograf.
Sie fuhr die Sonnenallee entlang. Dutzende von Läden, in denen es auf einmal Feuerwerkskörper zu kaufen gab, so, als wollten alle noch schnell ein Geschäft mit dem Böllerkaufrausch machen. Es gab diese Orte, an denen man spürte, dass dort jederzeit etwas schiefgehen konnte. Und würde. Trotzdem änderte sich nichts. Laut BKA-Kriminalstatistik waren die Kriminaldelikte bundesweit im Sinkflug, nur Judith und ihre Kollegen merkten davon nichts. BKA-Kriminalstatistik, dachte sie. Die Verbrechensrate geht runter. Von wegen. Berlin war gefährlich und blieb gefährlich. Warum gingen denn die Politiker nicht mal am Kottbusser Tor spazieren oder fuhren mal zwischen Schönleinstraße und Hermannstraße nachts um ein Uhr U-Bahn? Am besten noch mit der U8, der gefährlichsten U-Bahnlinie Berlins und damit wahrscheinlich auch Deutschlands. Ohne Personenschützer, versteht sich. Aus der gepanzerten Limousine heraus, die man sich, wie der Berliner Bürgermeister, mal eben für fast vierhunderttausend Euro zugelegt hatte, konnte man sehr bequem Durchhalteparolen und salbungsvolle Appelle an seine Wähler, die für viele eher Untertanen waren, durchgeben.
Nein, viele Dinge änderten sich nie. Die seit Jahrzehnten vorprogrammierte Randale am 1. Mai, wo sie mit Kollegen bei fast vierzig Grad ohne Klimaanlage in voller Montur stundenlang im Einsatzwagen gesessen hatte. Die Prügeleien, das Geschrei, die Respektlosigkeit. Am schlimmsten aber war es um drei oder vier Uhr morgens am Wochenende. Dann kamen die Kerle aus den Klubs, die keine Frau abgekriegt haben. Dann hatten die Webcams Hochkonjunktur und die Straßennutten an der Kurfürstenstraße. Und wenn beides nichts half, wurde sich halt geprügelt.
Besonders der Alexanderplatz war dafür sehr beliebt, wo sich beim Burger King an jedem Wochenende ab Mitternacht immer irgendwer prügelte. Würger King nannte man das Restaurant nicht wegen der Qualität des Essens, sondern weil dort nicht nur geprügelt, sondern auch gewürgt wurde. Das Essen, so fand Judith, war bei Burger King jedenfalls besser als bei McDonald’s.