Für meinen Bruder Francis, 1949–2010
Olsberg war kein besonders ordentlicher Mensch, aber über seine Auftritte führte er seit dreißig Jahren Buch. Wozu das gut war, wußte er genau. Alles, was er in die altmodischen Wachstuchhefte notierte, die er vor Jahrzehnten in London gekauft hatte, war Teil jenes Lebens, das er mit niemandem teilte. Es gehörte ihm allein. Diese Buchführung wäre nicht nötig gewesen, wäre es lediglich darum gegangen, sich Rechenschaft über die Stationen seiner langjährigen großen Karriere abzulegen. Die Angestellten von Heinrich & Brutus, der Konzertagentur, die ihn seit fünfundzwanzig Jahren betreute, hielten getreulich fest, wo und wann er aufgetreten war, was zu spielen programmiert worden war und was er am Ende tatsächlich gespielt hatte, lediglich über die Zugaben waren sie nicht informiert, da Olsberg sich stets kurzfristig, oft erst nach dem Abschluß des offiziellen Programms entschied und seine Entscheidungen nachträglich nur ausnahmsweise mitzuteilen pflegte. Vertreter seiner Agentur besuchten seine Konzerte vor allem dann, wenn sie in der Carnegie Hall oder im Wiener Musikvereinssaal stattfanden. Ein Anruf oder eine E-Mail hätten genügt, um sich über jedes Konzert zu informieren, das er in den letzten Jahren gegeben hatte, und notfalls abzugleichen, welche Sonate, welche Etüde oder welchen Zyklus er in dieser oder jener Stadt bereits gespielt hatte. Nein, es ging nicht darum, Wiederholungen zu vermeiden. Er liebte es, durch diese Zahlen und Buchstaben wie durch einen Wald zu gehen, in dem er jeden Baum kannte, Zahlen und Buchstaben, die in seinen Augen keineswegs so nackt daherkamen, wie es einem Uneingeweihten oder Unbeteiligten erscheinen mußte. Er war nun einmal kein Unbeteiligter, für ihn war es von Bedeutung, ob er am 12. Juni 1979 Mozarts KV Nr. 333 oder Schuberts G-Dur-Sonate gespielt hatte, ob er am 3. Oktober 1998 Beethovens Diabelli-Variationen oder Schumanns Karneval und ob er als Zugabe Bachs Jesus bleibet meine Freude, ein Nocturne von Chopin oder den Mephistowalzer von Liszt gewählt hatte. Es gehörte zu seinen Lieblingsbeschäftigungen, morgens – meist in einem großen, geräuschlosen Hotelzimmer – in seinen Wachstuchheften zu blättern und unbeobachtet vor sich hinzusummen. All das, was diese Nummern und Opuszahlen bezeichneten und bezifferten, strömte durch sein Blut und erregte es ebenso wie ihn die Nähe eines anderen Menschen erregt hätte, wäre dieser tatsächlich da gewesen. Aber da war niemand.
Olsberg lebte seit Jahren allein. Er hatte es längst aufgegeben, sich darüber Gedanken zu machen, ob die Partner, die in seiner Jugend häufig gewechselt hatten und im Lauf der Zeit immer seltener geworden waren, unter seinem Charakter oder seiner Lebensweise gelitten hatten. Gab es da überhaupt einen Unterschied? Hatte die Lebensweise auf die Person abgefärbt oder der Charakter die Lebensweise gefördert? Er war ein Reisender in eigener Sache. Er war die Sache, die auf das Reisen angewiesen war. Er und die Musik. Er litt nicht darunter, aus dem Koffer zu leben, er schätzte es, daß Astrid Maurer, seine Sekretärin, die ihn stets begleitete, alles für ihn organisierte. Sie war sein selbstloser Kalender. Marek Olsberg war seit seinem achten Lebensjahr auf einer unendlichen Reise durch die Welt, auf allen Kontinenten.
Auf die Güte der diversen Steinways und die Qualifikationen der Klavierstimmer, mit denen er fast täglich in Berührung kam, war er in weit höherem Maß angewiesen als auf die Gunst irgendwelcher Liebhaber, von denen sich einige schon nach kürzester Zeit als launische, unerträgliche Zeitgenossen herausgestellt hatten. Ohne seine Klaviere wäre er verloren gewesen, ohne Liebhaber konnte er gut leben. Die Konzertflügel und Klavierstimmer waren verläßlichere Größen als unberechenbare und eifersüchtige Liebhaber. Kein Konzertveranstalter konnte es sich erlauben, ihm einen problematischen Steinway – auf andere Klaviere verzichtete er – hinzustellen oder einen unfähigen Klavierstimmer vorbeizuschicken, während die Liebhaber, die er gehabt hatte, mit Problemen aufwarteten, die sich nicht durch ein paar Griffe beheben ließen, weder durch sanfte noch durch handfestere. Er wußte es zu gut. Und deshalb war es ja auch nicht von Nachteil, wenn sie immer seltener geworden und am Ende ganz ausgeblieben waren.
Es war nicht an ihm, sondern an ihnen, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, warum ein gemeinsames Leben mit ihm auf Dauer unmöglich war. Sie waren es gewesen, die dies gewollt hatten. Er hatte des öfteren, ohne rechte Überzeugung, mitgemacht, doch am Ende war es stets auf dasselbe hinausgelaufen. Er ließ immer eine Menge mit sich geschehen, bis alles vorbei war. Dann setzte er sich ans Klavier und spielte. Das war, wie jeder wußte, der einzige Ort, an dem ihn niemand belästigen durfte.
Natürlich lag es daran, daß er berühmt war. Seine Prominenz hatte zunächst einmal jene Probleme aus der Welt geschafft, von denen Olsberg wußte, daß sie früher oder später durch die Hintertür wieder hereingelassen würden. Nichts war so anziehend wie sein Ruhm, nichts so attraktiv wie die Zuneigung und der Applaus des Publikums, das ihn auf Händen trug. Es liebte ihn. Sie liebten Olsberg. Doch hätten sie ihn auch ohne Publikum geliebt? Konnten sie auf Dauer den lieben, von dem sie über kurz oder lang jene Gegenliebe fordern würden, die er im Grunde allein seinem Klavier zu geben vermochte?
Nun, Olsberg war eine Erscheinung, die die Blicke außerhalb eines Konzertpodiums nicht unbedingt auf sich zog, um so mehr aber, je näher der Augenblick seines Auftritts rückte. Zum Magneten wurde er, wenn er die Bühne betrat. Sobald er spielte, war er der Mittelpunkt der Welt seiner Zuhörer. Darüber, daß es etwas ganz anderes war, ihn live zu erleben, als ihm lediglich auf einer CD zuzuhören, waren sich alle einig, die ihn je in einem Konzertsaal gehört hatten. Seinem Spiel war etwas Unberechenbares eigen, das sich einer klaren Definition entzog. Es schien, als müßte er den Flügel wie einen Berg bezwingen, der ihm doch technisch nicht den geringsten Widerstand bot. Er mußte gewinnen, und er gewann auch immer, je schwieriger die Stücke, desto souveräner hatte er sie im Griff.
Wer Olsberg gegenüberstand, konnte feststellen, daß er auf der Bühne größer wirkte. Unter dem teuren Stoff, in den er sich kleidete, schien er so gebaut zu sein, als ob er seinen Körper regelmäßig trainierte und sich gesund ernährte. Doch von seinem Körper zeigte er wenig, seine Hände, mehr nicht. Lange Zeit sehr jugendlich, schien sein Alter inzwischen eingefroren, heute wirkte er aufreizend alterslos. Daß er bald fünfzig war, sah man ihm nicht an. Daß er unverheiratet war, wußten nur wenige, im klassischen Konzertbetrieb interessierte sich außer den echten Groupies niemand für solche Details. Sein Zivilstand ließ sich im Internet mühelos recherchieren. Was er bedauerte, war seine Unfähigkeit, seine Auftritte auf jenes Minimum zu beschränken, das anderen Pianisten genügte.
Olsberg jagte von einem Termin zum nächsten. Er war ein Wunderkind gewesen, stets war ihm alles in den Schoß gefallen. In wenigen Wochen würde er fünfzig werden, und er wollte diese Schwelle nicht überschreiten, ohne eine Entscheidung zu treffen. Aber er hatte keine Ahnung, wie diese aussehen sollte, auch nicht, wozu sie gut sein könnte. Es war nur so eine Idee. Sich zu entscheiden bedeutete womöglich auch weiterhin, nicht umzukehren.
Auf dem Weg von Tokio nach Frankfurt zog er sein Notizbuch aus der Innentasche seines Jacketts, um sich das Programm, das er in drei Tagen in der Berliner Philharmonie spielen würde, in Erinnerung zu rufen. Zweimal Scarlatti, Samuel Barber, Beethoven Nummer 29 und Schumanns Davidsbündler. Der Bundespräsident und der Regierende Bürgermeister würden anwesend sein und sicher auch ein paar seiner früheren Liebhaber.
»Was wird er spielen?« fragte er Esther, die gerade dezent Lidschatten auflegte. Der mauvefarbene Lilaton würde das Grün ihrer Augen zum Leuchten bringen, die, wie sie sich einbildete, von den Lidern schon leicht verdeckt wurden, ihre Wirkung also nicht mehr vollständig – und immer weniger – entfalten konnten. Natürlich machte sie weiter. Ein Grund zum Verzweifeln, aber keiner, um plötzlich aufzugeben. Das war sie sich und ihrer Umgebung schuldig. Kajal und Wimperntusche. Wie konnte sie verhindern, daß sie eines Tages Schlupflider wie ihre Mutter und deren Schwestern haben würde? Bei ihrer jüngeren Schwester waren sie schon heute ausgeprägter, als sie bei ihrer Mutter und deren Schwestern je gewesen waren. Würden die Gene sie überspringen und verschonen oder eines Tages nur um so schonungsloser zuschlagen?
»Ich glaube Chopin. Und Beethoven! Keine Ahnung. Noch irgend etwas Unbekanntes. Man kann nicht alles kennen.«
»Du brauchst nicht zu schreien, ich versteh dich.« Er saß unten vor dem Fernseher, sie glaubte, besonders laut sprechen zu müssen.
Das Licht heute abend würde zweifellos gut für sie sein. In der Philharmonie war gedämpfte Beleuchtung vorherrschend, keine grellen Scheinwerfer, nicht einmal in der Nähe des Podiums, wo sie mit Sicherheit nicht sitzen würde. Ihre Freundin Solveig hatte ein Abonnement auf einem der seitlichen Ränge, mit Blick auf Olsberg hoffentlich, den Solisten des Abends. Musik ohne Bild tendierte dazu, ein wenig langweilig zu sein. Laut hätte sie das nie geäußert.
Es war sinnlos, darüber nachzudenken, was sie hätte anders machen können, um jünger auszusehen, ohne zu einem Chirurgen zu gehen. Das war bekanntlich der einzige Weg, und es war der, den sie niemals gehen würde. Ihre Angst, sich den Künsten eines Arztes auszuliefern, vor dem sie sich genauso fürchtete wie vor einem betrunkenen Messerwerfer, war größer als die, sich eines Tages nicht mehr im Spiegel sehen zu können, ohne aufzustöhnen und davonlaufen zu wollen. Was für ein Massaker! Wie konnte man das wieder in Ordnung bringen? Wie die meisten Frauen hatte auch sie schon an Unterspritzung mit Hyaluronsäure gedacht, nachdem sich Massagen und Thalassokuren nicht nur als kostspielig, sondern auch als wirkungslos erwiesen hatten. Auf dem Ergometer, der im Keller stand, strampelte sich seit langem ausschließlich Thomas ab, nicht sie. Die Wirkung all dieser Hilfsmaßnahmen beschränkte sich auf den finanziellen oder energetischen Aufwand, den man damit betrieb, auf die Ausgaben und die Verausgabung, und die waren beträchtlich, selbst jene, die versprachen, man würde im Schlaf abnehmen, den sie einem in Wahrheit raubten. Der Rest war Wunsch, Suggestion und Wahn. Auch an Botox hatte sie gedacht, glaubte aber, jede Frau, die sich damit hatte mißhandeln lassen, schon von weitem an ihrer erfrorenen Jugendlichkeit zu erkennen. Wozu also das Risiko einer teilweisen Lähmung auf sich nehmen, für die der Arzt weder Haftung noch Verantwortung übernahm, und sich tagelang verstecken, um danach nur noch entfernte Ähnlichkeit mit sich zu haben? Und bei ihr würde die Behandlung sicher noch etwas katastrophalere Folgen haben.
Esther war nicht mondän, sondern eine normale, gut organisierte Ehefrau, deren Kinder seit kurzem aus dem Haus waren, und dennoch zerbrach sie sich den Kopf über ihr Äußeres. Sie war nicht anders als jene, die sie verachtete. Aber sich selbst verachtete sie nicht. Das hatte nicht zuletzt damit etwas zu tun, daß sie mit Thomas eine gute Ehe führte. Eine gute Ehe war eine, um die die anderen einen beneideten.
Sie war vierundfünfzig und dachte jeden Tag mindestens einmal daran, daß sie auf die sechzig zuging, wenn nicht schon beim Aufstehen, dann sicher, wenn sie ungeschminkt vor dem Spiegel stand, während Thomas bereits auf dem Weg zur Klinik war. Auch tagsüber gab es unzählige Gelegenheiten, mit seinem Äußeren konfrontiert zu werden, Schaufenster, Aufzüge, Rolltreppen, die an Spiegelwänden vorbei nach unten in die Lebensmittelabteilungen, nach oben in die Bekleidungsrayons führten, zum einen dorthin, wo die perfekten Dickmacher, zum anderen dorthin, wo die perfekt sitzenden Kleider lockten, die sie schon lange nicht mehr tragen konnte. Sie war nicht fett, aber sie war eine Spur zu umfangreich. Sie war nicht unansehnlich, aber keiner drehte sich nach ihr um. Höchstens dann und wann ein dunkelhäutiger Migrant, dem es, wie sie sich sagte, nicht um die Befriedigung sexueller Bedürfnisse, sondern um Heirat ging. Sie würde erst dann zu ihrer ursprünglichen Konfektionsgröße 36 zurückfinden, wenn es völlig abwärts gegangen sein würde, kurz vor ihrem Tod, auf der Pflegestation.
Sie war kokett, ohne es sein zu wollen, und fühlte sich alt, ohne es zu sein. Das zehrte an ihren Nerven. Thomas hatte diese Probleme nicht. Er mochte andere haben, über die er nicht sprach, weil er darüber nicht sprechen konnte, ohne sein Gesicht zu verlieren, aber Eitelkeit gehörte nicht zu seinen Charakterfehlern, wie man die Laster heute nannte. Oder vielleicht doch? Immerhin hatte sie ihn nie dazu zwingen müssen, täglich zu duschen. Die teuren Deos, die sie für ihn besorgte, benutzte er tatsächlich, die After shaves und Eau de toilettes, die in seinem Bad standen, waren fast – aber nur fast – so schnell geleert wie der zwanzigjährige Aberlour im USM Sideboard, der, wie sie annahm, um ein Vielfaches teurer war als Calvin Kleins One. Sie kümmerte sich so wenig um die Quittungen seiner Spirituoseneinkäufe wie er sich für die Belege ihrer Shoppingtouren bei Lafayette oder im KaDeWe interessierte.
Außer auf ihr Geld waren die Kinder auf ihre Eltern nicht mehr angewiesen. Anne, die Tochter, studierte in München Psychologie und noch dieses und jenes, was sich ständig änderte und wofür eine deutlich weniger gute Abiturnote ausgereicht hätte, Gustav war beim Militär, aber nicht etwa als Rekrut. Er ließ sich dort zum Systeminformatiker ausbilden. Esther, die schon zufrieden war, wenn sie nicht über die Berufsbezeichnung stolperte, teilte Thomas’ Ablehnung nicht. Ihm war es peinlich, Gustavs Berufswahl in Gesellschaft zu erwähnen, und manchmal fragte sie sich, ob für Gustav die Herausforderung, sich seinem Vater zu widersetzen, nicht größer gewesen war als die, die ihn an der Waffe erwartete. Die er übrigens, wie er behauptete, nie gebrauchen würde. Die Uniform stand Gustav recht gut, auch wenn ein dunklerer Stoff besser zu seiner Haarfarbe gepaßt hätte. Er fühlte sich wohl darin, es ging ihm blendend, wie er oft betonte. Zu oft, wie Thomas behauptete, gerade oft genug, um glaubwürdig zu klingen, wie Esther fand. Sie würden sich über ihre Kinder nie einigen. Die Auseinandersetzungen zwischen Vater und Sohn waren schier endlos gewesen. Gustav hatte, wie seine Schwester, ein glänzendes Abitur gemacht und hätte ebenso gut Medizin in Heidelberg wie Politikwissenschaften in Konstanz studieren können. Aber er hatte anders gewählt. Den Bund! Er hatte sich für das Unaussprechliche entschieden, das, wo man niemanden kannte, keinen Einfluß geltend und keinen Gewinn machen konnte. Berufssoldat in der Bundeswehr. Wie absurd und altmodisch. Manchmal hatte Esther den Eindruck, Thomas wäre es lieber gewesen, sein Sohn wäre – für ein paar Jahre – in der Fremdenlegion untergetaucht, um eines Tages geläutert in die einst verachtete Gesellschaft zurückzukehren. Doch Gustav verachtete die Gesellschaft nicht. Anders als sein Vater hatte er sich nicht anpassen müssen. Er hatte den Anforderungen, die man an ihn stellte, immer schon entsprochen.
Nun, solange er nicht in irgendwelche ausländischen Händel verwickelt würde, sondern seine Kriegsmaschinen von zu Hause aus, am Computer sitzend, aus gebührender Entfernung bedienen konnte, war ihr im Gegensatz zu Thomas alles recht. Hauptsache, er lebte. Im Grunde hatte sie keine Vorstellung, was er dort studierte und was er dort eines Tages acht Stunden täglich tun würde. Am Bildschirm sitzen vermutlich, wie alle anderen auch, nur, daß er es fürs Vaterland tat. Noch brachte er die schmutzige Wäsche nach Hause, sie wusch sie, und Bozica bügelte und legte sie so schön zusammen, wie Esther es nie geschafft hätte. Sie konnten sich glücklich schätzen, gesunde Kinder zu haben, die ihnen keinerlei Probleme bereiteten. Anne wusch ihre Wäsche selbst, sie hatte sich vor einem dreiviertel Jahr – vom Geld ihrer Eltern – ihre erste Waschmaschine gekauft, München war zu weit von Berlin entfernt.
»Und was machst du heute abend?« rief sie nach unten, während sie ihre Ohrclips befestigte, zwei in Silber gefaßte Türkise, die sie von ihrer Patentante geerbt hatte und nur zu besonderen Gelegenheiten trug. Sie paßten zu ihren Augen, auch wenn häßliche Augenverrenkungen seitens ihres Gegenübers nötig gewesen wären, um das zu erkennen. Hatte er sie nun gehört oder nicht? Der Fernseher lief leise.
»Hast du mich gehört!?«
Sie hatte ein feines Gehör und glaubte zu vernehmen, wie der Kühlschrank zufiel. Jedenfalls war Thomas in der Küche. Dann ohne Zweifel das Öffnen einer Bierflasche, 1664 wie immer. Das war die Antwort. Dann schlug die Uhr viertel vor sieben, sie mußte sich beeilen, das Konzert begann um acht. Thomas würde es sich vor dem Fernseher auf dem Sofa bequem machen. Genau das bedeutete das Öffnen der Bierflasche.
Er trat aus der Küche und blickte nach oben. Sie hatte den Kopf zur Seite geneigt und zupfte immer noch an ihrem Ohrläppchen herum.
»Soll ich dir helfen?« rief er. In diesem Augenblick schnappte der Ohrclip zu.
»Ist schon okay. Der Kühlschank ist voll«, sagte sie unnötigerweise, denn das hatte er ja selbst eben gesehen, dann wandte sie sich um und verschwand im begehbaren Schrank, in dem nun jene bangen Minuten anbrachen, in denen sie sich zwischen den Dutzenden von Kleidern für die richtige Abendgarderobe entscheiden mußte. Sie mußte sich beeilen, was es ihr nicht leichter machen, aber die Zeit der Unschlüssigkeit, die sie in diesem Augenblick mit vielen anderen Frauen teilte, merklich beschränken würde. Thomas ging nie ins Konzert, sie eher selten. Er hätte sich in einen seiner Anzüge gestürzt – Kiton oder Boss –, ohne überlegen zu müssen, ob er paßte, weil er wußte, daß er paßte und mit weißen Hemden immer harmonierte, denn andere Hemden trug er nicht.
Wie kleidete man sich zu einem solchen Anlaß? Sie wußte es natürlich, aber je länger sie überlegte, desto unsicherer wurde sie. Es wäre wohl nicht anders gewesen, wenn sie zum Bundespresseball eingeladen worden wäre, wohin sie natürlich nie eingeladen wurde. Aber da hätte sie sich bestimmt mehr Zeit zum Überlegen genommen. Gab es den überhaupt noch?
Als sie die Treppe hinunterging – jetzt fehlten nur noch die Schuhe – war sie eleganter denn je, und natürlich geizte Thomas, der sich auf dem Sofa nach ihr umdrehte, nicht mit Lob. Halb saß, halb lag er, zwei Bierflaschen vor sich – eine volle, eine leere – sowie einen Teller mit Roastbeef von vorgestern und Käse von Maitre Philippe, die Ärmel hochgekrempelt. Er sah tatsächlich diesem Schauspieler ähnlich, den sie kürzlich im Fernsehen gesehen hatte, an dessen Namen sie sich gerade nicht erinnerte, nein, eigentlich viel besser.
»Grüß Solveig von mir«, sagte er zum Abschied, und sie gab ihm einen Kuß auf die Stirn, indem sie sich von hinten übers Sofa beugte. Gerade in diesem Augenblick verging ihr, völlig überraschend, jede Lust, das Haus zu verlassen. Um wieviel befriedigender wäre es gewesen, jetzt nicht wegzumüssen, sondern hierzubleiben und sich neben Thomas aufs Sofa zu legen, etwas Roastbeef und Käse zu essen, ein Glas Chablis oder Sauternes zu trinken, durch die Kanäle zu zappen und schließlich früh zu Bett zu gehen, nachdem man des öfteren vor dem Bildschirm eingeschlafen war, weil das Programm langweilig und die Aussicht auf Bettruhe so verlockend war. Und vielleicht auf sonst etwas. Zuvor vielleicht auch eine Scheibe foie gras, sie liebte foie gras über die Maßen, es war selten, daß in ihrem Kühlschrank keiner greifbar war. Zu spät. Sie hatte nun einmal zugesagt, Solveig, die ein Abonnement hatte, ins Konzert zu begleiten, nicht nur, weil Solveigs Mann sie verlassen hatte, sondern auch, weil sie ihre Gesellschaft schätzte, selbst wenn sie nur schweigend neben ihr saß.
Johannes legte auf und wählte neu, diesmal nicht vom Festnetz, sondern von seinem iPhone aus. Angesichts der schwindelerregenden Telefongebühren, die in Hotels immer noch berechnet wurden, und deren Berechtigung mit jedem Jahr, in dem die Zahl der Handybesitzer zunahm, abnahm, kam ihn das vermutlich billiger zu stehen.
Er war hellwach. Es war die Wachheit des Jetlags, unter dem er immer stärker litt. Drei Wochen lang hatte er in New York City an einer neuen Kampagne für West Landmarks gearbeitet und Fototermine mit zickigen Models und einem unberechenbaren Kunden wahrgenommen, der offenbar das ganze Gewerbe neu zu erfinden gedachte, nachdem er sich für Johannes’ Agentur entschieden hatte. Die Aufnahmen in Queens und Brooklyn waren jeweils nach wenigen – wenigen teuren! – Stunden abgebrochen worden. Kaum war Benjamin Pears, der Auftraggeber, aufgetaucht – »Hi, I’m Benny, these are my babes« –, war erst die gute Stimmung und dann eines der halbverhungerten, gespenstisch geschminkten, blutleeren Models umgekippt. Mit Vitaminspritzen und anderen Sachen wurde sie erstaunlich rasch wieder aufgerichtet. Danach ging es nach Brighton Beach und dem gottverlassenen Coney Island, am Ende auf die Lower East Side, wo sie am häßlichsten war, den Namen der Straße hatte er ebenso vergessen wie den Wochentag, den sie bis zur Dämmerung damit zugebracht hatten, auch den Rest der Mädchen wie Albinos aussehen zu lassen und die neugierigen Ureinwohner mit ihren ohrenbetäubenden, seltsam museal wirkenden Ghettoblastern vom Set fernzuhalten. Er war geschafft, doch er konnte nicht schlafen.
Er hätte jetzt unbedingt eine Zigarette gebraucht, aber auch in Berliner Hotels war das Rauchen längst nicht mehr erlaubt. Rauchen war nicht nur auf diesem, sondern auf allen Stockwerken verboten. Es gab keine Raucheretagen, keine Raucherzimmer, keine Raucherecken. Man war irgendwo angelangt, wovor man früher geflohen wäre. Aber keiner floh. Nie haßte er seine Sucht mehr als in solchen Augenblicken, und nie war die Lust größer, ihr zu erliegen.
Einen Balkon gab es nicht, und die Fenster ließen sich nicht öffnen. Er hatte damit gerechnet, bevor er es versuchte, er hatte es trotzdem versucht. Immerhin gab es Fenstergriffe, aber was nützten sie, wenn man sie nicht einmal herunterdrücken konnte?
War es eigentlich auch verboten, Räucherstäbchen abzubrennen? Was, wenn eine Religion von ihren Anhängern die Einhaltung dieser Regeln verlangte, so wie andere Religionen geboten, den Gebetsteppich auszurollen und sich in Richtung Mekka auf den Boden und in die Brust zu werfen? Oder auf die Stirn? Oder wohin auch immer! Er versuchte sich zu konzentrieren, wußte aber nicht, worauf. Worauf sollte er sich konzentrieren, wenn er doch an nichts anderes denken konnte? Er dachte an Rauch und Räucherstäbchen, an Qualm und Zigarette und konnte dennoch nicht einschlafen.
Um zu rauchen, hätte er einen Ort auskundschaften müssen, an dem Rauchen gestattet war, aber außer der Dachterrasse und dem Bürgersteig vor dem Haupteingang kam da wohl nichts in Frage. Ob es tatsächlich eine Dachterrasse gab, wußte er nicht, an den Bürgersteig vor dem Hotel konnte er sich nicht erinnern. In jedem Fall hätte er, um das herauszufinden, das Zimmer verlassen müssen. Dazu hatte er in diesem Augenblick nicht die geringste Lust. Er hatte dem Gebäude keinerlei Aufmerksamkeit geschenkt, als er das Taxi verlassen hatte, es sah aus wie alle Hotels, die er kannte, also hatte er selbst das ignoriert, was es möglicherweise von anderen unterschied. Irgendeinen Unterschied gab es immer.
Johannes war ungern allein. Er war lieber unter Leuten, auch wenn er sie nicht ausstehen konnte. Selbst wenn sie ihn langweilten und unruhig machten, störten sie ihn nicht. Was ihn störte, war das Alleinsein, dieser unerquickliche Zustand, der ihn an seine Kindheit erinnerte. Er fingerte eine Zigarette aus der Schachtel, roch daran und steckte sie sich zwischen die Lippen. Tabak! Krümel! Hauchdünnes Papier! Aber das war ihm nicht genug.
Wozu sich an die Verbote halten, wenn man sie spielend umgehen konnte. Spielerisch! Das war genau sein Job. Mit allem spielerisch umgehen. Schweiß, Not und Arbeit durfte man dem glänzenden, witzigen, originellen, genuinen, fantasievollen, unerreichten, unerreichbaren, vollendeten Produkt, das abzuliefern seine Aufgabe war, so wenig ansehen wie dem, was damit beworben wurde und manchmal sogar Tote und Verletzte forderte.
Er stand auf, ging ins Bad, zog eines der drei Handtücher von der Handtuchleiste und hielt es im Waschbecken unters Wasser. Ins Zimmer zurückgekehrt, zog er die Hausschuhe aus, kletterte aufs Bett, verlor beinahe das Gleichgewicht, aber nur beinahe, und preßte das nasse Handtuch von unten gegen den Rauchmelder. In dieser Position war es nicht einfach, die Zigarette, die er sich zwischen die Lippen gesteckt hatte, mit dem Feuerzeug anzuzünden, das er nun aus seiner rechten Hosentasche zog. Das Papier knisterte, Qualm stieg auf, er nahm den ersten Zug. Er ließ das Feuerzeug aufs Bett fallen, nun hatte er eine Hand frei. Er dachte daran, wie es wäre, wenn jetzt eine Frau anwesend wäre, die ihm einen geblasen hätte. Er dachte ständig an solche Dinge, im Büro, im Flugzeug, im Taxi, bei Kunden-, Telefon- und Beratungsgesprächen, insbesondere natürlich dann, wenn weibliche Angestellte anwesend waren. Was er erbärmlich fand, waren ausgemergelte Models. Rauchen war wohltuend, gesundheitsfördernd, beruhigend, anständig und verhältnismäßig billig. Nun mußte er bloß aufpassen, daß er nicht doch noch den Alarm durch eine falsche Bewegung auslöste. Er nahm schnell hintereinander drei tiefe Züge.
Er konnte die Zigarette nicht ausdrücken. Er mußte sich beeilen. Mit der brennenden Zigarette in der Hand wedelte er den Rauch weg. Dann ließ er den Rauchmelder los, drückte die Zigarette ins feuchte Handtuch und sprang mit einem Satz vom Bett. Er hätte sich ein Bein brechen können. Einem anderen wäre das vielleicht passiert. Doch Johannes brach sich kein Bein, wenn er vom Bett sprang. Er war trainiert. Da war es dann fast egal, wie alt man war. Er lief ins Bad, es gab keinen Alarm, vielleicht hätte es ohnehin keinen gegeben, womöglich war der Rauchmelder nichts weiter als eine der Einschüchterung dienende Attrappe.
Er rief Karen, eine ehemalige Kollegin aus Düsseldorfer Zeiten, an, kam aber während des stockenden Gesprächs zu dem Entschluß, es dabei bewenden zu lassen, sie nach ihrem Befinden gefragt zu haben, ohne ihr zu erzählen, wo er sich gerade aufhielt. Sie konnte das – falls ihr Telefon über ein dafür ausgerüstetes Display verfügte – nicht erkennen, da er ja nicht vom Festnetz aus anrief. Karen war schwanger und sprach fast nur von ihrem Mann. Das genügte, um ihn von der Frage abzuhalten, ob sie an diesem Abend schon etwas vorhabe. Sicher hatte sie etwas vor. Sie hatte jetzt immer etwas vor. Irgend etwas in ihrer Stimme war anders als früher. Das Ende ihrer Karriere als Stylistin hatte sie mit zwei Sätzen so knapp umrissen, daß sich weitere Fragen erübrigten. Sie würde nicht in ihren früheren Beruf zurückkehren. Sie war glücklich. Sie würde sicher noch weitere Kinder haben wollen. Und dann haben.
Er versuchte es noch bei einem Studienkollegen und bei seiner verwitweten Kusine. Doch niemand nahm ab, und in beiden Fällen ließ er den Anrufbeantworter unbeantwortet.
Er legte sich aufs Bett, verschränkte die Hände im Nacken und starrte an die Decke. Dann fiel ihm die E-Mail des Berliner Designbüros ein, das hin und wieder für ihn arbeitete. Er hatte der Nachricht, die er ein oder zwei Tage zuvor in New York erhalten und lediglich überflogen hatte, kaum mehr Beachtung geschenkt als einem Spam. Er öffnete das E-Mail-Programm seines iPhones, scrollte, bis er fündig wurde, und öffnete die Nachricht. Er würde die Einladung, die er unter anderen Umständen bei nächster Gelegenheit ungelesen in den Papierkorb bewegt hätte, annehmen. Man hatte ihm an der Abendkasse zwei Tickets für ein Konzert in der Philharmonie hinterlegt. Vielleicht hätte er ja Lust. Sollte er die Karten nicht in Anspruch nehmen, bräuchte er ihnen das nicht einmal mitzuteilen. Er solle das Angebot nicht als lästige Verpflichtung, sondern als informelle Anregung betrachten.
Je länger er darüber nachdachte, desto konkreter wurde die Vorstellung, in den Wogen satten Orchesterklangs zu baden, am liebsten in Tschaikowski, Bruckner oder Mahler, Komponisten, deren Namen er kannte, deren Sinfonien er allerdings nicht auseinanderhalten konnte. Er hatte die Philharmoniker nie live gehört, wer war eigentlich deren Chef? Abbado? Er suchte nach dem Namen. Rattle natürlich. Renate, die sich auskannte, hatte Rattle kürzlich erwähnt. Mehrfach verheiratet. Interessant. Ein Mann für Frauen. Das hatte sie sicher aus der Brigitte. Nachdem er den Entschluß gefaßt hatte, den Abend kunstvoll zu verbringen, schlief er fast augenblicklich über einer sanften erotischen Fantasie ein. Er war eigentlich anderes gewöhnt. Ach ja, er mußte Renate noch anrufen.
Es war Monate her, seit sie ihre Patentochter zum letzten Mal gesehen hatte. Hatte Klara sich verändert? Klara war siebzehn. Sophie sah ungeduldig auf ihre Uhr und war nahe daran, zu hupen. Warum stand sie nicht wie abgemacht um 18.30 Uhr vor der Tür? Warum hatte Klara darum gebeten, zu Hause abgeholt zu werden? Was kostete es eine Siebzehnjährige für Mühe, die S-Bahn oder den Bus zu nehmen und zur Philharmonie zu fahren, in die Schule wurde sie schließlich auch nicht chauffiert, oder doch? Klaras neuem Vater traute sie alles zu. Klaras neuer Vater war Sophies erklärter Feind.
Mußte sie jetzt aussteigen und klingeln? In diesem Augenblick ging das Licht im Flur an. Klaras Mutter war offenbar nicht zu Hause. Wo trieb sie sich herum? Nein, es ging sie nichts an.
Seit sie in Zehlendorf wohnten – seit fünf Jahren –, hatte sie ihre Schwester nicht mehr gesehen. Noch länger war es her, daß sie zum letzten Mal miteinander gesprochen hatten. All dies nach einem wochenlangen Zwist, für den sie sich noch heute schämte, wenngleich sie überzeugt war, daß man ihr keine andere Wahl gelassen hatte. Sophie hatte bis zu jenem Augenblick geglaubt, sie könnte die Beherrschung nicht verlieren. Der Streit vor sieben Jahren, der die Schwestern entzweit hatte, hatte sie eines Besseren belehrt.
Klara sollte in die familiären Streitigkeiten nicht hineingezogen werden. Aber vermutlich war es unmöglich, diese völlig vor ihr zu verheimlichen. Ob sie sie belasteten, wußte Sophie nicht. Woher auch, da sie mit ihrer Schwester nicht sprach. Klara selbst redete nicht darüber. Sie schien sich für ganz andere Dinge als familiären Zoff zu interessieren, aber Sophie wußte nicht für welche, da sie sich in der Gefühlswelt pubertierender Mädchen nicht auskannte. Sie war sich nicht einmal darüber im klaren, ob Sophie die Pubertät bereits hinter sich hatte oder noch mittendrin steckte. Darüber konnte man mit einem Mädchen sicher nicht sprechen. Oder war es das, was sie von ihrer Patentante erwartete? Sophie hatte keine Erfahrung damit, sie war nicht geübt.
In diesem Augenblick trat Klara endlich aus dem Haus, und bei ihrem Anblick lösten sich die Vorwürfe, die Sophie ihr eben noch gemacht hatte, in nichts auf. Klaras Gesicht schien zu strahlen, und das lag nicht allein am Schein der Außenbeleuchtung, die aufleuchtete, als sie die Haustür öffnete. Niemand stand hinter ihr, um sie zu verabschieden, und wenn doch, war man darum bemüht, unsichtbar zu bleiben. Sie war wohl nicht allein. Man wollte mit Sophie nichts zu tun haben. Klara war nicht warm genug angezogen.
»Du solltest dich wärmer anziehen«, sagte sie, doch Klara ignorierte die vorwurfsvolle Begrüßung, die unfreundlicher ausfiel, als Sophie zumute war. Klara hatte den Tadel oder das tantenhafte Gemeckere mit Sicherheit nicht überhört, aber sie machte weder Anstalten, beleidigt zu sein, noch ins Haus zurückzugehen, um wärmere Sachen zu holen. Da Sophie ihrer Schwester keine Gelegenheit bieten wollte, sich über ihren Einfluß auf Klara zu wundern, insistierte sie nicht. Sofern sie sich tatsächlich im Haus aufhielt. Sie würde Klara nicht danach fragen, wo ihre Schwester war, Almas Name kam nicht über ihre Lippen!
»Geht’s dir gut? Ist dir nicht kalt?« fragte sie später, als sie bereits fuhren, und Klara antwortete: »Mir ist doch nie kalt.«
»Dann ist ja gut«, sagte Sophie. Es ging jetzt nicht mehr darum, sich Sorgen um Klaras Gesundheit zu machen.
»Ist ja erst September. Kann ich das Fenster ein bißchen öffnen?«
»Jetzt?! Ist dir etwa zu warm?«
»Schlechte Luft.«
Wortlos ließ sie sie gewähren, Klara kurbelte das Fenster nur einige Zentimeter herunter.
»Interessiert dich das überhaupt? Ich meine das, was Olsberg heute abend spielt?«
»Irgendwie schon, warum nicht?« erwiderte Klara achselzuckend, ohne Überzeugung, aber auch ohne zu zögern, als ob sie sich darüber schon Gedanken gemacht und sich mit ihren Freundinnen ausgetauscht hätte.
Dann fragte Sophie sie das, worauf sie sie nicht hatte ansprechen wollen: »Spielst du noch Klavier?«
»Rühre ich nicht mehr an.«
»Schade«, sagte Sophie.
»Ja, schade, aber ich kann es nicht ändern.«
Sophie wünschte sich, Klara hätte sich etwas weniger dezidiert ausgedrückt, weniger überzeugt.
»Das klingt endgültig«, bemerkte sie, doch darauf gab Klara keine Antwort. Wohl, weil Sophie recht hatte. Ihre Entscheidung war endgültig, weil es gar keine Entscheidung, sondern der Lauf der Dinge war, sie wurde erwachsen und tauschte ihre alten Interessen, die ihr einst von den Erwachsenen aufgeschwatzt worden waren, gegen neue ein. Die neuen kannte Sophie nicht. Wahrscheinlich Jungs in ihrem Alter. Oder verheiratete Lehrer, die unerreichbar angehimmelt wurden?
Sie wäre dem Eindruck gern entgegengetreten, sie habe sich nur deshalb nach Klaras musikalischen Fortschritten erkundigt, weil sie ihr damals das Klavier geschenkt hatte, aber ihr fiel nicht ein, wie sie das hätte bewerkstelligen sollen, ohne vorwurfsvoll zu klingen. Sie merkte, daß sie ihren Zorn kaum unterdrücken konnte, und so kam es ihr gelegen, daß ihr eine Katze vors Auto lief. Sie bremste heftig ab.
»Glück gehabt«, rief Klara, und lockerte ihren Gurt. »Das war kurz vorm Airbag, was?«
Sie lachte und Sophie sagte: »Uff, die arme Katze.«
Sie habe Olsberg vor zwanzig Jahren zum ersten Mal gehört, hier in Berlin, und sie besitze fast alle seine Aufnahmen, sagte sie später und stellte erfreut fest, daß sich ihre Stimme in einer unbeschwerten Tonlage bewegte. So wie es sein sollte, wenn die unverheiratete Patentante ihr Patenkind ausführt.
»Wow«, kam es aus der Ecke, in die sich Klara inzwischen gedrückt hatte, als wollte sie unbedingt Abstand wahren. Das zweite »Wow«, das dem ersten folgte, klang weniger begeistert, eher erschöpft.
Fast hätte Sophie sie gefragt, ob ihr ein anderes Konzert lieber gewesen wäre, aber sie wollte nicht wie die spitzzüngige Spielverderberin erscheinen, als die sie sich spätestens dann entpuppen würde, wenn der Abend weiter so humorlos und verkrampft verlief wie bisher.
»Wir haben noch Zeit, etwas zu essen, wenn du magst«, sagte Sophie versöhnlich, als in der Ferne endlich das gelbe Äußere der Philharmonie auftauchte und sie damit beginnen konnten, nach einem freien Parkplatz Ausschau zu halten. Aus welchem Material waren diese goldgelben Verkleidungen? Es hätte sie nichts gekostet, Klara nach ihrer Meinung zu fragen. Warum gestand sie ihr nicht zu, eine Meinung zu haben? Es wäre doch möglich, daß sie das, was Sophie nicht wußte, in der Schule durchgenommen hatte. Doch sie zog es vor, sie weiterhin wie ein Kind zu behandeln.
Die Suche nach einem oberirdischen Parkplatz erwies sich wie immer, wenn sie um diese Zeit mit dem Auto unterwegs war, als aussichtslos. Der hauseigene Parkplatz war schon besetzt, und so sah sie sich gezwungen, in den Untergrund des Parkhauses Bellevuestraße abzutauchen. Um etwas zu essen war es wohl doch schon zu spät.