Waldtraut Lewin
Die Löwinnen von San Marco
Roman
Knaur e-books
Waldtraut Lewin, 1937 in Wernigerode geboren, lebt heute als freischaffende Schriftstellerin in Berlin. Sie verfasste zahlreiche historische Romane sowie Erzählungen, Märchen, Kindergeschichten und Hörspiele. Sie erhielt 1970 den Händel-Preis, 1978 den Lion-Feuchtwanger-Preis.
© 2015 der eBook-Ausgabe Knaur eBook
© 2015 Knaur Verlag
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Redaktion: Burkhard Heiland
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Coverabbildung: Artothek/FinePic®, München
ISBN 978-3-426-43739-1
Noch mehr eBook-Programmhighlights & Aktionen finden Sie auf
www.droemer-knaur.de/ebooks.
Sie wollen über spannende Neuerscheinungen aus Ihrem Lieblingsgenre auf dem Laufenden gehalten werden? Abonnieren Sie hier unseren Newsletter.
Sie wollen selbst Autor werden? Publizieren Sie Ihre eBooks auf unserer Akquise-Plattform www.neobooks.com und werden Sie von Droemer Knaur oder Rowohlt als Verlagsautor entdeckt. Auf eBook-Leser warten viele neue Autorentalente.
Wir freuen uns auf Sie!
Am Anfang war das Meer.
Es hatte die Stadt hervorgebracht, deren Kinder sie waren. Es sollte auch ihren Abschied empfangen.
Andere Meere würden sie durchqueren, andere Städte würden ihnen zur Wohnung werden. Aber keine der Städte würden sein wie diese. Und keines war wie dieses Meer.
Der Fürst ihrer Stadt pflegt einmal im Jahr hinauszufahren, an einem gleißend hellen Tag, ins blaue Leuchten hinein, dorthin, wo sich Himmel und Erde begegnen, um einen Ring vom Finger zu streifen. Sich mit dem Element zu vermählen.
Nun fahren sie beide hinaus, bei Nacht, und keine Prunkbarke trägt sie, sondern ein schwarzer Nachen, und der Ruderer ist genau so dunkel vermummt, wie sie es sind. Aber es gilt ja auch nicht, sich zu vermählen, sondern zu scheiden.
Sie sitzen schweigend, die Kapuzen ihrer Mäntel bis zu den Augen herabgezogen, und halten im Schoß die Reliquien ihres bisherigen Lebens, halten sie mit beiden Händen umklammert, wie man eine Schütte mit Saatkorn festhalten würde. Bewahren sie. Noch. Ein paar Ruderschläge lang.
Der Mond ist jung in dieser Nacht. Scheint zu flüchten, jagt dahin zwischen Wolkenschatten, wie gehetzt, eine junge Hindin, die vorm Jäger flieht. Luna, mal hell, mal dunkel.
Die Inseln der Lagune tragen ihre kleinen Feuer an der Stirn – hier und da ein Haus, wo man nicht schläft. Wo jemand betet, liest, stirbt oder wo man sich liebt beim Schein der Öllampen.
Das Ruderblatt lässt von Zeit zu Zeit Blitze im Wasser aufspringen. Tiere der Tiefe? Nächtliche Geister? Oder nur der Widerschein fernen Lichts?
Die eine der vermummten Gestalten im Boot dreht sich um, streift die Kapuze mit einer Hand zurück, sucht die Stadt mit dem Blick. Dunkel vor grauem Wolkenhimmel, die Umrisse so vertraut, dass man sie mit geschlossenen Augen nachzeichnen könnte. Die Kuppeln, die Türme, der gen Himmel weisende Zeigefinger des Campanile, die zackig zerrissene Silhouette der Häuser und Palazzi.
»Hier. Hier sollten wir es tun. Hier ist es tief genug.«
Die andere Gestalt nickt, heißt die Entscheidung gut. Sie gibt dem Schiffer das Zeichen: Beugt sich vor und berührt mit der Hand seinen Rücken.
Nun, ohne das Ruderplätschern, ist es so still auf dem Wasser wie am Tage, nach dem die Welt erschaffen wurde. »Wer fängt an?«
»Du. Du bist diejenige, die mehr weggeben muss.« Die erste lacht leise.
»Nein«, sagt die zweite. »Lass es uns anders machen. Ich gebe dir meines. Du gibst mir deines, nacheinander. Dann sind wir verbunden.«
»Das sind wir ohnehin. Aber gut.«
»Schaff uns Licht, Lelio.«
Der Schieber einer Blendlaterne wird aufgezogen. Der schwache gebündelte Strahl erhellt die Gesichter der beiden Frauen. Ernst, gesammelt. Das Boot schaukelt, gewiegt vom Atem des Wassers, lässt den Lichtschein hin und her geistern zwischen den beiden.
Die zweite wählt aus den Dingen in ihrem Schoß ein Bündel Briefe. Sie sind von einem verblichenen Band umschlungen, zusammengehalten durch ein Siegel. »Hier. Die Kopien der Briefe an dich. Ich weiß nicht, wie viele dich davon erreichten.«
»So viele.« Die andere hält ein schmaleres Päckchen hoch, zerknittert, verschlissen. »So viele.«
»Du hast sie gelesen?«
»Nein.«
»Lügst du?«
»Ja. Aber ich wusste immer, dass auch diese Briefe nur Lügen enthalten. Deshalb ist es so gut, als hätte ich sie nicht gelesen.«
»Alsdann …«
»Alsdann: Addio.«
Sie tauschen. Und die beiden Briefbündel klatschen mit dumpfem Laut aufs Wasser, treiben eine Weile oben, dann verschluckt sie das Meer.
»Weiter. Du hast noch mehr geschrieben, Donata.«
»Ja. Briefe, die die Wahrheit enthalten. Die ich nie abgeschickt habe.«
»Gib sie mir.«
»Noch kannst du sie lesen.«
»Wozu?« Leonida reißt das Päckchen so heftig an sich, dass sich das Band löst. Ein Schwarm weißer Vögel, flattern die einzelnen Papiere durch die Luft, versinken hier und dort. »Addio.«
»Jetzt weiter du, Donata.« Leonida schiebt die Gegenstände hin und her, die sich auf ihrem Schoß, im Bausch des Mantels befinden. Reicht dann ein an den Rändern versengtes Pergamentblatt hin, versehen mit fremdartigen Schriftzeichen. Das Siegel ist groß und prunkend.
»Das stammt vom Türken. Hat es mit uns zu tun?«
»Mehr, als du denkst.«
Donata hebt schon die Hand zum Schwung, aber Leonida beugt sich vor und fängt ihren Arm auf. »Nein, warte. Pergament will oft nicht untersinken. Verbrenn es.«
Donata sagt nichts. Sie öffnet das Hornfenster der Laterne und hält das Schriftstück an die offene Flamme. Beide beobachten, wie sich das Blatt verfärbt, sich krümmt im Todeskampf, schließlich auflodert, wie der feuerrote Siegellack schmilzt und herabtropft. Mit konzentrierten Gesichtern sehen sie beide zu. Die unruhigen Flammen tanzen und werfen Schatten über ihre Stirnen.
Donata wirft die Asche ins Meer. Greift dann von ihrem Schoß einen Goldring. Schleudert ihn, weit ausholend, davon, ehe die andere eingreifen kann. »Das Pfand meiner Ehe. Fort damit!«, sagt sie wild.
»Ich hätte ihn wegwerfen sollen!«, sagt Leonida spöttisch. »War es nicht so abgemacht, dass wir die Dinge tauschen?«
Donata ringt nach Worten. »Du hast – du hast ihn ja schon wertlos gemacht, bevor ich ihn am Finger trug«, sagt sie leise.
Leonida antwortet nicht. Stattdessen nimmt sie ebenfalls einen Ring aus ihrem Vorrat, schmal, mit einem Mondstein. Hebt ihn hoch, das Gold blitzt im Licht der Laterne. »Fort mit dem, was wir liebten!«, flüstert sie. Holt aus. Wirft.
Und nun, wie auf ein Zeichen hin, beginnen sie, regellos alles über Bord zu werfen, was sie noch haben an seltsamen Gedenkstücken. Verdorrte Blumen und Bänder, Ranken von Weinlaub, ein Becher und eine dünne Fußfessel, ein paar Kinderschuhe und ein Fächer, eine Flöte, in rotes Leder gebundene Büchlein, ein bunt gemaserter Stein. Immer schneller. Das Wasser spritzt auf, die Kreise breiten sich aus, gehen ineinander über. Irgendwo springt ein Fisch.
»Vorbei«, sagt Donata schließlich tonlos. »Alles weg. Was wir liebten. Was uns betrübte. Alles da unten im Schoß unseres Meers. Aufgehoben bei unserer Stadt, von der wir uns für immer trennen werden.«
Leonida greift nach ihren Händen, hält sie fest. »Die Dinge sind fort. Gehören nun der Adria. Aber vieles wird wohl bleiben. Das in unseren Herzen bleibt. Und auch das Erlebte in unserem Kopf.«
»Ich hätte meine Tagebücher behalten sollen.«
»Aber du weißt doch alles. Wort für Wort, nicht wahr?«
»Wort für Wort, cara.«
Sie schließen den Schieber der Laterne, geben dem Schiffer das Zeichen zur Umkehr. Im Rudertakt schwebt die Stadt auf sie zu, bis der Ferge beidreht, das Boot nach Westen hin fortbewegt, hinter der Kirche San Giorgio Maggiore hinüberfährt nach Castello, fort von der Pracht zur Ehre Gottes, von Glanz und Schönheit, hin zu Armut und Bescheidenheit. Dort, wo die Arbeiter des Arsenals wohnen, gehen die beiden Frauen an Land.
Die Mitternacht ist vorüber. Sie entlohnen den Schiffer, und er küsst Donata die Hand. Der Mann sieht sie an. Noch nicht so lange her, und sie war seine Herrin. Nun will sie fort auf Nimmerwiedersehen. Mit der anderen.
Donata hält die Blendlaterne. Sie gehen über Ziegenpfade und feuchte Sträßchen, vorbei an den niedrigen Häusern der arsenalotti, über hölzerne Brücken. Reden nicht miteinander. Katzen schreien. Es ist Brunstzeit. Donata kennt das – sie hat bereits eine Zeit lang hier gewohnt.
In San Biagio wartet die Clarissin schon auf sie, bringt sie, ebenfalls schweigend, in ihre Zellen. Hier werden sie übernachten. Das Gepäck steht aufgetürmt, ein dunkler Batzen von Taschen und Ledersäcken. Morgen werden sie diese Stadt, dies Meer verlassen. Heimlich. Ja, und auf Nimmerwiedersehen.
Aber es gibt nichts, was sie je vergessen werden, auch wenn sie ihre Andenken tief, tief versenkt haben, damit sie hier bleiben für immer.
Ich, Leonida
Wie viel Zeit vergangen ist seit jenem Tag, als ich in der glühenden Sonne auf dem Dach unseres Hauses saß und mir das Haar bleichen ließ? Ich weiß es nicht mehr. Ich habe irgendwann aufgehört, sie zu messen. Aber es war wohl weniger, als ich dachte – schließlich zählt sich Lebenszeit nach dem, was man erlebt. Vielleicht wüsste es Donata, die nach unserer nächtlichen Ausfahrt nun in der Zelle neben mir liegt und sicher wach ist, genau wie ich es bin. Sie wüsste es auf Monat und Tag. Donata, die alles so genau aufzeichnete. Schon damals. Schon immer.
Jedenfalls, ich war jung. Jung wie der junge Tag. Gerade sechzehn. Es war zwei Tage bevor ich, wie ich mir erhoffte, das Glück meines Lebens finden würde.
Ich saß auf der altana, dem Dach unseres Palazzo, und die Sonne stand im Zenit. Eine breite, strohgeflochtene Krempe beschattete mir Nacken und Stirn, damit mir nicht die Haut verbrannte. Weiße Haut und goldenes Haar. Die Sonne galt nur meinen Haaren! Die fürchterliche Mischung aus indischem Tinkal und Salzwasser aus der Lagune; Kalkerde sollte die Bleichkraft verstärken. Es juckte und schmerzte. Eine Frau in Venedig, die nicht blond ist, die gilt nicht als schön. Und ich musste schön sein übermorgen. Die Schönere von uns beiden.
Die andere konnte sich diese schmerzhafte Prozedur sparen. Die andere. Donata. Ihr hatte der Himmel ein natürliches Blond gegeben, sie musste nicht alle vier Wochen diese Tortur über sich ergehen lassen.
Der Schweiß lief mir übers Gesicht, obwohl ich den Fächer bewegte. Mittagsstille. Siestazeit. Keine Stimmen von der nahen Piazza, kein Vogelflügel, der sich regte. So wie ich da saß, folgsam auf dem Stuhl inmitten der prallen Sonne, konnte ich über die Balustrade hinweg nichts weiter sehen als das fahle Weiß des Himmels, das mit dem opalenen Grau der Lagune verschmolz. Keine Grenze zwischen Himmel und Meer.
Keine Grenze. Nachts, diese Vollmondnacht wieder, würden Meer und Himmel ebenfalls verschmelzen, würden nur die Feuer, die auf dem Lido lodern, anzeigen, wo das Wasser ans Land grenzte – die Feuer der seltsamen Feste, die dort bei Vollmond gefeiert wurden. Feste, die nicht die unseren waren, aber den Hintergrund abgaben für unsere Wonnen.
Inmitten der Hitze überlief mich ein Schauer. Ich fühlte, wie meine Brüste aufwachten, als würden seine Hände schon auf ihnen liegen. Zwischen meinen Beinen wurde es feucht. Ich musste die Augen schließen. Heute Nacht! Ich würde Kopfweh haben nach dieser Sonnenmarter. Aber das würde vergehen, sobald ich mich seinen Händen überließ. Sobald ich in seiner Hand war …
Das Klappern von Holzschuhen auf der Treppe.
Sie kam immer pünktlich, sie brauchte kein orologio, kein Stundenglas, um zu wissen, wie spät es war. Als spürte sie, an welchem Punkt der Himmelsbahn Sonne oder Mond gerade standen, als fühlte sie den Gang der Stunden in sich wie das Meer die Gezeiten. Die Moresca. Es schien, das Klippklapp ihrer Schuhe würde den Glockenschlag erst auslösen, der nun mit volltönender Strenge vom Campanile herüberklang.
Die Moresca. Endlich, die Moresca. Und hoffentlich mit Nachrichten für mich, für den Abend.
Ich fuhr mir mit den Händen über das glühende Gesicht. (Der Fächer war mir vorhin aus der Hand gefallen, lag irgendwo unterm Stuhl.) Sie sollte meine Erregung nicht bemerken, sollte die Röte meiner Wangen auf die mittägliche Hitze zurückführen – als wenn man vor der Moresca etwas verbergen könnte!
Da war es schon, ihr spöttisches Lachen. »Nun, Madonnina, schon wieder in Liebesgedanken?«
»Wie kommst du darauf?«
»Wer wie du dasitzt, die Beine ausgestreckt, den Schoß vorgeschoben – mach mir nichts vor, Kleine!«
»Nimm dir nur nicht zuviel heraus!«, sagte ich und wusste, dass es falsch war, ihr gegenüber auftrumpfen zu wollen.
Diese schöne Mohrensklavin, hochgewachsen und rank wie eine Zeder, war schließlich nicht nur die oberste Zofe meiner Mutter, sondern auch die Geliebte meines Vaters. Unbekümmert trug sie das Perlenband, das Messer Antonio, der Hausherr, ihr aus Candia mitgebracht hatte. Perlen und das zum Turban geschlungene Kopftuch – weißes Leuchten gegen braune Haut. Mandelmilch und Zimt.
Fast schäbig kam ich mir in so einem Augenblick vor gegen diese bestürzende Schönheit – ich hier mit nichts bekleidet als einer leinenen cotta, an den Achseln durchgeschwitzt, mit den erregten Brüsten, deren Warzen sich unter dem dünnen Stoff deutlich abzeichneten, barfuß, denn meine Seidenpantoffeln hatte ich abgestreift, um Kühlung auf den Fliesen der altana zu suchen … Und dennoch. Geliebt. Geliebt vom besten aller Männer. Vien dunque Amor, cantiamo insieme …
Die tiefe Stimme der Moresca. Ihr Lachen, ihr Verschen, mit dem sie mich schon seit den Kindertagen neckte: »Leonida Signorina, Madonnina, piccina!« (Ja, immer nannte sie mich noch die Kleine, gab mir die gleichen spöttischen Kosenamen wie seit eh und je.) »Erzähl mir nicht, dass es die Sonne ist, die dir so zusetzt, dass du mit offenem Mund und heftigem Atem dahockst wie die Tauben im Schatten mit aufgerissenen Schnäbeln!«
Sie griff nach dem weit ausgebreiteten Bund meines Haars über der Strohkrempe und schüttelte es auf. »Noch einmal!«, ordnete sie an. »So bist du noch nicht schön. Willst du, dass überall die roten Borsten unterm Blond hervorgucken?«
Rote Borsten? »Unverschämtes Weibsstück! Wie redest du mit mir? Soll ich dich schlagen?« (Das sagt man so zu Sklaven, ohne es wirklich zu tun.) Niemals hatte ich wirklich rotes Haar gehabt! Aber dass da in dem Braun ein rötlicher Schimmer war, das konnte man schlecht leugnen …
Die Moresca tat meine Drohung mit einem verächtlichen Schnaufen ab. So etwas nahm sie nicht ernst. Sie krempelte die Ärmel ihres Hemds bis über die Ellenbogen hoch, schürzte den Rock und rückte die tönernen Krüge scheppernd auf den Marmorfliesen zurecht, und meine Ungeduld wuchs. Aber die Erfahrung hatte mich klug gemacht. Sie liebte es, mich zappeln zu lassen, und wenn ich in sie drang, zögerte sie alles noch mehr hinaus. Sie konnte boshaft sein. Es bereitete ihr Freude.
Endlich nahm sie mir den Sonnenschutz ab, entblößte meine Schultern, meinen Oberkörper. »Schließ die Augen, Madonnina!«
Ich beugte mich vor, fühlte schaudernd und erlöst das laue Wasser, das mir über Kopf und Hals rieselte. Die Rinnsale auf den Schultern und Armen, das Kitzeln auf den Brüsten – und dann ihre Stimme, raunend: »Vollmond ist heute. Ich werde auf dem Lido sein bei den anderen. Wir tanzen und singen. Giorgio schmachtet nach mir!«
Ich machte eine ungeduldige Bewegung mit dem Kopf, das Wasser lief mir in die Augen. Das war es nicht, was ich hören wollte! Warum rückte sie nicht mit der Sprache heraus?
»Wie kannst du gleichzeitig die favorita meines Vaters sein und einen Geliebten haben?«, fragte ich verärgert.
»Ich habe keinen Geliebten. Ich sage nur: Giorgio schmachtet nach mir.«
»Ach?«, sagte ich. »So sah es nicht aus für mich, damals, als du mich mitgenommen hattest auf den Lido, zu euren nächtlichen Mohrentänzen, verbotenerweise! Der Junge, dessen Haut glänzte wie Öl! Der aus dem Hause Vendramin! Das war er doch, nicht wahr?«
»Giorgio«, bestätigte sie. »Und du hast gezittert wie Espenlaub, als du sahst, wie sie alle den Mond beschworen. Ich musste dich unter meinen Mantel nehmen und festhalten!« Sie kräuselte verächtlich die Lippen. »Zumal wir nah beim alten Judenfriedhof waren …«
»Du lenkst ab. Und es ist nicht wahr!«, erwiderte ich wild. »Ich habe mich keinen Augenblick gefürchtet. Vor dem Friedhof nicht und vor euch schon gar nicht. Ich fand es nur – seltsam, ihr dort, und du und dieser Giorgio!«
Wieder einmal war es mir unerträglich, dass sie so viel von mir wusste. Alle Peinlichkeiten, die mir jemals zugestoßen waren, kannte sie. War dabei gewesen, als ich im Palazzo Vendramin, wo wir Visite machten, so unziemlich schnell die Treppe hinunterlief, dass ich ausglitt und mit hochgerutschten Röcken über den Marmorboden schlitterte wie eine Katze auf dem Eis. Hatte miterlebt, wie ich unterm Gelächter und Beifall der Venezianer bei einer großen Regatta aus einem kenternden Boot sprang und nicht darauf wartete, mich retten zu lassen, sondern den Rock abstreifte und halbnackt an Land schwamm. Gut, ich war noch fast ein Kind, und inzwischen hatte man diese Eskapaden zum Glück in der Stadt vergessen. Aber sie, sie wusste so etwas und behielt es in ihrem eigensinnigen Kopf.
Sie behielt, das ich mich auf dem Lido gefürchtet hatte, und sie behielt, wie ich einem zudringlichen jungen nobile bei einem Karnevalstanz öffentlich eine Ohrfeige gegeben hatte, weil er mich, wie ich fand, zu fest um die Taille fasste. Meine Mutter war fast in Ohnmacht gefallen! Die Moresca hatte gelacht …
Da hockte sie vor mir, die schöne Mohrin, auf ihren Fersen, rührte die Zutaten für eine neue Tinktur an, und ich sah herunter auf ihre Hände, braun, fast schwarz, wo sich die Haut an den Gelenken verdickte, und dunkel auch die Monde der Nägel – ein Zeichen dafür, dass sie keine reinblütige Afrikanerin war. Ein Zeichen, wie auch ihre grünen Augen. Eine Moresca eben, keine Mora. Eine hochmütige, boshafte, ihrer Macht bewusste Moresca.
»Du hast dich gefürchtet damals«, wiederholte sie ruhig. »Und Giorgio – Giorgio schmachtet nach mir!«
»Und du? Schmachtest du auch?«
Ich biss mir auf die Lippen.
Statt einer Erwiderung auf ihre Frechheit hatte ich schon den Fuß gehoben, um sie damit vor die Brust zu treten. Aber ich musste mich zurückhalten. Sollte ich meine Liebesbotin treten?
Sie erhob sich, mit ihrem unerträglichen, ihrem ewig spöttischen Lächeln, und begann, mir Stirn, Nacken und Schläfe mit Olivenöl einzureiben, zum Schutz vor dem zweiten Gang mit der ätzenden Mischung – bevor sie die Haarsträhnen bis hinunter zur Kopfhaut kräftig damit bearbeitete. Wie es brannte! Sie legte die Strohkrempe wieder um meinen Kopf. Und sagte noch immer kein Sterbenswort. Nicht das Wort, das ich erwartete. Vor Ungeduld presste ich mir die Fingernägel in den Handballen.
Und dann auf einmal war der Kopfschmerz da. Jener Schmerz, der vorher schon wie Nebelwellen durch mein Gehirn gegeistert war, dem ich befohlen hatte, fortzubleiben. Ich verzog das Gesicht, konnte ein leises Stöhnen nicht unterdrücken.
»Piccina!« Nun gurrte sie. Ihr Mund war dicht an meinem Ohr. »Im Hause der Dolfins hat man Befehl gegeben, für heute Abend eine felze zu bestellen.«
Mein Herz setzte kurz aus, schlug dann so heftig, dass es wehtat im Hals.
»Die felze?« Ich flüsterte.
Das war die überdachte Barke, in deren Schutz sich Liebender und Geliebte ungesehen zusammenfinden konnten in der Nacht. Fulvio würde kommen!
Kopfschmerzen? Nur noch ein feines Prickeln in den Schläfen. Zornig? Nur die Ungeduld war geblieben.
»Danke, Moresca. Nimm dir nachher aus meinem Beutel eine Goldzecchino.«
Ihr Lachen. »Goldzecchine liebe ich. Ich lass sie durchlöchern und häng sie mir in die Ohren, wenn es zum Tanz geht heute Nacht. Giorgio wird Augen machen! Dann bin ich noch schöner!«
Warum ihr nicht schmeicheln? »Du bist ohnehin schön genug.«
Sie schnaufte befriedigt. Spülte sich Hände und Arme im hölzernen Wasserbottich ab. Ich hörte das Klirren – Schlüsselbund und Schere. Sie nestelte den Spiegel vom Gürtel. »Und du? Bist du schön genug?«
Der Schreck, sich plötzlich selbst zu sehen – beschattet von jener Krempe aus Stroh, ein Gesicht, glänzend vor Schweiß, die viel zu starken Brauen gerunzelt, darunter der Blick der schrägen Augen, forschend, fast böse, die Lippen wie mit Sepia nachgezogen … Nein, schön fand ich mich nicht. Und doch, ich konnte gefallen! Ihm gefallen.
Die Moresca kicherte. »Ich muss dir die Brauen zupfen. Und wie deine Haut aussieht! Madonna mia, willst du als eine von uns daherkommen, so dunkel, wie du bist? Ich werde dir Kompressen mit Bleiwasser machen müssen!«
Ich schlug den Spiegel beiseite, wilder, als ich wollte. Er rutschte über den glatten Boden. »Ich mag nicht!«
Sie bückte sich, ungerührt. »Du musst aber! Für ihn bist du ohnehin schön, ich weiß. Und unterm Dach der felze brennt kein Licht. Aber übermorgen werden sie dich verkaufen, und da solltest du zusehen, dass du einen guten Preis erzielst für die Deinen!«
Sie konnte es nicht begreifen! Ich zischte vor Ärger. »Geht es nicht in deinen Sklavinnenkopf, dass es kein Verkauf ist? Kannst du es denn nicht verstehen? Dass es eine alte venezianische Sitte ist, mittellose Jungfrauen aus gutem Hause zu versteigern! Kein Verkauf!«
Sie blieb gelassen – ein dunkles Weib mit spöttisch nach unten verzogenen Mundwinkeln.
»Nein, es geht nicht in meinen Sklavinnenkopf. Eben weil es ein Sklavinnenkopf ist! Ich bin nur ein Mohrenweib. Aber wenn ein Mensch an den Meistbietenden verhökert wird, dann ist das für mich ein Verkauf, ob das nun auf dem Gerüst des Händlers in Marrakesch stattfindet oder in der Halle eines Palazzo. Du und deine Kusine – ihr werdet an eure zukünftigen Ehemänner verschachert. So ist das. Basta.« Sie lachte wieder. »Und wenn ich mich umsehe in dieser schönen Stadt – sind nicht die meisten Ehen so etwas wie Sklaverei? Also, meine Kleine, sieh zu, dass du einen guten Mann erwischst! Und weise nicht meine Bleikompressen zurück, die dir helfen, schön zu sein!«
Ihr Geplapper rauschte mir an den Ohren vorbei. Nun beugte sie sich gar zu mir herunter, und ihr heißes Geflüster war neben meiner Wange. »Und vor der Hochzeitsnacht komm zur Moresca. Sie wird dir helfen, und dein Gatte wird hinters Licht geführt. Er soll glauben, eine intakte Jungfrau ersteigert zu haben. Nicht, dass deine Familie den Kaufpreis zurückerstatten muss!«
Ihr gurrendes Lachen, tief aus der Kehle. Wie dreist sie war! »Was erlaubst du dir! Halt deinen Mund, du redest ungereimtes Zeug!«, protestierte ich.
Wenn sie wüsste.
Ich würde ihre Hilfe nicht brauchen. Es gab keine Gefahr. Alles war vereinbart, es war nichts zu befürchten. Es gab nur Grund zu Freude und Hoffnung.
Die Moresca hantierte mit ihren Tiegeln und Töpfen. »Du trägst es tapfer!«, bemerkte sie. »Wirst du gleich beim ersten Vollmond nach deiner Heirat den Galan wieder treffen? Ist das deine Hoffnung?«
»Geh jetzt!«
»Ich gehe, wann ich will!«
Das freche Frauenzimmer! Am liebsten hätte ich ihr etwas an den Kopf geworfen. Aber bevor ich Luft holen konnte zu einem scharfen Befehl, erlöste mich die helle Stimme meiner Mutter von drinnen: »Catalin, dove sei?«
»Wenigstens die Herrin nennt mich mit meinem christlichen Namen hier im Haus!« Sie klang befriedigt. »Ich komme, Madonna Ornella!«
Dann das Klappern ihrer Holzschuhe auf den Marmorfliesen. Danach die hölzerne Stiege …
Ich lehnte mich aufatmend zurück, froh, dass das rote Zorn-Tier nicht aus mir ausgebrochen war. Oft verletzte ich mehr, als ich eigentlich wollte … Und schließlich schuldete ich der Moresca vieles. So wie heute. Für die Verabredung zum Stelldichein in der Nacht.
Mit geschlossenen Augen ertrug ich den Biss der Sonne. Der Schmerz in den Schläfen kam wieder. Unwichtig. Heute Abend würde er vergehen wie Schnee, der vor der Glut schmolz.
Die Zofe schicken, Bescheid geben, dass ich komme. Heute Abend wie fast jeden Abend. Und bald ganz und gar für immer.
Meine Kusine fiel mir ein. Arme Donata. Was für sie in zwei Tagen, zu der Versteigerung, ein Opfergang sein würde – für mich würde es ein Triumphzug werden.
So dachte ich in meiner Einfalt.
Vom Glockenturm schlug es die zweite Mittagsstunde und ich summte jene Canzone Boccaccios vor mich hin, die mir vorhin schon durch den Kopf gegangen war. Jene, in der die Liebende mit Gott Amor spricht und ihn zum Zwiegesang auffordert: Vien dunque Amor, cantiamo insieme! Komm doch, Amor, lass uns gemeinsam singen …
Ich war die glücklichste Frau der Welt. Glaubte es zu sein, damals.
Ich, Donata
Damals, wie lange auch immer es zurück sein mag, wähnte ich, glücklich werden zu können. Nun liege ich hier auf dem schmalen Bett der Clarissinnen, schlaflos, die Arme unterm Kopf verschränkt, und denke zurück. Und ich weiß, dass nebenan, nur durch eine dünne Wand aus Lehm und Ziegeln getrennt, die andere gleichfalls wach sein wird in dieser unserer letzten Nacht in Venedig, und dass ihre Bilder, ihre Träume durch ihren Kopf wandern werden wie Gespenster der Vergangenheit.
Meine reichen weit zurück. Weiter als ihre vielleicht.
Wir waren gemeinsam aufgewachsen, wir, die Töchter der Brüder Priuli. Gleichen Alters, unzertrennlich, ich die Blonde, sie die Braune, ein Herz und eine Seele damals, als nur der katzenhaft gebuckelte Bogen einer Brücke die Häuser unserer Väter trennte – dieser Brücke an den Fondamente del Osmarin, über die wir täglich liefen, sprangen, hüpften, um uns unsere neuen Puppen und unsere neuen Kleider zu zeigen, uns die Frisuren vorzuführen, die man uns kämmte, uns unsere Geheimnisse ins Ohr zu flüstern. Unschuldige Geheimnisse, die in Wirklichkeit keine waren. Man kam sich wichtig vor, zu tuscheln und so zu tun, als erzählte man sich verbotene Dinge, damit sie uns hinterherliefen, die besorgten Ammen, die Mägde, die Erzieher – sie, die ohnehin immer in Angst waren, wir könnten in den Kanal fallen.
Leonida tat alles stets als Erste und ich folgte ihrem Beispiel: Auf Fenstersimsen und Türstürzen direkt überm Wasser turnen, die Treppengeländer hinunterrutschen mit gebreiteten Armen, dabei die Beine steif abgespreizt wie die Böckchen (man sah unsere Knie und unsre Strumpfbänder, wie unschicklich!), Türen schlagend Versteck spielen durch die Räume längs des androne, des Ganges, der durch das ganze Gebäude führt. Unsre Pantoffeln flogen davon, unsere Zöpfe lösten sich, unsre Röcke wehten wie Fahnen. Sogar auf den Taubenturm stiegen wir und kamen dreckverschmiert zurück, über und über gepudert mit getrocknetem weißem Taubenkot.
Ja, gewiss war es Leonida, die begann mit solchen Streichen. Bisweilen zögerte ich, aber nie war ich fähig, Nein zu sagen. Wenn wir bestraft wurden, nahm sie ohnehin die Schuld auf sich. Ohne zu weinen. Das Weinen blieb mir überlassen. Ich übte mich früh darin und habe es später noch reichlich weiter tun können …
Während der villegiatura, der Sommerfrische, reisten wir mit Müttern und Dienern zu Schiff auf der sanft dahinfließenden Brenta in unsere Villa ins Veneto, und wir bedauerten die Väter, die als Haus- und Handelsherren zurückbleiben mussten in der nach Fäulnis stinkenden Lagunenstadt.
Zu Schiff bereits umfing uns frischer Wind und belebende Luft, die Zweige der Uferweiden überschatteten das kühle dunkle Wasser. Es verhieß Abenteuer.
Das Haus auf dem Lande war neu, Messer Palladio hatte es für die Familien Priuli gebaut. Es war rosenfarben und sonnengelb gestrichen und hatte Säulen und Treppen nach dem Vorbild, wie sie im alten Griechenland errichtet worden waren.
Wie brav wir im Schatten saßen mit unseren Müttern und Tanten, unter den Sonnenschirmen oder unterm Blätterdach der Kastanien, neben den Marmorbrunnen, die für Frische sorgten! Wie wir unsere kleinen Fächer bewegten und uns Mühe gaben, nicht mit den Beinen zu baumeln! (Das gehörte sich nicht!) Bis Leonida sich als Erste davonschlich, fort von den künstlichen Grotten und den geraden, mit Lorbeer und Zypressen gesäumten Sandpfaden.
Draußen, dort, wo der Park aufhörte, wartete das freie Land auf uns, gleißend im Licht der Sonne. Wir standen geblendet, hielten die Hände schützend über die Augen, und die Hitze traf uns wie ein Schlag vor die Brust, raubte uns auf beglückende Weise den Atem. Dann stapften wir los ins Unbekannte.
In der macchia, in der Wildnis aus Ginsterbüschen, Weißdorn und Korkeichen, gab es Kinder in unserem Alter, struppige kleine Ziegenhirten, sie trieben ihre nach Kühlung lechzende Herde umher und zeigten uns den Wurf gelbäugiger Hunde, den sie in der Felshöhle versteckt hielten, damit ihre Eltern die Welpen nicht töteten.
Ihre Mütter knicksten vor uns und sprachen uns als donzella, als Fräulein, an. Sie gaben uns aus der Tiefe ihrer Keller herben Wein, mit Wasser gemischt, oder Milch im beschlagenen Krug, und priesen sich selig, wenn wir bei ihnen verweilten und uns abkühlten zwischen Weinstöcken und Oliven, unter breit aufgespannten, wassergetränkten Leintüchern.
Einmal hatten wir herausbekommen, dass die dürren schwarzen Schweine, die einer unserer barfüßigen Freunde im Eichenwald zu hüten hatte, auf einen bestimmten Pfiff ihres Hirten nach Haus liefen in den Stall. Ein Pfiff auf zwei Fingern.
Leonida konnte pfeifen wie ein Junge. Versteckt im Weißdorngebüsch, schickte sie zweimal, dreimal die Schweineherde nach Haus. Es war nicht boshaft gemeint, nur ein Streich. Erst als unser Freund nach dem dritten Mal mit von Schlägen verschwollenem Gesicht wiederkam, begriffen wir. Leonida, die Röcke bis zu den Schenkeln gerafft, rannte los zu der Kate des Pächters, ich kam kaum nach. Heulend verlangte sie von der Mutter des Jungen, gleichfalls gezüchtigt zu werden.
»Ich war es, verstehst du! Ich hab die Tiere nach Haus geschickt! Dein Sohn verdient keine Strafe!«
Die Frau guckte bestürzt – wie sollte sie die Tochter eines ihrer Herren anrühren? Schließlich kam sie auf den Gedanken, Leonida zur Strafe aufzuerlegen, einen Bottich Trauben zu sortieren. Ich hätte gehen können, aber bestand darauf, meiner Herzensfreundin zu helfen. Bis über die Ellenbogen mit rotem Saft beschmiert, saßen wir in der Sonne und verlasen verbissen den Wein; die guten Trauben in den Kelterbottich, die schlechten in den Trog. Von Zeit zu Zeit kam die Pächterin aus dem Haus, begutachtete kopfschüttelnd unser Werk, wollte uns wieder und wieder nach Haus schicken. Die Sonne stand schon tief und die Tiere waren nun endgültig im Stall. Unter Tränen arbeiteten wir weiter. Es kam uns vor, als würden Stunden vergehen. Ich hätte längst aufgegeben. Leonida nicht.
Es wurde Abend und von unserem Platz machten wir aus, wie die verängstigten Dienstboten unserer Mütter mit großen Laternen in der Umgebung nach uns suchten, ihre Lichter bewegten sich wie riesige Glühwürmchen durch das Gezweig der entfernten Büsche, und ihre Stimmen hallten weit in der Dämmerung.
Oh, die Bleiwasserkompressen, mit denen sie uns damals nachtsüber quälten, damit unsere sonnenbraune Haut wieder blass wurde, wie es sich für junge Damen gehörte! Bei mir schlug es an. Bei Leonida war alle Mühe vergebens, die Haut ihres Gesichts immer gefärbt wie reifer Honig, die zarten Fältchen in der Armbeuge nussbraun. Für alle ein Gräuel! Ich fand sie schön.
Dann, eines Sommers, warteten wir vergeblich darauf, dass die Diener unsere Sachen packen würden. Die Hitze kam, trieb uns von draußen zurück in die Kühle der Innenräume unserer Palazzi. Wir blieben in der stickigen Stadt, in den Nächten gepeinigt vom üblen Gestank der Lagune. Die Villa im Veneto, so hörten wir aus den geflüsterten Gesprächen der Diener und Mägde, war fort, verkauft an einen Tuchhändler aus Pesaro, mitsamt allen Gobelins und Teppichen, mit den Gemälden des Messer Veronese an den Wänden und den Bronzeskulpturen, deren glatte kühle Rundungen wir heimlich betastet und an deren üppigen Formen wir uns gerieben hatten, als seien sie lebendig.
Verkauft waren auch die Weinberge und die Olivenwäldchen mit Mann und Maus und Ziegenherden, die schmutzigen glutäugigen Kinder, unsere Spielgefährten aus der macchia – wir sahen sie nie wieder. Alles gehörte nun einem anderen padrone. Der kleine Weinberg im Valpolicella, der Leonidas Eltern gehörte, die zwei kleinen Olivengärten nördlich davon – das war alles, was uns geblieben war.
Seufzend saßen unsere Mütter im Dunkeln, denn wegen der Hitze waren die Fensterläden geschlossen; sie zogen beim Schein der Kerze die Nadeln mit den Silberfäden durch den knirschenden Stoff im Stickrahmen, schalten mit uns, murrten, raunten, vergossen Tränen. Vittoria, meine Mutter, die Herrin unseres Hauses, neigte dazu, halbe Tage auf dem Bett zu verbringen, einen Teller mit Süßigkeiten neben sich. Matt und träge, so blieb sie in diesem Sommer.
Meine Tante, die hochaufgeschossene zia Ornella mit der hellen, möwenhaft schrillen Stimme, bestritt bei ihren Gemeinsamkeiten meist das Gespräch, zog über die Dienstboten her, beklagte sich, dass ihr Mann Antonio mit der Mohrensklavin Catalin im Bett lag – aber, so erklärte sie mit gesenkter Stimme, eigentlich sei sie froh darüber. Der Eifer ihres Gatten wäre ihr nachgerade zu viel. (Wir lauschten an der angelehnten Tür, die Wangen gerötet.)
Was aber war geschehen? Warum hatte man die Villa verkauft? Hinter vorgehaltener Hand flüsterte uns der procurista unserer Väter zu: Vier Schiffe mit Porzellan aus dem fernen China und mit morgenländischen Spezereien, gemeinsam finanziert von den Gebrüdern Priuli, hatte man an die Türkenpiraten verloren … Es gab Verbindlichkeiten zu begleichen …
Wir stellten uns die Türkenpiraten in ihren Pluderhosen vor, mit Turbanen wie Bienenkörbe auf den Köpfen und riesigen Schnurrbärten, die krummen Dolche quer im Mund. Wenn Leonida damals schon gewusst hätte, was ihr dereinst begegnen würde – aber nein, dergleichen war unvorstellbar …
Wir langweilten uns auch in Venedig nicht in diesem Sommer. Das war uns nicht gegeben.
Es war das Jahr, in dem Leonida im Schrank ihres Vaters das Buch vom Rasenden Roland des Messer Lodovico Ariosto entdeckt hatte. Hingestreckt auf dem kühlenden Estrich unserer Zimmer, die Kleider bis zu den Schenkeln hochgeschoben, lasen wir uns gegenseitig die üppigen Liebesabenteuer von Angelica und Medoro vor und räkelten uns wie junge Katzen unter einer streichelnden Hand.
Nachts unter den verzierten Leinendecken, jede in ihrem Zimmer, erhitzten wir unsere kindlichen Körper mit Streicheln und Reiben bis zur Erschöpfung und schliefen mit glühenden Wangen ein, die Münder offen vor Sehnsucht nach Berührung. Am Morgen tauschten wir flüsternd unsere nächtlichen Erlebnisse aus. Wer hatte uns im Traum besucht? Einer der Paladine? Der schöne Maure Medoro oder gar Orlando, der Held, selbst, nackt unter der klirrenden Rüstung …?
Das gehörte zu den Freuden jenes Sommers. Dann jedoch fiel mir Dantes »Göttliche Komödie« in die Hände, und mit vor Entsetzen gesträubtem Haar las ich von der Pein der armen Seelen im Fegefeuer, die sich der Wollust hingegeben hatten. Aber meine Kusine, der ich das Buch zum Lesen gab, lachte mich aus.
»Ich glaube, Messer Dante war selbst einer von den Wollüstigen!«, sagte sie. »Lies nur, wie er die Liebesgeschichte von Francesca und Paolo beschreibt. Und seine Beatrice? Glaub mir, wie er von der redet, das war nicht nur himmlische Verehrung! Die vielfältigen Qualen endlich, die er sich ausgedacht hat für die verirrten Sünder – alles nur Fantasie des Dichters!«
Ich wollte ihr gern glauben, doch trotzdem ging ich zur Beichte. Als ich aber von dem Zeugnis ablegen sollte, was ich mit meinem Körper anstellte, da stockte mir die Zunge im Mund, und ich ging davon, ohne darüber gesprochen zu haben …
Im Winter darauf wuchsen uns die Brüste – meine klein und apfelrund, Leonidas spitz wie die Zitzen einer jungen Ziege. Wenn wir zusammen waren und die Mägde entfernt wussten, hoben wir unsere Röcke und zeigten uns gegenseitig das Haar, das uns im Dreieck zwischen den Beinen wuchs; bei mir blond und weich wie der Flaum eines Kükens, bei Leonida – ich beneidete sie – rötlich braun und kraus wie Petersilie.
Nie im Leben werde ich diese Stunden vergessen; in den Lichtstreifen, die durch die Ritzen der Fensterläden leckten, wirkten unsere Bäuche gestreift wie die Kirchen auf der terra ferma, dem Festland Venedigs, mit ihren schwarzen und weißen Marmorschichten. Leonida war wie immer die Kühne, sie spielte den Mann, berührte mit den Fingern die Rose zwischen meinen Beinen; die durchdringende Süße des Gefühls breitete sich in meinem ganzen Körper aus und trieb mir Tränen in die Augen.
Ich wagte mich nie so weit vor wie sie, überließ ihr die Führung und hatte allein meinem Mund Lizenz erteilt zu diesen Spielen, ich leckte ihre Brüste und küsste ihr die Lippen wund. Weiter berührte ich sie nicht. Oft verging so die Zeit bis zum Angelusläuten, wenn die Mägde uns zum Kirchgang riefen. Wir kamen sittsam mit gesenkten Augen hervor aus unserer verbotenen Siesta, unser Atem ging heftig und die Wangen glühten. Diese Hitze!
Damals gab es niemanden, der zwischen uns war. Es war vollkommenes Glück.
Leonida gelang es, aus dem Bücherschrank ihres Vaters, meines Onkels Antonio, noch eine weitere Lektüre zu entwenden, ein schmales Büchlein, das ganz hinten zwischen den Folianten versteckt war. Es enthielt die Sonette des Pietro Aretino.
Anders als die wilde Leonida, hatten mir diese frivolen Verse fast die Lust an unseren gemeinsamen Spielen geraubt. Die Gedichte zogen mich gleichzeitig an und stießen mich ab. Der Dichter benannte die Teile unseres Leibes, die uns Lust bereiteten, und all das, was Mann und Frau miteinander taten, mit den gröbsten und direktesten Namen der Gosse und formte dennoch aus diesem Schmutz Verse von edelstem Gleichmaß. Er machte mich schamrot und begierig zugleich.
»Bring sie nicht wieder mit!«, sagte ich zu meiner Kusine. »Ich mag sie nicht. Mir genügt, was in meinem Kopf wohnt. Dieser Mann ist unzüchtig.«
Leonida lachte. »Ganz wie du willst. Dann hab den Messer Aretino ich für mich allein nachts unter der Decke.« Wir sprachen nicht mehr darüber.
Der Verlust des Hauses im Veneto war der Beginn unseres Abstiegs. Der Karneval stand bevor und mit ihm ein wirklicher Kummer für uns Mädchen und unsere Mütter.
Madonna Ornella, meine Tante, Leonidas Mutter, war weinend und schreiend über die Brücke zu uns gelaufen: Die Türken, diesmal waren es reguläre Truppen, hatten die Insel Negroponte in der Ägäis eingenommen! Antonio, mein Onkel, hatte all seine Besitzungen dort verloren! Sein Stammkapital. Auch mein Vater hatte dort einige kleinere Liegenschaften gehabt, die nun fehlten.
Das hätte uns Mädchen wenig gerührt – was lag uns schon an Negroponte? Aber dann erfuhren wir die Folgen: Wir würden keine neuen Kleider zum Karneval bekommen, und nicht einmal den Schmuck würden uns unsere Väter nach der Mode neu fassen lassen! Wie schrecklich! Wie unausdenkbar!
Zia Ornella rang die Hände und steckte meine Mutter und mich an mit dem Geheul. Keine Bälle, keine Feste, keine Konzerte und keine Maskeraden. Als wäre dies schon alles, was ihr mit Negroponte verlorengegangen war!
Doch nicht am Karneval teilzuhaben, das war so gut wie schon gestorben. Weinend lagen sich die Frauen in den Armen.
»Und die Seidenbrokate aus China, die mein Mann auf Vorrat hat?«, fragte meine Mutter und hob ihr tränennasses Gesicht hoffnungsvoll der Schwägerin entgegen. Zia Ornella fing sich als Erste. Sie schnaubte verachtungsvoll durch die Nase.
»Die schimmeln in eurem Lager doch schon seit dem vorigen Winter! Du weißt doch, dein Marco hat sich verspekuliert. Die Seidenraupen, die die Florentiner züchten, spinnen billigere Fäden. Und erst die Muster – sie sind allesamt aus der Mode, in Florenz gibt es viel schönere Ornamente. Nein, niemals, Vittoria! Ehe wir uns Kleider aus diesem verjährten Zeug machen lassen, gibt es keinen Karneval!«
»Ach, wir Unglücklichen!« Meine Mutter stopfte sich eine ganze Handvoll Honigkonfekt in den Mund. (Sie war inzwischen so rundlich, dass der Schneider ihr neu hätte Maß nehmen müssen, wenn man ihn denn gerufen hätte.)
Ich lief zu meiner Kusine, dies Leid mit ihr zu teilen – aber Leonida war weit davon entfernt, zu jammern. Sie saß mit ihrer schwarzen Dienerin, der Moresca, zusammen und lachte mich aus. Die beiden hatten beschlossen, den Karneval dennoch zu feiern, vermummt, eingehüllt in eine bauta, einen großen Kapuzenmantel aus lackschwarzer Wolle, wie ihn die Mohrinnen anzogen, wenn sie sich bei Vollmond auf dem Lido trafen, und Leonida war bereit, mich mitzunehmen. Aber mein Mut verließ mich, so viel Heimlichkeit war mir nicht geheuer … und die schwarze Frau war mir noch nie geheuer und nicht geheuer war mir auch Leonidas wilder Ungehorsam an diesem Tag. Meine Kusine beachtete mich nicht und schmiedete weiter Pläne mit ihrer Moresca. (Später erfuhr ich, dass sie sogar auf dem Lido gewesen war …!) Und so feierte sie denn Karneval ohne mich und ich litt das erste Mal die Qualen des Verschmähtseins. Ausgestoßen sein! Allein sein! Ohne sie, die mein Ein und Alles war – und sie da draußen in irgendwelchen Abenteuern mit dem Mohrenweib, der Konkubine meines Onkels!