Die Wut, die bleibt

Cover

We are the kids that no one wants

We are a credible threat to the rules you set

A cause to be alarmed

We are not the names that we’ve been given

We speak a language you don’t know

And one day

All the walls will come down

(Rise Against)

Sie rauben uns alles, außer der Wut.

(Colectivo LASTESIS)

Lola zieht die Unterlippe nach vorne, hält sie mit Daumen und Zeigefingern wie eine Bauchspeckfalte, stülpt sie um. In der glänzenden Schleimhaut verbergen sich die blauen Adern wie dünne Würmer. Wenn es reißt, blutet das Lippenbändchen wie Sau. Das Zahnfleisch ist hellrosa und fest, gut verankert sind die Zähne. Lola könnte sie trotzdem herausbrechen. Mit einem Faustschlag, einer Zange, einer Eisenstange.

So schwer wäre das nicht.

Sie steht vor dem Spiegel, so nah, dass ihr Gesicht fast sich selbst berührt. Tippt mit dem Zeigefingernagel gegen die Zähne in der unteren Reihe, freut sich über das grausige Geräusch. Wie einen Hall im Kiefer spürt sie das Klopfen, dabei sind die Zähne quasi tote Teile. Und der Zahnschmelz das härteste Material im Körper. Aber: Es gibt was, das hält auch der Zahnschmelz nicht aus. Zu viel Säure. Bakterien. Einen Aufprall aus zwölf Metern Höhe.

Lola lässt die Lippe los, geht einen Schritt zurück, wie um Anlauf zu holen. Mit Wucht haut sie die Stirn gegen das Glas. Der Schmerz schießt über ihren Schädel in den Nacken. Krabbelt die Wirbelsäule hinunter. Im Mund schmeckt sie Kupfer. Ein Schneidezahn hat die Lippe mittig aufgerissen, Blut quillt hervor. Sie leckt es nicht weg.

Ein Schmerz, der nicht sichtbar ist, ist ein sinnloser Schmerz.

Das Handy vibriert. Das tut es seit THE END ununterbrochen. Lola entsperrt es nie, öffnet keine App, sammelt seit fünf Tagen die Nachrichten und Fragen und Emojis auf ihrem Display, wie einen Vorrat, wie Dämmwolle. Maschen in einem

Sie antwortet niemandem.

Klar heucheln alle Mitgefühl und sind in Wahrheit neugierig. Wollen ein Stück haben von der tragischen Geschichte. In der Nacht stellt sie sich vor, wie sie über sie reden.

Hat sie dir zurückgeschrieben?, fragen sie.

Mir auch nicht, sagen sie.

Lola bückt sich nach dem Shirt auf dem Boden, die Bewegung pusht den Schmerz in der Stirn. Vielleicht kriegt sie eine Beule, hoffentlich kriegt sie eine Beule. Eine richtig blaue. Das Shirt ist grau, sie trägt schwarze Baggy Pants, dazu einen Hoodie, fertig. Kapuze auf. Sie schaut erneut in den Spiegel, sie schminkt sich nie. Übermalt nicht die rötlich-pickligen Stellen, besitzt keine Wimperntusche. Die Augenringe sind krass. Die dunklen, schulterlangen Haare hat sie gekämmt, das muss genügen. Es gibt nur wenige Situationen, in denen die Gesellschaft Hässlichkeit erlaubt, und die heutige gehört dazu. Lola ist entschlossen, das auszunutzen.

Der Zorn ist groß wie ein Daumennagel und sitzt unter ihrem linken Rippenbogen. Dort wummert und drückt er, strahlt Hitze aus und wird nicht satt. Sie presst zwei Finger auf die Stelle, erst fest, dann fester. Fühlt sich an, als würde ein Organ in ihr brennen. Die Milz vielleicht. Oder was ist auf dieser Seite hinter den Rippen? Die Bauchspeicheldrüse. Auf jeden Fall nicht das Herz, ihr Herz schlägt unbeirrt weiter. Schlägt und hat keine Zickzacklinie in der Mitte. Was kümmert es ihren

«O-a!», ruft Lucius vor Lolas Zimmertür, ruft die Vokale einzeln betont, O, dann A, weil er ihren Namen noch nicht aussprechen kann. Er bumpert gegen das Holz mit den kleinen Händen, die ständig klebrig sind und immer warm. Lola wendet sich ab vom Spiegel und vermisst im selben Moment den Blick auf sich selbst. Sie schlüpft in die Bomberjacke, das ausgebeulte Teil mit dem abgeschabten Stoff, sie hat sie jeden Tag an. Das Handy schiebt sie in die Jackentasche, öffnet dann ihrem Bruder. Er stolpert herein mit seiner sabbernassen Fröhlichkeit. Glucksgeräusche macht er, umfasst ihr linkes Bein, legt die Wange an ihr Knie. Sie streicht ihm über den blonden Kopf, in ihm sitzt kein Zorn. Der wird erst wachsen, heimlich und hart wie ein Geflecht an einer Mauer. Und dann muss Lucius schauen, wie er klarkommt mit dem Trauma, das er umgehängt kriegt wie eine scheiß Medaille.

«Auf!», macht er und streckt sich, hat diesen bittenden Blick. Sie hebt ihn hoch, setzt ihn auf ihre Hüfte, die linke. Sein Körper ist jetzt direkt an ihrem Rippenbogen. Er besitzt keine schwarzen Sachen, also hat Johannes ihn in den dunkelblauen Skianzug gesteckt, der ihm an den Armen zu kurz ist. Es ist ein kalter Tag Anfang März, das geht noch. Lola berührt mit der Nase Lucius’ Schläfe und atmet ein, er riecht nach Wärme und Karamell und Zuhause. Dass seine Haut so neu ist, so unversehrt, macht ihr am meisten Angst. Er dreht den Kopf in ihre Kapuze hinein, blubbert erwartungsvoll. Weil sie manchmal

Sie drückt seinen Kopf weg und geht mit ihm aus dem Zimmer. Im Vorraum stehen Johannes und Maxi, warten stumm.

«Bereit?», fragt Johannes, er hat ein weißes Hemd und einen Anzug an, sogar eine Krawatte umgebunden, wie ein verhinderter Bankmanager sieht er aus. Aus Lola will ein Lachen brechen, das sie schnell zerbeißt, als sie sein ernstes Gesicht sieht. Er zieht die Augenbrauen hoch, möchte ihr Outfit kommentieren und kommentiert es nicht. Sie hat gewusst, er würde keine Kraft haben dazu. Dass sie blutet, fällt ihm nicht auf, seine Aufmerksamkeit geht nach innen, zu ihm selbst. Und wie er so arschlochmäßig fragt. Als könnte mensch jemals für so was bereit sein. Maxi greift nach Lolas Hand, beide Brüder nah an ihrem Körper, so gehen sie hinaus.

Im Auto schweigen sie. Maxi fragt nicht, wie sonst, nach einem Hörspiel, die Stille bohrt sich in Lola wie eine Stecknadel mit grünem Kopf. Ihr Atem fließt um den heißen Knoten unter den Rippen, kommt nie ganz in ihrer Lunge an.

Das Problem ist, sie hat die letzten Male nicht erkannt. Sie hat sie nicht markiert mit Erinnerungszeichen. Das ist das letzte Mal, dass Mama mir ein Schulbrot macht. Das ist das letzte Mal, dass Mama mir sagt, ich soll eine Mütze aufsetzen, draußen schneit es. Das ist das letzte Mal, dass Mama mir ein Pflaster aufs Knie klebt, obwohl ich es selber könnte, leise Heile, heile Gänschen singt und so tut, als wäre ich nicht längst zu alt für diese Art von Trost. Ohne die Markierung ist das alles von Lola weggeschwommen.

Nein.

Weggesprungen.

Der Kommunalfriedhof ist in der Nähe, die Fahrt zu kurz, um sich ein Gefühl zurechtzulegen für das, was folgt. Und so wird das jetzt immer sein. Dass Mama gar nicht weit weg ist.

Lola spürt, wie das Handy in ihrer Tasche vibriert. Zweimal, dreimal, durch den Stoff an ihren Bauch. Natürlich wird das aufhören. Das Schockierende wird verblassen, neuer Gossip wird aufblühen. Aber heute ist sie im Zentrum der Aufmerksamkeit, im Lavaschlund. Heute ist sie die mit der verrückten Mutter, die sich vom Balkon geschmissen hat ohne einen Grund.

Sunny steht vor dem Eingang wie eine, die nicht wartet. Sie kann das, sieht gechillt aus und trotzdem so, als würde sie sofort mitmachen bei irgendeinem Scheiß. Sie ist zu Lola gekommen jeden Tag, hat ihr die Schulsachen gebracht und Haschkekse und Umarmungen aus Gold.

«Mama hat mir geglaubt, als ich gesagt hab, ich mach da Oregano rein, italienisches Rezept», hat sie gesagt, und sie haben gelacht. In Lola hat es gestochen, weil alle ihre Sätze, die mit «Mama hat» anfangen, jetzt nicht mehr witzig sind. Sunny hat keine Fragen gestellt, Sunny wollte kein Stück haben von der tragischen Geschichte. Sondern bei Lola sein, ihr die Tränen abwischen und den Rotz, ihr eine Schulter bieten zum Anlehnen, kantig und schmal, stabil und warm. Sunny ist so eine, die gibt nicht nach. Sunny ist so eine, die fällt nicht um.

«Hast du dich ang’haut», sagt sie, als Lola vor ihr steht, und legt einen Finger auf Lolas Stirn. Sie umarmen sich wie zwei müde alte Menschen.

Die Blicke der Leute fallen auf Sunny, das ist immer so, und heute besonders. Lange rote Haare hat sie, grüne Augen, Sommersprossen, ein Fuchskind, ein Feuerwesen, und dazu die

«Ich schieb dich, okay», sagt sie, «und schau, Poffel ist auch da.»

Lucius drückt die Nase an den Igel aus Plüsch, steckt den Schnuller in den Mund und lässt sich anschnallen. Maxi steht daneben. Er hat kein Wort gesprochen, seit er Mama durch die Balkontür hat verschwinden sehen. Ist stumm geworden und steif. Lola dreht sich in ihrer gebückten Haltung vom Kinderwagen zu ihm. Er erträgt die Umarmung wie ein Handtuch, das ihm umgelegt wird, und ihr zieht etwas Scharfes durch den Bauch. Die Stelle unter den Rippen antwortet mit Hitze. Denn es war wirklich ein Verschwinden.

Mama hat sich nicht einmal umgedreht.

Sie gehen nebeneinander zur Verabschiedungshalle, Johannes schüttelt keine Hände. Es durften nur wenige kommen, Berührungen sind nicht erlaubt, stattdessen schubsen ihm die Leute Floskeln hin. Meinbeileid, soeinetragödie, wirsindfüreuchda, ihrkönntjederzeitanrufen. Und schießen Blicke hinterher. Herz-Emojis haben sie in den Augen, dahinter die Neugier.

«Glaubst du, die zerreißen sich nachher das Maul», sagt Lola zu Sunny.

«Wieso nachher», gibt Sunny zurück.

Den Sarg findet Lola nicht so schlimm. Das Bild aber schon. Auf dem Bild ist Mama eingerahmt von ihren dunklen Haaren, lacht wie eine, die gleich was Lustiges sagen wird. Alles an ihr ist Lola vertraut, und alles an ihr ist Lola fremd. Ihrem Blick auszuweichen, ist nicht möglich. Und dann das Weinen. Es kommt in Wellen, von vorne, hinten und der Seite, aufschluchzende Laute, unterdrückte Heuler. Uropa Helmut presst mit wackelnden Schultern sein Gesicht in ein Taschentuch aus weißem Stoff. Keiner mehr übrig von seinen Nachkommen außer Lola. Sie schaut nicht in seine Richtung.

Lucius ist im Kinderwagen eingeschlafen, Maxi steht sehr aufrecht neben Lola. Als Johannes nach vorn geht, um sich mit einer kurzen Rede von seiner Frau zu verabschieden, schiebt Maxi den Kopf unter Lolas Pullover, mit der Wange an ihrem Bauch. Vorn am Pult stammelt Johannes sich durch einen Berg aus Wörtern, und Lola duckt sich vor seinen suchenden Augen. Sie kann Maxis heißen Atem auf ihrer Haut fühlen.

«Kriegt der da Luft?», fragt Sunny.

Lola zuckt mit den Achseln, streichelt über Maxis schmalen Rücken. Dann gräbt sie die Zähne fest in ihre verletzte Lippe, saugt das Blut heraus wie Wasser aus nassem Moos.

Durch ihren Sprung hat Mama sie beschädigt, jede·n Einzelne·n in dieser kühlen, schmucklosen Halle. Ihr Aufprall hat eine ringförmige Erschütterung ausgelöst, Schockwellen, herumfliegende Splitter, hat alle verwundet, die sie gekannt haben. Und je näher eine·r dran war, desto größer die Verletzungen.

Dass Lola ganz nah dran war, näher geht es nicht.

Mamas beste Freundin Sarah lässt ein Lied spielen, das sie an ihre gemeinsame Jugend erinnert, und weint dann so, dass sie nicht sprechen kann. Es hat etwas Unwirkliches, ihr zuzusehen. Zwischen den Blumenkränzen und dem hellen Holzsarg schüttelt sich ihr Körper wie unter Elektroschocks. Lola macht kreisförmige Bewegungen auf Maxis Rücken, immer dieselben, im Rhythmus des Nineties-Beats. Was immer Mama und Sarah mit diesem Song verbinden, den ersten Joint vielleicht, die laue Luft einer Gartenparty, zu der sie ohne Eltern durften, einen alten Schwur, ist für niemanden zu sehen. Das Lied tanzt losgelöst im Raum wie eine Wolke aus Gestank.

Dann formen alle einen Zug, folgen der Toten, die vorausgetragen wird. Lola ist froh, von Mamas Bild wegzukommen, leichter atmen kann sie trotzdem nicht. Der Zorn ist jetzt nicht mehr groß wie ein Daumennagel. Sondern wie eine Walnuss. Sie zieht den Pulloverstoff von Maxis Kopf, er blinzelt. Im Herbst kommt er in die Schule, und Lola denkt an die Erstklässler·innen mit ihren Schultüten und an die stolzen Mütter, die sich vor dem Eingang versammeln werden.

Sie berührt das Smartphone in ihrer Tasche, lässt die Hand drauf, bis es wieder vibriert. Sarah schiebt den Buggy mit dem schlafenden Lucius, hat eine Sonnenbrille aufgesetzt und schwankt auf den hohen Schuhen. Die Knöchel ihrer Hände sind weiß, so fest hält sie den Griff des Kinderwagens, und Lola ist neidisch. Sich festhalten zu können, wäre gut, egal, wo.

«Ich würd mich voll auf die Fresse legen», murmelt Sunny mit Blick auf Sarahs schwarze High Heels, und gegen ihren Willen muss Lola lachen. Erschrickt über das Lachen, verschluckt sich daran und hört abrupt damit auf, hustet leise. Sie zieht frisches Blut aus dem Riss in ihrer Lippe und stellt sich vor, dass

Sie kommen bei dem frischen Loch an, in das Mama hineinsoll, in Gruppe 7, gleich hinter den Kriegstoten. Da steht es auf einem Schild: Gruppe 7. Und rundherum die anderen Gräber.

Auf dem matschigen Boden liegen Eicheln vom letzten Herbst. Über einen Grabstein flitzt ein Eichhörnchen. So ist das, erst ist eine am Leben, dann liegt sie in Gruppe 7. Hat ausgeschlagene Zähne und einen aufgeplatzten Kopf und ein Sterbedatum. 1. März 2021. Sagt nichts Lustiges mehr, klebt keine Pflaster mehr, schmiert keine Schulbrote und singt nicht mit dieser kratzigen, aber irgendwie schönen Stimme. Der Trauermarsch hält an, die Luft um Lola herum wird unerwartet dick.

«So ein Friedhof ist wie ein Ort ohne Zeit», sagt Sunny, doch das ist nicht wahr.

Er markiert vielmehr eine neue Zeit. Eine Zeit ohne Mama.

Lola hebt den Arm, aber nicht für einen letzten Gruß. Sie schiebt Jacke und Pullover hoch, legt den Unterarm an den Mund, presst die Zähne gegen die Haut, beißt zu, erst sehr fest, dann noch fester.

Jede gute Geschichte fängt damit an, dass jemand etwas Unerwartetes tut, das sein Leben entscheidend verändert. Und doch ist das, was Sarah macht, auf den ersten Blick naheliegend. Sie bäckt einen Kuchen. Sie kann nicht länger fernbleiben, sie muss hin, und nicht mit leeren Händen. Es gibt Regeln, einen sozialen Kodex, was Besuche angeht und Gastgeschenke, man kann sie brechen, ja, aber nicht in einer solchen Situation. Wer Trauernde aufsucht, überreicht ihnen Anteilnahme in greifbarer Form. Sie hat darüber nachgedacht, auf dem Weg zu Helenes Wohnung bei einem Supermarkt stehen zu bleiben, Brezen zu kaufen oder einen fertigen Gugelhupf, ein paar Äpfel, Bananen, Orangen, sie in ihrem Fahrradkorb zu transportieren mit der gebotenen Vorsicht, aber was wäre das schon wert. Die paar Euro, die ein solcher Einkauf kostet, würden an den Opfergaben haften wie ein Etikett. Nein, es muss etwas Selbstgemachtes sein, es muss ein gewisses Maß an Bemühen drinstecken, an Zeit und gutem Willen.

Überhaupt hat sie viel nachgedacht, hat Gedanken gedreht wie dicke Schnüre, und mehr als einmal hat sie sich verheddert in dem Dickicht aus Ratlosigkeit, Sehnsucht, antwortlosen Fragen.

Siebenmal hat sie heute bereits das Smartphone in die Hand genommen, um Helene anzurufen oder ihr zu schreiben, siebenmal. Die Gewohnheit ist ein alter Hund, sitzt in ihr wie ein Reflex, lässt ihre Finger schneller sein als ihren Verstand. Nach dem Aufstehen und Duschen die eingetroffenen Nachrichten durchzugehen und Helene etwas zu schicken, die

Jedes Mal, wenn Sarah ihr Handy nimmt, um Helene etwas zu erzählen, ist der Schmerz aufs Neue frisch und sauber.

Ihre Freundschaft reicht so weit zurück, wie eine Freundschaft nur zurückreichen kann. Sie haben sich im Kindergarten kennengelernt, sind gemeinsam durch die Schulzeit und das Studium gegangen und auch in jenen Zeiten in Kontakt geblieben, in denen sie in verschiedenen Städten lebten. Fast vierzig Jahre, und jedes Jahr ein weiterer Tropfen Kleber, der sie verbunden hat, deshalb hat Sarah gedacht, diese Freundschaft wäre unlösbar.

Leon kommt in die Küche, Sarah lässt die Rührbewegung betont locker aus dem Handgelenk fließen. Er wird nicht

Leon geht zum Kühlschrank und nimmt eine seiner Energydrink-Dosen heraus. Sarah verharrt abwartend, weil sie nicht weitermachen kann, ohne einen Blick auf das Rezept auf ihrem Tablet zu werfen, aber nicht will, dass Leon das mitbekommt.

«Was wird das?», fragt er mit diesem Murmeln, das seinen Äußerungen etwas Schlurfendes gibt. Er spricht oft leise, am Anfang hat sie das interessant gefunden.

«Ich fahre zu Helenes Kindern», antwortet sie.

«Ist der glutenfrei?» Er lächelt.

«Nein, aber du kannst trotzdem mitkommen.»

«Ach, da will ich nicht stören», meint er und hat diesen Ich-würde-ja-gern-aber-ich-muss-arbeiten-Blick. Im Endeffekt ist niemand so undurchschaubar und geheimnisvoll, wie er glaubt. Nach über einem Jahr Zusammenleben kann Sarah sehr gut Leons Gesicht lesen.

Und wie praktisch, nicht wahr, dass die Menschen ein System geschaffen haben, in dem Arbeitenmüssen über allem steht. Männer können zum Beispiel nicht zu einer Beerdigung mitgehen, weil sie arbeiten müssen. Männer können im Haushalt nicht so viel übernehmen, weil sie arbeiten müssen. Und Männer können ihrer Frau, die mit drei Kindern im Lockdown sitzt, nicht helfen, weil sie arbeiten müssen.

Sarah rührt weiter im Teig und senkt den Kopf. Wer weiß, was Leon sonst in ihrem Gesicht lesen kann. Er öffnet die Dose mit einem Knacken, trinkt einen Schluck und drückt

«Ist mit ihnen alles okay?», fragt er und meint vielleicht gar nicht nur die Kinder.

Ganz nah steht er bei ihr, riecht so gut und normal, riecht wie immer, und Sarah nimmt es ihm übel. Dass er ein Statist sein darf, der sich in Betroffenheit übt, während er weiterhin täglich duscht und Sport macht und nicht dieses Loch in sich drin hat, das gurgelnde Traurigkeit ausspuckt und Schuldgefühle. Aus seiner Berührung wird eine halbe Umarmung, die schief bleibt, weil Sarah die Teigschüssel nicht loslässt.

«Nein», sagt sie, dann nichts mehr.

Was bezweckt er mit so einer Frage, was will er hören? Denkt er, sie hat passende Worte für das Wundgescheuerte, soll sie es in verständliche Sätze packen für ihn, es schön portionieren in erträgliche Einheiten? Sie atmet gegen seine Brust und wartet, dass er sich abwendet, aber als er es tut, ist sie enttäuscht. Leon streicht noch einmal über ihren Oberarm, vielleicht lächelt er, sie sieht nicht hin. Dann geht er aus der Küche. An Sarahs Wange klebt der süße Geruch des glukosehaltigen Getränks, und sie bäckt gar nicht für Helenes Kinder. Sondern für Helene. Als Hommage an diesen niemals zur Sprache gebrachten Unwillen, mit dem man sich in die Küche stellt, um etwas zu produzieren, das andere essen werden.

Als der Kuchen im Ofen ist, stellt sie den Timer ein und räumt die Utensilien in die Spülmaschine. Im Bad tupft sie Concealer unter die Augen, trägt noch mal Mascara auf.

Die Backofenuhr piepst, Sarah holt den Kuchen aus dem Rohr. Zum Auskühlen stellt sie ihn auf die Terrasse. Molly nutzt die Gelegenheit, um hinauszuhuschen in den Garten. Sarah sieht ihr nach und dann hinüber zur Bürotür, Leon hat

«Wir könnten es uns schön machen», hat er gesagt und die Fingerspitzen an die Stelle unter ihrem Ohr gelegt, ein leichtes, erregendes Kitzeln. Sie hat so getan, als müsse sie darüber nachdenken. Dann hat sie eingewilligt mit fingiertem Zögern, wie eine, die man erobern muss. Dabei war die Sache klar, warum sollte sie Nein sagen zu einem Kerl, der zehn Jahre jünger ist, verdammt gut aussieht und sofort nach dem Sex ein zweites Mal kann?

Niemand, am allerwenigsten Sarah, hat geglaubt, dass das andauern würde, weder die Pandemie noch die Beziehung. Im Sommer aber, als die Lockerungen kamen, hatten sie sich aneinander gewöhnt, einen Rhythmus gefunden oder vielleicht einfach den Zeitpunkt verpasst, dieses überlange Sexdate zu beenden.

«Wenn man es durchhält, wochenlang zusammen eingesperrt zu sein, hält man alles durch», sagt Sarah seither gern. Das ist einer dieser Sätze geworden, die sich verselbstständigt haben, obwohl er möglicherweise nicht einmal wahr ist.

Helene hat ihr zu Beginn des ersten Lockdowns viel Vergnügen gewünscht mit diesem heiseren Lachen, das auf erheiternde Art sexy war und in dem all das mitschwang, was sie Seite an Seite erlebt hatten, sämtliche ersten Male, die es gibt in einem Leben. Sie hat Leon nicht gekannt, zuerst konnten sie einander ja nicht treffen, und im Sommer war Helene auch ohne Shutdown besetzt und eingeteilt und verpflichtet, zwei Schulkinder, neun Wochen Ferien und ein zehn Monate altes Baby. Sarah wollte Leon nicht mitnehmen ins Freibad zu Helene und den Kindern, wollte ihn nicht mit Helenes Augen

Im zweiten Lockdown im Winter 2020 hat Helene keine anzüglichen Witze mehr gemacht. Sie hat auch nicht mehr gefragt, wie es weitergehen soll, was Sarah plant, sie hat den Mund gehalten. Denn in einer so engen Freundschaft ist es unmöglich, etwas zu sagen und etwas anderes zu meinen, weil man jeden Tonfall kennt und die Mimik entziffern kann wie einen mit Geheimtinte verfassten Brief.

Jetzt klingt Helenes Schweigen anders. Als sei nicht sie es gewesen, die keine Fragen mehr gestellt hat, sondern Sarah.

Es ist früher Nachmittag, Sarah verstaut den Kuchen in ihrem Fahrradkorb und schlüpft in den Mantel. Sie hinterlässt eine Nachricht für Leon auf der Küchenarbeitsplatte. Als sie erneut alle zu Hause bleiben mussten, hat er sein WG-Zimmer gekündigt. Wozu sollte er Miete bezahlen, wenn er ohnehin immer bei Sarah war? Und während sie sich zu Beginn ein unverbindliches Gspusi vorgestellt hatte mit einem attraktiven

Auf dem Weg nach Salzburg Süd hält sie ihr Gesicht in die Sonne. Die Luft hat sich verändert, macht den Winter zur Erinnerung, auch wenn es noch kühl ist. Schon hat man das Gefühl, dass er gar nicht so lang gedauert hat, dass alles nicht so schlimm war. Da recken sich die ersten Schneeglöckchen, da kommt Bewegung in die Natur, auf dem Radweg bloß der Streusplitt, kein Eis mehr. Jeder einzelne Krokus, der neben den schmutzigen Schneeresten wächst, ist ein eigenes Sinnbild der Hoffnung. Und deshalb ist es besonders hart, jemanden im Frühling zu begraben.

Du hättest doch warten können, würde Sarah gern zu Helene sagen, ein bisschen nur. Wir dürfen ja bald wieder raus. Es wird einen Impfstoff geben. Die Sonne kommt zurück. Die Kinder wären irgendwann groß geworden. Du hättest nichts tun müssen außer warten, wie schwer wäre das gewesen?

An der roten Ampel wischt sie sich die Tränen ab, ihre Handschuhe saugen sie auf. Beim Bio-Supermarkt, wo früher das Schuhgeschäft war, biegt sie ein, und hier, versteckt hinter den Hauptstraßenfassaden, stehen die Wohnblöcke. Sie sehen alle gleich aus bis auf die Farben, mit denen sie angestrichen sind, eine hässlicher als die andere. Früher hat Helene zentraler gewohnt, zusammen mit zwei Studienkolleginnen und Sarah. In ihrer Erinnerung ist diese Wohnung ein wilder Haufen aus selbst getöpferten Tassen, Spitzenhöschen, Joints und sozialwissenschaftlichen Fachbüchern, sie haben ständig Joni Mitchell gehört, über dem Esstisch hing das berühmte Bild von Susan Sontag in der schwarzen Lederjacke. Auf Lola haben sie abwechselnd aufgepasst. Dann hat Helene Johannes kennengelernt, die Jungs kamen zur Welt, und es gibt in dieser

Sarah stellt das Rad ab, nimmt vorsichtig den Kuchen, den sie in Alufolie gewickelt hat. In der Siedlung ist es ruhig, gleich muss sie am Balkon vorbei. Sie macht einen Bogen, einen Umweg, über den Asphalt vor dem Haus kann sie nicht gehen. Hinschauen will sie auch nicht, aber ihr Kopf schnellt von selbst zur Seite. Da muss sie gelegen haben. Helene mit dem gelben Tupfen in ihrer linken Iris, Helene mit den rauen Fingern, den knubbeligen Zehen. Helene, die beim Autofahren immer Kaugummi gekaut hat, die mit dreizehn «Sie altes Schwein» zum Physiklehrer gesagt und sich als Einzige über ihn beschwert hat, Helene, die Filmemacherin werden wollte, unbedingt. Das Gefühl in Sarahs Brust ist so kalt, dass sie den Kuchen zum Schutz an sich drückt, die Folie knistert.

Mit schwerem Herzschlag steht sie vor der Haustür, in ihrer Tasche liegt der Schlüssel. Sie besitzt ihn aus Gründen der Sicherheit, sollte Helene sich einmal aussperren, und hat angefangen, ihn zu benutzen, als Maxi ein Baby war. Denn damals war es für Helene umständlich, aufzuhüpfen und mit dem brüllenden, der Brustwarze beraubten Baby zur Tür zu kommen. Und später, als Maxi laufen gelernt hatte, war jedes Mal, wenn Helene die Tür öffnete, irgendein Scheppern im Hintergrund zu hören gewesen, dann ein Heulen. So hat es sich eingespielt, dass Sarah sich selbst in die Wohnung gelassen hat, Helene wusste ja, wann sie kommen würde, und jetzt legt Sarah den Finger auf den Klingelknopf. Im Aufzug riecht es nach Waschmittel und saurem Gemüse, sie hält die Nase an ihre Schulter gepresst. Helene hatte einen wunderschönen Busen, auch nach drei Schwangerschaften. Sarah hat sie darum beneidet, weil ihre eigene Oberweite zu groß ist, zu

Die Aufzugtür öffnet sich, alle drei Kinder schauen sie an. Sarah hält den Kuchen vor sich wie die Trostspende, die er ist. Johannes lehnt im Türrahmen, in seinem Blick flammt Erleichterung auf.

«Ich habe gebacken», sagt Sarah und registriert in Sekundenschnelle die Details. Den blauen Fleck auf Lolas Stirn und ihre kaputt gebissene Lippe, dass Maxi seinen Pullover verkehrt herum anhat und Lucius sich die Augen reibt, bestimmt hat er mittags nicht geschlafen. Wie sie da stehen zu viert, macht für Sarah umso deutlicher, dass sie nicht vollständig sind. Dass eine Abwesenheit zwischen ihnen ist.

«Das wollte ich euch nur rasch vorbeibringen», erklärt sie und überreicht Johannes das Folienpaket mit einer plötzlichen Hast, will es loswerden.

«Schokolade», sagt sie noch, es klingt erstickt.

«Lade!», ruft Lucius begeistert.

«Danke», sagt Lola und lächelt nicht.

«Kommst du herein», fragt Johannes und macht einen Schritt zur Seite, «und isst ein Stück mit uns?»

Er ist unrasiert und hat einen Saucenfleck auf dem Shirt, Eltern kleiner Kinder haben immer Saucenflecken auf ihren Shirts, wie ein Erkennungszeichen sind die. Alle vier sehen Sarah erwartungsvoll an, als erhofften sie sich etwas von ihr. Sarah weicht mit trockenem Hals zurück, der Lift geht sofort auf, als sie den Knopf berührt.

«Ich muss noch», sagt sie.

Der Hausflur ist grau und beige, das Treppengeländer abgegriffen, und es wird stockdunkel, wenn das Licht ausgeht. Bewegungsmelder gibt es keine, oft ist Sarah gestolpert über die

Die Aufzugtür schließt sich mit einem Rucken. Auf dem Weg nach unten presst Sarah die Hände so fest auf die Augen, dass sie weiße Punkte in der schmerzenden Finsternis sieht. Sie trägt immer noch die Handschuhe und denkt an die Kindergesichter, Lolas auf Augenhöhe, die von Maxi und Lucius weiter unten, alle bleich, wachsartig.

Nie geht es um das, was da ist, stets geht es um das, was fehlt. Und das Schlimme ist, dieses neue Fehlen, das bleibt jetzt. Sie lässt ihre Gedanken nach Hause wandern, zu Leon und seiner geschlossenen Bürotür, der umherstreifenden Katze. Mit dem rechten Ellbogen will sie die Eingangstür aufdrücken, bleibt stehen.

Kurz vor dem Abendessen hat sie mit Helene telefoniert.

«Ich muss aufhören», hat Helene gesagt, «die Kartoffeln sind durch.»

Siebenunddreißig Jahre Freundschaft, und das ist der letzte Satz, an den Sarah sich erinnern kann. Die Kartoffeln sind durch.

Sie dreht sich um, betritt erneut den Lift. Den Geruch nimmt sie nicht mehr wahr. Sie zieht die Handschuhe aus, schiebt sie in die Manteltasche. Sie hat nie darüber nachgedacht, dass das Haus hoch genug ist, um tot zu sein, wenn man runterspringt. Dass der Balkon keine richtige Brüstung hat, nur so eine dünne Platte, hüfthoch.

«Tante Sa-a!», ruft Lucius, wundert sich nicht, dass sie weg war und wieder da ist. Sein Mund ist schon voller Brösel, die Finger auch.

«Ein Stück Kuchen geht immer», sagt Sarah zu Johannes, «ich muss ja wissen, ob er schmeckt.»

Jede gute Geschichte fängt damit an, dass jemand etwas