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Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg

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Umschlaggestaltung Anzinger | Wüschner | Rasp, München

 

 

Impressum der zugrundeliegenden gedruckten Ausgabe:

 

 

ISBN Printausgabe 978-3-463-00730-4

ISBN E-Book 978-3-688-10072-9

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-688-10072-9

Fußnoten

Die hier knapp skizzierten Überlegungen zum Thema ›Rezeption der Antike in Deutschland‹ habe ich andernorts ausführlich entwickelt: Antiquierte Antike? Perspektiven eines neuen Humanismus in: Republikanische Reden. Kindler-Verlag München 3. Aufl. 1977, S. 41 bis 58.

Vgl. hierzu Bruno Snell, Die Entdeckung des Geistes, Studien zur Entstehung des europäischen Denkens bei den Griechen, Hamburg3 1955.

Vgl. »Das Problem des Klassischen und die Antike«, acht Vorträge, gehalten auf der Fachtagung der klassischen Altertumswissenschaft zu Naumburg 1930, Berlin und Leipzig 1931, vor allem Helmut Kuhn, »Klassisch als historischer Begriff«, S. 109ff.

Wolfgang Schadewaldt, Iliasstudien, Abhandlungen der sächsischen Akademie der Wissenschaften 43, Leipzig 1938.

Karl Reinhardt, Sophokles3, Frankfurt/Main 1948.

Vgl. zur Datierung Anm. 9.

Die Übersetzung folgt der Übertragung von Droysen. Siehe »Aischylos, Tragödien und Fragmente«, übertragen von Johann Gustav Droysen, durchgesehen und eingeleitet von Walter Nestle, Kröners Taschenausgabe Band 152, Stuttgart 1939.

Vgl. hierzu Bruno Snell, Aischylos und das Handeln im Drama, Philologus Suppl.-Bd. XX 1928, S. 14.

Wobei zu berücksichtigen ist, daß der Späher schon einmal, V. 39ff., kurz aufgetreten war.

Diese Datierung folgt dem Papyrus Ox. Pap. XX nr. 2256 fr. 3, in dem – es handelt sich um eine Didaskalie – Aischylos’ Danaidentetralogie zusammen mit Sophokles und dem Tragiker Mesatos genannt wird. Mit Recht haben Davison (Classical Review 1953, S. 144) und Lesky (Hermes 1954, S. 1ff.) darauf aufmerksam gemacht, daß Zweifel an der Papyrusnotiz nicht legitim seien und daß alle Ausweichversuche, wie Annahme einer postumen Aufführung oder Hypothese, das Drama sei früh geschrieben, aber erst spät aufgeführt worden (in diesem Sinne noch Pohlenz in der zweiten Auflage seiner »Griechischen Tragödie«, Göttingen 1954, Band 2, S. 22ff.), ins Reich der Fabel gehörten. Mit dem Papyrus wird endgültig erwiesen, was die stilistische Interpretation (Walter Nestle im Gnomon 1934, S. 413 [in diesem Band oben S. 81ff.] und in der von ihm herausgegebenen Aischylos-Übersetzung Droysens a.a.O. S. 117ff.) längst ergab: die ›Hiketiden‹ gehören nach den ›Sieben gegen Theben‹ in die sechziger Jahre, wahrscheinlich sogar, wenn man in der ersten Papyruszeile den Namen Archedemides ergänzen darf, in das Jahr 463.

Dazu Bruno Snell, Aischylos und das Handeln im Drama, a.a.O. S. 59ff.

Hier gilt es natürlich daran zu denken, daß die ›Hiketiden‹ erstes Stück einer Trilogie mit gleichem durchgehendem Thema sind, während die ›Perser‹ ein »Einzelstück« darstellen und die ›Sieben gegen Theben‹ am Schluß einer Trilogie stehen.

Es ist charakteristisch, daß Orest, ähnlich wie der Wächter im ›Agamemnon‹, den Zuschauer schon vor dem Auftritt des Chors über die Wahrheit unterrichtet.

Der ›Prometheus‹, der auch unter dem Gesichtspunkt des Aufbaus in entscheidenden Punkten von den aischyleischen Stücken abweicht, wird absichtlich außer acht gelassen.

Walther Ludwig, Sapheneia, Ein Beitrag zur Formkunst im Spätwerk des Euripides, Dissertation Tübingen 1954.

Die Vorherrschaft des Geistigen, die Dominanz der Interpretation, tritt bei Euripides noch deutlicher hervor als bei den älteren Tragikern. Vgl. dazu Albin Lesky, Die tragische Dichtung der Hellenen, Göttingen 1956, S. 209.

Am Ende der griechischen Tragödie steht nicht die Darstellung der Katastrophe, sondern die sich aus ihr ergebende Konsequenz: wohin mit Oidipus? Was wird aus Polyneikes? Nicht die Realität selbst, sondern ihre Interpretation beschließt das Trauerspiel.

Kurt v.Fritz, Euripides’ Alkestis und ihre modernen Nachahmer und Kritiker, Antike und Abendland, V., 1956, S. 27ff. Vgl. dazu auch Karl Reinhardt, Die Sinneskrise bei Euripides, Die neue Rundschau 1957, S. 646: »… es wird uns schwer gemacht, die Lösung ernstzunehmen … Ist die Heilung (im Orest) darum so absurd, damit sich das Theater selbst durchstreiche? Der Schluß zeigt, wie es sein sollte – und nicht ist.«

Kurt v.Fritz, a.a.O. S. 64.

Der »Schauspielcharakter« des euripideischen Dramas, das Fluktuieren zwischen tragischem Pathos und faunischer Burleske gibt dem letzten Dramatiker seine Modernität. Zeitgenössische Varianten – Thornton Wilders, Marie Louise Kaschnitz’, Erwin Wickerts und Ernst Wilhelm Eschmanns Alkestis-Fassungen, Anouilhs Medea – bezeugen das deutlich.

Vgl. dazu G. Zuntz, The Political Plays of Euripides, Manchester 1955.

Die Troerinnen erscheinen unserem Jahrhundert – vor allem in den Bearbeitungen Werfels und Sartres – nicht zufällig als das erste vom Geist des humanistischen Pazifismus geprägte Drama Europas.

Walter Zürcher, Die Darstellung des Menschen im Drama des Euripides, Schweizerische Beiträge zur Altertumswissenschaft, Heft 2, Basel 1947.

Zürcher, a.a.O. S. 181f.

Lesky, a.a.O. S. 165: »Der Dichter hat das weite Land der menschlichen Seele gut gekannt und wohl gewußt, daß Haß und Liebe, Wildes und Zartes darin ihren Platz sehr nahe nebeneinander haben können. Und gerade in der Gestaltung des rational Unvereinbaren bewährt sich Euripides als größerer Seelenkünder denn mancher Moderne, der individuelle Seelenbilder peinlich um eine feste Mitte formt. Die Wirkung dieser Medeia auf die Jahrtausende beruht nicht zuletzt darauf, daß in ihr Gegensätzliches zur Einheit gebunden ist.«

Vgl. Lesky, a.a.O. S. 211, außerdem Reinhardt über die Götter und den letzten »Sinn« der euripideischen Tragödie, a.a.O. S. 619.

Vgl. dazu die umsichtig-kluge Deutung von Hans Diller, Die Bakchen und ihre Stellung im Spätwerk des Euripides, Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Jg. 1955, Nr. 5.

Die Anspielungen dieses Dialogs beziehen sich auf Brechts in den Anmerkungen zur Oper »Magagonny« entwickeltes Schema: episches – dramatisches Theater.

Anmerkungen

Über die epische Struktur des griechischen Dramas vgl. Kurt von Fritz, »Antike und moderne Tragödie«, Berlin 1962, S. VII ff. Zum Thema vgl. jetzt auch Käte Hamburger, »Von Sophokles zu Sartre, Griechische Dramenfiguren antik und modern«, Stuttgart 1962.

Vgl. hierzu Kurt von Fritz, Euripides’ Alkestis und ihre modernen Nachahmer und Kritiker, in »Antike und moderne Tragödie«, a.a.O. S. 256ff.; Karl Reinhardt, »Die Sinneskrise bei Euripides«, Die neue Rundschau 1957, S. 646, und Walter Jens, »Euripides«, Einleitung der sämtlichen Tragödien, Stuttgart 1958, S. XIV ff.

Ich folge hier den Thesen von Klaus Joerden, »Hinterszenischer Raum und außerszenische Zeit, Untersuchungen zur dramatischen Technik der griechischen Tragödie«, Diss. Tübingen (Masch.-Schr.) 1960.

Vgl. hierzu wiederum die Beobachtungen Joerdens a.a.O.

Arbeiten meiner Schüler sollen zeigen, daß die griechische Tragödie nicht minder »stereotyp« war als das Epos. Bestimmte Situationen (z.B. die Hikesie) verlangten bestimmte sprachliche Formeln, die jederzeit parat waren – nur deshalb konnten die Tragiker in jedem Jahr eine Tragödie schreiben. Zum Hikesie-Topos vgl. die Analyse des »Ödipus auf Kolonos« von Hans Werner Schmidt, Diss. (Masch.-Schr.) Tübingen 1961.

Eine Arbeit meines Schülers Bernd Seidensticker wird die – höchst überraschenden – Beziehungen zwischen den beiden Ödipus-Dramen aufzeigen und den Nachweis erbringen, daß der »Ödipus auf Kolonos« tatsächlich in vieler Hinsicht als »Fortsetzung« des Ödipus Tyrannos’ geplant worden ist.

Ein Topos: Konkretisation des Beredeten. Die Worte tasten den Umkreis ab, ehe das Bild selbst erscheint – Ödipus mit den blinden Augen, der erwachende Ajas, Alkibiades, der, als Personifikation der Liebe, die Reden über den Eros beendet.

Thomas Mann, »Unterwegs« in: »Bemühungen«, Berlin 1925, S. 259.

Hofmannsthal nennt (»Andreas oder die Vereinigten«, Gesammelte Werke in Einzelausgaben: Die Erzählungen, Frankfurt/Main 1949, S. 234) Venedig »eine Fusion der Antike und des Orients«. Vgl. dazu Karl J. Naef, »Hugo von Hofmannsthals Wesen und Werk«, Zürich und Leipzig 1938, S. 316f., und Walter Jens, »Hofmannsthal und die Griechen«, Tübingen 1955, S. 125f.

Ernst Robert Curtius, »Hofmannsthal und die Romanität«, Die neue Rundschau 40, 1929, S. 659.

Vgl. Karl Kerényi: »Romandichtung und Mythologie. Ein Briefwechsel mit Thomas Mann«, Zürich 1945, S. 83: »Den Psychopompos als wesentlich kindliche Gottheit gekennzeichnet zu sehen, mußte mich freuen: es erinnert mich an Tadzio im ›Tod in Venedig‹.« (Thomas Mann am 18. Februar 1941 an Karl Kerényi.) Zur Bedeutung des Hermetischen bei Thomas Mann vgl. auch Beda Allemann, »Ironie und Dichtung«, Pfullingen 1956, S. 137ff.; außerdem Walter Pabst, »Satan und die alten Götter in Venedig, Entwicklung einer literarischen Konstante«, Euphorion 49, 1955, S. 335ff.

Vgl. Thomas Mann: »Über die Ehe« in: »Die Forderung des Tages«, Bln. 1931, S. 171: »Wo der Begriff der Schönheit obwaltet, da büßt der Lebensbefehl seine Unbedingtheit ein. Das Prinzip der Schönheit und Form entstammt nicht der Sphäre des Lebens …« Einzelnes zu dem Verhältnis von Schönheit und Tod im Werk Thomas Manns in dem wichtigen Buch von Hans Albert Maier: »Stefan George und Thomas Mann. Zwei Formen des dritten Humanismus in kritischem Vergleich«, Zürich, 2. Aufl. 1947, S. 64ff.

Die Entwicklung Aschenbachs liegt darin, daß sein »tiefer und geistiger Widerstand« um so stärker schwindet, je mehr er sich an »die Form als Gottesgedanken« verliert. Eine »tiefe Instinktverschmelzung« läßt ihn die platonische Unterscheidung von Körperlichem und Geistigem nicht mehr sicher erkennen und über den sinnlichen Dingen (die er als Voraussetzung begreift, um intellektuale Wesenheiten zu schauen) den Auftrag des Geistes vergessen. Beide, der Tod in der Gestalt des Wanderers mit den gekreuzten Beinen und die Schönheit in der Maske des polnischen Knaben: Hermes und Eros erweisen sich als gleich verführerisch.

Vgl. u.a. Hermann Gundert, »Enthusiasmus und Logos bei Platon«, Lexis II, 1 (1949), und Hellmut Flashar, »Der Dialog Ion als Zeugnis platonischer Philosophie«, Diss. (Masch.-Schr.) Tübingen 1954, S. 155ff.

»Das zitathafte Leben, das Leben im Mythus, ist eine Art von Zelebration; insofern es Vergegenwärtigung ist, wird es zur feierlichen Handlung …« Vgl. zum Problem der ständigen »Präsenz« der mythischen Zeit (im Gegensatz zur ›realen‹ Zeit) auch Hellmut Brunner, »Zum Zeitbegriff der Ägypter«, Studium Generale, 8. Jahrg., Heft 9, 1955, S. 584ff., eine Arbeit, die vor allem für die Auffassung der mythischen Re-präsentation der »Joseph«-Tetralogie viel hergibt.

Vgl. vor allem Bruno Snell, »Mythos und Wirklichkeit in der griechischen Tragödie«, Die Antike 20, 1944, S. 115ff. Außerdem Wolfgang Schadewaldt, »Zu Sappho«, Hermes 71, 1936, S. 363ff.; Karl Kerényi, »Vom Wesen des Festes«, in: »Die antike Religion«, Düsseldorf/Köln 1952, S. 45ff., und »Romandichtung und Mythologie« a.a.O. S. 71ff. – Gerade an Zeugnissen der griechischen Literatur, vor allem an der frühgriechischen Lyrik, läßt sich das von Thomas Mann mit einem Hinweis auf Ortega y Gasset dargestellte Verhältnis des antiken Menschen zur Tradition besonders deutlich zeigen. Die Besinnung auf den Mythos nimmt dem perönlichen Erleiden das Moment des Ungewöhnlichen. Das Exempel der mythischen Analogie schützt vor schuldhafter Isolation.

Einen genauen Vergleich zwischen Joseph und Krull zieht Inez Diller in ihrer auch für unser Thema außerordentlich bedeutsamen Studie, »Thomas Mann: Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull«, Mädchenbildung und Frauenschaffen, 6. Jahrg. Febr. 1956, S. 74.

Beim Tennisspielen trägt Krull die »beflügelnden Schuhe« (»Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull« a.a.O. S. 392). Eine überraschende Parallele im »Zauberberg« weist Inez Diller a.a.O. S. 78 nach: auch der Skifahrer Castorp trägt, »wie Mercurio«, »Flügelschuhe«! Das gleiche gilt übrigens von Eliezer (in der »Joseph«-Tetralogie): »beflügelten Fußes« – und mit beflügeltem Hütchen! – bewegt er sich über die Erde.

Vgl. hierzu die höchst überraschende Charakteristik, die Klaus Mann, der Sohn, seinem »Felix«, Gustaf Gründgens, gibt: »Die erste Begegnung mit Gustaf bleibt mir unvergeßlich. Mit dem Elan eines neurotischen Hermes drang er in unser Hotelzimmer ein. So leichtfüßig war sein Gang, daß man nicht umhin konnte, seine etwas abgetragenen, aber doch irgendwie sehr schicken Sandalen mit mißtrauischem Blick zu streifen. Gab es dort keine Flügel? Nein; auch war es kein antikes Göttergewand, was ihm da mit edler Nachlässigkeit um die Schultern hing, sondern nur ein ziemlich schäbiger Ledermantel.« (Klaus Mann: »Der Wendepunkt«, S. Fischer Verlag, o.O., 1952, S. 173.) In der Tat: das Götterkind mit der Maske mag in der Familie des Dichters so etwas wie ein Hauspatron, ein schelmischer Behüter von Schönheit und Geist, gewesen sein.

Vgl. in diesem Zusammenhang die Hermes-Auffassung Theodor Däublers. Auch für Däubler ist Hermes die Zentralgottheit; er »hat die Sprache gebracht. Der Neugierige wollte Unterredung mit uns«. (Hierzu Walter Jens, »Theodor Däubler – der letzte Grieche«, »Die Zeit« 17. 1. 57.)

Meinem Lehrer

Bruno Snell

 

 

Meinen Kollegen und Konfratern

Richard Kannicht

Ernst-Richard Schwinge

 

 

Meinem Schüler und Freund

Wilfried Barner

Vorwort

»Herodot, Xenophon, Thukydides, Demosthenes und der göttliche Platon, Homer, Cornelius Nepos, Caesar, Livius, Sallust, Tacitus, Ovid, Vergil, Catull, Horaz … nimm eine Geschichte der Kultur, der Wissenschaft, der Kunst, der Literatur zur Hand – diese Namen leuchten darin. Seit Jahrtausenden leuchten sie, und sie werden noch Jahrtausende leuchten. Lernst du sie nicht kennen, du wirst sie nie kennenlernen. Du verlierst Unendliches fürs ganze Leben. Wie gern hätte ich jetzt meinen Vergil, Horaz, Homer, Sophokles, Platon hier. Wie lebendig sind mir viele horazische Oden wieder geworden, sie kommen nachts – in den langen, langen Nächten und leisten mir Gesellschaft – wie glücklich wäre ich, wäre mein Schatz an solcher Kenntnis zehnmal größer, lessingsch groß«: Das sind Sätze aus einem Brief, den ein Strafgefangener aus der Haftanstalt an seinen Sohn schreibt, um ihn vom Sinn und Nutzen der Klassiker griechisch-römischer Provenienz zu überzeugen. Sätze, die ein Mann formuliert hat, für den – dies hat ihm die Grenzsituation seiner Inhaftierung gezeigt – Platon und Catull zum eisernen Bestand gehören: zum Unveräußerlichen und Unverzichtbaren. Sätze von Karl Liebknecht.

Liebknecht und Ovid, der Revolutionär und die homerischen Epen: Wie kommt das zusammen? Wer so fragt, verkennt die Tatsache, daß die antiken Klassiker für die literarische Avantgarde im Deutschland des neunzehnten Jahrhunderts den Charakter von Nothelfern hatten: Am Beispiel der Griechen hat Hegel verdeutlicht, wie, jenseits von Despotismus und bürgerlicher Privatheit, republikanische Freiheit aussehen könnte, hat Marx, der Aischylos-Leser, gezeigt, welche Struktur ein Gemeinwesen haben sollte, in dessen Bezirken es dem Menschen möglich ist, nach dem Maß der Schönheit zu formieren, hat Wilhelm von Humboldt die »einzige eigentlich gesetzmäßige Verfassung in Griechenland« beschworen.

Graeca sunt, non leguntur: Das ist eine Devise, in deren Bannkreis sich ein großes imaginäres Gespräch erfinden ließe – ein Disput, den die Gräkomanen von Humboldts oder Marxens Schlag gegen die Verteidiger der Römer ausfechten müßten: Friedrich Nietzsche allen voran. Bis in die Mitte des letzten Jahrhunderts hinein, man kann es nicht oft genug sagen, hatte die Geisterbeschwörung der Jakobiner und Republikaner in Deutschland oppositionellen Charakter: mit den Alten gegen die -ismen des ancien régime, den Territorialismus, den Feudalismus, den Romanismus, den Klerikalismus und für nationale Einheit, bürgerliche Verfassung, kulturelle Souveränität und allgemeine Aufklärung.

Lang, lang ist’s her. Nach dem Debakel von 1848 begann sich – erst langsam, dann rapide – die Funktion der Humaniora im Bildungswesen zu wandeln. Was einst, nach dem Willen der Neuhumanisten, zur Beförderung eines demokratischen Unterrichtswesens dienlich sein sollte: das Studium der Antike wurde mehr und mehr zum Privilegium einer machtgeschützten Elite. Hatten die Republikaner in der ersten Jahrhunderthälfte, durch die Beschwörung des ganz Anderen und Besseren, Wert auf Distanz zur bestehenden Ordnung gelegt, hatten das Freiheits-Reich der Kunst, des Spiels und schönen Scheins dem Obrigkeits-Staat gegenübergestellt, das »so war’s einmal« und »so könnte es sein« dem »so ist es«, hatten, auf Emanzipation des Bürgertums bedacht, nach oben hin argumentiert, so kämpften, in der zweiten Jahrhunderthälfte, die auf die Einheit von Bildung und Besitz pochenden Bourgeois mit umgekehrter Frontstellung. Bestrebt sich nach unten hin abzugrenzen, von den Volksschul-Plebejern und den Realschul-Banausen des Kleinbürgertums, stellten die Anwälte der klassischen Bildung die Humaniora in den Dienst der Macht. Wer Griechisch und Latein konnte, »gehörte dazu« und war aufgenommen in den Kreis jener konservativen Elite, die sich als »geistiger Generalstab« verstand, »der durch die Schulen von Hellas und Rom hindurchgegangen« sei – aufgenommen in den Zirkel der upper ten, wo man Kultur gegen Zivilisation und hellenische Paideia gegen das Unterrichtswesen im Zeitalter der Vermassung ausspielte: das Humanistische Gymnasium als Hort eines Geistes, durch den legitimiert und ideologisch geweiht sich, im Bereich der Macht, trefflich Politik auf Kosten des Volks machen ließ.

Vergangen und vorbei, auch dies: Heute, in einem Augenblick, wo Bildung unter dem Diktat der Zwecke und der Zwänge steht (wozu dient das? wem nützt es? was ist damit anzufangen?), ist das Studium des Altertums zu einem Geschäft von Glasperlenspielern geworden: Die entente cordiale zwischen den Rechten (die ihren Hegel vergessen) und den Linken (die von Marx und Liebknecht nichts wissen) hat der Beschäftigung mit der Antike den Charakter einer Kloster-Arbeit gegeben … und das ist, wie die Dinge im Augenblick stehen, nicht einmal das Schlechteste. Im Kloster hat schon mancher überlebt und in der Zelle jene auf dem Markt nicht mehr gefragten Güter bewahrt, die sich plötzlich, wenn der Wind sich dreht, als eiserner Bestand erweisen (unverzichtbarer Vorrat in Liebknechts Sinn), ohne den es wohl Existenz, aber kein Leben mehr gibt: Wenn alles nur Augenblick und Unmittelbarkeit ist – ein von der Hand in den Mund leben, dann wird es, da der Blick auf das »nächste Fremde« und den »vertrauten Kontrast« des Antiken verstellt ist, zumindest erschwert sein, das schlechte Wirkliche in kritischer Opposition zu transzendieren.

Die in diesem Band gesammelten (teils gedruckten, teils noch unpublizierten) Studien, eine Reihe von Abhandlungen und Essays, ein Reisebericht, eine Erzählung, ein imaginäres Gespräch, zwei Fernsehspiele und eine Übersetzung … diese Studien sollen zeigen, wie viel, das sei mit aller Nüchternheit gesagt, verloren geht, wenn in den »langen, langen Nächten« jene Überlieferung nicht mehr verfügbar ist, deren produktive, zum Selbst- und Besser-Machen herausfordernde Aneignung (so hat Lessing die Beschäftigung mit der Antike verstanden) der Literatur bis in unsere Tage hinein (ein Name für viele: Heiner Müller) ein Plus an Tiefenschärfe und Verweiskraft gegeben hat, an Evokation der nahen Ferne, die Gegenwärtiges mitbedeutet … ein Plus, das nicht leichtfertig verspielt werden sollte.

»Wir würden noch in der Barbarei leben, wenn nicht die Überreste des Altertums in verschiedener Gestalt vorhanden wären«: Wer den Appell-Charakter antiker Texte bedenkt, die ungebrochene, zur Konkurrenz zwingende Herausforderung, wird den anno 1830 formulierten Goethe-Satz so unrichtig nicht finden. Auch und gerade heute nicht.[*]

Essays

Die griechische Literatur

Wer die griechische Literatur zu klassifizieren sucht, muß, aus vier Gründen, besonders vorsichtig sein. Zuerst: da die Griechen in den Wissenschaften und Künsten jene Modelle erdachten, an deren Perfektion wir noch heute arbeiten, ergibt sich leicht eine fatale Vertraulichkeit, ein Identifizieren und spielerisches Vergleichen: sind »Damals« und »Heute« nicht ähnlich, war in Griechenland nicht schon alles vorhanden, fragt der Betrachter, von der poetischen Chiffre bis zur Fach-Terminologie? Schien nicht selbst die christliche Religion vorgebildet zu sein – Paulus auf dem Areopag, Ödipus als präfigurierter christlicher Märtyrer, der »katholische Charakter der griechischen Tragödie« (W. von Schütz)?

Auf der anderen Seite sucht man, nicht minder extrem, Nietzsches Warnung vor der impertinenten Familiarität beherzigend, zwischen »Hellas« und »Hesperien« gewaltsam zu trennen, griechische Denkweisen als fremd, widerchristlich und ganz und gar eigen zu zeigen: wie könnte man glauben, heißt es, das Hellenische recht zu erfassen, wenn man mit Vokabeln wie »Das Böse« oder »Die Sünde« operiere, während die Griechen doch nur »Das Schlechte« oder »Den Fehler«, Worte ohne moralische Fixierung, kannten?

Die zweite Schwierigkeit: auch der Kenner entgeht nicht leicht der Gefahr, das Überlieferte mit der griechischen Literatur zu verwechseln. In Wahrheit ist die Auswahl willkürlich: von pädagogischen Gesichtspunkten geleitet, dem Aristotelischen Zielbestimmungs-Gedanken folgend, wollte man schon zur Zeit der Spätantike vor allem jene Werke erhalten, in denen, wie man meinte, eine Gattung »ihre eigene Natur fand«. Darüber hinaus war der Gesichtskreis der Zensoren nicht gerade weit: allen Kompilationsinteressen, aller sammelnden Gelehrsamkeit zum Trotz suchte man gerade in einer Zeit, da die koine, das Allerweltsgriechisch, Straßen und Foren beherrschte, die attische Prosa mit dem Signum der Klassizität zu versehen (»Attizismus«). Vom ersten vorchristlichen Jahrhundert über die Hadrians-Ära und die Epoche der zweiten Sophistik (zur Zeit der Antonine) bis zum Ausgang der Antike, bis zur Schließung der Platonischen Akademie, 529 n. Chr., und, im gleichen Jahr, der Eröffnung des Benediktinerklosters auf dem Monte Cassino, entschied der Attizismus, rigoros und pathetisch, über Gedeih und Verderb der griechischen Literatur.

Wer bedenkt, wie manches bedeutsame Zeugnis der klassizistische Purismus nicht des Tradierens für wert befand, wird die von »romantischen« Gesichtspunkten bestimmten Auswahl-Prinzipien beklagen – doch zugleich bedenken müssen, daß agonale Sichtungen und gnadenlose Siebungen seit eh und je dem griechischen Wesen entsprachen: Wettkampf allüberall, und nur einer kann siegen; nur einer, der Finder, stößt auf das Geheimnis der Form, er-findet nicht, sondern entdeckt ein Prä-Existentes, befreit es aus der Hüllung des Steins, hebt die Gestalt aus dem Gefängnis des Marmors, löst das Hexametermaß aus dem Sprachfleisch heraus … und diesem Mann gilt es zu folgen, seine Errungenschaften muß man kunstreich verwandeln – auf keinen Fall eine zweite Schöpfung, mit der ersten rivalisierend! War einmal der Grundstein gelegt, dann hielt man in Griechenland zäh und entschlossen am Gegebenen fest, sprach von kanonischer Geltung und vergaß das tastende Versuchen des Beginns … SOPHOKLES, nicht Thespis; HOMER, nicht die Kykliker; THUKYDIDES, nicht Hekataios: der Klassiker, nicht der Schöpfer ist der Finder.

Nachdem das Verborgene ans Licht gekommen war, konnte man nur noch im Detail variieren; die großen Linien waren, bis in den Dialekt hinein, fixiert: das Epos blieb jonisch, das Chorlied dorisch, die Liedkunst äolisch, Drama und Geschichtsschreibung attisch. Wie winzig erscheint uns Heutigen die Spanne zwischen AISCHYLOS und EURIPIDES! Doch ist das ein Wunder? Die Norm war nun einmal bestimmt, der Bezirk umgrenzt, den die Nachfolger im Zeichen des Agons immer vollkommener einzufassen suchten. In Zeiten, da es gut um die Künste steht, heißt es bei Valéry, kann man sehen, wie sie sich Schwierigkeiten schaffen, die nur Geschöpfe ihrer Einbildung sind … und sich den Gebrauch der Fähigkeit untersagen, mit sicherem Griff im Augenblick alles machen zu können, was in ihrem Wollen liegt.

»Selbstbeherrschung« heißt das Zentralgebot der griechischen Klassizität – deshalb die Anerkennung der Normen, die Repetition auf vorher bezeichnetem Feld, deshalb Agon und Polemik, Invektiven, die von jedermann zu beurteilen waren, da Stoff und Regel, Mythos und Grundstruktur als bekannt gelten konnten. Noch die groteskeste Variation (Antigone als Schäfermädchen von Haimon versteckt, Orest und Aigisth als Verbündete), noch die verzerrende Paratragödie der Komödie weist auf das Urbild zurück.

»Originalität« war, sieht man von den Erfindungen der Komödie ab, durchaus verpönt – AGATHONS Fabel-Erfindung scheint eine Ausnahme gewesen zu sein –; und eben deshalb konnte man immer vergleichen und mochte es, als Freund des Agon, nicht für ungebührlich halten, wenn ein Autor auf seine Vorgänger einhieb, um das Eigene desto sichtbarer zu demonstrieren: so kämpfte, im Theogonie-Prooimion, HESIOD gegen HOMER (spätere Zeiten ließen die Dichter im Agon einander begegnen), so ARISTOPHANES gegen EUPOLIS, so, noch viele Jahrhunderte später, POLYBIOS gegen TIMAIOS. Einer gegen alle – deshalb die sphregis, das »Siegel« in der Lyrik, deshalb die Parabase der Komödie.

Kurzum, wenn der Agon, der Wettstreit, als konstitutives Prinzip des Kosmos erscheint (»monologische« Formen gab es erst im Hellenismus), wenn Götter gegen Götter und – nach ANAXIMANDER – Elemente gegen Elemente kämpfen, wenn sich, bei KORINNA aus Tanagra (um 500 v. Chr.), der Kithairon und der Helikon, bei KALLIMACHOS (ca. 305 – 240 v. Chr.), im vierten Iambos, Lorbeer und Ölbaum befehden, dann wird der Betrachter, um ein Prinzip der griechischen Dichtung wissend, auch den streitlustigsten Attizisten Abbitte tun, zugleich freilich bedenken, daß antike Kanonisierung die Perspektive denn doch gehörig verzeichnet: HOMER und SAPPHO begannen nicht jenseits des Nichts; ein AMEIPSIAS, dessen Komasten die Preisrichter – sicherlich nicht durchweg dumme Leute! – über die Vögel des ARISTOPHANES stellten, mag so wenig wie der Tragiker AGATHON von den klassischen Dramatikern durch einen Abgrund getrennt sein. Kurzum, die Überlieferung trügt; Aristotelische Entelechie-Erwägungen haben das Bild nicht anders als attizistische Dogmen und didaktische Spekulationen – die Erfordernisse der Schule! – verzerrt.

Die dritte Schwierigkeit. Nachdem man jahrhundertelang die griechische Autochthonie, das Eigenständige hellenischer Praktik verklärte, droht das Pendel heute nach der anderen Seite hin auszuschlagen. Ist man nicht allzusehr geneigt, wie einst zu Zeiten Novalis’ und Creuzers, das Hellenische »vom großen Orient aus« zu betrachten, den Raum zu erweitern und, wie der späte Hölderlin oder der Autor der Ägyptischen Helena, hinter dem Griechischen Bezirke Asiens heraufdämmern zu lassen? Östliche Kosmogonien überschatten das vorsokratische Denken, HESIOD (um 700 v. Chr.) erscheint als kunstreicher Verwerter hethitischer Mythen, und der Mathematiker THALES (um 600 v. Chr.) greift auf ägyptische Archetypen zurück. Rückt eine solche Betrachtungsweise nicht die Eigenart des Griechischen: lernend zu verwandeln, aus praktikablen Modellen wissenschaftliche Systeme, aus Geschichten stringente Gleichnisse zu machen, nur allzu langsam in den Blick?

Die vierte Schwierigkeit. Wir sprechen von der hellenischen Literatur als von einer sehr hohen Kunst (von der Volkskunst wissen wir so wenig wie von den fabulösen Vorstufen der Gattungen), und dabei identifizieren wir einmal »Literatur« mit »Poesie« und bedenken zum anderen nicht, daß unser Begriff »Kunst« im Griechischen kein Äquivalent hat – techne heißt Handwerk, der homerische Sänger steht neben dem Zimmermann und dem Arzt, der Poet gehört einer Zunft an, ist Gildengenosse, sein Können vererbt sich – Aischylos’ Sippe! – vom Vater auf den Sohn, seine Praktiken können, als Technik, durch Preis und Richterspruch gebilligt oder verworfen werden: als ein »Macher« stellt sich der griechische Dichter im Agon der Kritik; nur ein Scharlatan wie der Rhapsode Ion sucht, bei Platon, mangelndes Können durch den Hinweis auf göttliche Gaben zu tarnen.

Mag sich der Poet auch, aus Gründen der Legitimation, auf die Musen berufen, seine Dichtung ist niemals reine Selbstaussprache, sondern immer auch Anruf und Lehre; die Grenzen zwischen reiner Poesie und Didaktik, Vision und Analyse sind fließend: Privates wird, im Mund des Chors, objektiviert; lyrische »Stimmung« verflüchtigt sich im starr-responsorischen Rhythmus; Persönliches gewinnt im dialogischen Akt den Charakter der gnome; SAPPHO trägt persönliche Erfahrungen – Schöner als Reiter und Schiffe ist das in Liebe Ersehnte – objektiviert als Maximen und Sentenzen vor.

Wo also endet die Poesie und wo beginnt die Lehre, wo ist der Trennungsstrich zwischen Bild und Gedanke? Wird die griechische Antike nicht gerade durch die Verschränkung von Wissenschaft und Kunst geprägt? Von dem Philosophen PARMENIDES (um 500 v. Chr.) bis zu dem Astronomen ARAT von Soloi (315 – 239 v. Chr.) analysiert man die schwierigsten Fragen im Hexametermaß; die Baumeister und Bildhauer, POLYKLET und IKTINIOS, nehmen zu Fachfragen Stellung; SOLON (um 600 v. Chr.) legt Rechenschaft in Distichen ab; THUKYDIDES (ca. 455 – 398) ist, ungeachtet der strengen Methodik, auch ein Meister der Szene; welcher Autor, von Boccaccio und Defoe bis Camus, erreichte, bei der Beschreibung der Pest, die farbenreiche Sprache des attischen Historiographen? PLATON (427 – 347 v. Chr.), die Beispiele ließen sich häufen, war Systematiker und Mythenbildner, Zeichner des Tugendsystems und Schöpfer des Höhlengleichnisses zugleich; SOPHOKLES (497–406 v. Chr.) auf der anderen Seite führte, im Chorlied, eine »philosophische« Auseinandersetzung mit der Sophistik (das Stasimon Ungeheuer ist viel als Protagoras-Replik!); EURIPIDES (ca. 480–406 v. Chr.), ein erster poeta doctus, wurde zum Lehrer der Zeit; durch MENANDERS (ca. 343 – 293) Masken tönten die Maximen des Peripatos, der aristotelischen Schule.

Vom Epos zur Tragödie

Epik – Lyrik – Drama: HOMER und HESIOD (um 700); Iambos, Elegie, Melik und Chorlyrik (7. bis 5. Jahrhundert); Tragödie und Komödie (5. Jahrhundert), der Dreischritt der frühgriechischen Literatur, die Entwicklung von der Ilias bis zum Schwanengesang der Tragödie, dem Ödipus auf Kolonos, liegt offen zutage. Doch wie zögernd öffnet sich der Vorhang, wie spät setzt unser Wissen ein: tausend Jahre Licht zwischen HOMER und PLOTIN, und davor mehr als tausend Jahre Dunkel, von der indogermanischen Einwanderung bis zur Niederschrift des Verses: Vom Zorn des Achilleus künde mir, Göttin. Alles, was vor Homer, vor der Zeit geschah, da man jene griechische Buchstabenschrift erfand, die uns zuerst das 8. Jahrhundert bezeugt, verliert sich in der Dämmerung. Düstere, mit der dorischen Wanderung (um 1200 v. Chr.) verbundene Zeitläufe, tote Jahrhunderte, machen es unmöglich, die Brücke zwischen der kretisch-mykenischen und der griechischen Kultur, zwischen einer Epoche, in der man nach Troja aufbrach, und jener anderen, in der man den Aufbruch anachronistisch und archaisierend beschrieb, mit Zuversicht und Evidenz zu schlagen.

HOMER: das ist, ungeachtet künftiger Neufunde in der Linear B (der heute wahrscheinlich entzifferten griechisch-minoischen Silbenschrift des 2. Jahrtausends), für uns immer noch ein Gipfel jenseits des Nichts, eine Summe, deren Teile niemand kennt. Ilias und Odyssee sind die Zeugen früher Klassizität: während die Epiker, Verfasser von Zyklen, gemeinhin Historien schilderten, Chroniken verfaßten und Handlungsabläufe beschrieben, ordnete HOMER, ein erster genialer »Finder«, die Geschehnisse – leitmotivisch, raffend und verkürzend – mit Hilfe eines gliedernd-strukturierenden »Problems« und führte so das Epos »zu seiner eigenen Form«. Hier der Zorn und dort die Irrwege, hier der tragische Groll und dort die unselige Heimfahrt: zum erstenmal in der europäischen Literatur werden vielschichtige Zusammenhänge aus der Perspektive eines isolierten Helden betrachtet.

Das Generalthema der griechischen Dichtung klingt schon im frühesten Kunstwerk, der Ilias, an: Vereinzelung und Schuld. Im gleichen Augenblick, da die Hellenen die Züge des Individuums zeichneten, beschrieben sie seine Ambivalenz, seine Größe, die es so tief fallen, seine Isolation, die ihm Profil gibt und es schuldig sein läßt: von HOMER bis SOPHOKLES, von ANAXIMANDER bis EURIPIDES die Darstellung des principium individuationis, die Analyse des tragischen Gegensatzes von Selbst- und Weltverwirklichung, das Interpretieren einer Un-geheuerlichkeit, die, nach griechischer Auffassung, das Wesen des Menschen bestimmt.

HOMER freilich beschreibt Individuen, ohne als einzelner selbst in Erscheinung zu treten. Die Berufung auf die Muse genügt, um ihn zu legitimieren; nur sehr allmählich kommt das Subjekt des Schreibenden ins Spiel. Bei HOMER ist die Göttin sehr groß, der Dichter, als Spiegel und Medium, klein; aber schon HESIOD läßt die Mädchen von Helikon Wahres, doch auch Falsches verkünden; Schein und Sein sind zu trennen; die Deutung ist Sache des Menschen; SOLON fordert, Homer umkehrend, die Göttinnen auf, ihn zu hören; PARMENIDES macht sich selbst auf den Weg, der Wahrheitsschwelle entgegen: die Muse wird zum literarischen Emblem.

Dennoch, so sehr sich Ilias und Odyssee, so sehr sich die homerisch-jonische Adelswelt und der böotische Bauernkosmos eines HESIOD voneinander unterscheiden: der Dichter bleibt in einer festen Gesellschaftsordnung geborgen; der Raum ist in der Vertikalen und Horizontalen, theologisch und soziologisch, in gleicher Weise gegliedert. Erst auf dem Scheitel des siebenten Jahrhunderts tritt ein Mann, ARCHILOCHOS von Paros, als ein einzelner den anderen gegenüber, fordert die Welt in die Schranken und nennt seinen Namen.

Während die Zeit sich rapide verwandelt, der Äon der Kolonisation, von Sizilien bis Ägypten, beginnt, und die Geldwirtschaft den Handel mit Naturalien ersetzt, während die Tyrannen eine präfigurierte Demokratie schaffen, zerfallen die überindividuellen Gesetze der alten Standesgesellschaft: Recht, dike, nicht Ansehen, time, erscheint von nun an als Leitwort. Anders als für Achilleus, der, dem Adelskodex entsprechend, seinem Gegner Agamemnon vorwirft, er habe ihm die Ehre und die Geltung geraubt, gibt es für den Vertreter des lyrischen Zeitalters, für ARCHILOCHOS, nichts Schändlicheres als die Verletzung der Gerechtigkeit.

Der Raum erweitert sich: time ist der Zentralwert einer Klasse, das unbezweifelte Ideal der Ilias-Anakten, dike hingegen gilt allüberall, verpflichtet den König nicht anders als den Proleten, den Herrscher so gut wie den Sauhirten, den Mächtigen in gleicher Weise wie den Geschlagenen.

Schon in der Odyssee, wo Odysseus im Namen der Gerechtigkeit die Freier ermordet, macht sich der Wandel bemerkbar – erscheint der Zyklopen-Staat nicht wie eine Parodie der Ilias-Welt, Polyphem als Zerrbild eines reisigen Fürsten? –; aber erst HESIOD gibt der dike die Würde eines Prinzips: die Herrschaft der Gerechtigkeit ist von nun an identisch mit dem Walten des Zeus.

Auch der Vertreter des lyrischen Zeitalters, das um 700 beginnt und sich bis zur Klassik erstreckt … auch der isolierte, im Zustand der Ohnmacht sich selbst findende Dichter, SAPPHO, ARCHILOCHOS, ALKAIOS, entdeckt am Ende die verlorenen Gesetze aufs neue. Mag auch der einzelne seine Eigenwelt errichten, und, wie Sappho, die Liebe schöner finden als Reiter und Fußvolk, mag die Homerische Identität von Gutsein, Schönsein, Rittertum und Erfolg zerbrechen, mag Archilochos dem gestriegelten Feigling den krummbeinigen Haudegen gegenüberstellen und damit die revolutionäre These verkünden: ein Häßlicher kann tapfer und ein Schöner feige sein; mag der gleiche Archilochos die Clan-Normen mit Füßen treten, die da lauten: kehre mit deinem Schilde oder, wenn du gefallen bist, auf deinem Schilde zurück; mag er seinen Schild, der nicht länger mehr ein mythisches Symbol, sondern ein Gebrauchsgegenstand ist, von sich schleudern – an der Weltordnung rütteln die Lyriker, die, liebend und leidend, ihre Individualität verkünden, darum noch nicht: das Verlorene wird wiedergefunden, die Gerechtigkeit eines ewigen Wechselns als Lebensgesetz analysiert.

Lyriker und Denker, Poeten und jonische Wissenschaftler, die Zeugen des 7. und 6. Jahrhunderts, stellen die gleiche Frage: Was erhält die Welt? (Dem »Was bin ich?« der Lyriker entspricht das »Was war im Anfang?« der milesischen Philosophie.) Die Antwort lautet: das Recht allein gewährleistet Stabilität, nur es verbürgt den Ausgleich der Extreme in einer ordnenden Mitte. ANAXIMANDER, SOLON, ARCHILOCHOS, ALKMAION bedenken, so betrachtet, das gleiche Problem. Dike, das Recht, ist an keinen Raum, aber – und dies ist die neue Entdeckung – auch an keine Zeit gebunden. Zeus straft nicht im Jähzorn; oftmals fällt das Recht erst die Kinder und Kindeskinder der Schuldigen an.

Raumerweiterung und Zeitvertiefung, Loslösung von einer Klasse, Entfernung vom Augenblick, Verabsolutierung: das sind die geistigen Errungenschaften der Jahrhunderte zwischen Homer und der Klassik. Erkennt man die Pendelbewegung? Das Zentrum liegt zunächst im kleinasiatischen Kolonisationsraum; hier ist HOMERS Reich, hier liegt Milet, die Heimat der Philosophie und Wissenschaft, hier waltet jonischer Erfindungsgeist, jonische Seefahrerfreude an Expeditions-Resultaten, hier, im Inselreich der Kykladen, erwächst die eigentliche Lyrik: melische Poesie, Inkarnation äolischer Kunst. Dann, im 6. Jahrhundert, der Umschwung zum Westen: Elea und Kroton, PYTHAGORAS’ Spekulationen und PARMENIDES’ Beschwörung eines unveränderlichen Seins auf italischem Boden, Mystik und Kalkulation, Reinkorporationsgedanken, doch auch Meditationen über Zahl und Gestalt, dazu die Chorlyrik des Westens, STESICHOROS und IBYKOS, endlich, schon im 5. Jahrhundert, von Tyrannen gefördert, die Inthronisation der sizilianischen Dichtung: Mimos und Beredsamkeit, PINDAR, BAKCHYLIDES und AISCHYLOS an Hierons Hof.

Vom Osten zum Westen, vom Westen ins attische Zentrum, von dort an die Peripherie, nach Alexandria, Pergamon und endlich nach Rom … das ist der »Rhythmus«, dem die griechische Poesie folgt. Jahrhundertelang bleibt das Mutterland im Schatten der Kolonialkunst; die Zeugnisse sind spärlich: HESIOD aus Böotien, der Athener SOLON, TYRTAIOS in Sparta, PINDAR, der Thebaner, … das sind einzelne Namen, Spätlinge, ja – Pindar! – Reaktionäre, gemessen am jonischen Geist, und doch Vorboten der großen mutterländischen Kunst, die, auf Attika konzentriert, um 500 mit der Inauguration des Dramas beginnt. Der Philosoph ANAXAGORAS verläßt seine jonische Heimat und wird zum Bürger Athens … das erscheint wie ein Symbol. Von AISCHYLOS bis DEMOSTHENES, von THEMISTOKLES bis PHILIPP VON MAKEDONIEN, von HERODOT bis THEOPOMP, von SOPHOKLES bis ISOKRATES, von ANAXAGORAS bis ARISTOTELES beherrscht Athen, das Zentrum Griechenlands, jenes Zeitalter, das mit Marathon (490 v. Chr.) begann und mit dem Siegeszug des jungen Alexander (334–323 v. Chr.) endete.

Lyriker und Philosophen hatten die Welt in der Weite des Raums und der Tiefe der Zeit bewohnbar gemacht; der Wechselschlag von ate bis tisis, Verblendung und Vergeltung, war im naturwissenschaftlichen und humanen Bereich analysiert worden; die Milesier hatten, denkend und experimentierend, thesenreich und chronikalisch zugleich, die Vielfalt der Erscheinungen auf Grundprinzipien reduziert; Individuum und Kosmos, Ich und Es, Mensch und Gott waren in gleicher Weise charakterisiert. Jetzt, um 500, kam es auf die Synthese an, auf die demonstrierte Begegnung der Pole, auf sichtbaren Austausch und auf Objektivierung der Individualitäten; das Persönliche wollte typisiert, das Überindividuelle anschaulich gestaltet sein. Auf dem Scheitel der griechischen Geschichte, im Augenblick einer letzten großen Zusammenfassung, eine Sekunde vor dem Zerfall der politischen Ordnung, zog die Tragödie, generalisierend und in Spiel und Gegenspiel veranschaulichend, die Summe der Vergangenheit.

Von der Polis zum Weltreich

Klassik: das ist der Moment des Gelingens, die Bezeichnung einer Vollkommenheit, die nicht aus sich selbst, sondern nur durch eine Konturierung von außen, durch die Beschreibung des »Davor« und »Danach« erklärbar ist. ARISTOPHANES wußte darum, als er in den Fröschen Aischylos und Euripides zu Protagonisten bestimmte und die Mitte, das Sophokleische Werk, gleichsam ausklammerte. Nur sehr zögernd wollen sich die Elemente zusammenfügen, die den Geist dieses Jahrhunderts ausmachen, das die Geschichte Europas wie kein anderes bestimmt hat; nur höchst vage läßt sich eine Zeit bezeichnen, deren Profil am deutlichsten in den Thukydideischen Perikles-Reden erscheint.

Konzentration, Sammlung der Kräfte an einem winzigen Punkt heißt das erste Gebot griechischer Klassizität: nicht Milet und Tarent, Klazomenai und Syrakus, sondern athenische Polis, Theater, Agora, Akropolis. Ist es ein Zufall, daß sich die milesischen Kosmogonien, kühne jonische Spekulationen, zupackende Gedanken, die in gleicher Weise den Schiffermärchen wie den ethnographischen Exkursen eines HERODOT Plastizität und Farbe verliehen, in die Sokratischen Marktgespräche verwandeln?

Während die Jonier die Geheimnisse der Welt betrachteten, Sternenflug und Nilschwellen, verläßt SOKRATES die Vaterstadt nur im Krieg oder, wie der Phaidros lehrt, für die Dauer eines Spaziergangs. Die Zeit steht still, die Gegensätze werden in einer ordnenden Mitte gebannt: nicht umsonst verlangt SOKRATES, am Ende des Gastmahls, daß ein und derselbe Mann Tragödien und Komödien schreiben müsse … die Wächterszene aus der Antigone, der Auftritt der Amme in den Choephoren, Herakles’ Gehabe in der Alkestis: all das ist Komik, Witz und Burleske inmitten des tragischen Spiels. ARISTOPHANES andererseits, an den sich Sokrates wendet, war – wie die Lysistrate beweist – zugleich ein großer Tragödienschreiber.

Nur die freiheitliche Ordnung eines vernünftigen Volksregiments gab dem Theatraliker die Möglichkeit, seine eigenen Thesen ungestraft, mit rigoroser Deutlichkeit zu entwickeln. Nie war der Einfluß der Kunst so groß wie im 5. Jahrhundert, als ARISTOPHANES es wagen durfte, im Angesicht der Bundesgenossen die athenische Politik – und vor allem die Bündnispolitik – erbarmungslos zu zerfetzen. Wo, in der Literaturgeschichte, gibt es sonst noch ein Beispiel dafür, daß ein Komödienschreiber es sich erlaubte, den führenden Staatsmann – und dies im Kriege! – als einen Wurstverkäufer und Hansnarren verächtlich zu machen?

PHRYNICHOSARISTOPHANESEuripidesSophokles

ARISTOPHANESMENANDERARISTOPHANESFröschenlaudator temporis actiEUPOLISDemenEURIPIDESISOKRATESMENANDERS

ARISTOTELESDiatribe

oikumenekoine

poetae doctiKALLIMACHOSArgonautica

LYSIASTHEOKRITHERONDASTHEOKRITSstudium generale

PLUTARCHLUKIANPOLYBIOSPANAITIOSATHENAIOSLUKIAN, HELIODORSPLOTINS

Griechische Idealität, Typus, Zeitlosigkeit und Exempel, konkretisierte sich, dem hic et nunc des Augenblicks anheimgegeben, in der politischen Realität der Kaiserzeit. Die Römer, Meister des Praktischen, Realisten kat’ exochen: Biographen und Porträtisten, Straßenbauer, Juristen und Verwaltungsbeamte, gaben dem Griechischen im Raum des Imperium Romanum jene Form, in der es sich mit dem christlichen Glauben vereinigen konnte. Eine kühne Synthese, zu der das Griechische in besonderer Weise prädestiniert war, weil Synthese, Zusammenschau des Disparaten, zu seinem Wesen gehörte: Innen und Außen sind, in hellenischer Sicht, nicht voneinander zu trennen, menschliche Schuld und göttliche Ahndung, ate und tisis, entsprechen einander; Gegensätze heben sich auf: alles ist von Zeus, sagt der Tragiker, und dennoch bleibt der Mensch verantwortlich.

Von HOMER bis zur Spätantike, von den Kyprien, die den Trojanischen Krieg auf die Übervölkerung zurückführen, über KALLIMACHOSAitia bis hin zu dem EinenPLOTINS bleibt die Frage nach der prima causa die wichtigste Frage der hellenischen Dichtung. Der Zorn des Achilleus (HOMER), die Gerechtigkeit des Zeus (HESIOD, SOLON), der Gegensatz zwischen Griechen und Barbaren (HERODOT), das Unendliche, das Wasser, die Luft (ANAXIMANDER, THALES, ANAXIMENES), der Streit (HERAKLIT), der Machtzuwachs (THUKYDIDES), der Nus (ANAXAGORAS), die Hybris (AISCHYLOS und SOPHOKLES) … immer wurde die Fülle der Erscheinungen, die es am Ende mit einem Blick zu überschauen gilt, zu einem Urprinzip zurückgeleitet. Das Reich des Scheins in seiner Vielfalt und die Einheit zu erkennen, das Komplexe zu reduzieren und vom Sichtbaren auf das Unsichtbare, von der Erscheinung auf die Idee zu schließen und hinter dem Trug die Wahrheit zu zeigen, ist hellenisch. Opsis adelon ta phainomena, Sicht des Undeutlichen: das Erscheinende – dies mag vielleicht das Schlüsselwort der griechischen Literatur sein.