Inhaltsverzeichnis

Fußnoten

Das gesamte Interview ist abgedruckt in Erich Maria Remarque. Ein militanter Pazifist. Texte und Interviews 1929–1966. Hg. und mit einem Vorwort von Thomas F. Schneider. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1998, S. 118–133.

Erich Maria Remarque. A Time to Love and a Time to Die. Translated from the German by Denver Lindley. New York 1954. Zuvor war ein Vorabdruck des Romans (auf der Grundlage der Rohübersetzung) im Magazin Collier’s Weekly am 14. Mai 1954 begonnen worden.

Paul Faust. [Leserbrief]. In Münchner Illustrierte, 14.08.1954.

So der ursprüngliche Titel des Romans im Manuskript. Die französische Übersetzung trägt noch den Titel L’Ile d’Espérance.

Wie bei Liebe Deinen Nächsten (1939/41) verweist Remarque im Titel auf eine Bibelstelle, vgl. Prediger 3:1–9.

Tagebuch Remarques, Eintrag Porto Ronco, 09.02.1952. Nachlass Remarques an der New York University, Fales Library, Remarque-Collection, R-C 4B.

Der Funke Leben kann als die KZ-Perspektive auf die Stadt Werden bzw. in Der Funke Leben die Stadt Mellern gelesen werden, während in Zeit zu leben und Zeit zu sterben KZ-Häftlinge des nahen Lagers zu Aufräumungsarbeiten eingesetzt werden.

Abgedruckt mit Erläuterungen in Thomas F. Schneider (Hg.). Erich Maria Remarque. Ein militanter Pazifist. Texte und Interviews 1929–1966. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1994 (KiWi 340). S. 66–83.

Siehe Nachwort und Erläuterungen in der Ausgabe Erich Maria Remarque. Der Funke Leben. Roman. In der Originalfassung mit Anhang und Nachwort herausgegeben von Thomas F. Schneider. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2018 (KiWi 1587).

Eine Chronik der Vorgänge um die Zensur von Zeit zu leben und Zeit zu sterben ist enthalten in Thomas Schneider, Angelika Howind. »Die Zensur von Erich Maria Remarques Roman über den zweiten Weltkrieg ›Zeit zu leben und Zeit zu sterben‹ 1954 in der BRD«. In Ursula Heukenkamp (Hg.). Militärische und zivile Mentalität. Ein literaturkritischer Report. Berlin: Aufbau, 1991 (AtV 78). S. 303–320.

Tagebuch Remarques, Eintrag Porto Ronco, 27.03.1954; Nachlass Remarques an der New York University, Fales Library, Remarque-Collection, R-C 4B.

Tagebuch Remarques, Eintrag Porto Ronco, 11.04.1954; Nachlass Remarques an der New York University, Fales Library, Remarque-Collection, R-C 4B.

Ein detailliertes Verzeichnis der Änderungen findet sich bei Angelika Howind, Thomas Schneider. »›Weiterschweigen heißt seine Schuld eingestehen‹. Zeit zu leben und Zeit zu sterben: Die Zensur eines Antikriegsromans in der BRD und ihre Revision«. In Krieg und Literatur/War and Literature 1 (1989), 2, S. 79–142.

Vgl. ebd., S. 87–91.

1956 versuchte der Aufbau-Verlag in Person Walter Jankas, durch Remarques amerikanischen Übersetzer Denver Lindley an die Originalfassung des Romans zu gelangen. Remarque war über dieses Vorgehen entrüstet und verpflichtete Witsch mit Brief vom 6. August 1956, die deutsche Fassung zu vertreiben. Der Aufbau-Verlag war als Lizenznehmer von Kiepenheuer & Witsch gezwungen, die zensierte Fassung nachzudrucken. Die Neue Deutsche Literatur bot ihren Lesern immerhin den Service, die zensierten Stellen in einer Rückübersetzung aus dem Englischen nachzulesen: »Der kastrierte Remarque«. In Neue Deutsche Literatur (1957). Heft 4. S. 108–126.

Z.B. in der Ausgabe Doba života i doba smrti. Tr.: Irena Vrkljan, Zvonimir Golob. Zagreb: Prosvjeta, 1955.

Die Möglichkeit eines Vergleichs hat auch Hans Wagener wahrgenommen in Understanding Erich Maria Remarque. Columbia/SC: University of South Carolina Press, 1991. S. 77–78.

Siehe zu Remarques Beteiligung an der Verfilmung ausführlich Thomas F. Schneider. »›The Shortest Acting Career in History‹. Erich Maria Remarque als Filmmitarbeiter. Die Geschichte eines Scheiterns«. In Bodo Plachta (Hg.). Literarische Zusammenarbeit. Tübingen: Max Niemeyer, 2001, S. 271–284.

Der Tod roch anders in Rußland als in Afrika. In Afrika, unter schwerem englischen Feuer, hatten die Leichen zwischen den Linien auch oft lange unbeerdigt gelegen; aber die Sonne hatte schnell gearbeitet. Nachts war mit dem Winde der Geruch herübergekommen, süß, stickig und schwer – das Gas hatte die Toten gefüllt, und sie hatten sich geisterhaft im Licht der fremden Sterne gehoben, als kämpften sie noch einmal, schweigend, ohne Hoffnung, jeder für sich allein; – aber schon am nächsten Tage hatten sie begonnen zu schrumpfen, sich der Erde anzuschmiegen, unendlich müde, als wollten sie hineinkriechen, – und wenn man sie später holen konnte, waren manche bereits leicht und eingedörrt, und von denen, die man nach Wochen irgendwo fand, waren fast nur noch Skelette übrig geblieben, die in den plötzlich viel zu weiten Uniformen lose ratterten. Es war ein trockener Tod, in Sand, Sonne und Wind. In Rußland war es ein schmieriger, stinkender Tod.

 

Es regnete seit Tagen. Der Schnee schmolz. Einen Monat vorher hatte er über zwei Meter höher gelegen. Das zerstörte Dorf, das anfangs ausgesehen hatte, als bestände es nur aus verkohlten Dächern, war lautlos mit jeder Nacht ein Stück höher aus dem sinkenden Schnee emporgewach

Es waren alte Tote. Das Dorf war mehrere Male umkämpft worden, – im November, im Dezember, im Januar und jetzt, im April. Es war eingenommen und verlassen und verlassen und wieder eingenommen worden, die Schneestürme waren gekommen und hatten die Leichen verweht, in Stunden oft schon so tief, daß die Sanitäter viele nicht mehr finden konnten, – bis dann fast jeder Tag eine neue Lage Weiß über die Verwüstung geworfen hatte, wie eine Krankenschwester ein Tuch über ein blutiges, kotiges Bett.

Zuerst kamen die Januartoten. Sie lagen am höchsten und kamen Anfang April heraus, bald nachdem der Schnee zu rutschen anfing. Ihre Körper waren steif gefroren und die Gesichter aus grauem Wachs.

Man begrub sie wie Bretter. Auf einer Anhöhe hinter dem Dorf, wo der Schnee nicht so hoch lag, schaufelte man ihn weg und hackte die gefrorene Erde auf. Es war eine mühsame Arbeit. Man begrub deshalb nur die Deutschen, die Russen warf man in einen offenen Stall. Sie begannen bei dem milden Wetter bald zu stinken. Wenn es zu schlimm wurde, schaufelte man Schnee darüber. Es lohnte sich nicht, sie noch zu beerdigen; niemand glaubte, daß das Dorf lange gehalten werden würde. Das Regiment war auf dem Rückzug. Die vordringenden Russen konnten ihre Toten später selbst eingraben.

Bei den Dezembertoten fand man die Waffen, die zu den

 

Plötzlich fror es einige Tage wieder stark. Der Schnee verkrustete und wurde zu Eis. Er hörte auf zu sinken. Doch dann kam der faule, schwüle Wind aufs neue.

Zuerst sah man nur einen grauen Flecken im welkenden Weiß. Eine Stunde später war es eine Hand, die sich verkrampft emporreckte.

»Da ist wieder einer«, sagte Sauer.

»Wo?« fragte Immermann.

»Drüben, vor der Kirche. Sollen wir ihn rauszuschaufeln?«

»Wozu? Der Wind gräbt ihn schon von selbst aus. Der Schnee ist dahinten mindestens noch ein, zwei Meter hoch. Dieses verdammte Dorf liegt ja tiefer als alles rundumher. Oder willst du mit Gewalt noch eine Ladung Eiswasser in die Stiefel kriegen?«

»Steckrüben. Steckrüben mit Schweinefleisch, Kartoffeln und Wasser. Schweinefleisch Fehlanzeige.«

»Steckrüben! Natürlich! Zum dritten Mal in dieser Woche.«

Sauer knöpfte sich die Hose auf und begann zu urinieren. »Vor einem Jahr pißte ich noch in großen Bogen«, erklärte er bitter. »Straff militärisch, wie es sich gehört. Fühlte mich gut. Erstklassiger Fraß! Vormarsch, jeden Tag soundso viele Kilometer! Dachte, ich wäre bald wieder zu Hause. Jetzt pisse ich wie ein Zivilist, trübselig und ohne Spaß.«

Immermann schob eine Hand unter seine Uniform und begann sich gemächlich zu kratzen. »Es wäre mir egal, wie ich pißte, – wenn ich nur schon wieder Zivilist wäre.«

»Mir auch. Aber es sieht aus, als blieben wir ewig Soldaten.«

»Klar. Helden, bis wir verrecken. Nur die SS pißt noch in großen Bogen.«

Sauer knöpfte sich die Hose wieder zu. »Das kann sie auch. Wir machen die Dreckarbeit, und die Brüder streichen die Ehre ein. Wir kämpfen zwei, drei Wochen um so eine verfluchte Stadt, und am letzten Tag kommt die SS und zieht siegreich vor uns ein. Sieh dir an, wie für die gesorgt wird! Immer die dicksten Mäntel, die besten Stiefel und das größte Stück Fleisch!«

Immermann grinste. »Jetzt nimmt auch die SS keine Städte mehr ein. Jetzt geht sie zurück. Genauso wie wir.«

»Nicht so wie wir. Wir verbrennen und erschießen nicht, was wir erwischen können.«

Sauer blickte hinüber. »Wenn es so weitertaut, hängt er morgen an irgendeinem Kreuz. Er ist am richtigen Platz. Gerade über dem Friedhof.«

»Ist das da ein Friedhof?«

»Natürlich. Weißt du das nicht mehr? Wir waren doch schon einmal hier. Bei unserem letzten Angriff. Ende Oktober. Warst du da noch nicht bei uns?«

»Nein.«

»Wo warst du? Lazarett?«

»Strafkompanie.«

Sauer pfiff durch die Zähne. »Strafkompanie! Verdammt! Weshalb?«

Immermann sah ihn an. »Früherer Kommunist«, sagte er.

»Was? Und da haben sie dich rausgelassen? Wieso das denn?«

»Der Mensch muß Schwein haben. Ich bin ein guter Mechaniker. Das hat man scheinbar jetzt hier nötiger als beim Schanzen.«

»Das schon! Aber als Kommunist! Und hier in Rußland! Die schicken sie doch sonst alle anderswohin.« Sauer blickte Immermann plötzlich mißtrauisch an.

Immermann grinste spöttisch. Er wußte, was Sauer dachte. »Beruhige dich«, erklärte er. »Ich bin kein Spitzel

»Ich? Keine Spur. Denke garnicht daran!« Sauer griff nach seinem Kochgeschirr. »Da ist die Gulaschkanone! Rasch, – sonst kriegen wir nur noch das Spülwasser.«

 

Die Hand wuchs und wuchs. Es war nicht mehr, als schmelze der Schnee, – es sah aus, als wüchse sie langsam aus der Erde hervor, – wie eine fahle Drohung und eine versteinerte Gebärde um Hilfe.

Der Kompanieführer blieb stehen. »Was ist das da?«

»Irgendein Panje, Herr Leutnant.«

Rahe sah schärfer hin. Er konnte ein verwaschenes Stück Ärmel erkennen. »Das ist kein Russe«, sagte er.

Feldwebel Mücke bewegte die Zehen in den Stiefeln. Er konnte den Kompanieführer nicht ausstehen. Zwar stand er tadellos stramm vor ihm, – Disziplin ging über alle persönlichen Gefühle, – aber um seiner Verachtung Ausdruck zu geben, bewegte er unsichtbar die Zehen in den Stiefeln. Dummes Aas, dachte er. Quatschkopf!

»Lassen Sie ihn rausholen«, sagte Rahe.

»Zu Befehl.«

»Setzen Sie gleich ein paar Leute dran. Kein schöner Anblick, sowas!«

Waschlappen, dachte Mücke. Hosenscheißer! Kein schöner Anblick! Als ob das der erste Tote wäre, den wir sähen!

»Das ist ein deutscher Soldat«, sagte Rahe.

»Zu Befehl, Herr Leutnant. Seit vier Tagen haben wir nur noch Russen gefunden.«

Rahe ging zu seinem Quartier hinüber. Eingebildeter Affe, dachte Mücke. Hat einen Ofen, ein warmes Haus und das E.K. zum Halse raus. Ich habe nicht einmal das E.K.I. Habe es dabei ebenso verdient wie der seinen ganzen Klempnerladen. »Sauer!« schrie er, »Immermann! Hierher! Bringt Schaufeln mit! Wer ist sonst noch da? Graeber! Hirschland! Berning! Steinbrenner, übernehmen Sie das Kommando! Die Hand da drüben! Ausgraben und beerdigen, wenn’s ein Deutscher ist! Ich wette, daß es keiner ist.«

Steinbrenner schlenderte heran. »Wetten?« fragte er. Er hatte eine hohe, knabenhafte Stimme, die er vergeblich tiefer zu halten versuchte. »Um wieviel?«

Mücke wurde einen Augenblick unsicher. »Drei Rubel«, sagte er dann. »Drei Besatzungsrubel.«

»Fünf. Unter fünf wette ich nicht.«

»Gut, also fünf. Aber auszahlen.«

Steinbrenner lachte. Seine Zähne schimmerten in der bleichen Sonne. Er war neunzehn Jahre alt, blond und hatte das Gesicht eines gotischen Engels. »Auszahlen, natürlich! Was sonst, Mücke?«

Mücke konnte Steinbrenner nicht besonders leiden; aber er hatte Angst vor ihm und war vorsichtig. Steinbrenner kam von der SS und besaß das goldene Abzeichen der Hitlerjugend. Er gehörte zwar jetzt zur Kompanie; aber jeder wußte, daß er ein Denunziant und ein Spion für die Gestapo war.

»Schön, schön.« Mücke holte ein Etui aus Weichselholz

»Klar.«

»Der Führer raucht nicht, Steinbrenner«, sagte Immermann nachlässig.

»Halt die Schnauze.«

»Halt selber die Schnauze.«

»Dir geht es anscheinend mächtig gut!« Steinbrenner hob die langen Wimpern zu einem schrägen Blick. »Hast wohl schon allerhand vergessen, was?«

Immermann lachte. »Ich vergesse nicht so leicht etwas. Und ich weiß, was du meinst, Max. Aber vergiß du nicht, was ich gesagt habe. Der Führer raucht nicht. Das war alles. Hier sind vier Zeugen dafür. Und der Führer raucht nicht, das weiß jeder.«

»Laßt den Quatsch!« sagte Mücke. »Fangt an mit dem Ausgraben. Befehl vom Kompanieführer.«

»Also los!« Steinbrenner zündete die Zigarette an, die Mücke ihm gegeben hatte.

»Seit wann wird im Dienst geraucht?« fragte Immermann.

»Dies ist kein Dienst«, erklärte Mücke irritiert. »Laßt jetzt den Quatsch, und grabt den Russen aus. Hirschland, Sie auch.«

Hirschland kam heran. Steinbrenner grinste. »Erstklassige Arbeit für dich, Isaak! Kadaver ausgraben. Gut für dein Judenblut. Stärkt die Knochen und das Gemüt. Nimm die Schaufel da.«

»Ich bin dreiviertel Arier«, sagte Hirschland.

Steinbrenner blies ihm den Rauch seiner Zigarette

»Es ist kein Russe«, sagte Graeber. Er hatte als einziger ein paar Bretter zu dem Toten hinübergeschoben und angefangen, den Schnee um den Arm und die Brust herum wegzustechen. Man sah jetzt deutlich die nasse Uniform.

»Kein Russe?« Steinbrenner kam rasch und sicher wie ein Tänzer über die schwankenden Bretter und hockte sich neben Graeber. »Tatsächlich nicht! Das hier ist eine deutsche Uniform.« Er drehte sich um. »Mücke! Kein Russe! Ich habe gewonnen!«

Mücke kam schwerfällig heran. Er starrte in das Loch hinunter, in das langsam Wasser von den Rändern hinabsickerte. »Verstehe ich nicht«, erklärte er mürrisch. »Seit fast einer Woche haben wir doch nur noch Russen gefunden. Er muß einer vom Dezember sein, der tiefer gesackt ist.«

»Es kann auch einer vom Oktober sein«, sagte Graeber. »Damals ist unser Regiment hier durchgekommen.«

»Unsinn. Von denen kann es keiner mehr sein.«

»Doch. Wir hatten hier ein Nachtgefecht. Die Russen gingen zurück, und wir mußten gleich weiter vor.«

»Das stimmt«, erklärte Sauer.

»Unsinn! Unser Nachschub hat bestimmt alle Toten gefunden und beerdigt. Bestimmt!«

»Das ist nicht so sicher. Ende Oktober schneite es

»Das sagst du schon zum zweitenmal.« Steinbrenner sah Graeber an.

»Du kannst es gerne noch einmal hören, wenn du willst. Wir machten damals einen Gegenangriff und gingen über hundert Kilometer vor.«

»Und jetzt gehen wir zurück, was?«

»Jetzt sind wir wieder hier.«

»Wir sind also auf dem Rückzug, – oder nicht?«

Immermann stieß Graeber warnend an. »Gehen wir vielleicht vor?« fragte Graeber.

»Wir verkürzen unsere Linien«, sagte Immermann und starrte Steinbrenner höhnisch ins Gesicht. »Seit einem Jahr schon. Strategische Notwendigkeit, um den Krieg zu gewinnen. Das weiß doch jeder.«

»Da ist ein Ring an der Hand«, sagte Hirschland plötzlich. Er hatte weitergegraben und die zweite Hand des Toten freigelegt.

Mücke bückte sich herunter. »Tatsächlich«, sagte er. »Gold sogar. Ein Trauring.«

Alle blickten bin. »Nimm dich in acht«, flüsterte Immermann Graeber zu. »Das Schwein versaut dir sonst noch deinen Urlaub. Meldet dich als Miesmacher. Er wartet nur auf so was.«

»Er macht sich nur wichtig. Paß du lieber selber auf. Er hat dich mehr auf dem Kieker als mich.«

»Mir ist es wurscht. Ich kriege keinen Urlaub.«

»Das sind die Abzeichen von unserem Regiment«, sagte Hirschland. Er hatte mit den Händen weitergewühlt.

»Nein, kein Russe«, erwiderte Mücke ärgerlich.

»Fünf Rubel! Schade, daß wir nicht um zehn gewettet haben. Raus damit!«

»Ich hab kein Geld bei mir.«

»Wo denn? Auf der Reichsbank? Los, raus damit!«

Mücke sah Steinbrenner wütend an. Dann zog er seinen Brustbeutel hervor und zählte das Geld ab. »Heute geht auch alles schief! Verdammt!«

Steinbrenner steckte das Geld ein. »Ich glaube, es ist Reicke«, sagte Graeber.

»Was?«

»Das hier ist Leutnant Reicke von unserer Kompanie. Da sind seine Achselstücke. Und hier am rechten Zeigefinger fehlt das oberste Glied.«

»Unsinn. Reicke wurde verwundet und ist zurückgebracht worden. Wir haben das später gehört.«

»Es ist Reicke.«

»Macht das Gesicht frei.«

Graeber und Hirschland gruben weiter. »Vorsicht!« rief Mücke. »Stecht ihm nicht in den Kopf.«

Das Gesicht kam aus dem Schnee hervor. Es war naß und wirkte sonderbar, mit den Augenhöhlen noch voll Schnee; als habe ein Bildhauer eine Maske nicht fertig modelliert und sie blind gelassen. Ein Goldzahn blinkte zwischen den blauen Lippen.

»Ich kann ihn nicht erkennen«, sagte Mücke.

»Er muß es sein. Wir haben damals keinen anderen Offizier hier verloren.«

Graeber zögerte einen Augenblick. Dann wischte er mit seinem Handschuh behutsam den Schnee weg. »Er ist es«, sagte er.

Mücke geriet in Aufregung. Er übernahm jetzt selber das Kommando. Bei einem Offizier schien ihm eine höhere Charge nötig zu sein. »Anheben! Hirschland und Sauer die Beine, Steinbrenner und Berning die Arme. Graeber, geben Sie auf den Kopf acht! Los, gleichzeitig – eins, zwei, ruck!«

Der Körper bewegte sich. »Noch einmal! Eins, zwei, hebt!«

Die Leiche bewegte sich wieder. Unter ihr, aus dem Schnee, kam ein hohles Seufzen, als die Luft eindrang.

»Herr Feldwebel, der Fuß kommt runter«, rief Hirschland.

Es war der Stiefel. Er kam halb herunter. Das Fleisch der Füße war durch das Schneewasser im Leder verfault und gab nach. »Loslassen! Runterlassen!« rief Mücke. Es war zu spät. Der Körper rutschte, und Hirschmann behielt den Stiefel in der Hand.

»Ist der Fuß drin?« fragte Immermann.

»Stellen Sie den Stiefel beiseite und schaufeln Sie weiter«, schrie Mücke Hirschland an. »Wer kann auch wissen, daß er schon so weich ist! Und Sie, Immermann, seien Sie ruhig. Haben Sie Respekt vor dem Tode!«

Immermann sah Mücke verblüfft an; aber er schwieg.

Einige Minuten später hatten sie den Schnee um den Körper herum ganz weggeschaufelt. In der nassen Uniform fanden sie eine Brieftasche mit Papieren. Die Schrift war zerlaufen, aber noch zu lesen. Graeber hatte recht gehabt;

»Wir müssen das sofort melden«, sagte Mücke. »Bleibt hier! Ich komme gleich zurück.«

Er ging zu dem Hause hinüber, in dem der Kompanieführer wohnte. Es war das einzige, das noch einigermaßen instand war. Vor der Revolution hatte es wahrscheinlich dem Popen gehört. Rahe saß in der großen Stube. Mücke starrte gehässig auf den breiten russischen Ofen, in dem ein Feuer brannte. Auf der Ofenbank lag der Schäferhund Rahes und schlief. Mücke machte seine Meldung, und Rahe ging mit ihm hinüber.

Er blickte eine Zeitlang auf Reicke hinunter. »Schließt ihm die Augen«, sagte er dann.

»Das geht nicht, Herr Leutnant«, erwiderte Graeber »Die Lider sind schon zu weich. Sie würden reißen.«

Rahe sah zu der zerschossenen Kirche hinüber. »Tragt ihn einstweilen da hinein. Haben wir einen Sarg?«

»Die Särge sind zurückgeblieben«, meldete Mücke. »Wir hatten ein paar für besondere Fälle. Die Russen haben sie erbeutet. Hoffe, sie werden sie brauchen können.«

Steinbrenner lachte. Rahe lachte nicht. »Können wir einen zimmern?«

»Es würde zu lange dauern, Herr Leutnant«, sagte Graeber. »Der Körper ist schon sehr weich. Es gibt auch kaum geeignetes Holz dafür im Dorf.«

Rahe nickte. »Legt ihn auf eine Zeltbahn. Wir werden ihn darin beerdigen. Hackt ein Grab aus und zimmert ein Kreuz.«

»Feldwebel Mücke!« sagte Rahe.

»Herr Leutnant!«

»Es werden heute vier gefangene russische Partisanen herübergeschickt. Sie sollen morgen früh erschossen werden. Unsere Kompanie hat den Befehl dazu bekommen. Fragen Sie in Ihrem Zug nach Freiwilligen. Sonst wird die Schreibstube die Leute bestimmen.«

»Jawohl, Herr Leutnant!«

»Weiß der Himmel, weshalb gerade wir das machen müssen! Na ja, bei dem Durcheinander –«

»Ich melde mich freiwillig«, sagte Steinbrenner.

»Gut.« Rahes Gesicht bewegte sich nicht. Er stakte über den ausgeschaufelten Schneeweg zurück. Zurück zu seinem Ofen, dachte Mücke. Der Waschlappen! Was ist schon dabei, ein paar Partisanen zu erschießen? Als ob sie nicht Hunderte von unseren Kameraden abgeknallt hätten!

»Wenn die Russen rechtzeitig kommen, können sie das Grab für Reicke gleich mitschaufeln«, sagte Steinbrenner. »Dann haben wir keine Arbeit damit. Alles ein Aufwaschen. Was, Mücke?«

»Von mir aus!« Mückes Magen war bitter. Schulmeisterseele, dachte er. Dünn, aufgeschossen, eine lange Latte mit Hornbrille. Leutnant noch vom ersten Kriege her. Nie befördert worden in diesem. Tapfer, schön, wer war das nicht? Aber keine Führernatur. »Was halten Sie von Rahe?« fragte er Steinbrenner.

»Klar, – aber sonst?«

»Sonst? Was sonst?«

»Nichts«, erwiderte Mücke mürrisch.

 

»Tief genug?« fragte der älteste Russe.

Er war ein Mann von ungefähr siebzig Jahren mit einem weißen, schmutzigen Bart und sehr blauen Augen und sprach gebrochen Deutsch.

»Halt die Schnauze, Bolschewik, und rede nur, wenn du gefragt wirst«, erwiderte Steinbrenner. Er war sehr munter. Seine Augen folgten der Frau, die zu den Partisanen gehörte. Sie war jung und kräftig.

»Tiefer«, sagte Graeber. Er überwachte mit Steinbrenner und Sauer die Gefangenen.

»Für uns?« fragte der Russe.

Steinbrenner sprang rasch und leicht heran und schlug ihm mit der flachen Hand hart ins Gesicht. »Ich habe dir doch gesagt, Großvater, daß du den Schnabel halten sollst. Was glaubst du, was dies hier ist? Eine Kirmes?«

Er lächelte. In seinem Gesicht war keine Bosheit. Es war nur voll von dem Vergnügen, mit dem ein Kind einer Fliege die Beine ausreißt.

»Nein, das Grab ist nicht für euch«, sagte Graeber.

Der Russe hatte sich nicht gerührt. Er stand still und sah Steinbrenner an. Steinbrenner blickte zurück. Sein Gesicht veränderte sich plötzlich. Es wurde gespannt und wachsam. Er glaubte, daß der Russe ihn angreifen würde, und wartete auf die erste Bewegung. Es hätte wenig aus

Der Russe bewegte sich nicht. Blut lief ihm aus der Nase in den Bart. Graeber überlegte, was er selbst in der gleichen Lage tun würde, – sich auf den andern stürzen und für einen Schlag zurück den sofortigen Tod zu riskieren, – oder noch alles hinnehmen für die paar Stunden mehr, die eine Nacht Leben. Er wußte es nicht.

Der Russe bückte sich langsam und hob die Hacke auf. Steinbrenner trat einen Schritt zurück. Er war schußbereit. Aber der Russe richtete sich nicht wieder auf. Er begann auf dem Grund der Grube weiterzuhacken. Steinbrenner grinste. »Leg dich hinein«, sagte er.

Der Russe stellte die Hacke weg und legte sich in die Grube. Er lag still da. Ein paar Brocken Schnee fielen auf ihn hinab, als Steinbrenner über das Grab trat. »Ist es lang genug?« fragte er Graeber.

»Ja. Reicke war nicht groß.«

Der Russe sah nach oben. Seine Augen waren weit offen. Der Himmel schien sich blau in ihnen zu spiegeln. Die weichen Barthaare am Mund bewegten sich beim Atmen.

Der Russe kletterte heraus. Nasse Erde klebte an seinem Rock. »So«, sagte Steinbrenner und blickte auf die Frau. »Jetzt gehen wir eure eigenen Gräber graben. Die brauchen nicht so tief zu sein. Ganz egal, ob die Füchse euch im Sommer fressen.«

 

Es war früher Morgen. Ein fahler, roter Streif stand am Horizont. Der Schnee knirschte; es hatte nachts wieder etwas gefroren. Die aufgeworfenen Gräber waren sehr schwarz. »Verdammt«, sagte Sauer. »Was die uns alles aufpelzen! Warum müssen wir das machen? Warum nicht der SD? Das sind doch Spezialisten im Abknallen. Warum wir? Dies ist schon das dritte Mal. Wir sind doch anständige Soldaten.«

Graeber hielt sein Gewehr lose in der Hand. Der Stahl war sehr kalt. Er zog seine Handschuhe an. »Der SD ist weiter hinten beschäftigt.«

»Klar. Die kommen nicht so weit nach vorn. War Steinbrenner früher nicht beim SD

»Ich glaube, er war in einem KZ. Blockführer oder so was.«

Die andern kamen heran. Steinbrenner war als einziger völlig wach und ausgeschlafen. Seine Haut schimmerte rosig wie die eines Kindes. »Hört zu«, sagte er, »da ist doch die Kuh dabei. Laßt die für mich.«

»Wieso für dich?« fragte Sauer. »Du hast keine Zeit mehr, sie zu schwängern. Das hättest du früher versuchen sollen.«

Steinbrenner drehte sich ärgerlich um. »Woher weißt du das?«

»Und sie hat ihn nicht rangelassen.«

»Du bist mächtig schlau, was? Wenn ich die rote Kuh hätte haben wollen, hätte ich sie gehabt.«

»Oder nicht.«

»Laßt doch den Quatsch.« Sauer biß ein Stück Priem ab. »Wenn er meint, daß er sie abknallen will, für sich allein, von mir aus kann er das gern. Ich reiße mich nicht darum.«

»Ich auch nicht«, erklärte Graeber.

Die andern sagten nichts. Es wurde heller. Hirschland sah auf seine Uhr. »Geht’s dir nicht schnell genug, Isaak?« fragte Steinbrenner. »Sei dankbar, daß man dich kommandiert hat. Sowas treibt dir die jüdische Weinerlichkeit aus. »Erschießen –« er spuckte aus. »Viel zu gut für die Bande! Munition dafür zu verschwenden! Aufhängen sollte man sie! Wie anderswo auch.«

»Wo?« Sauer sah sich um. »Siehst du irgendwo einen Baum? Oder sollen wir erst noch einen Galgen zimmern? Und woraus?«

»Da sind sie«, sagte Graeber.

 

Mücke erschien mit den vier Russen. Je zwei Soldaten gingen vor und hinter ihnen. Der alte Russe war der vorderste; nach ihm kam die Frau, und dann kamen zwei jüngere Männer. Die vier stellten sich ohne Befehl in einer Reihe vor den Gräbern auf. Die Frau blickte hinab, bevor sie sich umdrehte. Sie trug einen roten wollenen Rock.

Leutnant Müller war einundzwanzig Jahre alt und vor sechs Wochen der Kompanie zugeteilt worden. Er musterte die Verurteilten und las das Urteil vor.

»Die Kuh ist für mich«, wisperte Steinbrenner.

Graeber sah die Frau an. Sie stand ruhig in ihrem roten Rock vor dem Grabe. Sie war kräftig und jung und gesund und gemacht, Kinder zu gebären. Sie verstand nicht, was Müller las; aber sie wußte, daß es ihr Todesurteil war. Sie wußte, daß in wenigen Minuten das Leben, das stark in ihren gesunden Adern lief, aufhören würde für immer, – doch sie stand ruhig da, als wäre es weiter nichts, und als fröre sie nur ein wenig in der kalten Morgenluft.

Graeber sah, daß Mücke wichtigtuerisch Müller etwas zuflüsterte. Müller blickte auf. »Kann das nicht nachher gemacht werden?«

»Es ist besser so, Herr Leutnant. Einfacher.«

»Gut. Machen Sie es, wie Sie wollen.«

Mücke trat vor. »Sag dem da, er soll seine Stiefel aus

Der Alte sagte es dem andern. Er sprach leise und fast singend. Der andere, ein schmächtiger Mensch, verstand zuerst nicht. »Los!« knurrte Mücke. »Stiefel! Zieh die Stiefel aus!«

Der Alte wiederholte, was er vorher gesagt hatte. Der Jüngere begriff und beeilte sich, wie jemand, der seine Pflicht versäumt hat, die Stiefel auszuziehen, so rasch er konnte. Er taumelte, während er auf einem Bein stand und am Stiefel des andern zog. Weshalb beeilt er sich so? dachte Graeber. Damit er eine Minute früher stirbt? Der Mann nahm die Stiefel in die Hand und hielt sie dienstfertig Mücke hin. Die Stiefel waren gut. Mücke schnauzte etwas und zeigte zur Seite. Der Mann stellte die Stiefel dorthin und trat dann zurück in die Reibe. Er stand in schmutzigen Fußlappen auf dem Schnee. Die Zehen kamen gelb heraus, und der Mann krümmte sie verlegen.

Mücke inspizierte die andern. Er fand ein Paar Pelzhandschuhe bei der Frau und befahl ihr, sie zu den Stiefeln zu legen. Den roten Rock betrachtete er eine Weile. Er war heil und aus gutem Stoff. Steinbrenner grinste verstohlen, aber Mücke sagte der Frau nicht, sie solle ihn ausziehen. Entweder hatte er Angst vor Rahe, der von seinem Fenster aus die Exekution übersehen konnte, oder er wußte nicht, was man mit dem Rock hätte anfangen sollen. Er trat zurück.

Die Frau sagte sehr rasch etwas auf russisch. »Fragen Sie, was sie noch will«, sagte Leutnant Müller. Er war blaß. Es war seine erste Exekution.

»Sie will nichts. Sie verflucht euch nur.«

»Was?« rief Müller, der nichts verstanden hatte.

»Sie verflucht euch«, sagte der Russe lauter. »Sie verflucht euch und alle Deutschen, die auf russischer Erde stehen! Sie verflucht eure Kinder! Sie wünscht, ihre Kinder möchten eure Kinder eines Tages so erschießen, wie ihr uns jetzt erschießt.«

»So eine Unverschämtheit!« Mücke starrte die Frau an.

»Sie hat zwei Kinder«, sagte der Alte. »Und ich habe drei Söhne.«

»Genug, Mücke!« rief Müller nervös. »Wir sind keine Pastoren. Stillgestanden!«

Die Gruppe Soldaten stand still. Graeber fühlte sein Gewehr. Er hatte seine Handschuhe wieder ausgezogen. Der Stahl saugte sich kalt gegen Daumen und Zeigefinger. Neben ihm stand Hirschland. Er war gelb, aber er stand regungslos. Graeber beschloß, auf den Russen am weitesten links zu schießen. Im Anfang hatte er in die Luft geschossen, wenn er zu einer Exekution kommandiert worden war, aber das war vorbei. Man tat denen, die erschossen wurden, keinen Gefallen damit. Andere hatten ebenso gedacht wie er; und es war vorgekommen, daß fast alle absichtlich vorbeigeschossen hatten. Die Erschießung hatte wiederholt werden müssen, und die Gefangenen waren so zweimal exekutiert worden. Einmal allerdings hatte eine Frau sich auf die Knie geworfen, nachdem sie nicht getroffen worden war, und ihnen mit Tränen gedankt für die ein, zwei Minuten Leben, die sie dadurch gewonnen hatte. Er dachte

»Legt an!«

Über das Visier sah Graeber den Russen. Es war der Alte mit dem Bart und den blauen Augen. Das Visier schnitt das Gesicht entzwei. Graeber senkte es. Er hatte das letztemal jemand den Unterkiefer weggeschossen. Die Brust war sicherer. Er sah, daß Hirschlands Gewehrlauf höher stand und daß er über den Kopf hinwegschießen wollte. »Mücke sieht dich! Halte tiefer. Seitlich!« murmelte er. Hirschland senkte den Lauf. »Feuer!« kam das Kommando.

Der Russe schien sich zu heben und Graeber entgegenzukommen. Es war, als wölbe er sich, wie Personen in Juxbuden auf dem Jahrmarkt in einem konvexen Spiegel. Er wölbte sich und fiel zurück.

Der Alte war halb in das Grab geschleudert worden. Seine Füße ragten heraus. Die andern beiden waren zusammengesunken, wo sie standen. Der ohne Stiefel hatte im letzten Moment seine Hände hochgerissen, um sein Gesicht zu schützen. Eine Hand hing wie ein Lappen an den Sehnen. Keinem der Russen waren die Hände gefesselt und die Augen verbunden worden. Man hatte es vergessen.

Die Frau war nach vorn gefallen. Sie war nicht tot. Sie stützte sich auf die Hand und starrte, das Gesicht erhoben, die Gruppe Soldaten an. Steinbrenner machte ein zufriedenes Gesicht. Niemand außer ihm hatte auf sie gezielt. Sie war in den Bauch geschossen worden. Steinbrenner war ein sehr guter Schütze.

»Verdammt schlechte Schießerei«, knurrte Müller. »Könnt ihr nicht zielen?«

»Es war Hirschland, Herr Leutnant«, meldete Steinbrenner.

»Es war nicht Hirschland«, sagte Graeber.

»Ruhe!« schrie Mücke. »Wartet, bis ihr gefragt werdet.«

Er blickte zu Müller hinüber. Müller war sehr blaß und rührte sich nicht. Mücke beugte sich über die anderen Russen. Einem jüngeren setzte er den Revolver hinter das Ohr und schoß. Der Kopf ruckte und lag wieder still. Mücke steckte den Revolver ein und betrachtete seine Hand. Er zog ein Taschentuch heraus und wickelte es darum.

»Lassen Sie sich Jod darauf geben«, sagte Müller. »Wo ist der Sanitätsbulle?«

»Im dritten Haus rechts, Herr Leutnant.«

Mücke ging. Müller blickte zu den Toten hinüber. Die Frau lag vornübergesunken auf dem nassen Boden. »Legt sie hinein und schaufelt sie zu«, sagte er. Er war plötzlich sehr ärgerlich, ohne zu wissen, warum.

In der Nacht wurde das Rollen vom Horizont wieder stärker. Der Himmel war rot, und das Flackern der Abschüsse wurde deutlicher. Das Regiment war vor zehn Tagen von der Front zurückgenommen worden und lag in Ruhestellung. Aber die Russen kamen näher. Die Front verschob sich jeden Tag. Es gab keine genaue Linie mehr. Die Russen griffen an. Sie griffen seit Monaten an. Und das Regiment ging seit Monaten zurück.

Graeber erwachte. Er horchte auf das Rollen und versuchte, wieder einzuschlafen. Es gelang ihm nicht. Nach einer Weile zog er seinen Stiefel an und ging nach draußen.

Die Nacht war klar und nicht kalt. Von rechts, hinter dem Walde her, kamen Explosionen. Leuchtschirme hingen wie durchsichtige Quallen in der Luft und schütteten Licht aus. Weiter hinten suchten Scheinwerfer nach Flugzeugen.

Er blieb stehen und blickte empor. Der Himmel war mondlos, aber voller Sterne. Graeber sah sie nicht; er sah nur, daß die Nacht gut für Flieger war.

»Schönes Wetter für Urlauber«, sagte jemand neben ihm. Es war Immermann. Er hatte Wache. Das Regiment lag zwar in Ruhe, aber Partisanen sickerten überall durch, und deshalb wurden nachts Wachen aufgestellt.

»Ja.«

»Na, also.«

»Ich bin nicht müde.«

»Urlaubsfieber, was?« Immermann sah Graeber forschend an. »So was an Schwein! Urlaub!«

»Ich habe ihn noch nicht. Im letzten Augenblick kann noch eine Urlaubssperre herauskommen. Ist mir schon dreimal so gegangen.«

»Kann sein. Seit wann bist du fällig?«

»Seit neun Monaten. Immer kam was dazwischen. Das letzte Mal ein Fleischschuß, der nicht zum Transport in die Heimat ausreichte.«

»Pech – aber du bist wenigstens fällig. Ich nicht. Politisch unzuverlässig, Heldenchance, sonst nichts. Kanonenfutter und Dünger für das tausendjährige Reich.«

Graeber sah sich um.

Immermann lachte »Der deutsche Blick! Keine Angst, alles pennt. Steinbrenner auch.«

»Daran habe ich nicht gedacht«, erwiderte Graeber ärgerlich. Er hatte daran gedacht.

»Umso schlimmer.« Immermann lachte wieder. »Sitzt einem schon so in den Knochen, daß man es nicht mehr merkt. Komisch, daß gerade die Denunzianten hochgeschossen sind in unserm heroischen Zeitalter, wie Pilze im Regen! Sollte einem eigentlich zu denken geben, was?«

»Ich pfeife auf Steinbrenner. Er kann mir weniger tun als euch. Gerade weil ich unvorsichtig bin. Für jemand wie mich ist das ein Zeichen von Ehrlichkeit. Zuviel Schwanzwedeln würde die Bonzen mißtrauisch machen. Alte Regel für ehemalige Parteimitglieder, um unverdächtig zu bleiben. Oder nicht?«

Graeber blies in seine Hände. »Kalt«, sagte er.

Er wollte in keine politische Unterhaltung kommen. Es war besser, wenn man sich auf nichts einließ. Er wollte seinen Urlaub haben, das war alles, und er wollte ihn nicht gefährden. Immermann hatte recht: Mißtrauen war die verbreitetste Eigenschaft im Dritten Reich. Man war fast nirgendwo ganz sicher. Und wenn man nicht sicher war, sollte man das Maul halten.

»Wann warst du das letzte Mal zu Hause?« fragte Immermann.

»Vor ungefähr zwei Jahren.«

»Das ist verdammt lange her. Da wirst du schön staunen!«

Graeber erwiderte nichts.

»Staunen«, wiederholte Immermann. »Was sich da alles geändert hat!«

»Was soll sich schon viel geändert haben?«

»Allerhand. Du wirst es ja sehen.«

Graeber spürte einen Augenblick eine scharfe Angst, wie einen Stich in den Magen. Er kannte das; es kam ab und zu, jäh und ohne besonderen Grund. Es war nicht ver

»Woher weißt du das?« sagte er. »Du warst doch nicht auf Urlaub.«

»Nein. Aber ich weiß es. In der Strafkompanie hört man mehr als hier.«

Graeber stand auf. Wozu war er nur herausgekommen? Er wollte nicht reden. Er hatte allein sein wollen. Wenn er nur schon fort wäre! Es war wie eine fixe Idee. Er wollte allein sein, allein für ein paar Wochen, allein und nachdenken, weiter nichts. Es war so vieles da, über das er nachdenken wollte. Nicht hier, – drüben, in der Heimat, allein, jenseits vom Krieg.

»Zeit für die Ablösung«, sagte er. »Ich hole meinen Kram und wecke Sauer.«

 

Das Rollen ging weiter durch die Nacht. Das Rollen und das Flackern am Horizont. Graeber starrte hinüber. Die Russen – im Herbst 1941 hatte der Führer erklärt, daß sie erledigt waren, und es hatte auch so ausgesehen. Im Herbst 1942 hatte er es wieder erklärt, und es hatte immer noch so ausgesehen. Aber dann war die unerklärliche Zeit vor Moskau und Stalingrad gekommen. Plötzlich war nichts mehr weitergegangen. Es war wie verhext gewesen. Und auf einmal hatten die Russen wieder Artillerie gehabt. Das Rollen am Horizont hatte begonnen, es hatte alle Führerreden niedergebrochen, es hatte nicht mehr aufgehört, und dann hatte es die deutschen Divisionen vor sich hergetrieben, den Weg zurück. Sie hatten es nicht verstanden, aber plötzlich waren Gerüchte dagewesen, daß ganze

Graeber stapfte den Weg um das Dorf herum. Das mondlose Licht verschob alle Perspektiven. Der Schnee fing es irgendwoher und warf es zerstreut zurück. Häuser erschienen ferner und Wälder näher, als sie waren. Es roch nach Fremde und Gefahr.

Der Sommer 1940 in Frankreich. Der Spaziergang nach Paris. Das Geheul der Stukas über einem fassungslosen Land. Straßen, verstopft mit Flüchtlingen und einer zerfallenden Armee. Der hohe Juni, Felder, Wälder, der Marsch durch eine unzerstörte Landschaft, und dann die Stadt mit dem silbernen Licht, den Straßen, den Cafés, die sich öffnete ohne einen Schuß. Hatte er damals gedacht? War er beunruhigt gewesen? Nein. Alles war richtig erschienen. Deutschland, das von kriegslüsternen Feinden angefallen worden war, hatte sich gewehrt, das war alles. Daß der Gegner so wenig vorbereitet gewesen war, daß er kaum Widerstand leisten konnte, schien kein Widerspruch dazu zu sein.

Und später, in Afrika, in den großen Etappen des Vordringens, in den Wüstennächten voller Sterne und Panzergeratter, hatte er da gedacht? Nein – nicht einmal auf dem Rückzuge. Es war Afrika gewesen, ein fremdes Land, das Mittelmeer lag dazwischen, und dann kam Frankreich und dann erst Deutschland. Was war da viel zu denken gewesen, selbst wenn es verlorenging? Man konnte nicht überall gewinnen.

Er hörte Sauer husten und ging um ein paar Hüttenreste herum, um ihn zu treffen. Sauer zeigte nach Norden. Ein mächtiges schwelendes Feuer zuckte am Horizont. Man hörte Explosionen und sah Flammengarben.

»Sind das da auch schon die Russen?« fragte Graeber.

Sauer schüttelte den Kopf. »Nein. Das sind unsere Pioniere. Sie zerstören den Ort drüben.«

»Das heißt also, wir gehen weiter zurück.«

»Was sonst?«

Sie schwiegen und horchten. »Ich habe schon lange kein heiles Haus mehr gesehen«, sagte Sauer dann.

Graeber zeigte zu Rahes Wohnung hinüber. »Das da ist noch ziemlich heil.«

»Das nennst du heil? Mit den Maschinengewehrlöchern und dem verbrannten Dach und dem eingestürzten Stall?«

»Ich auch nicht.«

»Du wirst ja bald welche sehen. Zu Hause.«

»Ja. Gott sei Dank.«

Sauer sah zu dem Feuerschein hinüber. »Manchmal, wenn man so sieht, was wir hier in Rußland alles zerstört haben, kann man Angst kriegen. Was meinst du, was die mit uns machen würden, wenn sie einmal an unsere Grenze kämen? Hast du dir das mal überlegt?«

»Nein.«

»Ich schon. Ich habe einen Hof in Ostpreußen. Ich weiß noch, wie wir 1914 fliehen mußten, als die Russen kamen. Ich war damals zehn Jahre alt.«

»Es ist noch weit bis zur Grenze.«

»Das kommt darauf an. So was kann verdammt schnell gehen. Erinnerst du dich noch, wie rasch wir im Anfang hier vorgegangen sind?«

»Nein. Damals war ich in Afrika.«

Sauer blickte wieder nach Norden. Eine Feuerwand stieg dort auf, und dann kam eine Anzahl schwerer Explosionen. »Siehst du, was wir da machen? Stell dir vor, daß die Russen bei uns einmal dasselbe machen würden, – was bliebe da übrig?«

»Nicht mehr als hier.«

»Das meine ich ja gerade! Wenn wir weiter zurückgehen, wird es geschehen.«

»Sie sind noch nicht an der Grenze. Du hast ja vorgestern den politischen Vortrag gehört, in den wir reinmußten. Danach verkürzen wir nur unsere Linien, um unsere