Der Autor bedankt sich bei Lars Leese für die vielen Gespräche, die Offenheit und die gute Zusammenarbeit während aller Entstehungsphasen dieses Buchs.
Prolog
18661 Zuschauer im ausverkauften Oakwell-Stadion in Barnsley warteten darauf, dass es endlich weiterging. Dass Lars Leese endlich seine Schuhe zubekam.
Zum vierten Mal setzte er draußen auf der Ersatzbank nun schon an, zog die Schnürsenkel fest, machte einen Knoten, wickelte die langen Enden einmal um den ganzen Schuh herum und unter der Sohle hindurch, wie das Fußballprofis schon immer, ohne erkennbaren Grund, machen. Dann noch ein Knoten und die Schleife. Daran scheiterten seine zittrigen Hände schon wieder. »Hey, hey! Nimm dir verdammt noch mal Zeit. Ohne dich werden sie nicht weiterspielen«, rief Danny Wilson, der junge Trainer des FC Barnsley, seinem Ersatztorwart zu. Er wollte beruhigend klingen. Er klang angespannt.
Es passiert ungefähr in einem von tausend Fußballspielen, dass sich der Torwart verletzt und der Ersatzkeeper eingewechselt werden muss. Lars Leese hatte erwartet, das Match am 26. August 1997 in der englischen Premier League zwischen Barnsley und den Bolton Wanderers würde eines der anderen 999 sein. Zwei Stunden vor Spielbeginn hatte er der Großmutter seiner Frau noch erklärt: »Oma, bitte, nerv jetzt nicht, ich weiß, dass ich nicht spielen werde. Ich bin Ersatztorwart. Verstehst du: Er-sa-tz!« Oma Lina war aus Deutschland zu Besuch im backsteinbraunen Einfamilienhaus in der Winter Avenue in Barnsleys Vorort Royston, sie würde zum ersten Mal in ihrem Leben ein Fußballmatch sehen – sie wollte nicht einsehen, dass der Mann ihrer Enkelin dann nicht mitspielte. Vehement drängte sie vor der Abfahrt zum Stadion, ein Foto von Leese machen zu dürfen. »Vor deinem ersten Profispiel«, sagte sie.
»Oma …«
Zwei Fotos später fuhr Leese mit seinem Kollegen und Nachbarn, dem slowenischen Nationalspieler Ales Krizan, die zehn Minuten zum Oakwell hinunter, mit der Absicht, sich einen schönen Abend auf der Ersatzbank zu machen. Sein Trikot mit der Nummer 13 zog er erst gar nicht an. Im Sweatshirt und mit ungeschnürten Schuhen saß er an dem lauen Sommertag am Spielfeldrand, als Boltons Mittelfeldspieler Jamie Pollock mit einem überdrehten Tackling in Barnsleys Torwart David Watson knallte. Für einen Moment war es still. Die Zuschauer warteten, dass Watson wieder aufstand.
Als die vier Sanitäter Watson auf der Trage direkt an der Ersatzbank vorbei in die Stadionkatakomben schleppten, sah Leese nicht hin. Er war zu sehr mit sich selbst beschäftigt.
Ich habe mir doch selbst gesagt: »Ein ausverkauftes Stadion und du im Tor einer Profielf – von diesem Moment hast du das ganze Leben geträumt, du solltest dich freuen.« Aber natürlich habe ich mich nicht gefreut. Ich hatte Lampenfieber, was heißt Lampenfieber: Ich hatte Schiss. Schon als Watson am Boden lag, war mein erster Gedanke: »Mach keinen Scheiß, bitte steh wieder auf.« Ich habe versucht, mir selbst Befehle zu geben: »Dreh jetzt nicht durch, Lars.« Und im nächsten Augenblick konnte ich schon wieder nur noch denken: »Watson, bitte steh auf.« So jagten meine Gedanken beim Aufwärmen durcheinander. Ich täuschte ein paar Gymnastikübungen vor, tatsächlich konnte ich meine Beinmuskeln gar nicht dehnen. Ich wäre umgefallen, so weich waren meine Knie. Beim Laufen ließ ich die Arme kreisen, irgendwie glaubte ich, so könnte ich den Zuschauern vormachen: »Ich bin heiß« Und dann hab ich noch nicht mal die Schuhe zubekommen. Ich fühlte mich so unheimlich beobachtet. »18000 Zuschauer schauen auf dich«, dachte ich, was natürlich Quatsch war, weil viele Watsons Abtransport beobachteten oder einfach palaverten.
Watsons Niere war eingerissen, das Gehirn erschüttert, würde am nächsten Tag die Diagnose im Barnsley General Hospital lauten. Im Oakwell jedoch kehrte die gute Laune in Minutenschnelle zurück. Das Publikum war fest entschlossen, sich seine Ausgelassenheit durch nichts nehmen zu lassen. Dies war Barnsleys drittes Heimspiel der Saison 97/98, und auch wenn die ersten beiden verloren gegangen waren, herrschte noch immer Feiertagsstimmung im Oakwell. Zum ersten Mal in 110 Jahren spielte der Klub aus der Kleinstadt zwischen Leeds und Sheffield Erste Liga; eine Liga, die neben der spanischen Primera Division und der italienischen Serie A die aufregendste im modernen Fußball ist. »Es ist, als wäre etwas vom Mars auf uns heruntergekommen«, sagte Michael Spinks, der Geschäftsführer des Klubs.
Das Geschrei im Oakwell schwoll an, als Leese im fünften Versuch endlich die Schuhe geschnürt hatte und neben den Linienrichter trat; bereit, ins Spiel zu kommen.
»Lies! Lies! Lies!«, brüllten die Zuschauer.
Nach gut zwei Monaten in Barnsley wusste Leese, was sie meinten; wen sie meinten: Für die Engländer war er Lars Lies.
Bevor der 1,97 Meter große Ersatztorwart in der 29. Spielminute beim Stand von 1:1 auf den Rasen sprintete, hielt Trainer Wilson ihn noch kurz am Arm fest und gab ihm eine Anweisung.
»Genieß es«, sagte Wilson.
Leese war sich nicht so sicher, ob ihm das gelingen würde.
Ich wollte wie ein Tiger sein. Toni Schumacher, der Held meiner Jugend, hat das mal gesagt: »Der Torwart ist das Raubtier, das sich auf den Ball wie auf seine Beute stürzt.« Aber ich tigerte da herum – und es passierte nichts. Es kam kein Ball auf mein Tor. Für einen Torwart ist das brutal, du kannst ja nicht aktiv werden. Du kannst nur warten. Die Gedanken quälen dich. »Lass den ersten Ball einen guten sein«, habe ich gebetet. »Wenn ich erst einmal den ersten Ball halte, wird alles gut.« Und der verfluchte Ball kam nicht. Du entwirfst Horrorszenarien: Der erste Ball ein Rückpass zu dir, du trittst in den Boden, schießt den Ball zum Gegner und der ins Tor. So was denkst du. Es mögen fünf Minuten gewesen sein, aber mir kam es wie eine Dreiviertelstunde vor, bis der erste Ball kam. Ich bin wie wahnsinnig aus meinem Tor gerannt, raus aus dem Strafraum, raus auf den linken Flügel, von mir aus gesehen. Es war ein langer Pass in den freien Raum. Ich machte die Grätsche, rutschte über den Rasen – und war zwei, drei Meter vor dem gegnerischen Stürmer da. Mit voller Wucht habe ich den Ball unter das Dach der Haupttribüne gedroschen. Danach schien etwas über mir zusammenzubrechen – wie eine Brandung rollte das Klatschen und Brüllen der Zuschauer heran.
Er hört das Klatschen und Brüllen wieder. Im Wohnzimmer in Hürth, nahe Köln. Vier Jahre später.
Lars Leese sitzt auf der blauen Couch, vor sich ein Glas Wasser und vor seinen Augen jenen Abend im Oakwell. Seine Pupillen scheinen zu glühen, so sehr bewegt ihn die Erinnerung an das Spiel gegen Bolton. Nun kann er es genießen.
»Es ist ja alles schon so weit weg«, sagt er und lauscht den Worten nach. Sie klingen falsch, weil eben, als er von seinem Debüt im Profifußball erzählte, alles noch so nah war. Und doch ist die Zeit in Barnsley auf andere Weise tatsächlich schon wieder so fern. Er ist 32, ein gutes Alter für einen Torwart, doch morgens geht er nun im Rheinland »Bleistifte verticken«, wie er mit fröhlicher Selbstironie seinen Job als Vertreter für Büromaterial beschreibt. Er ist wieder da, wo er herkam: Lars Leese, ein junger, freundlicher Kaufmann aus Köln. Sein Ausflug in die Welt des Profifußballs dauerte nur drei Jahre – aber es wird immer eine einmalige Karriere bleiben. Denn Lars Leese machte wahr, wovon wir alle heimlich träumen.
Wir, die mit 43 zum Kicken im Park das Trikot mit der Nummer 18 und dem Namen Klinsmann auf dem Rücken überstreifen und am Abend vorher extra zwei Bier weniger trinken. Wir, die mit 32 samstags im Supermarkt beim Bezahlen die Kassiererin anlächeln, aber in Gedanken dabei sind, Andi Möller mit einer sauberen Grätsche vom Ball zu trennen. Wir, die mit 25 auf einem Aschenplatz in der Kreisliga B spielen und träumen, irgendwann gehe Franz Beckenbauer in der Nähe das Benzin aus, er komme zum Sportplatz und entdecke uns für Bayern München.
Lars Leese lebte unseren Traum.
Mit 22 spielte er für die Sportfreunde Neitersen in der Kreisliga Westerwald. Mit 28 sicherte er mit seinen Paraden Barnsleys 1:0-Sieg über den sechsmaligen Europacupsieger FC Liverpool vor 41000 Zuschauern an der berühmten Anfield Road. Aus einem Freizeitfußballer war ein Profi in der legendären Premier League geworden; auf einmal stand er in einer Reihe mit den großen deutschen Torhütern Bert Trautmann und Eike Immel, den Einzigen, die vor ihm in England spielten. So einen Aufstieg hat es noch nie gegeben und wird es vermutlich auch nicht mehr geben, jetzt, wo die großen Klubs ihre Späher bis nach Brasilien zu Jugendmeisterschaften schicken, um ja kein 15-jähriges Talent zu übersehen. In dieser Zeit stieg einer, der mit 26 noch bei Raab-Karcher als Einkäufer für Computerware arbeitete und samstags als Fan beim 1. FC Köln zuschaute, aus der Masse der Zuschauer direkt hinunter auf den Rasen.
»Das ist nicht wahr«, war mein erster Gedanke, als ich Leese im August 1997 in Barnsley für ein Zeitungsinterview traf und seine Geschichte zum ersten Mal hörte. Mein zweiter war: »Die Geschichte kenne ich doch.« Genauso unerwartet, auf ähnlich unglaubliche Weise wie Leese war ich selber tausendmal Profi geworden – in meinen Tagträumen, wenn ich im Klinsmann-Trikot in den Park ging oder an der Supermarktkasse Andi Möller umgrätschte. Die Wahrheit ist: Natürlich wäre den meisten von uns nie so eine Karriere gelungen, selbst wenn Franz Beckenbauer in der Nähe unseres Sportplatzes das Benzin ausgegangen wäre. Natürlich hat Leese mehr Talent als wir alle zusammen; er spielte in der Jugendelf des 1. FC Köln, ehe er mit 16 den Leistungssport schmiss, »weil ich wie 500000 andere auch Frauen und Bier entdeckte«. Aber wenn wir seine Geschichte hören, mit all den kleinen Zufällen, die mithalfen, ihn von der Kreisliga Westerwald in eine der besten Ligen der Welt zu katapultieren, dann dürfen wir ruhig träumen: Was wäre passiert, wenn wir damals in der 43. Minute beim Schulturnier, als der Vereinstrainer von Kickers Offenbach zuschaute, geschossen statt gedribbelt hätten? Was wäre aus uns geworden, wenn wir damals nicht das Spiel mit der Kreisauswahl abgesagt hätten, weil wir lieber mit der Schwarzhaarigen aus der 10b in die Eisdiele Venezia wollten?
In der Halbzeit des Premier-League-Spiels Barnsley gegen Bolton fühlte sich Lars Leese noch immer mehr wie einer von uns, den Tagträumern, als einer von denen, den gestandenen Profis. Er war nur eine Minute in der Umkleidekabine gewesen, dann schickte ihn Trainer Wilson schon wieder hinaus, alleine. Er sollte sich von den Ersatzspielern ordentlich warm schießen lassen, vor seiner hektischen Einwechselung war dafür ja keine Zeit gewesen.
Es war nur Aufwärmen, ich weiß, völlig egal, aber ich habe gedacht: »Oh nein. Mach bloß keinen Fehler.« Bei manchen Schüssen bin ich gar nicht runtergetaucht, sondern habe den Ball einfach mit dem Fuß zurückgespielt, so viel Angst hatte ich, der Ball könnte unter meinem Körper durchrutschen, und das ganze Stadion würde lachen. Zu jedem Schuss, den ich hielt, hörte ich eine Melodie von »Oh, oha, oh« aus der Fankurve hinter mir. Ich habe mich öfter umgedreht und den Zuschauern zugelächelt. Ich wollte betont locker wirken. Dann kamen endlich die Mannschaften aus den Kabinen zurück. In England sprinten sie ja immer wie blöd auf das Spielfeld, wie Figuren aus einem Computerspiel sehen sie aus. »Konzentrier dich, konzentrier dich auf den Ball«, habe ich mir wie ein Mantra vorgebetet. Ich musste irgendwie für mich die Realität wieder finden. Und zwar schnell.
Zwei Minuten nach der Halbzeit köpfte der mazedonische Stürmer Georgi Hristov Barnsley 2:1 in Führung. Von da an drängten die Bolton Wanderers auf Barnsleys Tor. Auf der Haupttribüne saß Daniela, Leeses Ehefrau. Sobald der Gegner über die Mittellinie kam, murmelte sie: »Kein Tor, kein Tor, bitte kein Tor«, und drehte dazu an ihrem Ehering.
»Ich dachte, ich müsste die Bälle mit halten. Ich wollte Lars irgendwie Kraft rüberbeamen«, sagt sie. »Ich hatte ja immer geglaubt, er würde irgendwann im Training besser als der erste Torwart sein und dann spielen. Und dann kam das alles so plötzlich. Ich wusste überhaupt nicht: Darf ich mich freuen, oder ist das unfair, weil sich der andere Torwart doch schwer verletzt hat? Ich hatte Wölkchen im Kopf. Ich war fertig mit den Nerven.« Oma Lina hatte ihren Platz neben Daniela erst gar nicht eingenommen. Als sie die steile Haupttribüne hinuntersah, wurde ihr schwindlig. Sie hielt sich an einem Ordner fest, und auch wenn sie nur auf Deutsch auf ihn einredete, verstand er doch, dass sie oben unter dem Tribünendach bleiben wollte. Der Ordner fand einen Platz für sie, und als sich Daniela umdrehte, sah sie, dass Oma Lina alles andere als aufgeregt war, nämlich sichtlich zufrieden: Hatte sie es nicht gesagt? Lars würde spielen.
Obwohl die Wanderers das Spiel nun dominierten, kamen sie nur zu wenigen Torchancen. Eine Flanke schwang herein, Boltons Mittelfeldspieler Peter Beardsley schlich sich in den Rücken von Barnsleys Abwehr, frei stehend köpfte er aus sechs Metern aufs nahe Toreck. Reflexartig streckte Leese den Fuß aus und wehrte den Ball ab. Ein Freistoß flog über Barnsleys Abwehrmauer. Leese hielt.
Auf der Pressetribüne rückte der Redaktionsschluss nahe, zwangsläufig wurden bereits endgültige Urteile gefällt, während das Spiel noch lief. Michael Morgan, der Reporter der Sun, Großbritanniens auflagenstärkster Zeitung, schrieb über den neuen Torwart: »Ein überzeugender Start seiner Karriere im englischen Fußball.« Dass es überhaupt sein allererstes Spiel als Profi war, wusste im Stadion praktisch niemand. Leese war in England angekündigt worden »als der Mann, der für Barnsley auf eine glamouröse Zukunft mit Bayer Leverkusen in der Champions League verzichtete«, wie Morgan schrieb. Tatsächlich hatte Leese vor seinem Wechsel nach Barnsley ein Jahr als dritter Torwart in Leverkusen gearbeitet; ohne dabei auch nur der Ersatzbank nahe gekommen zu sein.
»Lars, hau den verdammten Ball in den verdammten Kanal, verdammt noch mal!«, brüllte Trainer Wilson. Die Abschläge, die ihn in der ersten Halbzeit in seinen Horrorszenarien so verfolgt hatten, missrieten dem Torwart zunehmend. Er sollte sie raus in den freien Raum auf den Flügel treten, in den channel, den Kanal, wie das in der Sprache englischer Fußballer heißt. Aber Leese war es mittlerweile egal. Hauptsache, er schlug den Ball hoch und weit ab und nicht ins Seitenaus. Hauptsache, sein Horror wurde nicht wahr.
Der Schlusspfiff überraschte ihn.
Ich hatte die zweite Halbzeit wie im Zeitraffer erlebt, mir kamen die 45 Minuten wie zehn vor, nicht mehr. Du verlierst dein Zeitgefühl vor lauter Anspannung. Du siehst 45 Minuten nur den Ball und antizipierst: »Wo könnte der Gegner ihn jetzt hinspielen, wie könnte es gleich gefährlich werden?«, und selbst wenn es dann nicht gefährlich wird, siehst du wieder nur den Ball und bereitest dich unter Hochstrom darauf vor, was passieren könnte, wenn ihn dein Mitspieler jetzt verliert. Und auf einmal ist Schluss. 2:1 gewonnen, der erste Heimsieg für Barnsley in der Premier League, das war historisch; irgendwie. Ich weiß nicht, was in mich fuhr, ich habe das nie zuvor und nie mehr danach gemacht, aber meine erste Reaktion war: Ich hob meine Hände, als würde ich einen imaginären Pokal halten, schaute zu meiner Frau, sah sie auf der Tribüne weinen und formte mit meinen Händen ein Herz in die Luft. Wenn ich Casanova wäre, würde ich jetzt sagen: Ich tat es, weil ich es ohne sie nicht geschafft hätte. Die Wahrheit ist, ich weiß nicht, warum ich es tat. Keine Ahnung. In der Kabine brüllte der Trainer: »Fuckin’ great, fuckin’ quality!« Er hätte alles sagen können. Ich war total durch den Wind. Ich bin dann mit Daniela und der Oma nach Hause gefahren, auf den Straßen haben mich die Fans sofort erkannt, klar, wir saßen in einem Golf Cabriolet mit deutschem Nummernschild.
»So war es, bloß warst du nicht dabei: Du bist mit Ales Krizan nach Hause gefahren, im Cabrio saßen nur die Oma und ich«, sagt Daniela, die die Kinder Vivian, sechs, und Christopher, vier, ins Bett gebracht hat und zu uns ins Wohnzimmer gekommen ist.
»Aber warum weiß ich dann noch so genau, wie es war, als die Fans an der Ampel alle gehupt haben?«, fragt Leese.
»Weil ich es dir erzählt habe«, sagt Daniela und erzählt es noch einmal: »Die Leute sind völlig ausgeflippt, die waren so glücklich, so irre. Die haben uns überholt, das Fenster runtergekurbelt und gebrüllt: ›Lies! Lies! Lies!‹ Ich musste zur Oma Lina sagen: ›Bleib cool, Oma, zieh dich jetzt nicht aus und tanze nicht auf der Motorhaube.‹«
»Und da war ich gar nicht dabei?«, fragt Leese, immer noch verwundert, wie ihn sein Gedächtnis so austricksen konnte. Draußen ist Hürth nicht mehr zu sehen. Es ist Nacht geworden.
Ich bin in der Nacht erst um vier oder fünf ins Bett. Im Stadion hatte ich noch ein Interview für den lokalen Radiosender Hallam FM gegeben. »Stellen Sie mir einfache Fragen, ich bin zu aufgewühlt«, hatte ich den Reporter noch gebeten. Als ich aus dem Oakwell nach Hause kam, hab ich einfach nur noch dagesessen und eine Zigarette nach der anderen geraucht. Ich hatte unheimliche Kopfschmerzen, von der Anspannung während des Spiels. Trotzdem bin ich jede einzelne Szene aus dem Bolton-Spiel noch mal im Kopf durchgegangen, selbst das Radio-Interview: Was hättest du wo besser machen können? Ich sah dieselben Augenblicke, den Eckball, den Freistoß, den Radiomann, immer wieder, bis fünf Uhr früh.
Am nächsten Morgen bin ich gleich in den Supermarkt und habe mir alle Zeitungen gekauft. Ich war, wie soll ich sagen … was sagst du: glücklich? Doch, ja, ich war auch glücklich, megaglücklich, aber Glück war nicht das stärkste Gefühl. Komisch, oder? Nein, ich … ich spürte so eine Mischung aus viel Druck und ein wenig Zuversicht, ich …
Er setzt noch einmal an.
Ich fühlte: Jetzt geht es los.
Auf der Fahrt in den Westerwald rauchte Lars Leese drei Zigaretten. Eine auf der A3 bis Hennef, eine auf der Landstraße Richtung Altenkirchen, eine nach der Ortseinfahrt Neitersen. Er glaubte, es würde ihm helfen, das anstehende Fußballspiel zu gewinnen.
Nicht das Rauchen an sich, aber eben drei Marlboro im Rhythmus Autobahn, Landstraße, Ort. Er war da abergläubisch. Später, an den vielen Sonntagen, die folgten, würde er das Ritual gewissenhaft einhalten. Am 3. September 1989, auf dem Weg von Köln zu seinem ersten Spiel für die Sportfreunde Neitersen, begann er es.
Er hatte größere Fußballspiele hinter sich, Partien, in denen er um nicht weniger als um seine Zukunft im Profifußball gespielt hatte; oder zumindest hatte er das geglaubt, damals, als er mit 16 in der B-Jugend-Elf des dreimaligen deutschen Meisters 1. FC Köln das Tor hütete. Drei Jahre waren seitdem vergangen. Nun würde er zum ersten Mal wieder in einem Meisterschaftsspiel im Tor stehen. In der Kreisliga A, Region Westerwald-Sieg, drittletzte Spielklasse. Freizeitsport.
Leute, die nie in einer Kreisliga gespielt haben oder nie daran denken würden, sonntags ein Match von 22 mehr oder meistens weniger sportlichen Männern auf einem matschigen Aschenplatz anzuschauen, mögen denken, das alles sei ein unschuldiger Spaß. Sie könnten nicht weiter von der Wahrheit entfernt sein. Das hier ist Ernst: In der Kreisliga kaufen Spieler Fußballschuhe für 249 Mark und glauben, nun könnten sie besser flanken; David Beckham hat doch dieselben Schuhe. In der Kreisliga gehen komplette Teams von Architekten, Bürokaufleuten und Dachdeckern im Juli dreimal die Woche zum Waldlauf, aber im restlichen Jahr nie mehr; sie haben sich doch fit gemacht für die Saison.
Als ich mich zwölf Jahre später auf Leeses Spuren nach Neitersen begab, hielt ich mich für erwachsen genug, den Eifer der Kreisligasportler nicht zu ernst zu nehmen. Und dann saß ich mit Jürgen Sanner, einem der ehemaligen Mitspieler von Leese, an einem kühlen Sommernachmittag am Sportplatz in Neitersen, und während wir über Leese redeten, packte uns der Enthusiasmus. Wir blickten auf diesen dämlichen, verlassenen Aschenplatz und begannen uns von unseren bescheidenen, belanglosen Fußballsiegen im Amateurfußball zu erzählen. »Als wir 1991 Meister in der Kreisliga wurden, hörte ich auf. Ich fühlte, was Schöneres konnte ich nicht erreichen«, sagte mir Sanner, und es klang, als würde er mir ein intimes Geheimnis anvertrauen. Und ich verstand ihn, natürlich: Wer in der Kreisliga spielt, ahnt, dass sein Sportlerleben wohl keinen größeren Erfolg als einen Derbysieg über Eintracht Guckheim bereithält. Aber das hindert ihn nicht, an die Wichtigkeit seines Spiels zu glauben.
Leese wenigstens, der zwischen FC Köln und Sportfreunde Neitersen, zwischen ambitioniertem und amateurhaftem Fußball unterscheiden konnte, hätte doch über die Beflissenheit der Hobbykicker lächeln müssen. Aber er war der Schlimmste. Als er an jenem Sonntag zu seinem ersten Spiel im Westerwald ankam, ging er dreimal aufs Klo. Und das hatte nichts mit Aberglaube zu tun.
Der Druck ist bei einem Kreisligaspiel genauso groß wie bei einer Bundesligapartie. Den Spruch habe ich damals in Neitersen gemacht – und wirklich geglaubt. Weil ich mich selber so unter Druck setzte, weil ich mich lange vorher so sehr auf das Match konzentrierte, dass es mir unvorstellbar schien, wie jemand unter noch mehr Anspannung stehen konnte. Die Idee, dass Druck auch etwas damit zu tun hat, ob 18000 oder 180 Zuschauer zusehen, kam mir nicht. Man hat ja so selten 18000 Zuschauer in der Kreisliga.
Im Westerwald war Leese bereits angekündigt worden. »Ex-Nationalkeeper Lars Leser in Neitersen« hatte die Rhein-Zeitung gemeldet. Die Sportfreunde Neitersen hätten einen 20-jährigen früheren Jugend-Nationaltorwart aus Köln verpflichtet und würden ihn am Sonntag im Auswärtsspiel beim SV Alsdorf zum ersten Mal einsetzen. Die Überschrift war ein bisschen größer als die nebendran zu den Handballfrauen aus Weyerbusch, aber der Ton des Berichts war genauso nüchtern, genauso unaufgeregt. Als ob im Westerwald alle paar Wochen ein Jugend-Nationalspieler in der drittletzten Amateurklasse auftauchte.
Ein paar Kleinigkeiten des Artikels stimmten zwar nicht ganz – und nicht nur Leeses Nachname. Die Jugendauswahl, in der er mit 14 gespielt hatte, hieß Mittelrhein und nicht Deutschland. Aber das interessierte an diesem Sonntag am Sportplatz in Alsdorf niemanden mehr. Normalerweise standen dort immer gut 100 bis 150 Zuschauer an der Seitenlinie, nahe dem Bierausschank. Gegen Neitersen waren es nur 40. Die restlichen 80 oder 90 hatten sich hinter Leeses Tor zusammengerottet.
Nicht lange nach dem Anpfiff, es gab einen Eckball für Alsdorf, hörte der Torwart einen Spieler des Gegners rufen: »Los, jetzt hauen wir dem Natio einen rein!«
Das gelang an diesem Nachmittag allerdings nicht mehr. Leese hielt, wenn auch nicht länderspielreif, immerhin genug, um seinem neuen Ruf nicht zu schaden. Am Montag würdigte die Rhein-Zeitung den Auftritt in der für ein A-Liga-Spiel üblichen Größe und Länge: Der Spielbericht bestand aus einem Satz. »In Alsdorf trennten sich die Schützlinge von Trainer Roland Kölsch und die Elf der Sportfreunde Neitersen mit einem leistungsgerechten torlosen Unentschieden.«
Die Sache mit dem Jugend-Nationaltorhüter mag im Detail nicht ganz richtig gewesen sein, aber der Kern, sagt Rudolf Bellersheim, Vorsitzender und enthusiastischer Mäzen der Sportfreunde Neitersen, habe doch gestimmt: »Der Lars war ’ne Nummer besser, als die Torhüter im Westerwald normalerweise kommen.«
»Der hat jeden Elfmeter gehalten!«, wirft Bellersheims Sohn Arnd begeistert ein.
»Tja, Sie sehen schon, was für Legenden hier zwölf Jahre später noch immer über den Lars im Umlauf sind«, sagt Vater Bellersheim. Wir sitzen beim Mittagessen in seinem Haus in Neitersen.
Am Ortsausgang ist sein Name so groß ausgeschrieben wie das nächste Dorf. Walterschen 3 km steht auf dem gelben Hinweisschild, BELLERSHEIM auf dem weißen darüber. Es weist zu seiner Firma, die er zusammen mit seinem Bruder Horst führt, Mineralölverkauf, 20 Tankstellen, 180 Angestellte. Bellersheim herrscht über sie im Stil so vieler Großunternehmer in kleinen Orten, persönlich und patriarchalisch zugleich: Er ist der Bello für die meisten im Dorf und schickt mit Selbstverständlichkeit in der Mittagspause einen Firmenmitarbeiter in den Wald – zum Gassigehen mit Carlo, Bellersheims jungem Hund.
»Er wird dir sicher die Geschichte mit Schalke erzählen«, hatte mir Leese mit auf den Weg gegeben, und tatsächlich, natürlich, erzählt Rudolf Bellersheim, 56 Jahre alt, mit leuchtenden Augen, wie er einmal im Leben mit Altenkirchen, dem Dorfverein nebenan, im Freundschaftsspiel gegen das große Schalke 04 spielte. »Fußball«, sagt Bellersheim und seufzt. Manchmal gehe er sonntags nicht zum Zuschauen zum Sportplatz in Neitersen, weil er sich denke: »Kannst doch nicht jeden Sonntag auf dem Sportplatz stehen.« Aber dann halte er es doch kaum aus, das Ergebnis des Teams zu erfahren, in das er Jahr für Jahr ein wenig seines Vermögens steckt. Und er dürfe ja erst eine Viertelstunde nach Spielschluss anrufen. Vorher bringe es Unglück.
»Aber jetzt lassen Sie mich noch mal überlegen«, sagt er. »Wo sagen wir immer: ›Das hat der Lars eingeführt‹?«
Er überlegt laut.
»Den weiten Abwurf. Klar.«
Er murmelt.
»Das Leo!-Rufen.«
Das Leo-Rufen? Das ist doch eine alte Geschichte: Wenn der Torwart das Codewort Leo! brüllt, wissen die Verteidiger, sie müssen den Kopf einziehen, der Keeper kommt raus, um die Flanke abzufangen. Das wird seit Jahrzehnten auf deutschen Fußballplätzen praktiziert, das kann nicht erst Lars Leese eingeführt haben.
»Na ja«, sagt Bellersheim. »Aber er hat es hier als Erster so richtig gemacht: Leooo!, so richtig laut, verstehen Sie, und zack! hatte er die Flanke. Der hatte seinen Strafraum im Griff.«
Aber Bellersheim dachte noch an was anderes. Er will weiterüberlegen.
»Ach so, ja! Wenn wir im Rückstand lagen, und es gab kurz vor Schluss Eckball für uns, da ist der Lars mit nach vorne und hat versucht, ein Tor zu köpfen. Der Torwart im gegnerischen Strafraum! Das gab es hier im Westerwald noch nicht.«
So verbreitete sich schnell der Ruf, in Neitersen hätten sie einen Überflieger. Doch das Rätsel blieb, warum in aller Welt dieser Torwart dort gelandet war. Warum lieh sich ein 20-Jähriger aus Köln jede Woche den VW Golf seiner Mutter und fuhr 68 Kilometer hin, 68 zurück, um in einer Liga zu spielen, für die er sichtbar überqualifiziert war? Um in einem Dorf mit 850 Einwohnern zu spielen, von dem er noch nie zuvor gehört hatte?
Es gab Erklärungsversuche. Nichts mögen Fußballer mehr als ein ordentliches Gerücht; hierbei zumindest unterscheidet die Kreisklassenkicker nichts von den Profis. Montagmorgen am Arbeitsplatz werden die Neuigkeiten von den Sonntagsspielen weitergegeben, Dienstagabend nach dem Training in den Umkleidekabinen von Dutzenden Dorfvereinen die Eindrücke geformt und gefestigt. Und wenn der Freitagabend kommt in ländlichen Gegenden wie dem Westerwald, wo die Dörfer Oberirsen oder Mittelirsen heißen, die Bars aber Cheyenne oder Gecko, dann werden spätestens nach sieben Bier aus Gerüchten Mythen.
Die haben dem Leese in Neitersen eine Arbeitsstelle besorgt.
Total lockerer Job.
Und in der Mittagspause geht er trainieren.
Unglücklicherweise wurde die Idee so schnell wie sie aufkam auch wieder als falsch entlarvt. Während seines ersten Spieljahrs in Neitersen machte Leese gerade sein Fachabitur auf der höheren Handelsschule, später absolvierte er bei Rovers in Köln eine Ausbildung zum Groß- und Außenhandelskaufmann.
Der Leese bekommt in Neitersen ’ne Riesenkohle.
Mehr als ein Zweitligaspieler.
Und alles schwarz.
Es ist das Lieblingsthema des Amateurfußballs: welche Unmengen Geld manche Spieler mit ihrem Hobbygekicke doch verdienen. Tatsächlich gibt es vereinzelt Fußballer, meist ehemalige Amateur-Oberligaspieler, die in der sechsten oder siebten Spielklasse für zweimal Training und ein Spiel pro Woche vom örtlichen Elektrogroßhändler oder Autoverkäufer monatlich 1500 Mark zugesteckt bekommen. Jeder Amateurfußballer, der was auf sich hält, kennt so einen Spieler – oder er will zumindest davon gehört haben, von einem Freund, dessen Freund … und am Ende glauben viele Kreisligaspieler, solche Zahlungen seien die Norm; natürlich immer nur in anderen Vereinen. In Wirklichkeit spielen die meisten für 50 Mark Siegprämie und ein freies Abendessen in der Vereinsgaststätte. Aber wen interessiert die Wirklichkeit, wenn sie so langweilig ist? Die Sportfreunde Neitersen boten sich dank des Engagements des Unternehmers Bellersheim wunderbar für wildere, schönere Spekulationen an.
»Da kommt der FC Bellersheim, heißt es immer«, sagt Bellersheim, und es ist nicht zu erkennen, ob er gekränkt ist oder stolz. »Den Neid hat Bayern München im Großen und wir im Kleinen.«
Tatsächlich bekam Leese im ersten Jahr monatlich 300 Mark Spesen, wovon der Großteil für Benzin draufging. Plus 30 Mark Siegprämie. Im zweiten Jahr, als er laut überlegte, ob es die Fahrerei noch wert sei, vertrieb Bellersheim die Zweifel des Torwarts vor Saisonbeginn mit 3000 Mark extra; Aufwandsentschädigung nennt man das in der Kreisliga.
Das Geld hätte Leese auch in Köln bei einem beliebigen Bezirksligisten bekommen können.
Es blieb nur noch eine Erklärung:
Der ist schwul!
In Köln kann er sich nicht mehr blicken lassen.
Der Leese ist schwul.
Das klang so, als erkläre das alles; alle Merkwürdigkeit auf der Welt sowieso und also auch, was diesen Torwart nach Neitersen brachte.
Fast zu jedem Spiel, und oft sogar zum Training, brachte Leese seinen besten Freund Holger Wacker mit. Sie gingen gemeinsam zur Schule, zwei Jahre zuvor, in der elften Klasse, waren sie auch zusammen sitzen geblieben.
Für etliche im Westerwald war es schon pervers, dass einer aus Köln zum A-Klasse-Spielen nach Neitersen kam – und dann hatte er auch noch ständig einen Typ dabei, der selber nicht einmal Fußball spielte. Der nur zuguckte.
Der Leese ist schwul, der Leese ist schwul!
Doch relativ schnell war auch diese Theorie zur Enttäuschung vieler nicht mehr aufrechtzuerhalten, weil Leese mit seiner lockeren Art nicht nur sonntags die Mitspieler mitriss, sondern freitags in der Disco die jungen Mädchen sowieso. Und Freund Holger kam einfach mit, weil es ihm in der Provinz gefiel, die Mädchen, die Geselligkeit, die Popularität, die sein großer Freund Lars und somit auch er genossen.
Warum aber, wenn er keine Arbeitsstelle und nur ein Taschengeld bekam, wenn er noch nicht einmal schwul war, verschlug es Lars Leese dann zum Fußballspielen nach Neitersen?
Als ich meinen Freunden in Köln damals erzählte: »Leute, ich spiele ab sofort im Westerwald«, haben die geantwortet: »Bist du bescheuert, oder was?! So weit fahren, nur um in der A-Klasse zu kicken? Das kannste in Köln doch an jeder Ecke haben.« Ich habe ihnen dann einfach vorgelogen, ich würde in Neitersen ganz viel Geld bekommen. Da haben sie gesagt: »Ach, klar. Würden wir auch machen.« Eine wahre Erklärung konnte ich ihnen nicht geben – ich wusste es doch selbst nicht, warum ich da jede Woche ein- oder zweimal zum Training und Spiel runtergurkte. Angefangen hatte es, als ich durch einen Zufall bei einem Hobbyturnier im Westerwald spielte, und es kam einer von Neitersen an: Ja, Mensch, ich sei ja super, ob ich denn in Zukunft nicht bei ihnen kicken wollte. Vielleicht war es das: dass ich spürte, da gibt es noch irgendjemanden, irgendwo und wenn es in der hintersten Provinz ist, der was von dir als Fußballer hält. Dieses Gefühl haben sie mir gegeben in Neitersen. Egal, dass es auf kleinstem Niveau war, aber dort galt ich plötzlich als großer Keeper. Vielleicht war es das: Vielleicht habe ich diese Anerkennung immer gesucht, seit ich mit 16 beim FC Köln in einem pubertären Anfall den Fußball hinschmiss – aber das führt jetzt weit zurück, eigentlich bis zu der Zeit, als ich 13 war.
Die wenigsten Kinder, die mit 13 bei einem Profiklub spielen, glauben, dass sie einmal Fußballprofi werden. Die meisten Kinder, die mit 13 bei einem Profiklub spielen, wissen, dass sie einmal Fußballprofi werden. Dass sie es nicht schaffen könnten, ist für sie unvorstellbar. Der Gedanke, dass es Tausende mit demselben Traum gibt, aber nur rund 950 Profistellen in Deutschland, kommt ihnen nicht. Nicht mit 13.
Es ist das Alter, in dem Kinder aus einem Radius von bis zu 100 Kilometern erstmals gezielt von den Bundesligavereinen angeworben werden. Lars Leese wurde vom FC auserwählt, wie in Köln der 1. Fußball-Club der Stadt genannt wird; so als gebe es auf der ganzen Welt nur einen FC. Bis dahin hatte Leese beim SC Fortuna gespielt, dem zweiten, kleineren Kölner Profiklub, und im Klettenbergpark, praktisch jeden Tag vom Schulschluss bis zur Dämmerung. Dort war er wenigstens nicht alleine.
Er war sieben, als sich seine Eltern scheiden ließen. Auf einmal war die Wohnung in der Luxemburger Straße leer. Ute Leese war ausgezogen, zu ihrem neuen Mann nach Hürth, Lars’ Schwester Tamara kam mit ihr. Und Wolfgang Leese, der das Sorgerecht für Lars erhielt, war auf der Arbeit, im Stellwerk bei der Bundesbahn. Noch heute hält Lars Leese es nicht aus, heim in eine leere Wohnung zu kommen.
Er machte den Park zu seinem Wohnzimmer. Auf dem Weg dorthin, die Luxemburger hinunter, eine lange, breite Ausfallstraße im Kölner Süden, kam er an einer Fahrschule vorbei. Oft rotzte er gegen das Fenster. Er glaubte, dahinter wohne ein Ungeheuer.
Das hatte mir mein Vater so eingetrichtert. Die Fahrschule gehörte meinem Stiefvater; und er war ja das Monster, das meine Mutter gestohlen hatte. Als Siebenjähriger glaubst du leicht, was dein Vater sagt, und mein Vater war doch mein Held: Manchmal nahm er mich mit zur Arbeit, und wir bolzten stundenlang im Stellwerk herum, das schepperte lauter als jede Eisenbahn. Er der Stürmer, ich der Torwart natürlich. Dass ihn meine Mutter verlassen hatte, und dann auch noch mit einem Freund der Familie, konnte mein Vater nicht verwinden. Ich sollte mit denen bloß nichts mehr zu tun haben, schärfte er mir ein. Das ging so weit, dass mein Vater oben in der Wohnung mit der Stoppuhr am Fenster stand, wenn ich morgens in die Schule ging. Denn meine Mutter führte immer noch ihren Schreibwarenladen direkt neben unserer Wohnung in der Luxemburger Straße. Mit der Stoppuhr wollte mein Vater kontrollieren, wie schnell ich an der nächsten Ecke war; dass ich auch ja nicht zu meiner Mutter reinginge. Über dem Laden meiner Mutter war allerdings ein Vordach, so konnte mein Vater nicht sehen, dass meine Mutter dort an der Tür stand und mir wenigstens schnell einen Kuss und ein Pausenbrot gab.
Als Leese elf war, wurde sein Vater Wolfgang ins Krankenhaus eingeliefert. Die Bauchspeicheldrüse. Selbst für diese kurze Zeit wollte Wolfgang Leese den Sohn nicht zur Mutter lassen. Lars kam bei einem Freund aus dem Fortuna-Jugendteam im Südkölner Arbeiterviertel Zollstock unter.
Dort war die Wohnung zwar alles andere als leer, aber zwischen den vier Kindern der Familie war das Gefühl, alleine zu sein, noch viel stärker als zu Hause. Irgendeines der Kinder schrie immer, und kurz darauf auch die Mutter. Die Frau war ihm nicht geheuer, mehr erschrocken als staunend sah er, wie sie in der Küche Konservendosen mit den Zähnen aufmachte. Nach 14 Tagen rannte er weinend in den Schreibwarenladen seiner Mutter Ute.
»Wofür habe ich denn eine Mutter?«, fragte Leese.
»Du bleibst bei uns«, sagte Ute Leese.
Abends stand er dann zum ersten Mal dem Stiefvater gegenüber. Nervös fragte sich Lars Leese: »Darf ich jetzt mit dem sprechen, oder muss ich meinem Vater beichten, dass ich beim Monster war?«
Wolfgang Leese lernte unterdessen im Krankenhaus seine neue Frau kennen und stimmte ohne größere Widerstände zu, das Sorgerecht für Lars an seine erste Frau abzutreten.
Als der FC anfragte, wohnte Lars Leese bereits zwei Jahre mit seiner Mutter und dem Stiefvater in der Wohnanlage Hahnenstraße im Vorort Hürth. Er ging nicht mehr direkt von der Schule zum Kicken in den Klettenbergpark – sondern direkt nach Schule und Mittagessen. Wenn um 17 Uhr beim FC Training war, kam er schon mit grünen Knien an.
Dass Leese quasi sofort mit dem Vereinswechsel geradezu riesige Fortschritte machte, hatte allerdings weniger mit dem FC als mit den Tücken der Pubertät zu tun. Innerhalb eines Jahres wuchs er 30 Zentimeter. Noch ehe er 15 war, maß er 1,93 Meter.
Nach der Logik eines Kindes war der Ruf des FC für einen Torwart die höchste Weihe. Denn bei den Profis des FC spielte Anfang der Achtzigerjahre Toni Schumacher, einer der weltbesten Torhüter, also hieß das doch, dass man als FC-Jugendkeeper in ein paar Jahren genauso gut werden würde. Oder?
Einmal rannte Leese im Training tollkühn aus seinem Tor, die Flanke würde selbst er kaum kriegen, und tatsächlich knallte seine Faust statt an den Ball mit Vehemenz dem Mitspieler Günther Baerhausen an den Kopf, einem, der später übrigens wirklich Profi wurde, beim Zweitligisten VfL Osnabrück.
»Glaubst du, du bist Toni Schumacher?«, schrie Baerhausen.
»Ich probiere doch nur, die Flanke zu kriegen«, rief Leese zurück, und das hieß: Ja, natürlich glaube ich, dass ich der neue Schumacher bin.
Der Glaube hatte ihn nicht verlassen, als er 16 war. Er wusste noch immer, dass er Schumacher der Zweite war. So war es keine durchdachte Entscheidung, als Leese an einem Herbstmontag plötzlich nicht mehr zum Training der B-Jugend kam. Es war eine Kurzschlussreaktion, die Laune eines Jugendlichen.
Am Tag zuvor hatten sie gegen Alemannia Aachen nur unentschieden gespielt. Für ein Jugendteam, das gewohnt war, 5:0 oder 6:0 zu gewinnen, war das wie eine Niederlage. Am Geißbockheim, wie das Vereinsgelände des FC wegen des Wappentiers heißt, zeterten ein paar der Rentner, die immer da sind. In der Umkleidekabine drohte Trainer Roland Koch, der später als Assistenztrainer von Christoph Daum die Profis des VfB Stuttgart und von Bayer Leverkusen scheuchen würde, dann müsse eben das Training härter werden. Leese fühlte sich persönlich gekränkt. Er wollte es doch nur allen recht machen. Genügte es nicht, dass seine Freundin Claudia, die erste Freundin seines Lebens, immer schon meckerte, er sei nur mit seinem Scheißfußball beschäftigt? Und nun musste er sich auch noch beim Fußball beschimpfen lassen.
Da hat es Klick gemacht: Ihr könnt mich doch alle. Du denkst, die ganze Welt sei gegen dich. Na gut, dann wirst du dich halt der ganzen Welt widersetzen. Also bin ich am Tag nach dem Aachen-Spiel nicht zum Training – ohne gleich zu denken, das war es jetzt für immer mit dem Fußball. Sondern einfach: Da gehst du mal nicht hin. Stattdessen bin ich mit meiner Freundin ins Kino. Am nächsten Wochenende auch das erste Mal in eine richtige Disco, das waren Sachen, für die sonst kaum Zeit war, weil ich immer vier-, fünfmal die Woche ins Training musste. Da dachte ich noch: Siehste, war richtig, mal nicht auf den Sportplatz zu gehen. Beim FC wurde gleich alles in Bewegung gesetzt. Was los sei, warum ich nicht käme. Eltern von Mitspielern riefen an, der Koch kam zu mir nach Hause, aber der hat eher auf Psychologe gemacht, er verstünde ja alles und so – vielleicht hätte ich einfach einen gebraucht, der mir den Kopf gewaschen hätte; keine Ahnung. Tief im Herzen wollte ich ja zurück ins Training, ich bereute meine Rebellion schon, während ich noch rebellierte. Aber ich konnte es nicht zugeben. Ich habe auf trotzig geschaltet: Ich hör auf mit dem Fußball, lasst mich in Ruhe – und irgendwann, vermutlich schneller, als ich wollte, haben sie dann tatsächlich Ruhe gegeben. Sie hatten mich abgeschrieben. Beim FC gab es einen neuen B-Jugend-Torwart, und das war’s dann.
Es war das Ende einer Profikarriere, bevor sie begann.
Zu trauern oder gar zu bereuen ließ sich Leese keine Zeit. Die Wochen bekamen einen neuen Rhythmus. Statt Training, Training, Training hieß es nun Montag Kino, Dienstag Dallas und Mittwoch Denver-Clan, die amerikanischen Seifenopern mit der Freundin vor dem Fernseher.
Nach ein paar Wochen saß Freundin Claudia wieder alleine vor Dallas – und Lars mit ihrer Mutter im Wohnzimmer. Sie schauten an dem zweiten Fernseher die Zusammenfassung der Fußball-Europacupspiele.
Es war die einzige Zeit in Leeses Leben, in der er nicht Fußball spielte. Nach drei, vier Monaten merkte er, was ihm fehlte: nicht unbedingt die Chance, Profi zu werden. Nicht so sehr das Gefühl, beim FC zu spielen. Sondern die Gemeinschaft einer Mannschaft.
Nach den Sommerferien, ein Dreivierteljahr nachdem er sich vom FC abgesetzt hatte, packte er seine Sporttasche und ging zum BC Efferen. Es war der nächstgelegene Klub. In welcher Liga sie spielten, und Efferens Jugend spielte in der zweitletzten, war nicht so wichtig. Dieses Glücksgefühl, wenn man gewonnen hat, zusammen gewonnen hat – das suchte er wieder. Man kann es in jeder Liga finden.
Einige in Efferen erkannten in ihm den ehemaligen FC-Torwart.
Das sei ja super, dass sie so einen guten Torwart bekämen.
»Nein«, sagte er, »ich werde im Mittelfeld spielen.«
Natürlich kam ihm der Gedanke, du hast deine Profikarriere weggeschmissen. Als 1988 nach einem Heimspiel die Profis des FC im Müngersdorfer Stadion auf Ehrenrunde gingen, wofür es damals noch öfter Grund gab als in den kommenden Jahren, stand Leese wie bei fast jedem Spiel mit FC