Louise Jacobs

Louise sucht das Weite

Wie ich loszog, Cowboy zu werden,
und zu mir selbst fand

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Louise Jacobs

Louise Jacobs, geboren 1982, wuchs in der Schweiz und den USA auf. Als Vierzehnjährige begann sie mit dem Schreiben – eine Leidenschaft, die sie bis heute nicht mehr loslässt. Ihr erstes Buch, »Café Heimat«, die Geschichte ihrer Familie, erschien 2006 und stand monatelang auf der Bestsellerliste. Zuletzt erschien der Spiegel-Bestseller »Fräulein Jacobs funktioniert nicht«. Louise Jacobs lebt in Vermont.

Impressum

© 2016 der eBook Ausgabe by Knaur eBook.

Ein Unternehmen der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Coverabbildung: Christina Ryan

Bildnachweis: Privatarchiv der Autorin

ISBN 978-3-426-43994-4

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All den schönen Pferden

Prolog

Ich habe den Traum, mal nach Mexiko zu reiten oder in Montana zu leben. Ich träume davon, eine Farm mit vielen Pferden und Rindern zu besitzen. Auf meinem eigenen Land könnte ich schon morgens bei Sonnenaufgang in den kühlen Morgen reiten oder bei strömendem Regen durch die Wiesen streifen. Ich träume davon, mittags neben meinem Pferd an einem Fluss zu liegen und dem rauschenden Wasser zuzuhören. In meiner Phantasie ist dieser Traum ganz lebendig. Und ich weiß nicht, wann, und ich weiß auch nicht, wie, aber dieser Traum wird wahr werden.

 

Tagebucheintrag vom 11. April 1997

1. Teil

Auf der Suche

1

Neunzehn Jahre später sitze ich in meinem Arbeitszimmer im Staat der grünen Berge. Draußen schweben einzelne Schneeflocken durch die Luft. Die Fliegen erwachen aus dem Winterschlaf, summen herum oder liegen tot auf den Fensterbrettern. Scheint die Sonne, schimmern die Knospen an den sonst kahlen Bäumen schon rötlich. Die Felder sind blass, sie haben, seit der Schnee abgetaut ist, nur selten das Licht gesehen. Unter ihnen taut die Erde sehr langsam, und im Wald bricht der Boden auf, da der Frost aus der Erde steigt. Auf den Pfaden ist es matschig oder vereist, das Schmelzwasser fließt in jeder Furche, es herrscht eine Stille, als warte ein leergeräumtes Haus auf seine Besucher.

Frühling ist die härteste Jahreszeit in Vermont. Die Farmer haben sich in ihre Sugar Houses zurückgezogen, wo sie den Saft der Ahornbäume über dem Holzfeuer zu Sirup einkochen. Sie kochen unser flüssiges Gold.

Wenn ich zum Post Office fahre, um die Post zu holen, sehe ich die Rinder auf den kargen Wiesen stehen, die Muttertiere sind trächtig, die Kolkraben hopsen auf der Suche nach Würmern umher. Die Bären streunen am Waldrand entlang, die Rehe kommen abends bei Dämmerung aus dem Dickicht, am Flussufer habe ich auch schon einen Adler gesehen.

Halte ich dann auf dem Weg nach Hause im Country Store im Ort, um mir Kaffee zu holen, kann es sein, dass ein paar alte Herren aus der Umgebung dasitzen, maulen und sich übers Wetter und ihre Gesundheit beschweren.

Die Städter nennen das Leben auf dem Land das »einfache Leben«; dass das eine Illusion ist, merke ich, wenn es März in Vermont ist. Ich bin in meinem Leben immer wieder nach Vermont gereist, einen Ort, in den sich bereits mein Vater vor zwanzig Jahren verliebt hatte und wo wir seit 1990 unsere Sommer auf einer Farm verbachten. Die »Farm« war anfangs nichts weiter als ein rotes Backsteinhaus mit vier Schornsteinen auf dem Dach und ein altes, leeres Stallgebäude, das ebenfalls auf dem Grundstück stand. Wir besaßen in den ersten Jahren keine Tiere auf dieser »Farm«, da wir Vermont ja nur im Sommer besuchten. Erst sehr viel später schaffte mein Vater ein Pony namens Rudi und einen Esel namens Pewee an. Weitere Jahre später kamen Schafe und Pferde dazu.

Das nächste Dorf liegt etwa eine Meile von der Farm entfernt, hat einen Gemischtwarenladen, an den das Post Office angeschlossen ist, es gibt eine Kirche, ein Hotel und eine Feuerwehr – das ist es. Als Kind hätte man sich keinen Ort vorstellen können, der weniger bot als Vermont. Und doch schafften es meine Eltern, dieses Weltende für uns zum Paradies zu machen.

In den Vermonter Wäldern konnte ich reiten, so viel ich wollte. Ich konnte nackt in den Weihern schwimmen, nachts bei Vollmond im taunassen Gras liegen und morgens wieder beim ersten Sonnenlicht, in Wolldecken eingehüllt, in mein Tagebuch schreiben. In Vermont entstand mein Traum vom Cowboysein, und dieser Traum hat mich durch meine Kindheit und Jugend getragen und auch nicht mehr verlassen, als ich längst erwachsen war.

Heute lebe ich nicht mehr auf der Farm, bin mit meiner Familie in ein Haus zwei Orte weiter eingezogen. Ich bin auch nicht mehr nur im Sommer in Vermont, sondern eben auch im März. Aber der Weg zurück nach Vermont war lang.

2

Es muss im Herbst des Jahres 2014 gewesen sein. Ich saß seit meinem neunzehnten Lebensjahr in Berlin fest. Ich war Schriftstellerin von Beruf – und wollte doch nichts mehr als auf einer Rinderfarm in Amerika anheuern und damit mein Geld verdienen. Ich wollte Kühe treiben, Kälber brennen, Stiere kastrieren, unter freiem Himmel schlafen, Whiskey am Feuer trinken, viel reiten und lange, langweilige Tage auf der Ranch verbringen, an denen ich nichts weiter tat, als Lederzeug zu flicken: So stellte ich mir ein ausgefülltes Leben vor.

Ich habe so viele Anläufe unternommen, diesem Leben näher zu kommen, es ist fast komisch. Viele Jahre habe ich mich weit und noch weiter von meinem Traum entfernt, habe die Hoffnung aufgegeben, jemals so glücklich werden zu können, wie es für mich stimmte. Ich lebte nicht in Amerika, wo ich einfach mein Auto hätte vollpacken können, um gen Westen zu fahren. Ich hatte keine Kontakte in den Wilden Westen, keinen Onkel, der starb und mir seine Ranch vermachte. Ich war, wo immer ich versuchte, den Cowboy zu leben, lediglich eine Besucherin. Immer wieder stellte sich mir das Leben in den Weg, hinderte mich daran zu versuchen, es anders und neu zu machen.

Im Herbst 2014 stand ich an einem Punkt in meinem Leben, an dem klar war, dass mein Leben so, wie ich es in Berlin führte, keine Zukunft hatte. Mir war nur elend, und ich fühlte mich alleine und gottverlassen. Wenn ich wirklich als Cowboy in Amerika leben wollte, musste ich endlich etwas dafür tun.

Ich suchte im Internet nach Arbeit und fand eine Webseite mit zahlreichen Angeboten für Ranch-Jobs. Ich sortierte sie nach Orten, und da »Sheridan, Wyoming« irgendwie gut klang, wählte ich kurzentschlossen die dort angegebene Nummer eines gewissen »Wallie«. Nachdem niemand abnahm, schaltete sich der Anrufbeantworter ein. Ich hinterließ eine Nachricht mit meinem Anliegen, meinem Namen und meiner Telefonnummer, dann legte ich auf und dachte wehmütig: »Rancher können einfach den ganzen Tag draußen beschäftigt sein, ohne ans Telefon zu müssen.«

Es war Zufall, dass ich am nächsten Morgen schon bei Sonnenaufgang wach wurde, Kaffee machte und mich in mein Arbeitszimmer mit Blick auf eine Charlottenburger Hausfassade setzte. Dort lag das schnurlose Telefon auf meinem Schreibtisch, und um Punkt sieben Uhr klingelte es.

Wer rief denn um diese Uhrzeit an? Ich nahm ab. Es war Wallie aus Wyoming. Er kam sofort zur Sache: »Du willst einen Job?«

»Ja«, entgegnete ich verblüfft.

»Hast du Erfahrung mit der Arbeit auf einer Viertel-Million-Acre-Ranch?«

»Nein.«

»Kannst du Pferde beschlagen?«, fragte er.

Ich schlug mir an den Kopf. »Nein«, gestand ich, »aber ich reite!« Und weil ich solche Angst hatte, abgewiesen zu werden, fügte ich hinzu: »Hufschmied könnte ich lernen.«

»Kannst du denn das Lasso werfen?«

Ich sagte: »Nein, aber auch das kann ich lernen.«

»Was willst du verdienen?«, unterbrach er mich.

»Ich weiß es nicht«, antwortete ich völlig ratlos, dabei fragte ich mich, was zur Hölle man denn als Cowboy wohl verdienen mochte. Ich hatte keine Ahnung. Das fing ja gut an. So einen Cowboy würde ich auch nicht einstellen.

Wallie erklärte, er selbst habe leider keine Verwendung für mich, er brauche einen erfahrenen Cowboy. Aber ich solle am nächsten Abend mal bei einer Bekannten von ihm anrufen und ihr sagen, dass ich einen Job suche. Er gab mir die Nummer, ich notierte mir alles und dankte ihm von Herzen. In Gedanken sah ich, wie er weit weg in Sheridan den Hörer seines Drehscheibentelefons einhängte, sich seinen Feierabend-Whiskey eingoss und, die Nase hochziehend, im Schaukelstuhl zurücklehnte, seinem großen Hund über den Kopf kraulte und zu ihm sagte: »Verrückte gibt’s …«

 

Ich träumte vom Cowboysein, seit ich vierzehn war. Bis zu dem Telefonat mit Wallie hatte ich geglaubt, alles über den Cowboy zu wissen und vor allem sein Wesen zu kennen. Von wegen! Schlagartig wurde mir klar, dass ich nur die Vorstellung von einem Cowboy kannte – nicht aber seine Realität. Ich wusste nicht mal, wie viel er verdiente!

Wallie erscheint mir heute wie ein Spuk. Er hatte mit wenigen Worten und ganz unbedarft einen großen Mechanismus in mir in Gang gesetzt. Ich wollte mir den Traum vom Cowboysein erfüllen. Mir war völlig klar, dass ich lernen musste, wie man ein Pferd beschlug, wenn ich auf einer Ranch arbeiten wollte. Und selbst dann; eine Herde Rinder über die blauen Salbeibüsche der Prärie zu treiben war kein Traum, sondern knüppelharte Arbeit.

Wie ich später aus meiner Recherche lernte, konnte man als erfahrener Cowboy auf einer Ranch vierhundert Dollar pro Woche mit Vollpension verdienen. Das aber bedeutete vierzehn Stunden täglich, sieben Tage die Woche Kälber aus den Bäuchen ihrer Mütter zu ziehen und keine Zeit zu haben, neben dem Ofen zu sitzen und Cowboymythen zu lauschen.

Taugte ich denn überhaupt als Cowboy? Woher sollte ich wissen, ob hinter meiner Sehnsucht ein echtes Talent lag? Konnte ich denken wie ein Rindvieh? Schließlich machten Hut und Stiefel allein keinen echten Cowboy aus. Der Cowboy barg eine ganze Lebensphilosophie in sich, er war nicht einfach ein Mann in blauen Jeans und rotem Hemd, sondern verkörperte eine ganze Lebenseinstellung.

Egal. Trotz der Zweifel, die ich nach meinem ganz unromantischen Gespräch mit Wallie hatte, wollte ich dieses stets verschlossene Gatter am Ende meines Horizontes endlich öffnen.

3

Geboren wurde ich in der Schweiz, mit achtzehn kam ich nach Berlin. Ich wollte eigentlich nur Abitur machen, wurde glücklicherweise in die zwölfte Klasse eines öffentlichen Gymnasiums in Zehlendorf aufgenommen und rechnete damit, nach zwei Jahren Berlin wieder zu verlassen. Obwohl ich die deutsche Staatsangehörigkeit hatte (meine Eltern sind Deutsche), hatte ich meine ersten achtzehn Lebensjahre hauptsächlich in der Schweiz verbracht. Nun sollte ich zum ersten Mal in meinem Leben in Deutschland leben.

Ein Berliner Gymnasium war nicht nur die letzte Rettung für mich »schulischen Problemfall« gewesen, sondern auch ein großes Abenteuer. Da mir das Schreiben und das Rechnen schwerfielen, hatte ich mehrere Male bereits die Schule gewechselt, war aus der Schweiz in die USA gegangen, in der Hoffnung, dass dort auf einer Highschool alles besser werden würde.

Doch Schule blieb Schule – ich wurde meine Legastheniker-Geschichte nicht los. Mathematik, Physik, Chemie, Biologie und Rechtschreibung: Im System Schule fand ich mich nicht zurecht. Nur das Mitleid eines Schuldirektors und die Anonymität eines öffentlichen Gymnasiums in dieser riesigen Stadt Berlin gaben mir die letzte Chance, einen Abschluss zu machen. Außerdem wollte ich nichts mehr, als mich aus der Schweizer Perfektion in die totale Destruktion dieser bunten, chaotischen Stadt fallen zu lassen.

Ich zog in eine Einzimmerwohnung, hatte 500 DM Taschengeld im Monat und transportierte Möbel auf dem Gepäckträger meines Fahrrades.

Mein Leben und das Leben in den Straßen pulsierte. Ich empfand es als brutal, es raubte mir auch Kraft, aber ich war achtzehn Jahre alt und voller Tatendrang. Ein Bündel neuer Chancen trug ich in meinen Armen – alles, was in Zürich undenkbar gewesen war, war auf einmal möglich. Ich zog mich an, wie es mir passte, trug Camouflagehosen und T-Shirts mit Rockeremblemen, ohne damit schräge Blicke zu ernten. Meine Turnschuhe trug ich mit Minirock, meine Pullover hatten manchmal Löcher, und ich schaffte mir eine Lederjacke von Harley-Davidson an. Ich ging aus und tanzte auf den Tischen. Ich verliebte und entliebte mich. Am Abend wollte ich die rauschende Party, die verrücktesten Leute, das hautnahe Feeling. Ich wollte in irgendwelchen Armen liegen, sehnte mich so sehr nach jemandem, der mich mitriss, mich entführte, nur für ein paar Stunden. Ich entdeckte neue Musik, neue Literatur, neues Essen. Berlin war unerschöpflich.

Zwischen krachenden Autos, stinkenden Lastwagen, rempelnden Menschen und tonnenschweren Eindrücken fühlte ich mich tough.

Rastlos und neugierig streifte ich mit all den anderen Menschen durch die städtischen Schluchten, Fußgängertunnels oder über Brücken. In jedem Augenpaar, das mich erblickte und meinem Blick standhielt, las ich im Zeitraffer eine ganze Lebensgeschichte; eine Geschichte voller Freuden, Enttäuschungen, Erfolge und Niederschläge. Welchen Rucksack schleppte dieser Mensch mit sich? Welche Erwartungen hatte er an das Leben? Mir schien, als habe ich in Zürich abgeschirmt von diesen Augenpaaren gelebt – in Berlin gab es kein Entkommen.

Ich war auf der Suche nach meinem ganz eigenen Leben, nach meinem ganz eigenen Ich. Wenn ich im Schaum meines Milchkaffees rührte und ihn anschließend vom Löffel leckte, dann schien mein aufregendes Leben wie ein inszenierter Film. All diese schönen Tage! Ich war nach Berlin gekommen und liebte es, und mit mir liebten es tausend andere Großstädter. Berlin ließ mich nicht weinen, ich wurde auch nicht wütend, ich war nur ruhelos, im Rausch. Wenn ich mit dem Fahrrad durch die Gegend radelte oder beim Tanzen war oder in einer Bar, dann wusste ich nur, dass es auf dieser meiner Welt gerade keinen besseren Ort für mich gab. In Berlin war ich am richtigen Platz.

Nichts und niemand konnte mich unterkriegen. Ich hätte es nie zugelassen.

4

Doch vierzehn Berliner Jahre später saß ich in meinem Auto, starrte durch die Frontscheibe ins Nichts und wurde angehupt, weil ich den Rückwärtsgang eingelegt hatte, mich aber seit Sekunden nicht aus der Parklücke rausbewegte.

Ich fühlte mich leer. Unendlich leer.

Vierzehn Jahre. Fünf Wohnungen, eine davon ausgeraubt. Drei Fahrräder, zwei davon geklaut, eines bei einem Unfall zu Schrott gefahren. Viele gescheiterte Beziehungen. Und ein veröffentlichtes Buch – das war aus meinem Berlin-Gefühl geworden.

In der letzten Zeit ertappte ich mich öfter dabei, ziellos mit dem Auto durch die Straßen der Stadt zu fahren, ohne mich zu erinnern, warum und wohin ich eigentlich unterwegs war. Manchmal stand ich einfach in einer Parklücke und fuhr dann zurück zu meiner Wohnung. So tat ich es auch an jenem Tag.

Ich besorgte mir im Gemüseladen in meiner Straße Obst und Gemüse und schaute den Gemüsehändler unschlüssig an, als er mich fragte, wie es mir ginge. Dann schlenderte ich die wenigen Schritte zu meinem Wohnhaus zurück, stieg die Treppen bis zum vierten Stock hoch und schloss meine Wohnungstür auf, legte die Früchte zum Reifen in eine Holzschüssel, machte Musik an und aß Datteln und Nüsse. Ich setzte mich auf mein Sofa und schaute durch die Balkonfenster in die Bäume.

Eine Maklerin hatte mir mal gesagt, dass man immer eine Wohnung in den obersten Geschossen beziehen sollte, so könnte man über die Baumwipfel gucken und das Vogelgezwitscher hören. Doch blickte ich von meinem Fenster aus über die Baumwipfel, sah ich auf die gegenüberliegende Hausfassade, und das Vogelgezwitscher wurde vom Hupen und den brausenden Motoren der Sportwagen in der engen Straße unter mir übertönt.

Vielleicht war ich es einfach müde, in der Großstadt zu leben. Vierzehn Jahre Berlin – eigentlich hatte ich mehr als genug, aber wo um alles in der Welt sollte ich denn sonst hin? Ich hatte mir ein Leben, ein soziales Netzwerk und eine bescheidene Schriftsteller-Karriere aufgebaut – aber das alles bedeutete mir nichts. Ich fühlte immer nur eine Leere, eine ermüdende Leidenschaftslosigkeit.

Meine Leidenschaft lag ganz woanders: Tief in mir drin schlummerte ein Traum; den hatte ich schon in der Schweiz gehabt. Ich wollte weg. Ich wollte in den Wilden Westen nach Amerika, ins Land meiner Sehnsucht. Ich wollte in die Heimat des Cowboys und nichts als Steppe und freies Land sehen. Nichts als den Wind hören und keinem Gesetz gehorchen.

 

Die Sehnsucht ist die Umkehrform der Sucht. Sie entsteht nicht dadurch, dass man von einer Droge nimmt und dann immer mehr davon braucht, um die Sucht zu befriedigen. Die Sehnsucht ist anders. Sie macht einen süchtig danach, sich zu sehnen. Und ich leide an ihr seit meiner Jugend. Ich wollte Cowboy werden, und nichts, aber auch gar nichts sollte mich aufhalten.

In der Schweiz, wo ich aufwuchs, wurde ich täglich mit meiner Sucht konfrontiert, denn in meinen Teenagerjahren hingen noch riesig große Marlboro-Werbungen in den Züricher Bahnstationen. Solche mit Mustangherden, die staubumweht von reitenden Männern aus den Bergen ins Tal getrieben werden. Ich riss die Fotos vom Mann im roten Hemd aus Zeitschriften heraus und beklebte die Schulordner mit meinem lassodrehenden Idol. Wenn im Kino die Marlboro-Werbung auf der Leinwand lief – das heißt, wenn ich ins Kino ging, um die Marlboro-Werbung zu sehen –, bekam ich immer Gänsehaut. Und bis heute, wenn ich Filmszenen mit freilaufenden Mustangs sehe, wird meine Kehle eng, und an meinen Unterarmen stellen sich die Härchen auf.

Diese Werbung traf mich mitten ins Herz. Heute weiß ich, dass es auch andere Menschen gab, die dieses Gefühl, alles hinter sich lassen zu wollen und in die Prärie zu reiten, mit mir geteilt hätten. John Ford zum Beispiel, der große Regisseur zahlreicher Westernfilme, hat einmal gesagt, dass jeder Mensch einen Fluchtkomplex hat. Also, auf mich trifft das in jedem Fall zu.

Ich brauchte nur den Cowboy im Staub zu sehen, wie er sich, an der Scheunentür lehnend, eine Zigarette anzündet, ein Pferd sattelt, in die Ferne blickend unter der Hitze der texanischen Sonne steht oder am Lagerfeuer sitzt, und ich konnte den Staub riechen, den Schweiß in seinen Lederhandschuhen auf meiner Zunge schmecken. So sehr konnte ich mich in die Welt des Marlboro-Mannes hineinversetzen, dass ich, ohne es zu merken, wurde wie er.

Ich wollte zwar kein Held werden – ich wollte es lediglich schaffen, so eng wie möglich an der Natur zu leben: Ich wollte ein tapferes und einfaches Leben führen. Und so überkam mich die Sehnsucht. Bald war ich übervoll von ihr.

Voller Vorfreude erwartete ich Western, die im Fernseher angekündigt wurden. Ich nahm sie auf Videokassette auf und sah sie vier, fünf Mal. Tief und tiefer versank ich in der Vorstellung eines Lebens als Außenseiter im Wilden Westen. Ich stellte mir vor, die Schwester der Hauptfigur zu sein, und konnte die Trauer fühlen, wenn der blauäugige Held im Duell oder bei einem Faustkampf in einer Bar erschossen oder zu Tode geprügelt wurde.

Bis spät in die Nacht las ich in Büchern, die von einem wortkargen Cowboy erzählten, der wilde Pferde zähmen konnte, und tauchte mit all meinen Sinnen in seine lederne, nach Tabak und Pferdeschweiß riechende Welt ein. Ich wollte auch rebellisch und einsam sein und nachts zu Pferd einen Fluss überqueren, um nach Mexiko zu reiten. Ich wollte es so sehr, dass ich extra langsam las, um von dem Buch möglichst lange etwas zu haben.

Irgendwann halfen auch keine Bücher mehr, in deren Geschichten ich mich hineinträumen konnte, keine Filme, deren Bilder und Handlungen diesen Schmerz stillten, irgendwann half auch kein Schreiben mehr. Ich begann zu suchen. Meine Suche nach der Identität des Cowboys führte mich nach Argentinien, Amerika und Kanada. Nach Bariloche, Wyoming, Arizona und Montana, nach Turner Valley in Alberta, Kanada.

In Argentinien sah ich mit vierzehn zum ersten Mal unbegrenztes Land; ohne Hochspannungsleitungen, Dorfgrenzen, Eisenbahnschienen, Autobahnkreuze oder emporragendes Gebirge, so, wie es in der Schweiz üblich war.

In Wyoming trieb ich drei Jahre später auf einem Palomino die Rinder durchs Tal, saß bei Sonnenuntergang auf einem Schaukelstuhl auf der Veranda und schaute den Pferden beim Grasen zu, kaufte mir meinen ersten Stetson-Cowboyhut in Jackson Hole.

Dann zog ich nach Berlin. Ich vermisste mein Pferd, das ich in der Schweiz gehabt hatte.

Reiten – das war die einzige Verbindung zum Cowboysein, die ich hatte. Nach zwei Jahren und meinem bestandenen Abitur bekam ich die Möglichkeit, mein Pferd in einem Stall in Berlin unterzubringen. So konnte ich mich wenigstens um mein Pferd kümmern, im Grunewald reiten gehen und Unterricht nehmen. Im Stall roch es süßlich nach Pferdeschweiß, da kam Dreck zwischen meine Fingernägel, wenn ich die Hufe auskratzte, Mähne und Schweif bürstete und striegelte. Reiten klärte meinen Kopf, und es stillte meine Sehnsucht – zumindest für ein paar Stunden.

Ich war fünfundzwanzig, als ich im Dezember zehn Tage nach Arizona reiste. Dort zog es mich gar nicht unbedingt wegen des Cowboys hin; meine Großtante wohnte in Phoenix, und ich hatte ihr schon lange versprochen, sie zu besuchen. Der Besuch bei meiner Großtante nahm nur einen Nachmittag und viele davor geführte Telefonate in Anspruch. Den Rest der Zeit verbrachte ich mit der Suche nach dem Mittel, das meine Sehnsucht stillte.

Und dann kam der Tag, an dem ich auf einem Wüsten-Highway in einem brandneuen, glänzend roten Cabriolet meinen allerersten Countrysong hörte – und eine Offenbarung erlebte.

5

Als ich zwei Wochen vor Weihnachten in Phoenix, Arizona, ankam und nach Tucson fuhr, wo ich ein Ferienhaus gemietet hatte, stand ein Regenbogen am Himmel, und dicke schwarz-graue Wolken hingen über den schneebedeckten Berggipfeln der Catalina Mountains.

Fast täglich sah ich Regenbogen, da es morgens manchmal in Strömen regnete und mittags dann, während sich der Regen verzog, die Sonne durchbrach.

Ich wollte vor allem wandern und die Landschaft erkunden. Reitsachen hatte ich nicht mitgebracht, da die Touristen-Ritte immer tödlich langweilig waren und ich es darauf anlegte, entweder einen Geheimtipp zu bekommen oder gar nicht zu reiten. Stattdessen bestieg ich den Picacho Peak und sah über die platte, bedingungslose Weite einer Wüste. In einem Restaurant hörte ich vom Old Gecko Trail, und so beschloss ich, am nächsten Tag auch dort zu wandern. Es war Zufall, dass ich dabei Tina, ein Ex-Model Mitte vierzig, kennenlernte. Ich schloss auf dem Pfad zu ihr auf, und wir kamen ins Gespräch. Sie machte, wie sie selbst sagte, »Cardio-Workout«, hatte sehr blonde Haare, und ihre Lippen waren sehr voll, womöglich aufgespritzt.

Tina war gute Gesellschaft für mich. Sie war ganz unbedarft und sehr freundlich; wir lachten viel. Sie lebte mit ihrem dritten Mann Fred in einer Siedlung, die gar nicht weit von meinem Ferienhaus entfernt lag. Sie erzählte mir von den wilden Mustangs, die hier in den Catalina Mountains lebten und um 1900 von der Südstaaten-Armee freigelassen wurden. Sie wusste auch, dass die majestätischen Kakteen mit den dicken Stämmen und Ästen nur in Arizona wuchsen. Ich lauschte und hörte, wie schauerlich der Wind durch ihre Tausenden von Nadeln pfiff. Als wir nach vier Stunden zum Parkplatz zurückkehrten, färbten sich die Berge bereits rot, und der Himmel leuchtete zum Ende des Tages orange-gelb.

Wir verabredeten uns für einen Ausflug zu Cowtown Boots, da ich mir unbedingt Cowboystiefel besorgen wollte.

Und so saß ich am nächsten Vormittag auf dem Weg zum Stiefelgeschäft neben Tina in ihrem roten Cabriolet. Tinas blonde Haare wehten im Wind, und im Radio lief She Thinks My Tractor’s Sexy.

»Ich mag die Geschichten der Countrysongs so sehr«, sagte sie. »In Palm Springs – wo ich mit meinem letzten Mann lebte – musste ich immer Rock hören. Er mochte keinen Country. Hier, kennst du den Song?« Sie spielte Beer For My Horses, und das, genau das war der Moment, als auch ich begann, ein Countrymusik-Fan zu werden.

Grandpappy told my pappy, back in my day, son

A man had to answer for the wicked that he done.

Tina parkte das Cabrio zwischen gelben Linien eines riesigen Parkplatzes vor dem Geschäft. Das Radio ging aus, doch die Worte des Songs klangen weiter in meinen Ohren:

Take all the rope in Texas

Find a tall oak tree, round up all them bad boys

Hang them high in the street for all the people to see.

Wir betraten den Laden, über dessen Eingang ein Büffelschädel und ein paar in der Sonne glitzernde Boots hingen. Mir gingen die Augen über, als ich die Auswahl an Stiefeln sah. Es gab sie aus Klapperschlangen-, Python-, Kuh- und Krokodilleder, es gab sie in Pink und Gold, in Schwarz und Weiß. Manche waren aufwendig verziert, manche recht robust. Sie hatten eckige, spitze und runde Zehen, kurze oder lange Schäfte, flache, gerade und hohe, schräge Absätze. Jeder Stiefel hatte seinen eigenen Zweck, seinen eigenen Namen. Ich fühlte mich wie im Himmel, wusste gar nicht, wo anfangen. Tinas Geschmack war wesentlich verrückter als meiner, aber sie meinte, im Saloon müsste man mit den Dingern schon auffallen.

Von diesem Tag an trug ich nicht nur ein dunkelrotes Paar Justin-Stiefel, ich hörte auch Hank Williams, Kenny Rogers, George Jones, Tex Ritter, Frankie Laine und Patsy Cline und verstand. Sie sangen von den Dingen, die mich berührten: Freiheit, Liebe, Einsamkeit, dem Wandern, dem Verlassen. Tom T. Hall sang von Schweinen, andere sangen von Pferden oder von dem Gesang der »Whippoorwill« – der Nachtschwalbe –, wieder andere von Hunden und Hühnern. Vom Wein und vom Whiskey sangen sie natürlich auch.

Tina meinte, sie habe eine ganze Sammlung von alten Country-CDs zu Hause und ich solle sie doch besuchen. Ich freute mich sehr und nahm ihre Einladung gerne an.

Das Haus – das von außen aussah wie alle anderen Häuser in der Siedlung – war terracottarot und aus dicken Wänden gebaut, die helle, gepflasterte Einfahrt und die schmiedeeisernen Verzierungen an Tür und Fenstern sahen sehr mexikanisch aus.

Tinas Mann Fred öffnete mir in Shorts und einem weißen Dinnerjacket die Tür. Ich schmunzelte, denn er hatte auch die Socken bis über die Waden hochgezogen. »Kein Cowboy – eher Miami Vice«, dachte ich und fragte mich, ob Fred auch auf Rock stand. Fred begrüßte mich herzlich und fing gleich an, viel zu reden. Tina trug ihre Boots – ich ebenso.

Ich setzte mich an die Küchenbar, bekam von Fred einen Drink serviert und wurde auf die afrikanische Einrichtung aufmerksam gemacht. Tina erklärte mir, dass sie alles aus Florida mitgebracht habe und in Palm Springs eben alle afrikanisch eingerichtet seien.

Dann fielen mir zwei motorradfahrende Bulldoggen aus Porzellan auf, die neben dem Gasherd standen und offensichtlich nicht zum afrikanischen Stil passten. Es stellte sich heraus, dass Tina darin die Asche ihrer verstorbenen Rottweiler aufbewahrte. Ich fand das außergewöhnlich, aber Tina erwähnte es, als habe jeder Mensch die Asche seiner Hunde neben dem Herd.

Zum Abendbrot gab es Fisch. Wir unterhielten uns über die schmerzhaften Folgen von Freds Schulteroperation und darüber, wie teuer ein Burger und eine Cola in Deutschland waren.

Gegen Mitternacht verließ ich die beiden. Wir schauten noch gemeinsam in den unglaublich tiefen Sternenhimmel, und dann war ich wieder alleine in Arizona. Tiefgründig war mein Besuch bei Tina und Fred nicht gewesen, aber es hatte mir gutgetan, mit Menschen zusammen zu sein, die ganz offenbar nicht so über das Leben nachgrübelten, wie ich es tat. Es musste nicht immer komplex und schwierig sein. Countrymusik und die Leichtigkeit des Seins – eine Mischung, die mir in dieser Weite Amerikas guttat.

 

Auch in die Navajo Nation Reservation, die sieben Stunden nördlich lag, verschlug es mich. An der Kante eines Ausläufers des Grand Canyons sitzend, schmiss ich Steine in den Abgrund und stellte mir vor, von Indianern entführt zu werden und niemals mehr zu den Weißen zurückkehren zu müssen, sondern das Jagen und Bogenschießen zu lernen. Hier draußen fühlte ich mich Gott sehr nahe. In Berlin fühlte ich mich nichts und niemandem nahe.

Den ganzen Tag hätte ich dort an der Kante sitzen bleiben können, aber irgendwann stand ich auf und lief zum Auto zurück – weit und breit kein Indianer.

An meinem letzten Abend ging ich mit Tina und Fred in ein Honky Tonk. Fred brachte mir den Two Step bei – wir müssen unter den stolzen Männern, die Hüte und glitzernde Trophy Buckles trugen, ein sonderbares Bild abgegeben haben. Aber wir amüsierten uns, und mit Tina am Tisch und an meinem Bier nippend, verfolgte ich voller Neid die langhaarigen, muskulösen und strahlenden Frauen mit meinen Blicken, während sie übers Parkett glitten.

Das war Freitag, am Samstag sollte ich meine Rückreise antreten, und mir war gar nicht danach. Ich fuhr zu Barnes & Noble, der in einer Shopping Mall in Tucson lag, um mir für die Rückreise einen Western zu kaufen.

Da sah ich den ersten richtigen, lebendigen Cowboy. Er war nicht auf ein Plakat gedruckt, sondern stand an der Kasse, um sich nach einem Buch zu erkundigen. Mit der Verkäuferin führte er ein brummendes Gespräch. Es war ein älterer Mann, der ganz und gar von einem braunen, knöchellangen Regenmantel eingehüllt war. Wenn er ein, zwei Schritte machte, hörte man die Sporen an seinen schweren Stiefeln klingen, und dann sah ich, dass an den Hacken der nasse Sand in einer dicken Schicht angetrocknet war. Er trug einen abgewetzten Regenhut mit schlaffer Krempe und schulterlanges, weißes Haar. Ungläubig muss ich ihn angesehen haben. Es gab sie wirklich, die Cowboys! Der alte Mann drehte sich unvermittelt nach mir um. Er hatte wirklich tiefe Falten unter den Augen, und ich sah den großen, prachtvollen Schnauzbart über seiner Oberlippe. Es war der Marlboro-Mann in Fleisch und Blut. Hier stand er, vermutlich kaute er auch Tabak, und, ja, er kam aus dem Staub der Prärie! Dass solche echten Cowboys existierten, war eben doch kein verrückter Traum, das Hirngespinst eines Mädchens aus dem Schweizer Alpenland. Es gab ihn wirklich, und er besorgte sich vermutlich ein Buch, um es bei Speck, Bohnen und Kaffee am Lagerfeuer zu lesen, während nachts die Rinder seines Bosses in einer Senke am Fluss weideten.

In dem Moment wusste ich, dass ich keinem verrückten Traum hinterherjagte; es gab meine Idole wirklich – und ich wollte einer von ihnen werden.

6

Ich verließ Arizona nach zehn Tagen. Die Fluggesellschaft katapultierte mich mit einer Boeing 747 in nur wenigen Stunden nach Deutschland zurück. In einer Postkutsche hätte ich wenigstens noch über die Schulter zurückschauen können, doch nach zwölf Stunden in der Luft landete ich wieder in Berlin, Lichtjahre von dem Traum, als Cowboy auf einer Ranch zu leben, entfernt.

In Berlin war ich wieder eine einsame, junge Frau auf einer nicht enden wollenden Reise. Ich schrieb an meinem zweiten Buch, einem Künstlerroman, und dachte darüber nach, wie ich mir mein Leben in Berlin einrichten sollte – und auch darüber, was die Zukunft hier für mich bereithielt.

Wie sähe langfristig mein Leben als Schriftstellerin in Berlin aus? Würde ich Pflanzen in Blumentöpfen auf dem Balkon herumstehen haben und Kartoffeln im Hinterhofgarten, um mich zu erden? Würde ich auch Bienen auf dem Dach halten, weil das intellektuell war? Sicher würde ich umgeben von ganz vielen Büchern leben, und wenn ich nicht gerade an einem eigenen Werk schrieb, würde ich vielleicht Vorträge halten oder Intellektuelle zum Salon einladen. Ich würde schon mittags Rotwein trinken und sehr viel reden.

Und nach vielen, vielen Jahren, wenn ich im Rollstuhl säße und kurz davor wäre, an einer tödlichen Krankheit zu sterben, würde man mir einen Preis verleihen – und erst dann, erst dann würde man meine Bücher in einer deutschen Literaturhandlung ins Schaufenster stellen.

Mein Berlin-Gefühl veränderte sich also von dem großen Rausch, all den Möglichkeiten, die ich anfangs für mich in dieser Stadt gesehen hatte, in etwas Vanitatisches. Würde ich so hier mein Leben verbringen – und das war es dann?

Obwohl ich mir all diese Fragen stellte, setzte ich die Arbeit an meinem zweiten Buch fort und lebte »Berlin« wieder, so gut ich konnte. Ich hatte zwar diese Sehnsucht nach Amerika, aber die hätte ich überall auf der Welt gehabt, das lag nicht an Berlin, das lag an mir.

Und so passierte mein Leben weiter, Tag für Tag. Ich fühlte mich dem Schreiben verpflichtet. Bald vergaß ich den Cowboy aus dem Buchladen in Arizona. Meine Cowboyboots ließen sich in Berlin nicht tragen – sie sahen hier einfach komisch aus, und auf dem harten Pflaster schmerzten mir darin die Füße. Nur eines blieb mir: die Countrymusik. Und mit ihr die Burning Memories. Ich fand mein Schicksal in den Songs wieder.

Wenn ich um sechs Uhr früh in die Küche kam, hörte ich Country: Gram Parsons, Waylon Jennings, David Allan Coe, Johnny Paycheck – die Outlaws aus der großen weiten Welt mit ihren wilden Herzen. Beim Schreiben und im Auto hörte ich Ray Charles und den Country der Rolling Stones. Erinnerungen aus Arizona kamen mir in den Sinn, ich versuchte das Gefühl nachzuempfinden, das mich bei der absoluten Ruhe mitten in den Bergen überkommen hatte. Beim Klang der Violinen, der heiseren Gitarren sah ich das, was ich mir unter dem alten Westen vorstellte: eine Pappel, ein Lasso, ein Schießeisen und einen Krug voll Whiskey.

 

2007, einen Tag vor Weihnachten, lernte ich einen Förster aus Friedrichshain kennen. Es passierte in einem Tanzhaus. Er hatte blondes Haar, war so jung wie ich und hieß Thomas. Er trug ein weißes Hemd, und als ich ihn fragte, was er mache, antwortete er: »Ich fälle Bäume.«

Mir blieb der Mund offen stehen, und ich rief: »Was?« Es war ein »Was?« der Entzückung.

Wir tanzten. Ich schrieb ihm meine Nummer auf einen Zettel und beschloss, Weihnachten in Berlin zu bleiben. Ich wartete auf Thomas’ Anruf.

Am 4. Januar stand er mit einem Korb voll mit Gemüse, Wein, Möhren mit Grün, Orangen, Brot, Bohnen, Speck, Senf und Ketchup vor meiner Tür. Er sagte, er habe einen Western mitgebracht und würde Baked Beans dazu kochen. Mir stockte der Atem. Ich liebte Westernfilme! Wir standen gemeinsam am Herd, kochten, schnitten die Möhren, Zwiebeln und Paprika klein, und ich stolperte über jedes Wort, war so aufgeregt, dass ich keine Geschichte stringent zu Ende erzählen konnte.

Während der Film lief und wir das Brot in die Bohnen tunkten, schossen mir tausend Dinge durch den Kopf. Thomas erzählte vom Entenjagen in Schweden. Wir drückten auf »Pause«, sprachen über offene Feuer und die guten Seiten des Winters wie Suppen, Eisfischen und die langen Abende, an denen man Western gucken konnte, und ließen den Film dann weiterlaufen.