Johann Maria Farina (1685–1766) war der Erfinder eines Duftwassers, welches er zu Ehren seiner neuen Heimatstadt »Eau de Cologne«, zu Deutsch »Kölnisch Wasser«, nannte. Inzwischen ist, weil es damals noch keinen Markenschutz gab, aus Eau de Cologne der Name einer ganzen Duftklasse geworden.
»Mein Duft ist wie ein italienischer Frühlingsmorgen nach dem Regen, Orangen, Pampelmusen, Citronen, Bergamotte, Cedrat, Limette und die Blüten und Kräuter meiner Heimat.« Sein Duft war der Duft der Höfe des 18. Jahrhunderts. In Köln gibt es das Farina-Haus mit einem Verkaufsladen und einem Duftmuseum.
Die Düfte werden in einen Papierbogen, auf dem das historische Gebäudeensemble abgebildet ist, verpackt. Ebenfalls sind die Namen vieler Trägerinnen des Duftes darauf zu lesen von Madame Billy über Kaiserin Maria Theresia bis Romy Schneider, Hildegard Knef und Diana, Princess of Wales.
In Erinnerung an Silvie Protte (*07.05.1984; †29.12.2015),
der ich während des Wahlkampfes viel zu wenig Zeit schenkte
Pascal Siemens
Unmöglich ist keine Feststellung.
Es ist eine Herausforderung!
Für Hedi und Gabriel Feuerstein
Jonathan Briefs
Wer ist Henriette Reker, woher kommt sie, was denkt und will sie? In diesem Buch kommt Henriette Reker zu Wort – aber es ist kein Buch aus ihrer Feder. Die Autoren sind auch kein Sprachrohr. Wir waren Teil des Wahlkampfteams. Jonathan Briefs als Personal Coach, Medien- und Imageberater. Pascal Siemens war der Wahlkampfleiter. Es ist unsere Sicht der Dinge. Als Beteiligte wagen wir eine Nahaufnahme ihres Wahlkampfes, des Attentats und ihrer Politik. Wir schreiben über Henriette Reker als Menschen, als Kandidatin und Oberbürgermeisterin von Köln. Wir schildern ihren einzigartigen Wahlkampf – mit allen Erfolgen, Fehlern, Widersprüchen und Fragen. Alles, um herauszufinden, was wirklich bis zum historischen Wahltag passiert ist. Und in der Zeit danach, angefangen bei den ersten Tagen nach der Amtseinführung am 15. Dezember 2015 im Rathaus zu Köln.
Dabei wird mit einem journalistischen Grundsatz gebrochen: Distanz zu halten. Wir Autoren teilen mit den Leser/innen Überraschungen, Enthusiasmus und Enttäuschungen. Alles wird herangezogen, was die Quellen hergeben: Zitate, Protokolle, Interviews und Gespräche in Hinterzimmern. Im Resultat ergibt das die größtmögliche Nähe zum Geschehen. Kapitel für Kapitel soll sich der Blick weiten – ein Panorama entsteht. Eine Geschichte über die Stadt, über eine Politikergeneration, die denkt, ihr gehöre die Stadt. Über eine Frau, die hin- und hergerissen ist zwischen ihrem Machtanspruch und der Frage, wieweit sie Kompromisse eingehen kann und will, um gestalten zu können. Kann sie mit ihrer Leidenschaft für Köln und mit ihrem Pflichtgefühl eine erfolgreiche Politikerin sein? Ohne dabei ihre Ideale zu verraten? Wir wollen das Wirken einer Frau beschreiben, die für ihr Streben nach Gestaltungsmacht auch persönliche Opfer bringen muss.
Köln ist ein Gefühl. In Köln »kütt et, wie et kütt« (kommt es, wie es kommt). Die Kölnerin und der Kölner sind weltoffen und tolerant – allen Nationalitäten, Geflüchteten, Zugezogenen und selbst ihren Politikern und ihrer Stadtverwaltung gegenüber. Die rheinländische Frohnatur ist alles andere als nachtragend, denn »et hätt noch emmer joot jejange« (es ist noch immer gut gegangen).
Henriette Reker beschreibt ihre Heimat gerne als eine Stadt am Strom. Der Rhein trennt Köln nicht nur in zwei Teile, er prägt seit jeher die Mentalität der Kölner/innen:
»Köln hat einfach eine gewisse Selbstbezogenheit. Den Kölner/innen ist es traditionell wichtiger, dass sie mit sich selbst zufrieden sind, als dass andere mit ihnen zufrieden sind. Das ist auch ein Stück Unabhängigkeit. Nur wenn sie selbst nicht mehr mit sich zufrieden sind, dann kippt das. Und dann muss wieder eine Balance hergestellt werden. Zu dieser Balance gehört sicherlich, dass Köln von außen nicht nur als Spaßstadt wahrgenommen werden darf. Denn das ist nur ein Teil von Köln. Die Stadt ist tolerant, die Stadt ist ehrlich, und die Stadt ist unabhängig. Die Stadt beschönigt nichts. Sie zeigt einfach ihr Gesicht. Köln hat Charakter.
Die Stadt hat aber auch ein gewisses Phlegma, die Kölner/innen geben sich schnell mit Dingen zufrieden. Die Kölner/innen messen sich nicht wirklich an anderen und verlieren manchmal die Realität aus den Augen. Wenn man sich selbst als Maßstab nimmt, hat das ja auch etwas Starkes, das ein großes Selbstbewusstsein ausstrahlt. Es darf nur nicht bei der Selbstzufriedenheit bleiben. Man sollte über die Stadtgrenzen hinausblicken und sich vergleichen – und zwar ehrlich vergleichen, ohne gefühlsduselig zu sein. ›Küss de hück nit, küss de morje!‹ (Kommst du heute nicht, kommst du morgen), dieses Verschieben, das sind die Menschen am Strom. Oder auch ›Et kütt, wie et kütt‹. Davon bin ich fest überzeugt. Sie erleben ja, es fließt. Es fließt, und die Kölner/innen haben ja auch erlebt, dass bestimmte geschichtliche Ereignisse ihnen große Vorteile gebracht haben, für die sie gar nicht so viel konnten.
Da kamen die Gebeine der Heiligen Drei Könige hierher, Köln wurde Pilgerstadt. Dann der Rhein als Handelsstraße. Die Waren mussten ja zuerst in Köln angeboten werden, bevor sie weitertransportiert werden durften. Dazu brauchte es Stapelhäuschen, denn die Waren mussten aus den Schiffen ausgeladen werden. Köln hat immer von dieser Verkehrssituation und von den Pilgern profitiert. Und von der Internationalität. Der Rhein brachte immer schon verschiedene Nationalitäten in die Stadt. Dies ist der Ursprung für die Offenheit und die Toleranz der Kölner/innen. Menschen am Strom machen die Erfahrung, es kommt eben immer etwas vorbei und ist gleich wieder weg. Das bestimmt die Geisteshaltung, eine Lebenseinstellung. Es schafft eine Art Gleichmut.
Man ist aber auch von Dingen abhängig und akzeptiert dies letztlich. Meine Großeltern und Urgroßeltern hatten zum Beispiel eine Schankwirtschaft am Rhein, am Holzmarkt Ecke Klappergasse. Nicht die vornehmste Ecke seinerzeit, aber man konnte dort gutes Geld verdienen. In manchen Jahren gab es zweimal Hochwasser. Ich habe Fotografien von ihnen, auf denen sie mit einem Bötchen um die Ecke herumfahren, weil ihnen das Wasser bis zur Mitte des Erdgeschosses stand. Dagegen war damals nichts zu machen. Der Rhein bestimmt eben. Zwei Seiten einer Medaille.«
»Ich habe immer gedacht, in fernen Ländern sei man gefährdet. In Deutschland konnte ich mir das nicht vorstellen. Die massiven sexuellen Bedrängungen dürfen wir nicht hinnehmen, das gefährdet die Balance in unserer Gesellschaft. Die Taten hier in Köln sind ein Angriff auf unsere freiheitliche Grundordnung. Die Frage ist nur, ob eine politische Absicht dahinterstand. Und da hätte ich Zweifel. Grundsätzlich hätte das in jeder anderen Stadt auch passieren können«, äußerte sich Henriette Reker, erst wenige Wochen im Amt als Oberbürgermeisterin, nach den Silvesterübergriffen zum Jahreswechsel 2015/16 in Köln.
In der Silvesternacht waren, wie sich nach und nach herausstellte, insgesamt zwölf Städte in Deutschland Tatort solcher Übergriffe. Der Schwerpunkt war Köln.
»Es kann nicht sein, dass Besucher in Köln Angst haben müssen, überfallen zu werden«, sagte Henriette Reker. Den »Paukenschlag von Köln«, so nannte die Bundeskanzlerin die Vorkommnisse der Silvesternacht. Die Kanzlerin hatte offensichtlich schnell eine Vorstellung davon, dass die Vorfälle in Köln kein lokales Problem sind, sondern eine Herausforderung für uns alle werden können.
Die schlimmen Ereignisse verunsicherten die Kölner und darüber hinaus ganz Deutschland. Das Echo war weltweit – und verheerend. Die sexualisierte Gewalt in und vor dem und um den Hauptbahnhof in der Silvesternacht gelte, so Justizminister Heiko Maas, als »neue Dimension organisierter Kriminalität«. Das wird inzwischen ausgeschlossen. Die Männer sollen sich über die sozialen Netzwerke verabredet haben, nach Köln zu fahren, da sei »große Party«. Mittlerweile spricht man auch nicht pauschal von Flüchtlingen als Täter. Sondern von einer »kriminellen Subkultur, z.B. den sogenannten Maghreb-Banden«. NRW-Innenminister Jäger wollte dafür sorgen, dass sich eine solche Situation nie mehr wiederholt; das sei man den Opfern schuldig.
Henriette Reker: »Es ist eine Selbstverständlichkeit, dass die Schuldigen schnell ermittelt und mit aller Härte des Gesetzes verurteilt werden. Obwohl das schwierig ist. Die Opfer können die Täter nur schwer identifizieren. Es ist unbefriedigend, wenn die Spitze des Staates nach Härte ruft, aber am Ende fast nichts dabei herauskommt. Das zeigt die Hilflosigkeit unserer Gesellschaft in dieser Frage.« Und: »Der Platz um den Hauptbahnhof und den Dom ist ein neuralgischer Punkt. Da muss man im Blick behalten, was da passiert. Dazu brauchen wir mehr Polizei, und wir brauchen eine Videoüberwachung, die den Beamten an Ort und Stelle zeigt, was vor sich geht, und ihnen erlaubt, sofort einzugreifen. Es geht darum, die Sicherheit zu gewährleisten, das ganze Jahr. Wir dürfen nicht vor Angst erstarren und unsere Lebensweisen dieser Angst unterordnen. Aber wir müssen Obacht geben. Die Stadt muss in Zukunft für Feste wie Karneval als Veranstalter auftreten und ein Sicherheitskonzept erarbeiten. Wir müssen uns im Vorfeld überlegen, was passieren kann und wie wir damit umgehen. Das hat es bisher nicht gegeben. Wie das konkret aussehen soll, muss auch der Innenminister als oberster Dienstherr der Polizei beantworten. Ich kann nur informieren und fragen: Was machen die Beteiligten, wie gedenken sie damit umzugehen? Ich bin letztlich nicht diejenige, die die polizeilichen Aufgaben übernehmen kann. Es ist Aufgabe der Polizei, solche Straftaten zu verhindern.«
Die sexuellen Übergriffe zum Jahreswechsel 2015/2016 waren eine Schande für Köln. In den arabischen Ländern nennt man solche überfallartigen Sexualdelikte »taharrush gamea«. In Köln herrschte überall Fassungslosigkeit, Wut und auch Scham. Das Lebensgefühl der Stadt, eine Mischung aus Frohsinn, Multikulti, Lockerheit und der viel zitierten Toleranz, schien bis ins Mark erschüttert. Traumatisiert und verwundet war die Stadt. Galt das kölsche Grundgesetz überhaupt noch? Artikel 3: »Et hätt noch emmer joot jejange« (Es ist noch immer gut gegangen)? Die lokale Presse stellte die Frage, ob Köln seinen guten Ruf verspielt habe. Der Direktor des Museums Ludwig stellte fest: »Es erscheint mir zynisch, auf die Ereignisse von Silvester und die schleppende Aufklärung derselben mit der Frage eines möglichen Imageschadens für die Stadt Köln im Ausland zu reagieren. In erster Linie kamen die jungen Frauen zu Schaden, die in dieser Nacht sexuell belästigt und ausgeraubt wurden. Zusätzlich besteht die Gefahr eines Generalverdachts gegenüber Flüchtlingen.«
Frauen organisierten Tage nach den Vorfällen einen Flashmob auf der Domtreppe vor dem Hauptbahnhof und sangen mit einem kölschen Karnevals-Klassiker gegen die Ohnmacht an: »Denn mir sin kölsche Mädcher, hann Spetzebötzjer an. Mir lossen uns nit dran fummele, mir lossen keiner dran!« (Wir sind kölsche Mädchen und haben Spitzenunterwäsche an. Wir lassen uns nicht befummeln, wir lassen keinen ran.) Typisch Köln.
Gegenüber, auf der anderen Seite des Hauptbahnhofs, versammelten sich fast zeitgleich Sympathisanten der Pegida-Bewegung und lieferten der Polizei einen aggressiven Samstagnachmittag. Aus verbaler Gewalt in den sozialen Netzwerken wurde Gewalt auf der Straße – rechtsextreme Bürgerwehren formierten sich, verfolgten und verprügelten Menschen mit Migrationshintergrund, um Frauen angeblich vor Ausländern zu schützen.
Wären die knapp tausend Frauen aus dem Flashmob nicht doch noch durch den Hauptbahnhof marschiert, um Pegida auf dem Breslauer Platz die Meinung zu sagen, wäre die dortige linke Gegendemo eine kleine Minderheit gegenüber den 1700 Rechten geblieben. Wo waren die Kölner/innen diesmal? Wenig war zu sehen von der verdienstvollen »Arsch huh«-Bewegung oder dem Bündnis »Köln stellt sich quer«, die sich in der Vergangenheit oft so wirkungsvoll Rechtsradikalen und Rassisten entgegengestellt hatten.
Musste sich Köln wieder einmal schämen? So wie die deutsche Presse es schon geschrieben hatte, als die Wahlbeteiligung nach dem Messerattentat auf Henriette Reker nicht dramatisch zunahm, sondern sich die Prognose nur mit Ach und Krach erfüllte?
In dieser beunruhigenden Zeit war Oberbürgermeisterin Reker gerade knapp fünfzig Tage im Amt. Sie rief eine Krisensitzung der Verantwortlichen ein, um vom Polizeipräsidenten über die ungeheuerlichen Vorgänge informiert zu werden und einen Maßnahmenkatalog zu beschließen. Die darauffolgende gemeinsame Pressekonferenz nahm zunächst einen guten Verlauf. Entschlossenheit und Entscheidungen standen im Vordergrund. Dann schlich sich ein Fehler ein. Auf Nachfrage einer Journalistin, was Henriette Reker denn unter konkreten Maßnahmen für Frauen verstehe, kam die Oberbürgermeisterin ins Schlingern. Sie verwies auf die Verhaltensregeln für Frauen und Mädchen, die online bei der Stadt Köln und auch bei verschiedenen Initiativen einzusehen sind. Was als Ratschlag für die nahende Karnevalssession gemeint war, wurde als Schlag gegen die Opfer der vergangenen Silvesternacht interpretiert. Die Botschaft war zwar gut gemeint, erwies sich aber als Bumerang. »Hilflos« war noch die netteste Bewertung.
Das Zitat »Es gibt immer eine Möglichkeit, eine gewisse Distanz zu halten, die weiter als eine Armlänge betrifft«, löste einen veritablen Shitstorm aus. Unter dem Hashtag #armlaenge explodierte Twitter, und die sozialen Medien trieben Blüten aller Art, von Beschimpfungen bis zu Fotomontagen. Rechte wie Linke, Politiker/innen, Feministinnen, Karikaturisten und Interessenvertreter/innen aller Couleur lieferten sich Schlachten um eine Interpretation des Gesagten.
»Ich wurde verkürzt wiedergegeben, und ich habe mich ungeschickt ausgedrückt. Das ist alles«, sagte die Oberbürgermeisterin. »Victim blaming« – »Täter-Opfer-Umkehr« –, schallte es ihr entgegen. Reker entschuldigte sich via Facebook bei den Opfern der Silvesternacht, falls ihre Äußerung diese verletzt haben sollte. Heute ergänzt Reker ihre Aussage so: »Ich glaube dieses Beispiel gewählt zu haben, weil mein Unterbewusstsein die Illusion der Wehrhaftigkeit (nach Erleben des Attentats) aufrechterhalten wollte. Damit bin ich leider weder den an Silvester angegriffenen Frauen noch mir selbst gerecht geworden.«
Die Dynamik des Shitstorms zeigte, wie ein Vorgang von allen möglichen Seiten für eigene Zwecke instrumentalisiert werden kann. Und wie hysterisch Debatten heutzutage geführt werden. In den neuen Medien und in der Medienwelt an sich. Es wirkte wie ein Stellvertreterkrieg. Denn eigentlich hätten doch in erster Linie die Polizei und die Täter im Fokus der Kritik stehen müssen. Henriette Reker meinte dazu: »Der Shitstorm ist nichts im Vergleich zu dem, was die Frauen und Mädchen in der Silvesternacht durchmachen mussten.«
Kaum jemand hatte die einleitende Aussage vor der kritisierten Formulierung in Gänze gehört oder gelesen. Hier ist sie: »Wir werden außerdem zur Prävention noch rechtzeitig vor den Karnevalstagen auch in verschiedenen Sprachen deutlich klarstellen, wo auch im Karneval die Grenzen im zwischenmenschlichen Umgang sind. Das richtet sich in erster Linie an Männer jedweder Herkunft. Außerdem geben wir natürlich Verhaltenshinweise an junge Frauen, wie sie die Erfahrungen der Polizei zur Prävention am besten umsetzen und feiern können. Es kann nicht sein, dass in Köln Frauen Spießruten laufen müssen. Das werden wir nicht tolerieren!«
Nur wenige machten sich die Mühe, den Kontext des Zitats zu ermitteln. Das verkürzte Zitat wurde zur Wahrheit selbst, und die darauffolgende Medienschlacht sprengte jede Etikette. Immer wieder wurde gerne darauf hingewiesen, dass, wenn Henriette Reker sich selbst an ihren Ratschlag der »Armlänge« gehalten hätte, sie wohl kaum Opfer eines Messerattentats geworden wäre. Guter Geschmack schien ausverkauft. Und Mitgefühl eher Mangelware. Erst wurde Henriette Reker Opfer einer rechtsextremen Gewalttat. In der Silvesternacht wurden viele Frauen Opfer sexualisierter Gewalt. Gewalterfahrung von Frauen in Deutschland heute.
Was Reker zudem auffiel: »Niemand machte einen konstruktiven Gegenvorschlag und sagte, statt des Armlängen-Vorschlags wäre dieses oder jenes das Richtige. Nur Vorwürfe, nichts Konstruktives.«
Jeder, der die Oberbürgermeisterin kennt, weiß, sie ist eine emanzipierte Frau und weit entfernt davon, Rollenklischees zu bedienen oder gar einzufordern. Sich oder andere als Opfer zu stilisieren ist ihr fremd. Von daher haben die vielfältigen Unterstellungen nichts mit ihr zu tun. Sie erzählten viel mehr etwas über die Menschen und Institutionen, die sie äußerten und veröffentlichten. Zugleich zeigte sich folgendes Bild: Frauen in Köln und im übrigen Land meldeten sich verstärkt zu Selbstverteidigungskursen an. Pfefferspray wurde bundesweit knapp. Anträge auf einen kleinen Waffenschein wurden vermehrt eingereicht. Individuelle Maßnahmen zur Selbsthilfe als Ausdruck von Sorge und Angst.
Reker bekam den Eindruck, dass der Polizeipräsident sie vor der Pressekonferenz anscheinend nicht vollständig über die Vorgänge der Silvesternacht in Kenntnis gesetzt hatte und ihr Informationen vorenthielt. Nach und nach kam heraus, dass doch Flüchtlinge an den Übergriffen und Straftaten beteiligt gewesen sein sollen. Der Vorwurf einer »Schere im Kopf« aufgrund eines ungeschriebenen Gesetzes der »political correctness« bei der Polizei, der Stadt und den Medien machte die Runde. Die Partei Alternative für Deutschland (AfD) sah sich in ihrer Kritik an der »Lügenpresse« bestätigt. Denn in der ersten Pressekonferenz hatte Henriette Reker noch behauptet, niemand mit Flüchtlingsstatus stehe unter Tatverdacht. Der damalige Kölner Polizeipräsident hatte neben ihr gesessen und sie nicht korrigiert. Die Oberbürgermeisterin erklärte das Vertrauen in und die Zusammenarbeit mit dem Polizeipräsidenten für massiv gestört. Fast parallel versetzte der NRW-Innenminister den Polizeipräsidenten in den einstweiligen Ruhestand.
Doch die Anfeindungen gegen Reker gingen weiter. Dabei hatte sie klar und deutlich erklärt: »Wir haben ein Maßnahmenpaket gegen menschenverachtende Gewalttaten beschlossen, wie sie in der Silvesternacht in Köln geschehen sind. Es sind selbstverständlich die Täter, die die Polizei mit aller Härte des Rechtsstaats verfolgen muss. Um solche Exzesse sexueller Gewalt künftig zu verhindern und die Sicherheit auf unseren Straßen und Plätzen zu garantieren, brauchen wir ausreichend Polizei- und Ordnungskräfte. Hier fordere ich die Unterstützung durch das Land ein.«
Ministerpräsidentin Hannelore Kraft hat sich nach den Gewaltexzessen nicht bei Henriette Reker gemeldet, wie diese im NRW-Untersuchungsausschuss zur Silvesternacht anmerkte. Dazu sagte Kraft am selben Ort zu einer anderen Zeit: »Frau Reker hatte ja so eine Aussage getätigt, und die fand ich nicht gut.« Vielleicht sei es aber »falsch« gewesen, Reker nicht anzurufen, räumte Kraft selbstkritisch ein.
Die Bürger/innen durchlebten einen immensen Vertrauensverlust, was Polizei, Stadt und Staat betrifft. »Auf der Kippe – wie die Silvesternacht Deutschland verändert«, titelte der Spiegel. Die Kanzlerin plädierte für eine schnellere Abschiebung und Ausweisung von Asylbewerbern bei Straftaten. Der Bundesinnenminister stellte dazu konkrete Vorschläge vor und garantierte die schnelle Umsetzung. Der Bundesjustizminister forderte eine Verschärfung des Sexualstrafrechts. Symbolpolitik? Kritiker/innen verwiesen auf die bestehenden Gesetze und bewerteten sie als ausreichend. Allein an der Umsetzung fehle es. Das Asylpaket II ist inzwischen verabschiedet.
Die Oberbürgermeisterin von Köln hielt sich derweil bedeckt. Gesetze und Polizei liegen nicht in ihrer Gestaltungsmacht. Sie berief allerdings eine Sicherheitskonferenz von sieben Städten in NRW ein. Heraus kam am 28. Januar 2016 eine »Kölner Erklärung zur kommunalen Sicherheit«. Unterzeichnet ist die Erklärung von den Städten Aachen, Bonn, Düsseldorf, Essen, Köln, Leverkusen und Oberhausen. Es ging um die aktuelle Sicherheitslage der Kommunen vor dem Hintergrund der Ausschreitungen der Silvesternacht in Köln. Ziel war es, sich über die jeweiligen Sicherheitskonzepte bei Großveranstaltungen auszutauschen, die Möglichkeiten und Grenzen des kommunalen Handelns aufzuzeigen und gemeinsam Bund und Land aufzufordern, die Städte stärker zu unterstützen. Der Forderungskatalog an den Bund und an das Land NRW umfasst unter anderem geeignete Gesetzesgrundlagen, personelle Ressourcen und finanzielle Mittel. Die Städte müssten klare Grenzen und Konsequenzen durchsetzen können, wenn Werte verletzt und Regeln ignoriert werden. Gleichzeitig benötigten sie Ressourcen für die bessere Integration von Flüchtlingen in Gesellschaft und Arbeitsmarkt sowie ihre menschenwürdige Unterbringung. Gemeinsam fordern die Städte außerdem die Einrichtung eines Fachausschusses »Kommunale Sicherheit« beim Deutschen Städtetag und beim Städtetag NRW.
Reker unterstützte außerdem die öffentlich diskutierte Forderung nach einer Bannmeile um den Dom. Die Verwahrlosung der Domumgebung und die sogenannten Angsträume in unmittelbarer Nähe zum Hauptbahnhof gelten als ein Grund für die Ansiedelung eines kriminellen Milieus. Reker hat große Sympathie für die Idee einer Schutzzone, »doch das muss rechtlich geprüft werden«. Manche wünschen sich von ihr eine noch deutlichere Solidarisierung mit den Opfern. Frauen forderten mehr Geld für die Arbeit mit Frauen und Mädchen im Bereich der Prävention und Opferhilfe. Reker solle sich als Frau mit der NRW-Ministerpräsidentin und der Bundeskanzlerin an die Spitze der Bewegung stellen, die das Sexualstrafrecht reformiert, hieß es.
Inzwischen sind bundesweit sexuelle Übergriffe und »Antanz-Diebstähle« in der Silvesternacht bekannt geworden: in Hamburg, Stuttgart, Bremen, Hessen, Düsseldorf, Bielefeld … Der jüngste Vorfall ereignete sich beim Karneval der Kulturen im Mai 2016 in Berlin. Es scheint also nicht allein ein Kölner Phänomen gewesen zu sein. Aber unbestritten ereignete er sich in Köln, dieser bundesweit schwerste Fall von sexualisierter Gewalt gegenüber Frauen in Deutschland überhaupt. Über 1500 Strafanzeigen sind inzwischen eingegangen. Mehr als die Hälfte dieser Personen geben an, Opfer einer Sexualstraftat geworden zu sein.
Am 18. Februar 2016 nahm im NRW-Landtag ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss zu den Exzessen von Köln seine Arbeit auf. Es geht um das Versagen der Polizei und politische Verantwortlichkeiten sowie die allgemeine Sicherheitslage. NRW-Innenminister Jäger hat vor dem Untersuchungsausschuss des Landtages im Mai ausgesagt. Dass Ausmaß der Straftaten sei nicht vorhersehbar gewesen. »Das war ein absolut neues Phänomen, das zum ersten Mal überhaupt in Deutschland zutage getreten ist.« Den Vorwurf, sein Ministerium habe etwas vertuschen wollen, wies er zurück. Er werde alles dafür tun, dass sich das nicht wiederholt. An diesem Versprechen wird sich Jäger messen lassen müssen.
»Ich hätte erwartet, dass der Innenminister sich meldet, weil es ein brisanter Vorfall war«, sagte Henriette Reker Anfang Juli vor dem Untersuchungsausschuss. Im Gegensatz zu ihm habe sich die Bundeskanzlerin wenige Tage nach den Übergriffen erkundigt. »Ich habe ihr gesagt, dass viel zu wenig Polizeipräsenz da war und die Polizei die Situation einfach nicht in den Griff bekommen habe.« Reker bemängelte, dass der Kölner Polizei seit Jahren die erforderlichen Kräfte vorenthalten werden, und wiederholte ihren Vorwurf, vom mittlerweile entlassenen Polizeipräsidenten »nur über feststehende Fakten und nicht über die vollständige Lage« informiert worden zu sein. Reker, die aufgrund des Attentats ihr Amt erst am 15. Dezember antrat, war in den Sicherheitsplanungen der Stadt nicht eingebunden. Vor dem Untersuchungsausschuss wirkte sie wohl auch daher entschlossen, sich nicht vorführen zu lassen. Es habe Fehler »in« und nicht »bei« der Stadt gegeben.
Dieses Resümee sei »unglaublich« bis »verstörend«, und Reker wirke »unterkühlt«, so kommentierten einige Journalisten. Dass Reker zu ihrem eigenen öffentlichen Auftreten nach der Silvesternacht bereits selbstkritisch eingeräumt hatte: »Vielleicht habe ich den Frauen, den Opfern, zu wenig Trost gespendet«, sich im Gegensatz zur Landesregierung bereits nach den ersten Meldungen öffentlich bestürzt zeigte und dieselben Journalisten, mit Blick auf die Landtagswahlen 2017, den Mitgliedern des Untersuchungsausschusses Wahlkampfrhetorik vorwarfen, scheint bei dieser Bewertung keine Rolle gespielt zu haben.
Immer noch kochen rechtspopulistische Empörungsdarsteller ihr politisches Süppchen. Den Menschen, die seit langer Zeit das Thema der sexualisierten Gewalt bearbeiten und um Öffentlichkeit und Unterstützung werben, hört auch jetzt kaum jemand wirklich zu. Es geht in der hitzigen öffentlichen Diskussion um andere Interessen: »Flüchtlingskrise«, Rassismus, Integration, Wahlen, Eitelkeit und Macht. Sowie Sendeminuten, Schlagzeilen und Klicks. Traurig, aber wahr. Der Hashtag #aufschrei war vor einigen Jahren ein erstes Ventil für das wichtige Thema der sexualisierten Gewalt gewesen. Dann geriet es wieder etwas in Vergessenheit. Der »normale« Sexismus existierte weiterhin auf dem Oktoberfest, im Karneval, an öffentlichen Orten oder hinter verschlossenen Türen im privaten Umfeld oder am Arbeitsplatz. Der »Sexmob« in Köln sei eine weitere und verschärfte Variante sexualisierter Gewalt. »Tahir-Platz in Deutschland« wurden die Ereignisse genannt. Es gibt jetzt eine Neuauflage der Solidaritätskampagne von #aufschrei unter dem Hashtag #ausnahmslos. Gegen sexualisierte Gewalt und Rassismus.
Die Opfer sexualisierter Gewalt in Köln und anderswo sollten das eigentliche Thema sein und kein Mittel zum Zweck. Aber leider hielt sich kaum jemand daran, und so wurden sie einfach benutzt. Ein zweiter Missbrauch.
Die Welt schaute auf Köln. Die Metropole des multikulturellen Miteinanders. »Drink doch ene met« – lass uns Freunde sein auf ein Getränk – heißt ein berühmtes Lied der Bläck Fööss, der Band für das kölsche Gefühl. Köln hatte das Image der weltoffenen Stadt. Seit Ewigkeiten feierte man hier das Zusammenleben unterschiedlichster Menschen mit unterschiedlichster Herkunft und unterschiedlichsten Lebensentwürfen. Diversity als Lebensgefühl. »Unsere Stammbaum« – auch ein Lied der Bläck Fööss – bringt die besondere Mentalität ebenfalls gut auf den Punkt.