Christian Schüle
Das Ende der Welt
Von Ängsten und Hoffnungen in unsicheren Zeiten
Knaur e-books
Christian Schüle, Jahrgang 1970, hat in München und Wien Philosophie und Politische Wissenschaft studiert und ist freier Journalist, u.a. für DIE ZEIT, für MARE, National Geographic, SPIEGEL Geschichte u.a. Seine Reportagen, Essays und Feuilletons wurden mehrfach preisgekrönt. Christian Schüle hat bislang vier Bücher veröffentlicht: Vom Ich zum Wir. Was die nächste Gesellschaft zusammenhält; Die Bibel irrt: Die sieben großen Mythen auf dem Prüfstand; Türkeireise und Deutschlandvermessung. Abrechnungen eines Mittdreißigers.
eBook-Ausgabe 2014
Pattloch eBook
© 2012 Pattloch Verlag GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit
Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Coverabbildung: Markus Prachensky, »Umbria Quartetto – 1986«
ISBN 978-3-629-32043-8
Wenn Ihnen dieses eBook gefallen hat, empfehlen wir Ihnen gerne weiteren spannenden Lesestoff aus dem Programm von Knaur eBook und neobooks.
Auf www.knaur-ebook.de finden Sie alle eBooks aus dem Programm der Verlagsgruppe Droemer Knaur.
Mit dem Knaur eBook Newsletter werden Sie regelmäßig über aktuelle Neuerscheinungen informiert.
Auf der Online-Plattform www.neobooks.com publizieren bisher unentdeckte Autoren ihre Werke als eBooks. Als Leser können Sie diese Titel überwiegend kostenlos herunterladen, lesen, rezensieren und zur Bewertung bei Droemer Knaur empfehlen.
Weitere Informationen rund um das Thema eBook erhalten Sie über unsere Facebook- und Twitter-Seiten:
http://www.facebook.com/knaurebook
http://twitter.com/knaurebook
http://www.facebook.com/neobooks
http://twitter.com/neobooks_com
»Geht am 21. 12. 2012 die Welt unter?
Ja – nein – weiß nicht«
(Voting auf der Homepage
www.Weltuntergang-2012.de)
Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,
in allen Lüften hallt es wie Geschrei.
Dachdecker stürzen ab und geh’n entzwei
und an den Küsten – liest man – steigt die Flut.
Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen
an Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.
Die meisten Menschen haben einen Schnupfen.
Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.
Jakob van Hoddis (Weltende, 1911)
»Was wir heute sehen und bestaunen,
wird verbrennen im universellen Feuer, das hineinführt
in eine neue, gerechte, glückliche Welt.«
Seneca (1–65 n.Chr.)
Das Ende der Welt als Begleiter der Menschheit
Setzen wir Zeit und Raum für den Moment eines absurden Gedankens außer Kraft, der da lautet: Es naht das Ende der Welt. Alles wird zugleich kommen. Zugleich stürzen, fallen, krachen. Der Furor des Verschwindens ist unbestechlich – weder gibt es Abfolgen noch Ursache-Wirkungs-Verhältnisse, es gibt nur noch Gleichzeitigkeit. Und blicken wir mit dieser Gewissheit kurz zurück auf die Jahre 2010 und 2011 als einen besonderen Abschnitt der Zeitläufte, ein gut verschnürtes Bündel Weltgeschichte: In selber Zeit und selbem Raum wie die Völker in Tunesien, Ägypten, Libyen gegen ihre Unterdrücker rebellierten, erschienen in Frankreich Bücher, die den Aufstand prophezeiten und die Empörung gegen die Herrscher übers Kapital forcierten. Und zur selben Zeit verschleierten Aschewolken aus einem isländischen Vulkan den Himmel über halb Europa und paralysierten bei ausbleibendem Flugverkehr die globale Just-in-time-Ordnung. In Japan gab es Tsunami, Erdbeben und Kernschmelze, in Deutschland wütete der sogenannte EHEC-Erreger, und auf der Sonne ereignete sich eine gigantische Eruption, woraufhin 150 Millionen Kilometer von der Erde entfernt ein dramatischer Sturm einsetzte, bei dem riesige Partikelmengen ins All geschleudert wurden, mit, wie es hieß, verheerenden Auswirkungen auf unseren Planeten. Dann bebte im Kurdengebiet der Osttürkei die Erde in einer amtlichen Stärke von 7,2 auf der Richterskala, massenweise Tote waren zu beklagen, und zur selben Zeit brauchte das marode Griechenland im Endspiel um seine Existenz abermals einen einige Milliarden Euro prallen Rettungsschirm, während der deutsche Zeitgenosse noch immer in dem seit Jahrzehnten schlimmsten Verhängniszusammenhang von Krisen und Hyperkrisen gefangen war. Europa war in der Krise, der Euro war in der Krise, das Politische war in der Krise, die Politik war in der Krise, die Koalition, die Glaubwürdigkeit, das Vertrauen, der Finanzmarkt, der Kapitalismus, die Banken waren in der Krise, die Hoffenden, die Liebenden, ja, der Mensch an sich war in der Krise.
Ist das menschliche Leben nicht vielmehr der fatale Gesamtzusammenhang einer einzigen, großen, alles überwölbenden Krise, die jeder Einzelne zu bewältigen hat und nicht bewältigen kann? Vielleicht könnte man sagen: Das Leben ist eine Krise an sich. Ein System an unermüdlicher, nie gelöster Krisenprophetie, Krisenangst, Krisenprävention, Krisentherapie. Permanent Strategien zur Krisenbewältigung zu entwerfen und anzuwenden – im Sinne der Bewältigung eines vom Unglück bedrohten Lebens –, ist mühsam, auszehrend, verunsichernd und vor allem existenziell bedrohlich. Mit nichts scheint der Mensch schlechter zurechtzukommen als mit Komplexität und Unberechenbarkeit – beides aber charakterisiert den Fortschritt, und Fortschritt ist der Gott des Systems aus Gläubigern und Schuldnern. Jedem Fortschritt inhärent ist die Panik vor dem Fortschreiten. Mal äußert sie sich dezent, mal unüberhörbar. Man gibt gewohntes Terrain auf, löst den Anker und stellt sich den Wogen des unberechenbaren Meers: So ist des Fortschritts Risiko seit Jahrhunderten. Und Unberechenbarkeit, die Tochter des Fortschritts, übt ungehörig, wie sie ist, gegenüber dem Drang zu Kontrolle und Ordnung veritablen Ungehorsam.
Deuten also nicht alle inneren und äußeren Umstände des vergangenen Jahrfünfts auf die nahenden letzten Tage der Menschheit hin? Während der Finanzkrise stand die Welt augenscheinlich einen Fußbreit vor dem Abgrund – innere Aushöhlung, Kollaps des Systems, Bruch der Organisationsstruktur. Dann bebte in Haiti die Erde und ließ ein ganzes Land verschwinden, es bebte die Erde in Neuseeland, und der Schlund verschlang ganze Dörfer. Es schwoll die Angst vor einem Beben im Yosemite-Nationalpark und in San Francisco, und irgendwo zuckte immer ein Boden. Zeitgleich geschahen weitere Katastrophen, nicht bedingt durch den fatalen Klimawandel, sondern durch Kollision der Platten unter den Weltmeeren, auf die Eingeweihte schon lange gewartet hatten; beständig arbeitete die Tektonik fort – Überschwemmungen, Zerstörungen, Tod und Trauer bedrohten Abertausende von Existenzen und Leben, die Medien brachten unendliche Geschichten von Leid, Schmerz, Trauer und innerer Verwüstung. Dann kam der siebenmilliardste Mensch auf die Welt, und der Ökonom Wolfgang Fengler schrieb aus seinem Büro der Weltbank in Nairobi in einem Zeitungsaufsatz: »Der Bevölkerungstheoretiker Thomas Malthus weissagte Ende des 19. Jahrhunderts, den Menschen werde die Nahrung ausgehen, wenn die Weltbevölkerung so rasant wachse. Damals hatte die Welt weniger als eine Milliarde Menschen. … Im Augenblick erhöht sich die Zahl der Weltbevölkerung jedes Jahr um 80 Millionen Menschen.« Was anderes als das Ende ist daraus zu schließen?
Schließlich passierte es. Elfter März 2011. Ein Horror-Beben im Pazifik. Eine tektonische Plattenverschiebung. Gigantische Tsunamis, sechs, acht, zehn Meter hohe Wellen, Tausende Tote, Zehntausende Vermisste, zahllose Traumatisierte. Der Reaktor war geborsten, es drohte eine radioaktive Verseuchung ungeahnten Ausmaßes, es drohte die Kernschmelze. Das Endzeit-Fanal der jüngsten Geschichte hatte einen Namen: Fukushima.
Es war die stärkste jemals registrierte Erschütterung. Sie löste einen Tsunami aus. Bis zu 40 Meter hohe Wellen verwüsteten die Nordostküste der Insel Honshu. Orte wurden weggerissen, Straßen fortgespült. 19 000 Menschen starben. Es war die teuerste Naturkatastrophe aller Zeiten: 210 Milliarden Dollar. Der Vorstand der Munich Re, Torsten Jeworek, sagte Anfang 2012: »Eine Serie schwerster Naturkatastrophen wie im abgelaufenen Jahr gibt es nur selten. Es handelt sich hierbei um Ereignisse, deren Wiederkehrperioden zum Teil bei einmal in 1000 Jahren liegen.«
Der Nordosten Japans wurde zuletzt im Jahr 869 von einer vergleichbar verheerenden Flutwelle getroffen. Fukushima aber wurde zur Katastrophe durch jene Technik, die angetreten war, das Leben berechenbar zu machen.
Deutete also nicht alles auf das Ende der Welt hin, vielleicht tatsächlich am 21. Mai 2011, wie der amerikanische Laienprediger Harold Camping seit langem raunte? Doch was geschah an diesem Tag? Nichts. Er verging, ohne dass in der Welt Umstürzenderes geschah als die üblichen Morde und Totschläge, die kleinen geschäftlichen oder zwischenmenschlichen Katastrophen, die bunte Phänomenologie des menschlichen Leids als kreatürliches Schicksal. Kein Höllenfeuer, kein speiender Drache, keine Eruption, kein Asteroid, nicht einmal ein kleines Erdbeben, geschweige denn die Epiphanie des Bösen in Gestalt eines Vulkanausbruchs oder einer Homosexuellenparty. Nein, schlichtweg nichts. Auf phänomenale Weise versagte Campings Vorhersage des »Judgement Day«, mit dem auf großflächigen Plakaten in amerikanischen Großstädten oder auf den Philippinen, in Vietnam, Mexiko und Neuseeland geradezu polternd das Ende der Welt angekündigt wurde – begleitet von audiotonen Prophezeiungen via »Family Radio« und auf »Judgement Day«-Fahrten des entsprechend lackierten Family-Radio-Busses. Das Motto der Hörfunkwelle lautete: »Feeding God’s sheep«, wahlweise »Weide meine Schafe«, ein Zitat aus der Offenbarung des Johannes. Der Weltuntergangshörfunk, so wurde aus den USA berichtet, trieb sein Anliegen gar so weit, dass der Text »Gay Pride: Sign of the End« wegen seiner die Schwulen verhetzender Sprache von der Homepage genommen werden musste.
Doch dieser 21. Mai ging zu Ende, wie er begann: als kalendarisches Faktum. Und er mündete freundlich in den 22. Mai, und die freudentaumelnde Entrückung der Gerechten, wie sie die Radioprediger vorhergesagt hatten, blieb aus. Mit der sogenannten »Entrückung« freilich sollte das dramatisch umflorte Ende der Welt seinen Lauf nehmen; Aberhunderte christlicher Fundamentalisten warteten an jenem Samstag vergeblich auf das schwere Erdbeben, mit dem der Weltuntergang um Punkt 18 Uhr amerikanischer Ortszeit eingeläutet werden sollte. Weil auch Propheten irren (autodidaktische zumal) und weil Irren womöglich menschlich ist, korrigierte sich der damals 90-jährige amerikanische Radioprediger und selbsternannte Bibelforscher Harold Camping, ein gelernter Bauingenieur und Vater von sieben Kindern, in peinvoller Zerknirschung und stufte die angekündigte »Entrückung« auf ein »geistliches Gericht« herunter – nicht allerdings, ohne auf den definitiven Weltuntergang am 21. Oktober 2011 zu verweisen, der dann aber, wie der gute Mann dröhnte, noch viel dramatischer als angenommen ausfallen werde: »Am 21. Oktober«, prophezeite Camping, »wird die Welt zerstört. Und es wird alles auf einmal passieren.«
In wahrscheinlich absichtsvoller Ironie gab die amerikanische Gesundheitsbehörde Centers for Disease Control (CDC) in Atlanta daraufhin Verhaltensregeln für den Weltuntergang aus und ließ wissen, dass es im Fall einer Invasion der Zombies zunächst ratsam sei, eine Notfall-Ausstattung mit Wasser- und Lebensmittelvorrat im Haus zu haben. Zuletzt folgte das Versprechen der Regierungsbehörde: »Sollten Zombies durch die Straßen schlendern, wird das CDC, wie beim Ausbruch jeder anderen Seuche auch, Ermittlungen durchführen.«
Einige Tage nach der verweigerten Entrückung, am Abend des 9. Juni 2011, erlitt Harold Camping, der Präsident und Geschäftsführer von Family Radio, einen leichten Schlaganfall. Mister Camping, ließ man die Anhängerschaft wissen, erhalte ausgezeichnete medizinische Versorgung, die Ärzte seien mit den Fortschritten, die er in seiner Genesung mache, sehr zufrieden.
Wer weiß, ob Harold Campings Herz den größten Fehler, den ein Prophet begehen kann, nicht verkraftet hat, denn ein wahrer Prophet legt sich niemals fest. Die Festlegung auf ein konkretes Datum kann nur mit übermenschlicher Hybris, übermenschlicher Weisheit, übermenschlicher Dummheit oder herzerfrischendem Dilettantismus erklärt werden. Fast 20 Millionen Dollar Spenden hatte Camping eingetrieben, und ihm standen an die 100 Millionen Dollar Rücklagen zur Verfügung, um den »Judgement Day« würdig begehen zu können. Anfang der 1990er Jahre hatte der unermüdliche Prediger schon einmal einen Weltuntergang angekündigt, für das Jahr 1994, dies damals allerdings noch mit einem Fragezeichen garniert. Wird ein Prophet älter, verzichtet er augenscheinlich auf derlei Verunsicherung, was ihn nicht unbedingt weiser oder prophetisch glaubwürdiger macht, in jedem Fall aber die Not aufzeigt, vor dem Ende des eigenen Lebens noch das Ende der Welt erleben zu können.
Man könnte die Aktionen des irrenden Radiopredigers nun als einsame Spinnerei eines präapokalyptisch Entrückten abtun, wäre sie nicht Legion in einem Land, das sich, wie später zu sehen sein wird, großteils als ein himmlisches Jerusalem betrachtet und den Segen der Auserwähltheit Gottes für sich in Anspruch nimmt.
Am 21. Oktober 2011 also geschah genau genommen: gar nichts. Man darf sich Harold Camping als sehr ratlosen Ritter der traurigen Gestalt vorstellen und inständig hoffen, dass das Herz wohlauf ist.
Bei entsprechender Veranlagung könnte ein Fatalist (nicht einmal notwendigerweise ein Möchtegern-Prophet der Güteklasse Camping) die sich ballenden Naturkatastrophen der vergangenen Jahre – Tsunami, Hurrikan Katrina, Fukushima, die Erdbeben in China, Haiti, der Türkei und im Iran – mit gewisser Berechtigung und Logik als Vorboten des nahenden Weltuntergangs lesen. Jedes Ereignis für sich scheint Indiz des Untergehenden, Stürzenden, Fallenden, des furorhaften Verschwindens genug zu sein. Schließlich könnte man auf die Idee kommen, dass man, hätten sich beispielsweise Erdbeben, Tsunami und Kernschmelze von Fukushima nicht im März 2011, sondern ein Jahr später, im März 2012, zugetragen, gespenstisch nah an die konkreteste Vision planetarischer Dunkelheit gekommen wäre: die medial so eifrig umflorte Weltende-Prophezeiung durch den Kalender der mittelamerikanischen Maya aus der späten Antike.
Oder kommt es noch, das Ende, kommt es doch Ende dieses Jahres?
Angeblich, so behaupten Legionen erregter Bürger und selbsternannter Experten, sei auf Freitag, den 21. Dezember 2012 hin eine sehr seltene Planetenkonstellation zu beobachten. Angeblich soll an jenem 21. Dezember die Sonne die Milchstraße einnehmen und dort zur selben Zeit mit der Erde in einer ominösen Linie stehen. Angeblich soll der von den Sumerern vor Jahrtausenden entdeckte Himmelskörper Nibiru Ende des Jahres unheilvoll auf die Erde zusteuern. Angeblich gibt es ein erhöhtes Auftreten von Gammastrahlen im Milchstraßenzentrum. Angeblich soll der Stern Beteigeuze explodieren und zur zweiten Sonne werden. Angeblich steht der Ausbruch des weltweit größten Vulkans im Yellowstone-Nationalpark kurz bevor. Angeblich findet in Kürze ein Polsprung statt. Angeblich ändert sich das Magnetfeld der Erde. Angeblich gibt es auf der Sonne weitere heftige Explosionen. Angeblich bedrohen Asteroiden die Erde und steht Pluto im Zeichen des Steinbocks, weswegen – astrologisch gedeutet – Krusten aufbrechen, Strukturen zusammenfallen und die gewohnte Ordnung kollabieren könnten. Angeblich steht zur Wintersonnenwende 2012 die Sonne am Schwarzen Loch; angeblich wird sie dann aufgesogen und samt Sonnensystem in eine neue Dimension rutschen.
Angeblich werden zur Rettung der Menschen in Norwegen bereits unterirdische Bunker gebaut. Angeblich haben Ehepaare bereits Haus und bürgerliche Existenz aufgegeben und sind in angeblich sichere Höhlen gezogen. Angeblich legen Menschen Vorratskammern und Wasserzisternen an, um den Weltenbrand zu überstehen. Angeblich bereitet sich in den Wäldern von Oregon eine Gruppe Menschen auf die Invasion der Untoten vor. Angeblich lernen wieder andere in einem Zweitages-Crashkurs, wie sie der erwarteten »Zombies-Apokalypse« entgehen können, Kurse für Kinder inklusive.
Und dann gibt es die unglaublich wahre Geschichte des 200-Einwohner-Dorfes Bugarach am Fuße der französischen Pyrenäen, in dem sich seit Monaten Menschen aller Länder versammeln, um am magischen Felsmassiv Pic de Bugarach vor dem Untergang der Welt errettet zu werden – in der festen Überzeugung, in besagtem Berg befinde sich eine Garage für jene außerirdischen Wesen, die sie, die Auserwählten von Bugarach, bevor alles niedergeht, mit auf den Weg ins himmlische Morgen des weiten Kosmos nehmen.
Amerikanische Websites bieten Reisen nach Bugarach an, Gurus und Schamanen sind bereits da, Workshops werden organisiert, Meditationsabende angeboten, Seminare geplant. Von Seiten der Kommunalverwaltung heißt es, die Nachfrage nach Häusern im Dorf wachse stark an, die Immobilienpreise stiegen kontinuierlich, und reiche In- und Ausländer kauften – um sich die besten Plätze für die Rettung zu sichern – das Ackerland um das Dorf herum auf. Dessen Bürgermeister erwartet und fürchtet im Laufe des Jahres den Ansturm Tausender Weltuntergangsflüchtlinge, schon jetzt sind alle verfügbaren Pensionszimmer für den 21. Dezember ausgebucht.
Dieses magische Datum! Haben sich nicht auch die okkulten Seher darauf kapriziert? Vom spätmittelalterlichen Arzt Nostradamus ist überliefert, er habe für unsere Epoche den großen Wendepunkt ebendann vorhergesagt; der einflussreiche amerikanische »2012-Autor« John Major Jenkins kündigt seit Jahren eine Renaissance des Mayaglaubens mit den Prophezeiungen vom Weltuntergang an, und der streitbare Schweizer Bestsellerautor Erich von Däniken erwartet in Kürze Dämmerung und Wiederkunft der Götter, die alles neu ordnen werden. Internationale Massenmedien aller Art greifen die 2012-Erregung auf, stimulieren und befördern sie dadurch, fast jeder hat von diesem heillosen Datum schon einmal gehört, und nicht wenige – eingefasst ins Korsett technischer Rationalität und bürokratischer Lebensgesamtverwaltung – spüren angesichts des Ungewissen einen Schauder …
Und in der Tat: Auf der Inschrifttafel eines königlichen Sarkophags im mexikanischen Tortuguero aus dem 15. Jahrhundert heißt es wörtlich: »Es wird sich ereignen das Jahr 2012.« Und weiter heißt es: »Es wird herabkommen der Gott Bolon Yokte.« Und auch das ist richtig: Am 21. 12. 2012 endet tatsächlich ein bedeutender Zyklus im Kalender der Maya.
Ich selbst muss zugeben, an Weltuntergänge nie geglaubt zu haben, aber ich war immer schon fasziniert vom Glauben daran. Genauer gesagt: von den kollektiven Psychosen der Gesellschaften und Gemeinschaften, sich diesem Glauben zu verschreiben. Verstörend ist, dass dies über die Jahrhunderte hinweg in Europas Kulturen konsistent geblieben ist – zu allen Zeiten rechnete man stets mit dem Untergang. Eine schlichte, empirisch schwachbrüstige, aber aufschlussreiche Umfrage unter Freunden und Bekannten führte zu der verblüffenden Erkenntnis, dass gerade die, denen man Endzeit-Neigungen zuletzt zugetraut hätte, merkwürdig empfänglich für die Anrufungen des Weltendes waren. Es ist und bleibt mir ein Rätsel, wie ein mitteleuropäisch geschulter Verstand derart in eine Denkfigur vernarrt sein kann, die so offenkundig zu allen Zeiten durch die real existierende Realität widerlegt wurde: Das immer wieder prophezeite Ende der Welt, das so alt ist wie die Menschheit selbst, ist ja nachweislich niemals eingetreten. Es muss also andere, den Verstand transzendierende Gründe für die ewige Lust am Untergang geben, kulturelle Prädispositionen und psychische Befindlichkeiten. Genau die sind es, deren Verborgenheit hinterm Schleier der funktionalen Wohlstandsexistenz mich gereizt haben, eine lange Reise durchs Universum des Weltuntergangs zu machen – auf den Spuren meiner eigenen Seelenverfassung im Übrigen und stets in seismographischer Geistesgegenwärtigkeit, um exakt zu prüfen, ob und inwieweit durch Reflexionen, Gespräche und die permanente Beschäftigung mit dem Weltuntergang in mir selbst ein psychokulturell angelegtes Muster getriggert und freigelegt wird.
Man kann es wie folgt sagen: Endzeit- oder Endwelt-Szenarien sind insofern eine Grundkonstante des zivilisatorischen Daseins, als sie die Auslöschungsphantasie des Menschen mit seiner Heilserwartung verknüpfen. Der Zusammenhang zwischen Aufstieg und Untergang ist evident: Dem zivilisatorischen Aufstieg der Menschheit dank Technologie und Naturbeherrschung aus den Niederungen von Sterblichkeit und Darbnis folgt die Angst vor dem Untergang durch ebenjene Maschinen und technischen Errungenschaften, die trotz aller Herrschaftsansprüche letztlich unbeherrschbar sind. Im Laufe des Studiums seiner Heilserwartungen ist eine Menge über den Menschen an sich (und auch über uns selbst) zu lernen, vornehmlich über jenen der westlichen Industriegesellschaft, der, um sich selbst zu verstehen, um seine Herkunft zu reflektieren, um seine Prägung zu erklären, gern auf archaische Muster und Mythen zurückgreift. Vielleicht hat das Individuum, wenn es obenauf ist – sich im Wohlstandskarussell drehend, im Existenzglück juchzend –, in der Tat einen unbestechlichen Instinkt für die Möglichkeit, dass dies nicht so bleiben könnte. Denn sein Leben lang steht der Einzelne vor der schwierigsten aller schwierigen Aufgaben des Lebens – der Bewältigung seiner größten narzisstischen Kränkung: dem Skandal des eigenen Todes.
Auf den Weg gemacht habe ich mich mit dem Rüstzeug des Skeptikers und der Neugier des Unbestechlichen. Zurückgekommen bin ich verändert, so viel schon hier. Die Geschichte von der ewigen Lust am Untergang begann für mich und beginnt zwangsläufig immer mit einem der schillerndsten Begriffe aller Zeiten.
Wer den »Weltuntergang« im Munde führt, spricht zugleich über die »Apokalypse«, auch wenn er das Wort nicht explizit ausspricht und womöglich nicht einmal weiß, was dieser Begriff im Eigentlichen bedeutet. Apokalyptik, die Philosophie und Theologie der Apokalypse, ist eine der geistigen Blaupausen der Gegenwart und ihrer Kultur und das apokalyptische Denken eine der großen Sinnformationen der europäischen und amerikanischen Zivilisationen. Der Begriff »apokalyptisch« fungiert als Begriff des maximalen, nicht steigerbaren, finalen Erregungszustands einer Katastrophe oder auch als superlativischer Superlativ, ohne sprachlich ein Superlativ zu sein (und erhält damit in seiner Wirkmächtigkeit ähnliche Maximalität wie etwa das apokalyptisch getönte Wortsymbol »Auschwitz«).
Verstörend ist die Lust auf das Ende der Welt als eine Art Guerilla-Strategie in einer Zeit, deren Genossen (uns eingeschlossen) ja alles dafür tun, jede Manifestation eines Endes zu vermeiden. Die Apokalypse ist bis heute die Chiffre für die auf legendäre Weise paradoxe Todessehnsucht des Menschen, der das menschlich Klügste aufbietet, um das Leben zu verlängern. Eine Chiffre, die alles vereint, was mit Grausamkeit, Tod, Sterben, Chaos, Vernichtung, Untergang, Weltherrschaft zu tun hat und in der Sprache der Testamente der Antichrist ist.
Sehnsucht nach dem Untergang ist eigentlich ein Widerspruch in sich, denn Sehnsucht bezeichnet Neugier und Trieb nach Neuem, Anderem, Kommendem – oder, und dann wäre sie melancholisch bis destruktiv, Trauer über das unerfüllt Gebliebene. Der Untergang hingegen bereitet das vollkommen erfüllte Ende vor, nach dem es, vermutlich, nichts Neues mehr gibt. Oder doch? Und wenn es nach dem Ende der Welt etwas Neues geben sollte, was genau wäre das? Und kann man sich danach sehnen? Und setzen hier nicht schlicht die Gnade des Glaubens und der Herrschaftsbereich der Religionen an?
Für mich persönlich war immer klar, dass man – Differenzierungen mit eingerechnet – die Welt grundsätzlich nur auf zweierlei Weise betrachten kann: Entweder hält man sie für schlecht oder für gut. Man kann natürlich auch keinerlei Haltung zur Welt haben, was reichlich fad und für apokalyptische Belange uninteressant ist. Wer die Welt nun für schlecht hält, denkt aus dem Geist der Negation heraus; wer sie für gut hält, mag womöglich naiv sein, ist aber konstruktiv und in jedem Fall optimistisch. Gegen den Optimismus, etwa in Gestalt eines ambitionierten Gutmenschentums, ist im Zuge der Jahrhunderte reichlich Häme gespritzt worden, und nie mehr wird der Spott darüber so ätzend sein können wie im Voltaireschen »Candide« von 1759, jener satirischen Novelle, die die Illusion der Welt als bester aller Welten genüsslich aufspießte: Der reisende Held erlebt auf seiner Suche nach dem Paradies nichts als Unglück und unausrottbare Bosheit.
Die nun, welche die Welt als Offenbarung des Schlechten betrachten, sind Gemüter von apokalyptischem Geist. Die Apokalyptik ist der metaphysische Schmierstoff ihres Fatalismus, jener grundsätzlich schlechten Sinnlosigkeit und sinnlosen Malaise der Welt. Das metaphysische Wetterleuchten am Ende aller Vernunft kommt dem apokalyptischen Höllenfeuer zum Ende der Welt gleich. Apokalyptik ist Dialektik: Auf die Diagnose der schlechten Realität folgt die Antithese ihrer totalen Zerstörung, ehe sich im Künftigen ein neues Himmelsreich des Gerechten und Guten öffnet. Nun ist die Frage: Wer diagnostiziert auf Basis welcher Erfahrung einen Zustand als schlecht? Und wer legitimiert mit welchen Mitteln die Zerstörung? Und wer legt fest, was das himmlisch Neue ist?
Die List der Apokalypse besteht ja bis heute in ihrer Unbegriffenheit. Das Wort ist ein semantisches Rätsel und in seiner Geschmeidigkeit derart vielfach ausdeutbar, dass man es ständig neu aufladen, uminterpretieren und füllen kann wie ein Wunderhorn, in das jeder steckt, was er für die Projektion seiner Stimmungen braucht. Und zwar deshalb, weil niemand genau weiß, was der Begriff »Apokalypse« tatsächlich bedeutet, weil er in den Sprachschatz der Menschheit eingegangen ist als semantisches Ungefähr einer höchsten Gefahr. Apokalypse ist das schlechthin Ungefähre, das absolut Ungesicherte, das niemals Sichere, aber in jedem Fall das absolut Schlimmste. Das macht sie für politische Instrumentalisierung verlockend: Das Kommen eines Reichs, des zweiten, dritten oder sonst eines, ist immer eine Projektion in die unverortbare, zeitenthobene, womöglich glor- und heilsreiche Zukunft, in die man im Geborgenheitsraum jener Bewegung oder an der Hand dieses Führers schreitet.
Das Wort Apokalypse (verstanden als Theologie und Philosophie vom Ende der Welt) trägt eine assoziative und existenzielle Wucht in sich und reißt einen eminenten Deutungshorizont auf. Der Begriff apokalyptisch wird stets mit katastrophal, unheilvoll oder grauenhaft gleichgesetzt. Diese einseitigen Assoziationen stimmen aber nur zur Hälfte, wie man in Kürze sehen wird, denn Apokalypse heißt etymologisch dechiffriert und aus dem Griechischen stammend, wörtlich verstanden (apo = weg/fort, und kalyptein = verbergen, etwas unter der Decke halten) nichts anderes als etwas entschleiern. Das bedeutet: Vorhandenes ist zugedeckt, und durch seine Nichterkennbarkeit und Unsichtbarkeit ist das Zugedeckte unbekannt. Ziel der Apokalypse ist also die Entbergung des Verborgenen; der Apokalyptiker stellt sich in einen edlen Dienst und leistet die Aufdeckung des Unbekannten. Wer aber hat Kraft und Fähigkeit, das Verborgene zu entbergen?
Von der Antike bis ins 19. Jahrhundert hinein war die Antwort klar: Gott allein. Oder eine menschliche Instanz mit göttlicher Hilfe. Die irdischen Wesen warteten – mal leidend, mal hoffend – auf den Tag der Entscheidung, an dem ihnen durch den Propheten das Verborgene enthüllt wurde, durch zuerst Entrückung und dann Errettung. Solange das nicht geschah, waltete wilde Phantasie.
Für mich persönlich, das darf ich anmerken, besteht der Grundgedanke des Apokalyptischen in der Erlösung durch Vernichtung. Die Anwendung von Gewalt für den Frieden, gegen Unrecht und Ungerechtigkeit, Unterdrückung und Ausbeutung ist durch Religion, Theologie, Philosophie und Kulturgeschichte der vergangenen zwei Jahrtausende gedeckt und macht das apokalyptische Denken zu einem überaus zweischneidigen Schwert – wie es im Übrigen auch Revolutionen sind, da sie so gut wie immer apokalyptisch durchtönt sind.
Die Apokalypse selbst ist ja eine Form der Revolution: die plötzliche, radikale, gewaltsame Umkehr zu neuen, gerechten, ja himmlischen Verhältnissen, der eine Diagnose der bestehenden Realität vorausgeht, welche wiederum diese Umkehr legitimiert. Anfangs ist die Apokalypse nichts Konkretes, sondern ein Fiebertraum, eine Vision, eine Schau, im Besitz der Wahrheit dessen, was kommen wird. Generalbass, Grundtenor und Sopran des Apokalyptischen ist stets das Futur: Die Erlösung sei nicht mehr weit entfernt, die Zeit nahe, es werde etwas geschehen, das Gericht werde richten – und jeder kann sich aussuchen, wann was wo passieren wird …
Das Gericht ist Anfangs- und End-, Dreh- und Angelpunkt des apokalyptischen Denkens, ein hochherrschaftliches freilich, ein absolutes, von keiner Instanz mehr hinterfragbares, von dem niemand weiß, wann genau es wo in welcher Besetzung stattfindet. Bevor Recht zu einer Angelegenheit von Gesetzen, Verfassungen und Anwälten wurde, war Rechtsprechung die Sache Gottes, wofür der griechische Begriff Eschatologie bereitgestellt wurde. Eschatologie, die Lehre vom Jüngsten Gericht, unterschied sich insofern von Apokalyptik, als eschatologisches Denken das legitime Vertrauen auf das zukünftige Rettungshandeln Gottes war, Apokalyptik dagegen als überzogene Form der Zukunftsforschung galt. Mit der Aufwertung des eschatologischen wurde im Zuge der Jahrhunderte das apokalyptische Denken abgewertet, theoretisch zumindest.
Heute ist das anders. Wenn Eschatologie und Apokalyptik aus gänzlicher Unkenntnis oder Vagheit des Wissens nicht ohnehin gleichgesetzt werden (gesetzt den Fall, der spätmoderne Zeitgenosse kann mit derlei Bildungsbegrifflichkeit überhaupt noch etwas anfangen), hat das apokalyptische Denken dem eschatologischen wieder den Rang abgelaufen. Apokalypse ist heute weniger ein theologisches Motiv als vielmehr ein säkulares Geschäftsmodell. Jeglicher religiöser, im eigentlichen Sinn biblischer Dimension entledigt, zielt es auf Ängste, Unsicherheiten und die große Leerstelle der menschlichen Seele: das zerstörte Ur-Vertrauen in den guten Gang der Dinge. Warum glaubt der Mensch an ein höheres Gericht, auch wenn er nicht mehr an Gott glaubt? Warum glaubt er überhaupt an etwas Übermenschliches? Er glaubt, lautet ein erster Antwortversuch, weil er vertrauen will. Wem oder was er vertraut, spielt eine Nebenrolle; entscheidend ist, dass er vertrauen kann. Aber dazu später mehr. Wenn Apokalypse heute wieder ein Motiv der Hoffnung ist, und sei sie auch noch so latent, sublim und intim, dann spricht das Bände über den Geist der Gegenwart und den sozialpsychologischen Zustand der Gesellschaft.
Die vielfältige Ausdeutbarkeit und Interpretationsbedürftigkeit der Apokalypse ist das willkommene Rüstzeug selbsternannter Deuter und Interpreten. Waren die Apokalypse-Unternehmer in früheren Zeiten Propheten, Sektierer, Erweckungsprediger und später evangelikale Millenaristen, sind es heute – der theologischen, nicht aber religiösen Transzendenz enthoben – Angstmacher aller Art: Wissenschaftler, Experten, Prognostiker, Trendforscher, Buchautoren, Redakteure, Politiker, Boulevardisten, allesamt Betreiber von Frühwarnsystemen, die ihre Legitimation aus der Sorge um die schützenswerte Menschheit ableiten. Jeder von ihnen hat mit der Apokalypse Bestimmtes im Sinn – zumal sich bei reiflicher Assoziationsakrobatik mit ihr allerlei waghalsige Nummern im Circus Maximus der Aufmerksamkeit inszenieren lassen.
Obwohl die Welt nachweislich noch nie untergegangen ist, ist die Faszination des Weltuntergangs ungebrochen und stets präsent. Warum?
Es geht in den folgenden Betrachtungen, deren Streitbarkeit dem Autor bewusst ist, im Wesentlichen um die Denkfigur des Apokalyptischen in der Gegenwart und die zeitgenössischen Variationen einer ewigen Lust am Untergang. Die Behauptung, das Apokalyptische sei prägend für Kultur und Lebensstil der heutigen westlichen Zivilisation, mag auf den ersten Blick verstören, auf den zweiten hoffentlich erhellen. Aufgeklärte, durch Verwaltung, Systeme und Recht gesteuerte, durch Wissenschaft und Wissen weltfähig gemachte Individuen ringen trotz aller Rationalitätskontrolle stets mit dem Unbehagen. Es ist eine unbewusste Ahnung, dass die existierende Welt doch nicht total beherrschbar ist, gekoppelt mit dem Auftrag der individuellen Kontingenzbewältigung – der Erklärung jener Tatsache also, dass der Mensch zwar ist, aber nicht sein müsste.
Vorausgesetzt, das Leben ist ein Zusammenhang aus Krise und Problemlösung, so ist das apokalyptische Denken als Modus Vivendi in der Krise eine anthropologische Problemlösungskonstante. Jede Krise produziert naturgemäß apokalyptische Szenarien, also ist apokalyptisches Denken eine Reaktion auf Krisensituationen. Was nach Zusammenbruch und absolutem Chaos kommt, wissen nur die Götter – das entlastet. Das enthebt. Das lässt Verantwortung delegieren. Der existenziellen Bedrohung des alltäglichen Lebens durch die Möglichkeit von Finanzkrise, Krieg, Kernschmelze, Naturkatastrophe und Systemkollaps ist der Einzelne hilflos ausgeliefert. Wie er mit dem Numinosen, dem Schicksal umzugehen hat, hat er nicht gelernt. Er ist eingezwängt in eine hochdifferenzierte Verwertungsindustrie, die sich permanent selbst entwertet und das Schicksal eliminiert hat. Die Maxime des Corriger la fortune, der Schicksalskorrektur, heißt: Wert hat allein, was sich verwerten lässt.
Es ist wahrlich kein Wunder, dass die Denkfigur der Katastrophe, des Nieder-, wahlweise Untergangs, typisch für die westlichen Gesellschaften am Anfang des 21. Jahrhunderts ist. Sie sind weitestgehend entgöttlicht, entspiritualisiert und geprägt von Optimierung und einem Relativismus in Wertfragen, der nahe an praktischen Nihilismus herankommt. Der Sinn des Lebens generiert sich heute meist über den Kontext, über Projekte oder kurzfristige Bindungen; absolute Wahrheiten, strukturüberwölbende Metaphysiken haben so gut wie keine Konjunktur mehr. Je rationaler, optimierter und effektiver eine Gesellschaft aber organisiert scheint, desto hysterischer sind ihre Reaktionen auf die kleinste Funktionsuntüchtigkeit dieser Ordnung. Um in einer auf zerbrechlichen Übereinkünften basierenden Umwelt zu überleben, muss sich der Mensch von vornherein auf den guten Gang der Dinge verlassen, auf die prästabilierte Harmonie. Er muss mit der Stabilität seiner Umwelt rechnen können, dieses Vertrauen schafft Sicherheit. Das Ur-Vertrauen, das vor-monotheistische Religionen in die Natur legten, legen entmythologisierte Säkulargesellschaften heute in die Technik. Gerät irgendetwas aus dem Rhythmus, gibt es Energie-Blackouts, Zusammenbrüche des Nahverkehrs, Börsencrashs und dergleichen, geht mit der Entwertung der Währung Ur-Vertrauen auch der Glaube verloren. Der Mensch fühlt sich austauschbar. Unwissend. Ohnmächtig. Entbehrlich. Nutzlos. Das Kontingenzgefühl steigt, das Bedürfnis nach Transzendenz wächst, die Sehnsucht nach Führung schwillt. Das macht ihn anfällig für das Apokalyptische.
Hysterische Reaktionen sind kalkulier- und steuerbar, jedenfalls generieren sie ökonomisches wie politisches Kapital, das sich in Quote, Auflage, Aufmerksamkeit oder Wahlsieg ausdrückt, um das verlorene Ur-Vertrauen der Zeitgenossen für sich verwerten zu können. Nichts eignet sich zur Ausübung von politischer oder wirtschaftlicher Macht besser als Angst. Waren Berichterstattung und anschließende Atomwende der Bundesregierung unter Angela Merkel nach der Katastrophe von Fukushima im Frühjahr 2011 nicht ein Paradebeispiel für das Versagen der Vernunft und die Herrschaft der Hysterie? Oder war jenes 9000 Kilometer entfernte Ereignis nur der willkommene Anlass für eine Kanzlerin, ihre eigentliche Politik geschickt durchzusetzen, weil ihre eigene Partei und die parteiinternen Kritiker im Angesicht des Realapokalyptischen keine guten Argumente mehr gegen einen Atomausstieg vorbringen konnten, einen Ausstieg, den der große Teil der Bevölkerung ohnehin und zu Recht wollte?
Hysterie ist die dunkle Schwester der Vernunft und zudem eine deutsche Eigenart, deren Gründe noch zu erörtern sein werden. Jedenfalls korrespondiert Hysterie auf interessante Weise mit Todesangst und Endzeitglaube, weshalb die Apokalyptik quer durch alle Denkformationen, Ideologien und Utopien verläuft. Das Apokalyptische ist der Ursprungsmythos unserer Zivilisation, weil er zugleich ihr Endzeitmythos ist. Andere Kulturen haben zwar Ursprungsmythen, aber keine Endzeitmythen – von Römern und Griechen ist dergleichen nicht bekannt, und im Hinduismus versteht man Welt und Leben zyklisch. Der Endzeitmythos als Ursprungsmythos aber ist ein sehr jüdisch-christliches Geschäft, man könnte sagen: das Erbe der monotheistischen Reduktion des Weltlichen auf einen einzigen göttlichen Ursprung.
Ich selbst, so viel persönliches Bekenntnis muss sein, stehe jedem apokalyptischen Denken grundsätzlich fern. Als kühler Skeptiker, den eher die kulturelle Kraft von Theoremen, Denkfiguren und Sinnformationen als die subjektive Versunkenheit ins Ungefähre erregt, lasse ich mich im Folgenden dennoch von der Annahme leiten, dass die Kultur der zu allen Epochen von Endzeiterwartungen faszinierten Geschichte maßgeblich von der Lust am Untergang geprägt wurde. Meine Leitfrage für den anstehenden Ritt auf dem apokalyptischen Gaul durch die Gefilde der Astronomie, Astrologie, Kulturwissenschaft, Theologie, Philosophie, Psychologie und Politik war folgende: Welche Auswirkungen hat das apokalyptische Denken vom Ende der Welt auf das existenzielle Selbstverständnis des heutigen Individuums?
Der Weg, auf den ich mich – stellvertretend für die Zeitgenossen und als selbstsezierende Versuchsperson im Vollzug – mit heiterster Neugier begab, um die Weltende-Vorstellungen bis in die Epoche der spätmodernen Gegenwart aufzuspüren, beginnt notwendigerweise im Jahr 95 nach Christus.
Das Ende der Welt als Testament der Theologen