Mary Kay Andrews
Der geheime Schwimmclub
Übersetzt von Andrea Fischer
FISCHER E-Books
Mary Kay Andrews wuchs in Florida, USA, auf und lebt mit ihrer Familie in Atlanta. Im Sommer zieht es sie zu ihrem liebevoll restaurierten Ferienhaus auf Tybee Island, einer wunderschönen Insel vor der Küste Georgias. Seit ihrem Bestseller ›Die Sommerfrauen‹ gilt sie als Garantin für die perfekte Urlaubslektüre.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Josephine, Millie, Ruth und Varina gründeten in ihrer Jugend einen geheimen Schwimmclub. Immer wenn sie sich in den langen Sommern trafen, gingen sie nachts gemeinsam schwimmen, vertrauten einander ihre Geheimnisse und Lebenswünsche an. Über ein halbes Jahrhundert später ist die 99-jährige Josephine, Besitzerin der wunderschönen, kleinen Insel Talisa, unheilbar erkrankt. Schon lange hat sie die anderen Frauen nicht mehr gesehen, aber die Insel, mit der sie viele Erinnerungen an die gemeinsame Jugend verbindet, möchte sie ihren Freundinnen vermachen – und sich damit von einer Schuld befreien, die sie über all die Jahre belastet hat. Um Millie, Ruth und Varina zu finden, beauftragt Josephine die junge Anwältin Brooke Trappnell, die von dem ungewöhnlichen Auftrag mehr als überrascht ist. Eigentlich hat sie keine Zeit für so einen zeitaufwändigen Fall, denn ihr eigenes Leben fordert sie gerade ganz schön heraus. Aber als Josephine geheimnisvolle Andeutungen macht und von ihrer Freundschaft mit den drei Frauen erzählt, kann sie ihr Interesse an dem Fall nicht mehr leugnen …
Deutsche Erstausgabe
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel ›The High Tide Club‹ bei St. Martin's Press, New York.
© 2018 by Whodunnit, Inc.
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.
Covergestaltung: www.buerosued.de
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-491120-5
Dieses Buch widme ich von ganzem Herzen Andrew Rivers Trocheck; seine Liebe für die wilden Seiten Georgias war es, die mich inspiriert hat.
Die drei jungen Frauen schauten in das Loch hinab, das sie in den Hügel aus Muschelschalen gegraben hatten. Ihre dünnen pastellfarbenen Kleider waren feucht und zerknittert, schwankend standen sie auf den hohen Absätzen ihrer zierlichen Sandalen. Ihre geröteten Gesichter glänzten vor Schweiß. Die Vierte im Bunde war ein siebzehnjähriges Mädchen mit karamellbrauner Haut, das einen Arbeitsoverall und abgetretene Lederschuhe trug. Ihre Augen waren vor Entsetzen weit aufgerissen. Durch die knorrigen Äste der moosbehangenen Lebenseichen tasteten sich vorsichtig die morgendlichen Sonnenstrahlen und fielen auf den Austernsplitt.
»Gib mir mal die Schaufel!«, sagte die größte der jungen Frauen. Das junge Mädchen gehorchte.
Das Schaufelblatt stach durch den Muschelsplitt in den Boden. Die große Frau warf den Sand auf die Gestalt im Loch, dann reichte sie das Werkzeug wortlos an die Rothaarige neben sich weiter. Die zuckte mit den Achseln und tat es ihrer Vorgängerin nach. Bedächtig streute sie den Splitt auf den Kopf des Toten. Dann drehte sie sich zu der dritten jungen Frau um, einer hübschen Blondine, die beide Hände vor den Mund geschlagen hatte.
»Mir wird gleich schlecht«, brachte sie hervor, krümmte sich und würgte.
Die Rothaarige hielt ihr ein Taschentuch hin, die Blondine wischte sich damit die Lippen ab. »Entschuldigung«, flüsterte sie. »Ich habe noch nie einen Toten gesehen.«
»Glaubst du etwa, wir?«, fuhr die Große sie an. »Kommt, bringen wir es hinter uns! Wir müssen zurück sein, bevor jemand fragt, wo wir sind.«
»Und der?« Die Rothaarige wies auf die Leiche im Loch. »Meinst du, niemand wundert sich, wenn er nicht zum Frühstück erscheint?«
»Wir sagen einfach, er hätte davon gesprochen, jagen zu gehen. Gestern war er doch auch frühmorgens unterwegs. Noch vor Sonnenaufgang. Millie kann sagen, sie hätte gehört, wie er sein Zimmer verlassen hat. Sein Gewehr liegt ja hier, also passt das. Ihm kann alles Mögliche zugestoßen sein. Er könnte sich im Dunkeln verlaufen haben und in einen Bach gefallen sein.«
»Hier gibt es Alligatoren«, sagte das junge Mädchen im Overall. »Riesige Dinger.«
»Und Schlangen«, ergänzte die großgewachsene Frau. »Klapperschlangen, Mokassinottern, Korallenottern. Und Wildschweine. Die laufen in Rotten herum. Wenn die einen erwischen …«
»Du liebe Güte!«, sagte die Rothaarige. »Wenn ich das gewusst hätte, wäre ich niemals gestern Abend im Dunkeln rausgeschlichen. Schlangen und Alligatoren?« Sie erschauderte. »Wildschweine? Gruselig.«
»Wir wissen von nichts«, sagte die Große mit Nachdruck und sah die anderen eindringlich an. »Verstanden?«
Ein leises Schluchzen entschlüpfte ihrer blonden Freundin. »O Gott! Was ist, wenn es jemand herausfindet?«
»Das findet keiner heraus«, sagte die Rothaarige. »Wir haben uns doch geschworen, dass wir nichts verraten, oder?«
»Ja. Hier kommt auch kaum jemand hin. Die Geechees haben Angst vor diesem Hügel. Sie glauben, hier gibt’s Geister. Stimmt’s, Varina?«
Die Siebzehnjährige schaute auf ihre staubigen Schuhe. »Kann schon sein.«
»Genau, sie sind überzeugt, hier würde es spuken«, wiederholte die Große. »Gardiner und ich haben den Hügel zufällig mal entdeckt, als wir noch Kinder waren. Er soll noch von den Indianern stammen.«
Die Blondine riss die braunen Augen auf. »Meint ihr wirklich, es ist ein Grabhügel? Dass da unten noch mehr Tote liegen?«
»Wer weiß?« Ein Regentropfen fiel der großgewachsenen Frau ins Gesicht. Sie spähte durch die Baumwipfel in den Himmel, der sich zugezogen hatte. »Jetzt fängt es auch noch an zu regnen! Kommt, wir bringen das jetzt zu Ende und gehen zurück zum Haus, bevor wir alle klatschnass und unsere Schuhe ruiniert sind. Dann müssen wir nämlich wirklich viele Fragen beantworten. Wo wir gewesen sind und was wir gemacht haben.«
Der jungen Blondine traten Tränen in die Augen, unwillkürlich rieb sie über die blauen Flecke an ihren nackten Armen. Lautlos weinte sie vor sich hin. »Wir kommen alle in die Hölle. Wir hätten gestern nicht schwimmen gehen dürfen. Was ist, wenn jemand herausbekommt, was passiert ist? Dann fällt der Verdacht auf uns. Auf mich!«
Die Rothaarige wurde nachdenklich. »Es ist unwichtig, wer ihn umgebracht hat. Es hätte jede von uns sein können. Er war ein schlechter Mensch. Für das, was er getan hat, wird er in die Hölle kommen. Du hättest dich niemals mit ihm verloben dürfen, Millie.«
»Hat sie aber. Das ist nicht mehr zu ändern«, sagte die Große. »Mädels, es wird eine Menge Fragen geben, wenn herauskommt, dass er verschwunden ist. Man wird ihn suchen, und mein Vater ruft mit Sicherheit den Sheriff. Aber wir wissen alle von nichts, verstanden?«
Die Blonde blickte forschend die Rothaarige an, die wiederum die Große anschaute, die ihrerseits erwartungsvoll das junge Mädchen ansah, das pflichtschuldig nickte. »Wir haben keine Ahnung.«
Brooke Trappnell machte sich nur selten die Mühe, an ihr Bürotelefon zu gehen, schon gar nicht, wenn im Display »Unbekannte Nummer« stand, denn dann wollte der Anrufer meistens etwas verkaufen, das sie entweder nicht brauchte oder sich nicht leisten konnte. Aber an diesem Tag gab es nichts zu tun, und die Büronummer stand schließlich auf ihrer Visitenkarte, also hob sie ausnahmsweise ab.
»Trappnell und Partner«, meldete sie sich forsch.
»Ich möchte gerne mit Miss Trappnell sprechen.« Die Stimme schien einer älteren Frau zu gehören. Sie klang dünn und zittrig. Der schwere Südstaatenakzent, den man an diesem Teil der Küste Georgias sprach, war nur schwach herauszuhören.
»Am Apparat.« Brooke griff zu Stift und Notizblock, nur für den Fall, dass am anderen Ende tatsächlich eine potenzielle Mandantin war.
»Oh.« Die Frau klang enttäuscht. Oder vielleicht desorientiert. »Verstehe. Nun, ich bin Josephine Warrick.«
Es kam Brooke vor, als ob sie den Namen irgendwo schon einmal gehört hatte, sie wusste nur nicht, wo. Schnell tippte sie ihn in die Suchmaschine ihres Computers.
»Josephine Warrick von Talisa Island«, wiederholte die Frau ungeduldig, als hätte sie von Brooke eine andere Reaktion erwartet.
»Aha. Was kann ich für Sie tun, Mrs. Warrick?« Brooke warf einen kurzen Blick auf den Monitor und klickte auf einen vier Jahre alten Artikel der Zeitschrift Southern Living, der die Überschrift trug: »Josephine Bettendorf Warrick und ihr Kampf um Talisa Island.« Sie betrachtete das Farbfoto einer älteren Frau mit langen weißen Haaren, die mit trotzigem Gesichtsausdruck vor einer Villa stand. Das Haus glich einer rosa Hochzeitstorte. Die Dame trug einen bodenlangen Pelzmantel und hohe Turnschuhe. In ihrer rechten Armbeuge ruhte eine doppelläufige Flinte.
»Ich möchte, dass Sie herkommen und mich besuchen«, sagte Mrs. Warrick. »Ich kann Sie morgen um elf Uhr von meinem Boot in St. Ann’s abholen lassen. Ist das in Ordnung?«
»Ähm, könnten Sie mir bitte sagen, um was es geht? Handelt es sich um eine juristische Angelegenheit?«
»Natürlich ist es was Juristisches. Sie sind doch Anwältin, oder? Und Sie haben die Befugnis, im Bundesstaat Georgia zu praktizieren?«
»Ja, aber …«
»Es ist zu kompliziert, um das am Telefon zu erklären. Seien sie pünktlich um elf am Anleger, ja? C.D. holt Sie ab. Und machen Sie sich keine Gedanken ums Mittagessen. Ich lasse etwas vorbereiten.«
»Aber …«
Die Anruferin hörte Brookes Einwand nicht mehr. Sie hatte bereits aufgelegt. Und schon war der nächste Anrufer in der Leitung.
Brooke verzog das Gesicht, als sie den Namen im Display las: Dr. Himali Patel. Rief die Kinderorthopädin tatsächlich an, um an die Bezahlung von Henrys teuren Behandlungskosten zu erinnern?
»Hallo?«
»Hallo, Brooke. Hier ist Dr. Patel. Ich wollte mich nur erkundigen, wie Henry die Physiotherapie bekommt.«
»Sehr gut, danke. Er hatte diese Woche seinen letzten Termin.«
»Das freut mich«, sagte die Ärztin. Dr. Himali Patel war eine Frau der leisen Töne, eine indische Kinderärztin, die Henrys gebrochenen Arm behandelt hatte. Brooke wurde ganz anders, wenn sie an die Tausende von Dollar dachte, die sie dem Krankenhaus noch für die Operation schuldete. Sie hatte sich vor Jahren für eine günstige Krankenversicherung mit hoher Selbstbeteiligung entschieden, doch dann war Henry auf dem Spielplatz vom Klettergerüst gestürzt und unglücklich auf den Arm gefallen, so dass sie mit ihm in die Notaufnahme gemusst hatte. Was folgte, waren eine OP und wochenlange Physiotherapie.
»Falls er Schmerzen haben sollte oder sein Bewegungsradius kleiner wird, kommen Sie mit ihm her. Sonst kann alles wieder seinen gewohnten Gang gehen.«
»Danke, Dr. Patel.« Die Ärztin hatte gut reden. Brooke musste unbedingt bei der Abrechnungsstelle des Krankenhauses anrufen, um einen Teilzahlungsplan zu vereinbaren.
Der Artikel in Southern Living war an Josephine Warricks fünfundneunzigstem Geburtstag erschienen. Demnach musste sie jetzt neunundneunzig sein. Brooke holte den Eistee und das Sandwich mit Erdnussbutter und Gelee heraus, das sie von zu Hause mitgebracht hatte. Dann las sie den Zeitschriftenbeitrag und noch ein halbes Dutzend andere, die sie online fand, um sich über das ereignisreiche Leben der Josephine Bettendorf Warrick zu informieren.
Brooke kannte Talisa Island flüchtig, da sie vor fast fünfundzwanzig Jahren mit den Pfadfinderinnen einen kurzen Campingausflug dort hatte verbringen wollen, der allerdings unter keinem guten Stern gestanden hatte. Ihre Erinnerung war verschwommen, weil sie auf der Hinfahrt seekrank geworden war und dann das Kunststück vollbracht hatte, zuerst von einer Qualle verbrannt zu werden und anschließend durch Giftsumach zu laufen. Die Betreuerinnen hatten ein Boot organisieren müssen, das Brooke vorzeitig zurück zum Festland brachte. Ihre Eltern waren aus dem fast zwei Stunden entfernten Savannah angereist, um sie abzuholen. Es war Brookes erster und letzter Zelturlaub gewesen. Der Name Talisa weckte bei ihr Erinnerungen an die Lotion gegen Giftsumach, an verbrannte Marshmallows und ihren Vater am Lenkrad des Cadillacs, der vor unterdrückter Wut einen roten Nacken bekam, weil er sein samstägliches Golfspiel verpasste.
Beim Lesen machte Brooke sich Notizen und vertilgte ihr Sandwich. Talisa, erfuhr sie, war eine knapp fünftausend Hektar große Düneninsel, die mit der Fähre eine halbe Stunde von der Stadt St. Ann’s entfernt war, wo Brooke lebte. Im Jahr 1912 hatte Samuel G. Bettendorf zusammen mit zwei Cousins die Insel erworben, um die Wintermonate in der Wärme Georgias zu verbringen. Die drei waren Inhaber einer Reederei in Boston. 1919 hatten Samuel Bettendorf und seine Frau Elsie auf Talisa ein Herrenhaus mit fünfzehn Zimmern im mediterranen Stil errichtet, das sie Shellhaven nannten.
1978 hatten dann die Erben der beiden Cousins ihre Anteile dem Bundesstaat Georgia verkauft, der dort ein Naturschutzgebiet einrichtete. Deshalb hatte Brookes Pfadfindergruppe auf der Insel zelten können. Samuel Bettendorf hatte sein Grundstück behalten. Es lag am südöstlichen Ende der Insel, direkt am Meer.
Samuels Tochter und einzige Erbin Josephine Bettendorf Warrick lieferte sich schon seit dreißig Jahren einen Rechtsstreit mit dem Staat, der ihr unbedingt den Rest der Insel abkaufen wollte.
Aus welchem Grund hatte Josephine Warrick Brooke zu sich bestellt? Die Anwältin runzelte die Stirn. In den ersten drei Jahren ihrer Berufstätigkeit hatte Brooke in einer führenden Anwaltskanzlei in Savannah gearbeitet und war dort hauptsächlich mit Zivilklagen und Firmenrecht beschäftigt gewesen. Nachdem sie ihren Verlobten vor dem Altar hatte sitzen lassen und an die Küste geflohen war, hatte sie ihre eigene Kanzlei eröffnet. Der »& Partner«-Teil von Trappnell & Partner war dabei allerdings reines Wunschdenken. In dem gemieteten holzverkleideten einstöckigen Bürogebäude auf der Front Street gab es keine Partner, nur eine Vorzimmerdame in Mini-Teilzeit. In der Kanzlei praktizierte ausschließlich die vierunddreißigjährige Brooke Marie Trappnell, managte ihren Job und den Rest ihres Lebens. Brooke übernahm Scheidungen, Anzeigen wegen Trunkenheit am Steuer oder Körperverletzung und hin und wieder mal eine kleine zivil- oder strafrechtliche Sache. Wenn es Josephine Warrick um den Rechtsstreit mit dem Staat ging, würde Brooke ihr kaum weiterhelfen können, denn sie wusste so gut wie nichts über Liegenschaftsrecht. Dafür brauchte man eine besondere Qualifikation.
Und genau das würde sie Josephine Bettendorf Warrick auch sagen. Am nächsten Tag. Warum auch nicht? Um neun Uhr hatte Brooke einen Termin mit einer Mandantin, die seit einer Woche wegen Körperverletzung im Knast saß, nachdem sie mit der Kassiererin des örtlichen KwikMarts aneinandergeraten war, die ihr neunundneunzig Cent für einen Becher Chrushed Ice hatte abknöpfen wollen. Der Rest von Brookes Kalender war leer. Das kam in letzter Zeit öfter vor.
Nach Brookes Schätzung gab es mindestens drei Dutzend Anwälte in St. Ann’s, alles alteingesessene, erfahrene Kollegen, die sich sämtliche lukrativen Fälle unter den Nagel rissen, die in der Siebzehntausend-Seelen-Stadt zu bekommen waren. Brooke konnte sich glücklich schätzen, wenn für sie ein paar Krümel übrig blieben, die von den Großen verschmäht wurden.
Wenn sie der Wetter-App auf ihrem Handy glauben konnte, würde der nächste Frühlingstag wunderbar sonnig. Was sprach dagegen, mit dem Boot nach Talisa zu fahren, sich die Insel anzusehen und die legendäre Josephine Warrick zu treffen?
Als Brooke am Freitagmorgen ihren Volvo vor dem Büro geparkt hatte, hörte sie bereits, dass laute Musik aus ihrem Büro dröhnte. Jaulende Gitarren, harte Drums, rockige Countrymusik. Brooke holte ihr Pfefferspray aus der Tasche und schlich lautlos zur leicht angelehnten Tür.
Mit dem Fuß trat sie dagegen und schob vorsichtig den Kopf hinein.
Der Eindringling war so konzentriert und beschäftigt, dass er nicht mal aufsah: Brookes Angestellte Farrah saß an der Empfangstheke, die nackten Füße auf der Arbeitsfläche, und sang mit wippendem Kopf das Lied aus dem Radio mit. »Play it again, play it again, play it again«, wiederholte sie und trommelte auf die Tischplatte.
Brooke reckte sich nach dem kabellosen Lautsprecher auf dem Aktenschrank und schaltete ihn aus.
Das Mädchen erschrak und sprang auf.
»Mensch, Brooke!«, rief sie und griff zu dem Fläschchen mit Nagellack, mit dem sie ihre Zehennägel lackiert hatte. »Du hast mir einen Riesenschreck eingejagt!«
»Und ich habe fast einen Herzinfarkt bekommen, als ich die Musik gehört und die offene Tür gesehen habe«, gab Brooke zurück. Sie hob das Pfefferspray hoch. »Du kannst von Glück sagen, dass ich nicht sofort gesprüht habe.«
»Was machst du denn hier? Ich dachte, du müsstest heute Vormittag zu Brittni ins Gefängnis«, sagte Farrah und schielte zu der Uhr über den Aktenschränken.
»Und ich dachte, du hättest in der zweiten Stunde Englisch.«
Farrah Miles war im letzten Jahr an der Highschool und außerdem Henrys Babysitterin. Brooke kannte die Schülerin seit September, als sie ihren Rechtsanwaltsberuf an der örtlichen Highschool vorgestellt hatte. Während Brookes Vortrag hatten die meisten Jugendlichen vor sich hin gedöst oder auf ihr Handy gestarrt. Doch am Tag danach war Farrah, ein zierliches blondes Mädchen mit einem winzigen Goldstecker in der Nase, blau-grünen Strähnen und einer Schwäche für Cowboystiefel und super kurz geschnittene Jeans, in Brookes Kanzlei aufgetaucht und hatte verkündet, sie würde sich für Jura interessieren und einen Job suchen.
Farrah war klug und tüchtig – wenn sie wollte –, und so hatten die beiden sich geeinigt, dass Farrah fünf Tage nach der Schule im Büro arbeitete und zusätzlich als Babysitterin für den dreijährigen Henry einsprang.
Farrah setzte sich wieder und fuhr mit ihrer Pediküre fort. Sie tupfte violetten Lack auf den großen Zeh. »Mr. Barnhart ist so mies! Bis zum Abschluss sind es nur noch zwei Wochen, und mein Notendurchschnitt steht eh schon fest, aber trotzdem will er mich nicht von der letzten Prüfung befreien wie alle anderen Lehrer.«
»Heißt das, du schwänzt? Farrah, er kann dich immer noch durchrasseln lassen. Darüber haben wir doch schon gesprochen. Wenn du an die Universität von Georgia willst, brauchst du einen richtig guten Notendurchschnitt.«
Farrah machte ein genervtes Gesicht. »Die nehmen mich doch sowieso nicht, Brooke. Wozu der ganze Aufwand? Lieber geh ich auf ein Community College, wie alle anderen. Kein Ding.«
Brooke rollte mit ihrem Schreibtischstuhl zu Farrah hinüber und hielt wenige Zentimeter vor ihr an. Das Mädchen senkte den Kopf und tat, als würde sie sich auf ihre Füße konzentrieren. Brooke hob Farrahs Kinn hoch, um ihr in die Augen zu sehen.
»Hör mal zu, Farrah Michele Miles! Du hast wirklich gute Chancen. Dein Durchschnitt ist mit 3,9 Punkten wirklich nicht schlecht, und du hast fast nur fortgeschrittene Kurse belegt, dazu kommt noch dein Engagement außerhalb der Schule. Deine Bewerbungsaufsätze waren gut, und deine Lehrer haben hervorragende Empfehlungsschreiben verschickt. Also, verbock es nicht, ja?«
»Ich verbocke gar nichts.« Farrah wechselte das Thema. »Wie ist es heute Morgen mit Brittni gelaufen?«
»Ich war drüben im Knast. Brittnis Stiefvater weigert sich immer noch, Kaution für sie zu hinterlegen, und ihre Verhandlung ist erst nächste Woche, von daher kann ich nicht viel machen. Sie muss einfach durchhalten und vor allem darauf achten, dass sie sich nicht mehr prügelt.«
Farrah schüttelte den Kopf. »Auch wenn sie meine Cousine ist – sie ist so bescheuert! Hätte sie doch einfach die neunundneunzig Cent für das Eis bezahlt! Ist ja nicht so, als hätte sie kein Geld dabei gehabt.«
»Das habe ich ihr auch gesagt«, erwiderte Brooke, »aber Brittni meint, die Kassiererin vom KwikMart hätte es auf sie abgesehen. Sie würde immer behaupten, Brittni hätte ihr den Freund ausgespannt.«
»Stimmt. Sie heißt Kelsy Cotterell, und sie hasst Brittni wirklich, weil Brittni ihr den Freund ausgespannt hat. Und dann ist Brittni auch noch losgerannt und hat sich seinen Namen quer über die Brust tätowieren lassen. Dabei sieht das nicht mal besonders heiß aus, trotz ihrer Brust-OP«, sagte Farrah. »Brittni meint, nur weil sie mal Cheerleaderin war, wäre ihr die Welt was schuldig. Die Einstellung hat sie von Tante Charla, sagt meine Mutter, genauso wie ihren fetten Arsch.«
Brooke presste die Lippen aufeinander, um nicht laut über Farrahs treffende Bemerkung zu lachen. »Gut. Genug jetzt von Brittni. Wenn du schon mal hier bist, kannst du auch arbeiten. Du müsstest mal ins Netz gehen und etwas für mich recherchieren. Guck mal nach, was du über den Prozess Bundesstaat Georgia gegen Josephine Warrick herausfinden kannst. Druck alles aus und leg eine Akte an.«
»Josephine Warrick? Ist das nicht die alte Frau, der ganz Talisa gehört? Was ist mit der?«
»Sie hat mich gestern angerufen, wollte aber nicht sagen, um was es geht. Nur dass sie mich wegen einer rechtlichen Angelegenheit sprechen will. Ich muss gleich zu ihr rüber.«
»Wow! Eine neue Mandantin. Deshalb bist du heute so schick angezogen. Du siehst übrigens gut aus.«
»Danke«, sagte Brooke. »Und mir gefällt dein Nagellack. Wie heißt die Farbe?«
»Violet Femmes«, sagte Farah und hielt das Fläschchen hoch. »Willst du auch?«
»Nein, danke. Ich bleibe bei meiner Farbe. In meiner Branche darf man nicht zu auffällig herumlaufen.«
Am Morgen hatte Brooke statt ihrer lässigen Bürokleidung tief in den Kleiderschrank gegriffen und einen teuren maßgeschneiderten Hosenanzug in Dunkelblau hervorgeholt. Dazu trug sie eine weiße Seidenbluse, Perlenohrringe und schwarze Loafer von Tod’s aus Eidechsenleder, Überbleibsel ihrer Garderobe aus der Zeit in Savannah, für die sie in St. Ann’s üblicherweise nur wenig Verwendung fand.
»Diese alte Frau ist wirklich stinkreich, weißt du das?«, sagte Farrah.
»Ich glaube nicht, dass sie mir letztendlich ein Mandat erteilt. Auf dem Fachgebiet, in dem sie rechtliche Unterstützung braucht, kenne ich mich nicht aus.«
»Du bist doch Anwältin, oder? Warum sollte sie dich nicht nehmen?«
»Für den Job bin ich nicht ausreichend qualifiziert. Ich habe ein bisschen recherchiert, und demnach sieht es aus, als ob sie jemanden braucht, der sich mit Enteignung auskennt. Aber sie scheint eine eindrucksvolle Person zu sein, deshalb fahre ich trotzdem hin.«
»Schick mir ein paar Fotos vom Haus, ja? Ich war noch nie da drin. Jaxson und ich sind letzten Sommer mit dem Boot von seinem Bruder auf die Insel gefahren und waren oben in dem alten Leuchtturm, aber jetzt soll da ein bewaffneter Sicherheitsdienst rumlaufen.«
»Die Insel ist Privatbesitz. Halt dich mit deinen Freunden besser von ihr fern«, sagte Brooke und versuchte, ernst dreinzuschauen. »Es sei denn, du willst dir eine Zelle mit deiner Cousine teilen.«
»Schon gut.« Farrah stellte das Fläschchen Nagellack zur Seite und machte die Musik wieder an.
Umgehend drehte Brooke sie leiser. »Wer ist das überhaupt?«
Die Schülerin riss die Augen auf. »Soll das ein Witz sein? Hast du noch nie von Luke Bryan gehört?«
»Meine Playlist besteht momentan aus Kinderliedern und Gutenachtgeschichten.«
»Mannomann, du musst echt mal in diesem Jahrtausend ankommen«, sagte Farrah und rasselte ihre beliebtesten Country-Interpreten herunter. Dann unterbrach sie sich. »Hey, das Beste habe ich ja ganz vergessen!«
»Was denn?«
»Ich habe uns vielleicht neue Kundschaft besorgt. Jaxsons Mutter hat seinen Vater diese Woche wieder verlassen, dieses Mal angeblich für immer. Ich hab ihr deine Karte gegeben. Wenn sie dich mit der Scheidung beauftragt, bekomme ich dann so was wie eine Provision?«
Brooke lachte. »Wir müssen wirklich eine Möglichkeit finden, dich an der Uni von Georgia unterzubringen. So knallhart, wie du verhandelst.«
Gegen Mittag war es ruhig am städtischen Anleger. Es herrschte Ebbe, die meisten Fischer waren früh am Morgen rausgefahren. Möwen stießen kreischend nieder, um Winkerkrabben aufzupicken, die über den Schlick am Flussufer huschten. Zwei heruntergekommene Krabbenboote lagen knarzend an ihren Liegeplätzen am Ende des Hafenkais, zusammen mit einer Handvoll offener Flachbodenschiffe, wie sie die örtlichen Krabbenfischer bevorzugten. Entlang dem Kai hatten auch sieben oder acht glänzende neue Kajütboote und drei Segelboote festgemacht, doch die meisten größeren, teuren Schiffe fand man weiter oben an der Küste, auf St. Simon’s Island, wo sich die Reichen und Schönen tummelten.
Brooke schaute am langen Kai entlang und fragte sich, welches der Boote wohl Josephine Warrick gehörte.
Da ertönte ein gellender Pfiff. Sie drehte sich suchend um, wusste nicht, ob sie gemeint war.
Am Ende des Hafens entdeckte sie schließlich ein bescheidenes Boot in verblasstem Gelb, das auf dem Wasser schaukelte. Im Bug stand ein Mann und winkte ihr zu. Er legte die Hände um den Mund und rief: »Sind Sie Brooke?«
Sie nickte und eilte zu ihm.
Er war mager und hatte dünnes Haar, das er im Nacken zu einem struppigen grauen Zopf geflochten hatte. Der Mann hatte O-Beine und war dunkelbraun gebrannt. Ein offenes altes grünes Army-Hemd mit abgeschnittenen Ärmeln gab den Blick auf seine nackte Brust frei. Seine abgeschnittene Jeans hatte auch schon bessere Tage gesehen. Am Gürtel hing ein Holster mit einer großen Pistole. Brooke kannte sich nicht besonders gut mit Waffen aus, aber vermutete, dass es sich um eine 9 mm handelte.
Das Gesicht des Mannes lag im Schatten einer Baseballkappe voller Schweißflecken, seine Augen versteckten sich hinter einer billigen Pilotensonnenbrille. Trotzdem spürte Brooke die Intensität seines Blicks.
»Sind Sie C.D.? Von Talisa Island?«
»Richtig«, sagte er und hielt ihr die Hand hin. »C.D. Anthony, höchstpersönlich. Kommen Sie an Bord!«
Er bedeutete ihr, sich auf eine gepolsterte Bank im Heck zu setzen, dann machte er sich daran, die Leinen zu lösen.
»Startklar?«, fragte er. Ohne auf Brookes Antwort zu warten, legte er den Gang ein und entfernte sich gekonnt rückwärts vom Anleger.
Als das Boot ruhig durch die Hafenzone tuckerte, drehte er sich zu ihr um.
»Schöner Tag für eine Bootstour«, sagte er unvermittelt. »Waren Sie schon mal auf der Insel?«
»Vor sehr langer Zeit«, erwiderte Brooke.
»Glaube nicht, dass sich da viel verändert hat, egal, wie lange es her ist«, sagte er. »Sind Sie eine Freundin von Miss Josephine?«
»Nein, eigentlich nicht.«
»Sie kriegt nicht viel Besuch. Haben Sie vielleicht geschäftlich mit ihr zu tun?«
Brooke wand sich unter seinem Blick. »So ähnlich.«
Er musterte sie eingehend. »Sind Sie Anwältin? Ja, Sie sehen wie eine Anwältin aus.«
»Gut geraten«, sagte Brooke in bemüht lockerem Tonfall. »Und Sie? Ich nehme an, Sie arbeiten für Mrs. Warrick, ja? In welcher Position?«
»Ich erledige alles, was so anfällt«, antwortete C.D. »Boot fahren, Autos reparieren. Lebensmittel auf dem Festland kaufen. Solche Sachen.«
»Schön.«
»Sie ist nicht gerade bei bester Gesundheit. Letzten Monat habe ich sie nach Jacksonville zum Arzt gebracht. Sie redet nicht gern drüber, aber ich glaube, es waren keine guten Nachrichten. Louette, das ist in Shellhaven sozusagen die Haushälterin, hat gesagt, Josephine würde kaum noch was essen. Logisch. Als ich hergekommen bin, war sie noch kräftig, aber jetzt ist sie richtig dürr. Wahrscheinlich der Krebs.«
Brooke fragte sich, was Josephine Warrick wohl davon hielt, dass ihr Angestellter mit einer völlig fremden Person über ihren Gesundheitszustand sprach.
»Wenn das stimmt, tut es mir leid«, sagte sie höflich.
Sie wandte sich ab, um C.D. zu signalisieren, dass das Gespräch für sie beendet war, und schaute zurück zum Festland. Es waren fünf Meilen bis Talisa, und Brooke hatte keine Lust, sich die ganze Zeit mit diesem Westentaschen-Popeye zu unterhalten.
Er verstand die subtile Andeutung und drehte den Motor auf, sobald das Boot den letzten Pfahl des Hafengebiets passiert hatte. Brooke musste sich mit beiden Händen festhalten. Nach wenigen Minuten war sie völlig durchnässt von der Gischt, die aufspritzte, wenn das kleine Fahrzeug ins nächste Wellental fiel.
Irgendwann entdeckte Brooke einen grünen Streifen am Horizont, und zehn Minuten später drosselte C.D. den Motor, um in einen schmalen Priel einzufahren. Als der Wasserweg breiter wurde, entdeckte Brooke einen langen Steg. Am Ende stand ein kräftiger Schwarzer mit vor der Brust verschränkten Armen. Neben ihm hockte ein Kind von acht oder neun Jahren mit einer Angelrute aus Rohr. Lange Dreadlocks mit Perlen reichten ihm bis auf die Schultern.
»Hey, Lionel!«, rief C.D. »Was gefangen?«
Der Junge schaute hoch und winkte. »Heute beißt keiner an. Darf ich bei dir mitfahren?«
»Geht nicht, Kumpel, tut mir leid. Vielleicht ein andermal.«
Als sie sich dem Steg näherten, legte C.D. den Leerlauf ein. Der Mann warf ihm vom Ufer aus eine dicke Leine zu, die C.D. an einer Klampe im Bug befestigte.
»Hallo«, sagte er dann und nickte Brooke höflich zu.
»Das ist Shug«, stellte C.D. ihn vor. »Der bringt Sie zum Haus rüber.« Er nestelte am Steuerpult herum.
Shug beugte sich vor und streckte die Hand nach Brookes Ellenbogen aus, um ihr den halben Meter vom Boot auf den Steg zu helfen.
»In Ordnung?«, fragte er. »Haben Sie alles?«
»Oh, nein!« Brooke wies auf die Bank im Heck. »Meine Tasche liegt da noch.«
C.D. brummte, holte die Tasche und warf sie genervt in Richtung Anleger. Shug fing sie gerade noch in der Luft auf, bevor sie ins Wasser fallen konnte.
»Viel Spaß!«, wünschte C.D. »Wenn Sie zurückwollen, sagen Sie Bescheid: Ich bin da.«
Ein uralter, verrosteter Ford-Pick-up in Meergrün stand am Ende des Kais inmitten einer bunten Sammlung von Schrottautos.
Brooke klopfte auf die abgerundete Motorhaube. »Wow! Wie alt ist das Schätzchen denn?«
»Hm, ich denke, der Wagen ist so Ende der Fünfziger gebaut worden«, erwiderte Shug und öffnete die Beifahrertür. »Ich weiß nur, dass Mr. Preiss Warrick ihn damals neu gekauft hat. Mr. Preiss ist schon lange tot, aber Miss Josephine hängt an den Sachen, die ihm gehört haben. Sie will, dass alles genauso bleibt, wie es war, als er noch lebte.«
Shug drehte den Schlüssel im Zündschloss und trat mehrmals aufs Gaspedal. Der Motor heulte auf und erstarb. Shug schüttelte den Kopf und wiederholte die Prozedur noch zweimal, ehe der Wagen ansprang. Kurz darauf rumpelten sie über die schmale Straße aus Muschelsplitt. Brooke schob den Kopf aus dem Fenster und bewunderte die Landschaft.
Die mit Moos behangenen knorrigen Lebenseichen links und rechts der Straße bildeten ein dichtes, fast undurchdringliches Dach aus grünem Laub. Durch die üppigen Palmettopalmen, Kanookas, Pinien und Zedern wanden sich Jasminranken und erfüllten die Luft mit ihrem schweren Duft. In einer Kurve entdeckte Brooke zwei Blaureiher, die in einem flachen Graben nach Essbarem suchten. Die nächste Kurve gab den Blick auf eine Marschlandschaft frei, in der sonnengebleichtes Treibholz und Kniewurzeln von Zypressen Dutzenden großer brauner Vögel Platz zum Nisten boten.
»Das sind Waldstörche.« Shug wies hinüber und grinste Brooke an. Sie schätzte ihn auf Mitte fünfzig. Er war von kräftiger Statur und hatte sehr muskulöse Arme. Gekleidet war er in eine gebügelte Jeans und ein kurzärmeliges blaues Arbeitshemd. »Wir haben hier jede Menge Vögel. Die Insel ist berühmt dafür. Sind Sie zum ersten Mal auf Talisa?«
»Jein«, sagte Brooke. »Ich war vor Ewigkeiten mal zu einem Pfadfinder-Zeltlager hier. Das war aber keine so schöne Erfahrung.«
»Sie waren bestimmt am anderen Ende der Insel«, vermutete Shug. »Da sieht es ganz anders aus.«
»Es ist wunderschön hier«, schwärmte Brooke. »So … so wild. Und friedlich. Wohnen Sie auch auf Talisa?«
»Jetzt ja. Louette, also meine Frau, die ist hier geboren und aufgewachsen. Früher haben wir mal in Brunswick gewohnt, wegen der Arbeit, aber dann wurden unsere Kinder groß und sind weggezogen, und ich hab meinen Job im Hafen verloren. Kurz darauf erzählte uns Louettes Schwester, die hier immer noch lebt, dass Miss Josephine eine Haushaltshilfe sucht. Wir sind hergekommen und haben mit ihr gesprochen, und seitdem sind wir hier. Müssten jetzt elf oder zwölf Jahre sein.«
»Mir war gar nicht klar, dass außer den Bettendorfs und Warricks noch andere Menschen auf der Insel leben.«
»Oh, doch! In Oyster Bluff gibt es eine ganze Siedlung von Schwarzen, die wurde schon direkt nach dem Bürgerkrieg gegründet. Auf der Insel war damals eine Plantage. Die haben die Yankees aber niedergebrannt, weil sie dachten, die Besitzer würden die Konföderierten heimlich mit Waffen versorgen. Später bekamen die ehemaligen Sklaven von der Regierung ein kleines Stück Land oben in Oyster Bluff. Wollte sonst keiner haben, das Land. Sumpfgebiet, die Leute hatten Angst vor Gelbfieber. Aber die Schwarzen haben sich da angesiedelt, lebten von der Hand in den Mund: Landwirtschaft, Fischen, Jagen. Die Schwarzen hier nennt man Geechees. Louettes Leute, das sind alles Geechees.«
»Und denen gehört das Land immer noch?«, fragte Brooke, fasziniert von diesem Kapitel der Geschichte Georgias, von dem sie nur wenig wusste.
»Nee«, erwiderte Shug. »Die Leute sind weggezogen und haben ihre Grundstücke an die Bettendorfs verkauft. Sie hatten zwar viele Kinder, aber keins wollte hier bleiben, da haben sie die Häuser einfach verlassen. Jetzt wohnen in Oyster Bluff höchstens noch zehn, zwölf Familien, und alles gehört Miss Josephine. Sie ist ja nett, verlangt nur ganz wenig Miete, aber das ist trotzdem nicht dasselbe, als wenn man selbst was besitzt, wissen Sie?«
»Das weiß ich nur zu gut«, erwiderte Brooke und dachte wehmütig an das bescheidene Häuschen mit den zwei Schlafzimmern in St. Ann’s, das sie gemietet hatte. Wie anders war da die komplett restaurierte dreistöckige Villa im mediterranen Stil in der historischen Altstadt von Savannah, auf die sie verzichtet hatte, als sie ihre Verlobung mit Harris Strayhorn löste.
Der Pick-up bog um die nächste Kurve, und vor ihnen erstreckte sich eine weite grüne Rasenfläche. Das Gras wuchs ungleichmäßig, überall sprossen Löwenzahn, Bärlauch und Wassernabel. Auf dem leicht abfallenden Gelände standen traurig wirkende Azaleen und Kamelien in terrassenförmig angelegten Beeten, die von Unkraut überwuchert waren. Eine Reihe Palmen verriet, dass man sich dem Anwesen der Familie Bettendorf näherte.
»Da wären wir!«, verkündete Shug und hielt an, damit Brooke aussteigen und sich umsehen konnte.
Auf dem höchsten Punkt des Hangs stand eine wundersame rosa Hochzeitstorte von Villa, ein zweistöckiges Hauptgebäude mit maurisch angehauchten Rundbögen, zwei Türmchen auf dem Dach und einem breiten, zinnenbewehrten Balkon über dem Portal mit Wagenauffahrt. Rechts und links an das Haus schlossen zwei Flügel an, die fast genauso auffällig gestaltet waren. Vor jedem wachte eine hoch aufragende Palme. Das Dach war mit blassgrün gebrannten Tonziegeln gedeckt, die Brooke an den Zuckerguss eines Lebkuchenhauses erinnerten. Das Haus war geradezu überladen mit Bleiglasfenstern, schmiedeeisernen Balkönchen, schweren Stuckverzierungen und Schnörkeln. Ein dichter grüner Teppich aus Efeu zog sich über die Fassade, und eine dunkelrote Bougainvillea zierte den Balkon über dem Portal.
»Wow!«
»Hm«, machte Shug. Er ließ den Wagen wieder an, und im Näherkommen erkannte Brooke, dass die gewundene Auffahrt voller Schlaglöcher war, dass der rosafarbene Putz ausblich und bröckelte und im Dach große Lücken prangten, wo Dachpfannen kaputt waren oder fehlten.
Shellhaven sackte so langsam und unerbittlich in sich zusammen wie eine alte Torte.
»Sieht nicht mehr richtig gut aus«, sagte Shug betrübt. »Ich kümmere mich um alles, so gut ich kann, aber ich bin der Einzige. Früher hatten wir drei Mann allein für das Grundstück. Einer war nur für die Rosen zuständig. Wir hatten einen Traktor zum Rasenmähen und einen Obstgarten mit den schönsten Apfelsinen, Zitronen und Pampelmusen, die man sich vorstellen kann. Natürlich Pfirsiche und Pekannüsse. Es gab sogar ein Treibhaus, da wurden Blumen und Orchideen fürs Haus gezogen. Davon ist nichts mehr da. Eine Pinie ist aufs Treibhaus gefallen, und die Obstbäume haben irgendeine Krankheit bekommen, Mehltau oder so. Vielleicht besser so, weil es heutzutage kaum noch jemand gibt, der hier draußen leben und ehrliches Geld verdienen will. Außerdem hat Miss Josephine die Dollars nicht gerade locker sitzen.«
Wenn Josephine Warrick wirklich so reich war, wie erzählt wurde, dann fragte sich Brooke, warum die Frau ihr Anwesen derart verfallen ließ.
»Sie tun bestimmt Ihr Bestes, und Miss Warrick ist Ihnen sicherlich sehr dankbar«, sagte Brooke höflich.
Shug hielt unter dem Balkon und wies auf die geschnitzten schweren Flügeltüren des Portals. »Gehen Sie rein! Louette wartet schon. Sie bringt Sie zu Miss Josephine.«
Brooke schob die Tür auf und trat vorsichtig ein. Im ersten Moment konnte sie nichts sehen. Sie musste warten, bis sich ihre Augen vom grellen Sonnenlicht an die Dunkelheit des Eingangsbereichs gewöhnt hatten.
Im schwachen Licht einer nackten Glühbirne in einem angelaufenen Messingwandhalter konnte sie einen hohen Raum mit schwarz-weißen Bodenfliesen, Rissen in den verputzten Wänden und vom Alter nachgedunkelten Holzbalken unter der Decke ausmachen. Der Kristalllüster, der in einem schmuckvollen Stuckmedaillon hing, war mit Spinnenweben und Staub überzogen. Die Luft war drückend.
»Hallo?« Brookes Stimme hallte durch das leere Foyer.
»Ich komme!«, rief eine Frau aus der Dunkelheit. Kurz darauf eilte eine Angestellte herbei, die Louette sein musste. Sie wirkte jünger als ihr Mann. Ihr kurzgeschnittenes Haar war nur leicht ergraut, sie hatte Sommersprossen, und ihr karamellbrauner Teint war zwei Töne heller als der ihres Mannes. Louette hatte eine gemütliche Figur mit den Rundungen der mittleren Lebensjahre und trug einen weißen Synthetikkittel.
»Miss Brooke? Ich bin Louette. Sind Sie gut angekommen? Ist C.D. auch nicht zu schnell über den Fluss gefahren?« Ihr Akzent hatte einen angenehmen Singsang.
»Hat ein bisschen geruckelt, aber ich habe es heil hierher geschafft«, sagte Brooke.
»Tja, wir kriegen nicht mehr viel Besuch, und Miss Josephine ist schon ganz aufgeregt, Sie zu sehen, deshalb bringe ich Sie am besten gleich zu ihr.«
Sie gab Brooke ein Zeichen, ihr durch einen breiten Flur zu folgen. Bogentüren führten rechts und links in zwei Salons, eingerichtet mit dicken Sofas und gepolsterten Stühlen, schweren Tischen und Truhen voller Schnitzereien.
Vor einer verschlossenen Tür am Ende des Flurs blieb Louette stehen. »Dies war früher die Bibliothek, aber Miss Josephine kann keine Treppen mehr steigen, deshalb haben Shug und ich hier ein Schlafzimmer für sie eingerichtet. Sie hört nicht mehr sehr gut, Sie müssen etwas lauter sprechen, und sie ist sehr krank, deshalb achten Sie bitte darauf, dass Miss Josephine sich nicht übernimmt. Aber glauben Sie nicht, dass sie nicht mehr ganz richtig im Kopf ist oder so, nur weil sie fast hundert Jahre alt ist. Von wegen! Miss Josephine entgeht so gut wie nichts.«
Louette klopfte an die Tür, wartete kurz und schob den Kopf hinein. »Miss Josephine? Ihr Besuch ist da. Soll er hereinkommen?«
»Ist das die Anwältin, die ich bestellt habe? Bringen Sie sie zu mir, Louette!«
Die Bibliothek von Shellhaven musste einst ein prächtiger Raum gewesen sein. Jetzt hatte die dunkle Mahagonivertäfelung ihren Glanz verloren, die Vorhänge an den Fenstern waren verschossen und fransig. An drei Wänden standen Regale, vollgestopft mit Büchern und den auffälligen strahlend gelben Heftrücken des National Geographic. Auf jeder verfügbaren Fläche sammelte sich Nippes: Vogelnester, sonnengebleichte Muscheln, Korallenstücke, sogar der vergilbte Kieferknochen eines Hais. Ein ausgestopfter Rotfuchs auf einem Podest in der Nähe des Fensters riss fauchend den Fang auf. Sein gelbes Fell rieselte auf den Boden aus dunklem Pinienholz. Das ein Meter fünfzig lange Skelett eines Alligators lag auf einem der eingebauten Bücherregale, daneben drängten sich große Apothekergläser mit Haifischzähnen, Strandglas und etwas, das wie kleine Vogelschädel aussah.
In der hinteren Ecke stand ein Krankenbett, teilweise verdeckt von einem dreiteiligen Paravent mit chinesischem Muster.
Eine Klimaanlage surrte in einem der beiden geöffneten Fenster, aber konnte weder die Hitze noch den Geruch von Desinfektionsmittel vertreiben.
Die Dame des Hauses saß in einem braunen Liegesessel. Brooke hatte mit einer etwas schmaleren Version der waffenschwingenden kühnen Erbin im Nerz gerechnet, die sie in der Southern Living gesehen hatte, aber die Jahre waren ebenso grausam zu Josephine Warrick gewesen wie zu ihrem Haus.
Die wallende weiße Mähne war einer dunkelblauen Baseballkappe gewichen, die den fast kahlen Kopf nicht recht verdecken konnte. Blasse Haut voll brauner Altersflecke zog sich über die vorstehenden Kieferknochen und das spitze Kinn. Die schmalen Lippen waren blutleer. Buschige weiße Brauen spannten sich über dunkle Augen hinter einer übergroßen Brille mit gelben Gläsern. Die Augen musterten Brooke aufmerksam, als sei auch sie ein Ausstellungsstück.
Bei ihrer kurzen Recherche hatte Brooke Dutzende Fotos von Josephine Warrick gesehen. Sie war einst eine auffällige Erscheinung gewesen, bei ihrem ersten öffentlichen Auftritt eine ernste, schlanke Debütantin mit der gewellten Kurzhaarfrisur jener Zeit, in den Fünfzigern dann eine attraktive Braut, aus der in späteren Jahren eine eindrucksvolle, langgliedrige Dame wurde, die sich nichts vormachen ließ. In den Klatschspalten der Zeitungen von Savannah, Atlanta und Palm Beach war Josephine Bettendorf Warrick in Golfkleidung, Tennissachen und teuren Designerkleidern abgebildet gewesen, aber auch in Jagdausrüstung, einen Fuß auf einem erlegten Hirsch.
Die Frau, die in dem Sessel aus rissigem Vinyl unter einem Berg von Strickdecken und Überwürfen saß, wog vielleicht noch vierzig Kilo. Eine Sauerstoffflasche stand neben dem Sessel, zwei dünne Plastikschläuche hingen an der durchsichtigen Atemmaske auf ihrem Gesicht.
»Hallo, Mrs. Warrick!«, sagte Brooke nach dem ersten Schock. »Ich bin Brooke Trappnell.« Sie wollte auf den Sessel zugehen.
»Grrrr.«
Erschrocken hielt sie inne. Sie hatte die zwei Hunde übersehen, die auf dem Sessel saßen. Sie waren sehr klein und hatten fast dieselbe Farbe wie die Decke.
»Grrrr.«
Die beiden Mini-Chihuahuas wollten ihr Frauchen verteidigen; sie stellten die Nackenhaare auf und fletschten die Zähne.
»Ruhig, Teeny und Tiny!« Die alte Frau streichelte den beiden über den Rücken und tätschelte ihre Köpfe. »Kümmern Sie sich nicht um sie«, sagte sie zu Brooke. »Die tun nichts. Nur, wenn ich es ihnen sage. Setzen Sie sich dort hin!« Sie wies auf einen ausgeblichenen Ohrensessel mit Chintzbezug. »Und Sie brauchen mich nicht Mrs. Warrick zu nennen. ›Josephine‹ reicht völlig, und ich sage Brooke zu Ihnen, wenn Sie einverstanden sind. Die Ärzte prophezeien mir die ganze Zeit, ich würde taub, aber das bin ich noch nicht. Die Leute haben sich nur angewöhnt, vor sich hin zu murmeln. Sie sprechen nicht mehr klar und deutlich.« Die alte Frau warf Brooke einen prüfenden Blick zu. »So eine sind Sie doch nicht, oder? Leute, die sich was in den Bart nuscheln, kann ich nämlich nicht ausstehen.«
Brooke setzte sich und balancierte ihre Aktentasche auf den Knien. »Nein, Ma’am«, sagte sie laut. »Ich habe viele Fehler, aber der gehört nicht dazu.«
»Sie haben doch keinem verraten, warum Sie heute hier sind, oder?«