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Natürlich für Mercedes

In dieser Gegend geht’s voran:

die bekränzte Göttin zeigt es an.

Leandro Díaz

 

 

 

 

Er fand die Leiche, bedeckt mit einem Tuch, auf dem Feldbett vor, in dem der Mann immer geschlafen hatte, dicht daneben ein Schemel und darauf die Schale, in der das Gift verdampft war. Am Boden hingestreckt und an ein Bein des Bettes gebunden, lag der Kadaver einer großen Dänischen Dogge, schwarz mit schneeiger Brust. Daneben lagen die Krücken. Den unordentlichen, stickigen Raum, der zugleich Schlafzimmer und Labor war, erhellte gerade erst ein Schimmer des Morgenrots im geöffneten Fenster, das Licht reichte jedoch aus, um sofort die Autorität des Todes zu erkennen. Die übrigen Fenster waren, wie jede Ritze im Zimmer, mit Lappen verhängt oder mit schwarzer Pappe vernagelt, was den Eindruck beklemmender Enge verstärkte. Da war ein langer Tisch, vollgestellt mit Flaschen und Tuben ohne Etikett und zwei abgestoßenen Zinnschalen unter einer gewöhnlichen Glühbirne, die mit rotem Papier abgeschirmt war. Die dritte Schale, für das Fixierbad, befand sich neben der Leiche. Überall stapelten sich alte Zeitungen, Zeitschriften und Fotoplatten, beschädigte Möbel standen herum, doch eine fürsorgliche Hand

Ein Polizeikommissar war vor ihm eingetroffen, zusammen mit einem sehr jungen Arzt, der sein gerichtsmedizinisches Praktikum an der städtischen Poliklinik machte. Sie hatten, während er noch unterwegs war, das Zimmer gelüftet und die Leiche zugedeckt. Mit ihrer feierlichen Begrüßung bezeugten sie ihm diesmal eher ihr Beileid als ihre Ehrerbietung, denn seine Freundschaft mit Jeremiah de Saint-Amour war jedermann bekannt. Der vortreffliche Meister drückte beiden die Hand, wie er es seit jeher bei seinen Schülern vor der täglichen Vorlesung zur Allgemeinmedizin gehalten hatte, dann griff er den Saum der Decke, als sei er eine Blume, zwischen Daumen und Zeigefingerspitzen und enthüllte nach und nach mit sakraler Gemessenheit den Leichnam. Der Mann war vollkommen nackt, starr und verkrümmt, die Augen offen, der Körper blau und seit dem vergangenen Abend um fünfzig Jahre gealtert. Seine Pupillen waren durchsichtig, Bart und Haare gelblich, und über den Bauch zog sich eine alte Narbe, wie von einem Sacknäher zusammengeflickt. Weil er sich so lange an Krücken abgemüht hatte, erinnerten die Spannbreite seiner Arme und sein Oberkörper an einen Galeerensklaven, seine wehrlosen Beine hingegen an ein Waisenkind. Doktor Juvenal Urbino betrachtete ihn einen Augenblick lang, und ihm war weh ums Herz wie

»Idiot«, sagte er zu ihm, »das Schlimmste war doch schon überstanden.«

Er deckte ihn wieder zu und gewann seine akademische Überlegenheit zurück. Im Jahr zuvor hatte er seinen achtzigsten Geburtstag mit einer dreitägigen offiziellen Jubiläumsfeier begangen und in seiner Dankesrede wieder einmal die Versuchung abgewehrt, in den Ruhestand zu treten. Er hatte gesagt: »Zum Ausruhen habe ich Zeit genug, wenn ich tot bin, aber diese Möglichkeit beziehe ich noch nicht in meine Pläne ein.« Obwohl er auf dem rechten Ohr immer schlechter hörte und sich beim Gehen auf seinen Stock mit dem Silberknauf stützte, um die Unsicherheit seiner Schritte zu überspielen, war sein Auftreten im Leinenanzug mit der Uhrkette über der Weste immer noch das seiner jungen Jahre. Der Pasteur-Bart war perlmuttfarben wie das Haar, das er schön glatt gekämmt und mit einem sauber gezogenen Mittelscheitel trug, getreulicher Ausdruck seines Wesens. Der immer beunruhigenderen Erosion seines Gedächtnisses begegnete er, soweit möglich, mit hastig auf Zettel geschriebenen Notizen, die am Ende in seinen vielen Taschen durcheinandergerieten, wie auch die Instrumente, die Arzneifläschchen und so vieles andere in seinem vollgestopften Arztkoffer. Er war nicht nur der älteste und angesehenste Arzt, sondern auch der gepflegteste Mann der Stadt. Dennoch brachten ihm seine allzu offen zur Schau gestellte Gelehrsamkeit und die alles andere als unschuldige Art, mit der er den Einfluß seines Namens geltend machte, weniger Zuneigung ein, als er verdient hätte.

Die Anweisungen an den Kommissar und den Assistenzarzt kamen präzise und schnell. Eine Autopsie sei nicht nötig. Der Geruch im Hause genüge vollkommen,

»Wenn Sie auf einen stoßen, sollten Sie auf etwas achten«, sagte er zu dem Assistenzarzt, »diese Leute haben gewöhnlich Sand im Herzen.«

Dann wandte er sich an den Kommissar wie an einen Subalternen. Er befahl ihm, alle Instanzen zu übergehen, damit die Beerdigung am selben Nachmittag und in größter Diskretion stattfinden könne. Er sagte: »Ich spreche mit dem Bürgermeister.« Er wußte, daß Jeremiah de Saint-Amour von einer primitiven Genügsamkeit gewesen war und daß ihm seine Kunst weit mehr eingebracht hatte, als er zum Leben brauchte, sodaß in irgendeiner Schublade im Haus reichlich Geld für die Begräbniskosten sein mußte.

»Und wenn Sie es nicht finden, macht das auch nichts«, sagte er. »Ich übernehme alles.«

»Es hieß, dieser Mann sei ein Heiliger«, sagte er.

»Etwas noch Selteneres«, sagte Doktor Urbino, »ein ungläubiger Heiliger. Aber das geht nur Gott etwas an.« Aus der Ferne, vom anderen Ende der aus der Kolonialzeit stammenden Altstadt, erschallten die Glocken der Kathedrale und riefen zum Hochamt. Doktor Urbino setzte sich die goldgefaßte Halbmondbrille auf und sah auf die zierliche Taschenuhr, deren feiner Deckel von einer Feder geöffnet wurde: Er war im Begriff, die Pfingstmesse zu verpassen.

Im Wohnraum stand ein riesiger Fotoapparat auf Rädern, wie er in öffentlichen Parks benutzt wird, auf einer Leinwand war in Anstreicherfarben ein Sonnenuntergang am Meer als Kulisse gemalt, und die Wände waren mit Kinderfotos von denkwürdigen Tagen tapeziert: erste Kommunion, das Kaninchenkostüm, der glückliche Geburtstag. Doktor Urbino hatte die allmähliche Verkleidung der Wände verfolgt, Jahr um Jahr, während er sich an den Schachabenden dem Grübeln hingab, und oftmals

Auf dem Schreibtisch, neben einem Topf mit ein paar Kapitänspfeifen, stand das Schachbrett mit einer unbeendeten Partie. Doktor Juvenal Urbino konnte trotz seiner Eile und seiner düsteren Stimmung nicht der Versuchung widerstehen, die Partie zu studieren. Er wußte, daß es die der vergangenen Nacht war, da Jeremiah de Saint-Amour an jedem Abend der Woche und mindestens mit drei verschiedenen Gegnern spielte, doch stets führte er das Spiel zu Ende und legte danach das Brett und die Steine in ihre Schachtel und die Schachtel in eine Schublade des Schreibtischs. Der Arzt wußte, daß er immer mit Weiß spielte, und es war offensichtlich, daß er dieses Mal nach vier weiteren Zügen unrettbar geschlagen gewesen wäre. »Hätte es sich um ein Verbrechen gehandelt, wäre das hier eine gute Fährte«, sagte er sich. »Ich kenne nur einen Mann, der fähig ist, einen solch meisterhaften Hinterhalt zu legen.« Er hätte nicht weiterleben mögen, ohne später in Erfahrung bringen zu können, warum dieser unbezwingbare Kämpfer, der stets bereit war, sich bis zum letzten Blutstropfen zu schlagen, bei der Endschlacht seines Lebens nicht bis zum Schluß durchgehalten hatte.

Um sechs Uhr morgens, auf seiner letzten Runde, hatte der Nachtwächter das Schild gesehen, das an die Eingangstür geheftet war: Treten Sie ein, ohne zu läuten, und verständigen Sie die Polizei. Kurz darauf kam der Kommissar mit dem Assistenzarzt, und beide durchsuchten das Haus nach irgendeinem Hinweis, der gegen den unverwechselbaren Hauch der bitteren Mandeln sprach. In den wenigen Minuten aber, die für die Analyse der unvollendeten

»Nichts Besonderes«, sagte er. »Es sind seine letzten Verfügungen.« Das war die halbe Wahrheit, aber sie glaubten sie ganz, als er sie anwies, eine lose Fliese am Boden hochzuheben. Dort fanden sie ein abgenutztes Kontobuch, in dem die Zahlenkombination für die Geldkassette stand. Es war nicht so viel Geld da, wie sie vermutet hatten, doch mehr als genug, um die Kosten des Begräbnisses und andere kleine Verpflichtungen zu begleichen. Doktor Urbino war nun klar, daß er nicht vor dem Evangelium zur Kathedrale kommen würde.

»So weit ich zurückdenken kann, ist dies das dritte Mal, daß ich die Sonntagsmesse versäume«, sagte er. »Aber Gott hat Verständnis.« So blieb er lieber noch einige Minuten

Doktor Juvenal Urbinos Tagesablauf gehorchte, seit seine Sturm-und-Drang-Jahre vorüber waren und er einen Ruf und eine Respektabilität erlangt hatte, die in der Provinz ihresgleichen suchten, einer leicht einsehbaren Routine. Er stand mit den ersten Hähnen auf, und zu dieser Stunde begann er auch seine geheimen Medizinen einzunehmen: Bromkali, um die Stimmung zu heben, Salycilate gegen die Knochenschmerzen in Regenzeiten, Roggenkeim-Tropfen gegen die Benommenheit, Belladonna, um gut zu schlafen. Er schluckte jede Stunde etwas

Eine Stunde lang hielt er sich in seinem Arbeitszimmer auf, wo er die Vorlesung für Allgemeinmedizin vorbereitete, die er bis zum Vortag seines Todes täglich montags bis samstags um Punkt acht Uhr im Medizinischen Institut hielt. Er war auch ein aufmerksamer Leser literarischer Neuerscheinungen, die ihm sein Pariser Buchhändler mit der Post schickte oder die sein Buchhändler am Ort für ihn aus Barcelona bestellte, allerdings verfolgte er die spanischsprachige Literatur nicht mit der gleichen Aufmerksamkeit wie die französische. Jedenfalls las er nie morgens, sondern eine Stunde lang nach der Siesta und abends vor dem Schlafen. Vom Arbeitszimmer ging er ins Bad, wo er fünfzehn Minuten lang vor dem offenen Fenster Atemübungen machte, wobei er sich immer der Richtung zuwandte, aus der die Hähne krähten, denn von dort kam die neue Luft. Dann badete er, bürstete seinen Backenbart und wichste den Schnurrbart, alles in einem von Kölnisch Wasser – dem echten Farina Gegenüber – gesättigten Raum, und kleidete sich nun in weißes Leinen, mit Weste, weichem Hut und Halbschuhen aus Korduanleder. Mit seinen einundachtzig Jahren hatte er sich die formlose Umgangsart und die muntere Geistesverfassung aus der Zeit bewahrt, als er, kurz nach der großen Choleraepidemie, aus Paris zurückgekehrt war. Auch das wohlgekämmte Haar mit dem Mittelscheitel glich immer noch dem seiner Jugend, sah man von dem metallischen Farbton

Er aß fast immer daheim zu Mittag und hielt eine zehnminütige Siesta, zu der er sich auf die Terrasse zum Innenhof setzte, und hörte in seinen Träumen die Lieder der Dienstmädchen unter dem Laubwerk der Mangos, hörte die Ausrufer auf der Straße, das Dröhnen der Schiffsmotoren in der Bucht, deren Ausdünstungen an den heißen Nachmittagen flügelschlagend durch das Haus zogen, wie ein Engel, der zur Fäulnis verdammt ist. Dann las er eine Stunde lang die neuen Bücher, vor allem Romane und historische Studien, und gab dem zahmen Papageien, der seit Jahren eine lokale Attraktion war, Unterricht in Französisch und Gesang. Um vier Uhr, nachdem er eine große Kanne geeister Limonade getrunken hatte, machte er sich auf den Weg zu seinen Kranken. Trotz seines Alters weigerte er sich, die Patienten in seine Praxis kommen zu lassen. Er versorgte sie weiterhin in ihren eigenen Häusern, wie er es stets seit jener Zeit gehalten hatte, als die Stadt noch so überschaubar war, daß man überallhin zu Fuß gehen konnte.

Nach seiner ersten Rückkehr aus Europa ließ er sich in dem von zwei Goldfüchsen gezogenen Landauer der Familie fahren. Als dieser ausgedient hatte, tauschte er ihn gegen eine leichte einspännige Kutsche, die er mit einer gewissen Verachtung für die Mode auch dann noch benutzte,

Er hatte einen so geregelten Tagesablauf, daß seine Frau wußte, wohin sie ihm eine Botschaft schicken mußte, wenn etwas Dringendes während der nachmittäglichen Hausbesuche vorfiel. In seinen jungen Jahren kehrte er,

Dank seiner Hilfe konnte Jeremiah de Saint-Amour das werden, was er bei uns war. Doktor Juvenal Urbino entwickelte sich zu seinem bedingungslosen Gönner, er bürgte für alles und machte sich nicht einmal die Mühe, erst in Erfahrung zu bringen, wer sein Schachpartner war, was er tat oder aus welchen ruhmlosen Kriegen er in diesem Zustand der Invalidität und Verstörung gekommen war. Schließlich lieh er ihm Geld, damit er das Fotoatelier aufmachen konnte, und Jeremiah de Saint-Amour zahlte es ihm mit der Gewissenhaftigkeit eines Bortenwirkers von dem Augenblick an, da er das erste vom Magnesiumblitz erschreckte Kind abgelichtet hatte, nach und nach bis auf den letzten Heller zurück.

Alles für das Schachspiel. Anfangs spielten sie um sieben Uhr abends, nach dem Essen, mit einer angemessenen Vorgabe für den Arzt wegen der deutlichen Überlegenheit des Gegners, dann von Mal zu Mal mit kleineren Vorgaben,

Juvenal Urbinos besonderer Tag war der Sonntag. Er besuchte das Hochamt in der Kathedrale, kehrte dann nach Hause zurück, blieb dort, ruhte sich aus und las auf der Terrasse des Patios. Nur selten machte er an einem Feiertag einen Krankenbesuch, es mußte sich schon um einen ausgesprochenen Notfall handeln, und seit vielen Jahren kam er auch keiner gesellschaftlichen Verpflichtung mehr nach, es sei denn, sie wäre zwingend gewesen. An jenem Pfingsttag fielen durch einen außerordentlichen Zufall zwei seltene Begebenheiten zusammen: der Tod eines Freundes und das Jubiläum eines hervorragenden Schülers. Statt jedoch, nachdem er den Tod von Jeremiah de Saint-Amour beurkundet hatte, ohne Umweg nach Haus zu fahren, wie er es vorgehabt hatte, ließ er sich von der Neugier forttreiben.

Sobald er in die Kutsche gestiegen war, überflog er noch einmal den Abschiedsbrief und wies den Kutscher an, ihn zu einer schwer erreichbaren Adresse irgendwo im alten Sklavenviertel zu fahren. Dieser Entschluß paßte so gar nicht zu seinen sonstigen Gewohnheiten, daß der Kutscher sich vergewisserte, ob kein Irrtum vorlag. Nein, die Adresse war eindeutig, und derjenige, der sie geschrieben hatte, hatte guten Grund, sie genau zu kennen.

Der Himmel hatte sich schon früh eingetrübt, jetzt war er bedeckt und die Luft kühl, aber vor Mittag drohte kein Regen. Der Kutscher versuchte den Weg abzukürzen und begab sich auf die Kopfsteinpflastergassen der alten Kolonialstadt. Mehrmals mußte er im Gedränge der Schulklassen und religiösen Kongregationen, die von der Pfingstliturgie zurückkehrten, anhalten, damit das Pferd nicht scheute. Die Straßen waren voller Papiergirlanden, Musik und Blumen, und von den Balkons verfolgten Mädchen unter ihren bunten, mit Musselinvolants besetzten Sonnenschirmen den Festzug. Nach der Messe stauten sich die Automobile auf der Plaza de la Catedral, wo die Statue des Befreiers kaum zwischen afrikanischen Palmen und neuen Straßenlaternen auszumachen war, und in dem ehrwürdigen und lauten Café de la Parroquia war nicht ein Platz mehr frei. Die einzige Pferdekutsche war die von Doktor Urbino, und sie fiel unter den wenigen, die es in der Stadt überhaupt noch gab, auf, weil das Lacklederverdeck seinen Glanz bewahrt hatte, die Messingbeschläge nicht vom Salpeter zerfressen waren und man Räder und Speichen rot angestrichen und mit Goldschnörkeln verziert hatte wie für einen Galaabend an der Wiener Oper. Während die vornehmsten Familien sich damit zufriedengaben, daß ihre Kutscher ein sauberes Hemd trugen, verlangte er von seinem die Livree aus mattem Samt und den Zylinder eines Zirkusdompteurs, was nicht nur anachronistisch war, sondern in der Bruthitze der Karibik auch als Mangel an Barmherzigkeit galt.

Das Äußere des Hauses ohne Nummernschild unterschied

»Fühlen Sie sich wie zu Hause, Doktor«, sagte sie. »Ich hatte Sie nicht so schnell erwartet.«

Doktor Urbino fühlte sich verraten. Er sah sie mit den Augen seines Herzens, bemerkte ihre strenge Trauer, die Würde ihres Leids und erkannte, daß dies ein überflüssiger Besuch war, weil sie über all das, was in Jeremiah de Saint-Amours Abschiedsbrief ausgesprochen und gerechtfertigt worden war, mehr wußte als er. So war es:

In der vergangenen Nacht waren sie ins Kino gegangen, jeder für sich und auf getrennten Sitzen, wie sie das mindestens zweimal im Monat taten, seitdem der italienische

»Es war eine meisterhafte Partie!«

Sie bestand darauf, daß das nicht ihr Verdienst gewesen sei, vielmehr habe Jeremiah de Saint-Amour, der sich schon in den Nebeln des Todes verloren hatte, die Figuren lieblos gezogen. Als er die Partie unterbrach, etwa um Viertel nach elf, die Musik der öffentlichen Tanzfeste war schon verklungen, bat er sie, ihn alleinzulassen. Er wollte einen Brief an Doktor Juvenal Urbino schreiben, den er für den achtbarsten Mann hielt, dem er je begegnet war, und zudem für einen Seelenfreund, wie er gern sagte, obwohl ihre einzige Gemeinsamkeit das Laster des Schachspiels war, das sie als Dialog der Vernunft und nicht als Wissenschaft betrachteten. Da hatte sie gewußt, daß Jeremiah de Saint-Amour am Ende seiner Agonie angelangt war und ihm gerade noch soviel Zeit zum Leben blieb, um diesen Brief zu schreiben.

Der Arzt wollte es nicht glauben.

»Sie wußten es also!« rief er aus.

»Es wäre Ihre Pflicht gewesen, das anzuzeigen«, sagte der Arzt.

»Das hätte ich ihm nicht antun können«, sagte sie empört. »Ich liebte ihn zu sehr.«

Doktor Urbino, der glaubte, bereits alles gehört zu haben, hatte dergleichen noch nie gehört, und schon gar nicht auf so einfache Weise gesagt. Er schaute sie geradeheraus an, mit all seinen fünf Sinnen, um sie sich so einzuprägen, wie sie in jenem Augenblick war: Sie glich einer Flußgottheit, unerschrocken in ihrem schwarzen Kleid, mit den Augen einer Schlange und der Rose hinter dem Ohr. Vor sehr langer Zeit, an einem einsamen Strand von Haiti, wo beide nach der Liebe nackt ruhten, hatte Jeremiah de Saint-Amour auf einmal geseufzt: »Ich werde nie alt.« Sie deutete das als heroischen Vorsatz, einen unerbittlichen Kampf gegen die zerstörerische Vergänglichkeit zu führen, doch er wurde noch deutlicher: Er habe die unumstößliche Absicht, sich mit sechzig das Leben zu nehmen.

Tatsächlich war er am dreiundzwanzigsten Januar dieses Jahres sechzig geworden, und damals hatte er sich als letzten Termin den Tag vor Pfingsten gesetzt, dem höchsten Fest in dieser der Anbetung des Heiligen Geistes geweihten Stadt. Es gab nicht die geringste Kleinigkeit in der vergangenen Nacht, die sie nicht schon im vorhinein gekannt hätte, oft hatten sie darüber gesprochen und gemeinsam die unwiederholbare Sturzflut der Tage, die weder er noch sie aufhalten konnten, über sich ergehen lassen. Jeremiah de Saint-Amour liebte das Leben mit einer ziellosen Leidenschaft, er liebte das Meer und die Liebe, liebte seinen

»Als ich ihn gestern nacht alleinließ, war er schon nicht mehr von dieser Welt«, sagte sie.

Sie hatte den Hund mitnehmen wollen, doch er hatte ihn angeschaut, wie er dösend neben den Krücken lag, und ihn mit den Fingerspitzen gestreichelt. Er sagte: »Tut mir leid, aber Mister Woodrow Wilson geht mit mir.« Er bat sie, das Tier, während er schrieb, an ein Bein des Feldbetts zu binden. Sie tat es, knüpfte aber einen falschen Knoten, damit es sich befreien könne. Das war der einzige Akt der Untreue, den sie begangen hatte, und er war gerechtfertigt durch den Wunsch, in den Winteraugen des Hundes die Erinnerung an seinen Herrn zu bewahren. Aber Doktor Urbino unterbrach sie und erzählte, daß der Hund sich nicht befreit habe. Sie sagte: »Dann hat er es nicht anders gewollt.« Und sie freute sich, weil sie doch lieber des Geliebten so gedenken wollte, wie er es in der vergangenen Nacht von ihr erbeten hatte, als er den schon begonnenen Brief unterbrach, um sie ein letztes Mal anzusehen.

»Denk mit einer Rose an mich«, hatte er gesagt.

Kurz nach Mitternacht war sie heimgekommen. Sie legte sich dann angezogen aufs Bett und rauchte, zündete eine Zigarette an der anderen an, um ihm Zeit zu geben, den Brief, von dem sie wußte, daß er lang und schwierig war, zu beenden, und kurz vor drei, als die Hunde zu heulen begannen, stellte sie das Wasser für den Kaffee auf den Herd, kleidete sich ganz in Trauer und schnitt im Hof die erste Rose des Morgengrauens. Doktor Urbino war schon bald klargeworden, wie sehr ihm die Erinnerung an diese nicht zu erlösende Frau zuwider sein würde, und er glaubte den Grund dafür zu kennen: Nur eine prinzipienlose Person konnte den Schmerz so willig empfangen.

Dieser Satz verfolgte Doktor Juvenal Urbino auf seinem Heimweg: »Dieses Sterbequartier der Armen.« Das war keine unverdiente Bezeichnung. Denn die Stadt, seine Stadt, war die gleiche geblieben am Rande der Zeit: die gleiche glühende und ausgedörrte Stadt seiner nächtlichen Ängste und der einsamen Lüste der Pubertät, wo die Blumen oxydierten und das Salz sich zersetzte, eine Stadt, der in vier Jahrhunderten nicht mehr eingefallen war, als langsam zwischen welkem Lorbeer und fauligen Gewässern zu altern. Im Winter überschwemmten reißende Platzregen die Kloaken und verwandelten die Straßen in ekelerregende Kotpfade. Im Sommer drang ein unsichtbarer Staub, rauh wie glühende Kreide, sogar durch die gesichertsten Ritzen der Imagination, aufgestört von wahnsinnigen Winden, die Häuser abdeckten und Kinder in die Lüfte wirbelten. Jeden Samstag verließ das Bettelvolk der Mulatten im Tumult seine Hütten aus Dachpappe und Wellblech am Ufer der Moraste und nahm samt Haustieren und allem Drum und Dran zum Essen und Trinken im Jubelsturm die steinigen Strände der Kolonialstadt. Bis

Die Unabhängigkeit von der spanischen Herrschaft und später dann die Abschaffung der Sklaverei beschleunigten die ehrenhafte Dekadenz, in der Doktor Juvenal Urbino geboren und groß geworden war. Die vormals mächtigen Familien tauchten in das Schweigen ihrer ungeschützten Stadtburgen. In den verwinkelten Kopfsteinpflastergassen, die sich bei Kriegsüberfällen und bei den Landungen der Freibeuter als so vorteilhaft erwiesen hatten, wuchs das Unkraut über die Balkone herunter und sprengte selbst bei den gepflegtesten Häusern Risse in die festgemauerten Wände, und um zwei Uhr nachmittags waren die schleppenden Klavierübungen im Dämmer der Siesta das einzige Lebenszeichen. Drinnen in den kühlen, weihrauchgesättigten Schlafzimmern schützten sich die Frauen vor der Sonne wie vor einer schändlichen Ansteckung, und sogar bei den Frühmetten deckten sie das Gesicht mit einer Mantilla ab. Ihre Liebesgeschichten waren langsam und verwickelt, oft gestört von düsteren Voraussagen, und das Leben erschien ihnen endlos. Wenn der Abend kam und der Straßenverkehr beklemmend

Denn das Eigenleben der kolonialen Altstadt, das der junge Juvenal Urbino in seinen Pariser Melancholien gern verklärt hatte, war zu jener Zeit eine bloße Illusion der Erinnerung. Im achtzehnten Jahrhundert war die Stadt das blühende Handelszentrum der Karibik gewesen, insbesondere wegen des unrühmlichen Privilegs, der größte Umschlagplatz für afrikanische Sklaven in beiden Amerikas zu sein. Außerdem pflegten die Vizekönige von Neu Granada hier zu residieren, da sie lieber mit Blick auf den Weltozean regierten als in der fernen und eisigen Hauptstadt, wo der Nieselregen von Jahrhunderten ihnen den Sinn für die Wirklichkeit verrückte. Mehrmals im Jahr sammelten sich in der Bucht die Galeonenflotten, beladen mit den Schätzen aus Potosí, Quito und Veracruz, das war die glorreiche Zeit der Stadt. Am Freitag, dem 8. Juni 1708 um vier Uhr nachmittags, wurde die Galeone San José, die eben mit einer Fracht von Edelsteinen, Gold und Silber Kurs auf Cádiz genommen hatte, vor der Hafeneinfahrt von einem englischen Geschwader versenkt, und zwei lange Jahrhunderte später war sie noch nicht geborgen worden. Der Schatz ruhte mit dem in der Kommandobrücke seitlich treibenden Kapitän auf Korallengründen und wurde von den Geschichtsschreibern gern als Emblem dieser in Erinnerungen ertrunkenen Stadt beschworen.

Auf der anderen Seite der Bucht, im Villenviertel La Manga, stand das Haus von Doktor Juvenal Urbino in einer anderen Zeit. Es war groß, kühl, einstöckig und hatte auf der Außenterrasse einen Portikus mit dorischen Säulen, von dem aus man das stehende Gewässer der Bucht

Kein anderer Platz offenbarte jedoch eine so pedantische Feierlichkeit wie die Bibliothek, die Doktor Urbinos Allerheiligstes gewesen war, bevor ihn das Alter einholte. Dort, um den Nußbaumschreibtisch seines Vaters und die lederbezogenen Polstersessel, ließ er die Wände und sogar die Fenster mit verglasten Bücherschränken vollstellen, in denen er, in einer fast irrwitzigen Ordnung, dreitausend identisch eingebundene Bücher mit seinem Monogramm in Gold auf dem Kalbslederrücken verwahrte. Im Gegensatz zu den anderen Zimmern, die den Verwüstungen und dem fauligen Atem des Hafens preisgegeben waren, bewahrte die Bibliothek stets den Geruch und die Verschwiegenheit einer Abtei. Geboren und aufgewachsen im karibischen Aberglauben, durch das Öffnen von Fenstern und Türen eine Frische einzulassen, die es in Wirklichkeit nicht gab, hatten Doktor Urbino und seine Frau in geschlossenen Räumen zunächst Herzbeklemmungen verspürt. Sie überzeugten sich jedoch schließlich von den Vorteilen der römischen Methode zur Abwehr der Hitze, die darin besteht, die Häuser vor der Bruthitze des August geschlossen zu halten, um die glühende Luft von der Straße nicht eindringen zu lassen, und dann den Nachtwinden Fenster und Türen zu öffnen. Von da an war ihr Haus das kühlste unter der wilden Sonne von La Manga, und es war beglückend, in den schattigen Schlafzimmern Siesta zu halten und sich gegen Abend in den Portikus zu setzen, um die Frachtdampfer aus New Orleans aschgrau und schwer vorbeiziehen zu sehen, sowie die Flußdampfer, die mit ihren hölzernen Schaufelrädern hellerleuchtet durch die Dämmerung fuhren und mit einer Musikschleppe

Doktor Urbino war es jedenfalls nicht, als er an jenem Morgen kurz vor zehn heimkam, verstört nach den beiden Besuchen, die ihn nicht nur um die Pfingstmesse gebracht hatten, sondern ihn auch in seinem Alter noch, wo alles schon hinter ihm zu liegen schien, zu verändern drohten. Er hatte vor, eine morgendliche Hundesiesta zu halten, bis die Zeit zum Festmahl bei Doktor Lácides Olivella kam, fand aber ein aufgeregtes Personal vor, das versuchte, den Papagei einzufangen, der, als man ihn aus dem Käfig geholt hatte, um ihm die Flügel zu stutzen, auf den höchsten Ast des Mangobaums entflogen war. Es war ein gerupfter und launischer Papagei, der nicht sprach, wenn man ihn dazu aufforderte, dafür aber bei den unverhofftesten Gelegenheiten, und dann mit so viel Klarheit und Verstand, wie sie auch bei menschlichen Wesen ungewöhnlich sind. Er war von Doktor Urbino persönlich abgerichtet worden, und das hatte ihm Privilegien eingebracht, die niemand in der Familie je gehabt hatte, nicht einmal die Kinder, als sie noch klein waren.

Er war seit über zwanzig Jahren im Haus, und niemand wußte, wie lange er schon davor gelebt hatte. Jeden Nachmittag nach der Siesta setzte sich Doktor Urbino mit ihm auf die Patioterrasse, den kühlsten Ort des Hauses, und scheute in seiner pädagogischen Leidenschaft auch nicht die mühseligsten Wege, um dem Papagei Französisch beizubringen,