(Über Liebe, als Beziehung zwischen den Geschlechtern, gebe es nichts Neues mehr zu berichten, das habe die Literatur dargestellt in allen Varianten, ein für allemal, das sei für die Literatur, sofern sie diesen Namen verdient, kein Thema mehr – solche Verlautbarungen sind zu lesen; sie verkennen, daß das Verhältnis zwischen den Geschlechtern sich ändert, daß andere Liebesgeschichten stattfinden werden.)
– Max Frisch –
hardly art, hardly garbage
– The Thermals –
(I)
Meine liebe Elisabeth,
Du willst wissen, wo ich gewesen bin? Ich schicke Dir sieben Postkarten und einen Stapel Papier, 345 Seiten. Dieser Stapel handelt von mir. Und von der Erinnerung und der Zukunft. Ich habe den ganzen Nachmittag gelesen und geordnet. Du hattest recht, Elisabeth: Svensson ist ein seltsamer Mann, und: ja, es gibt hier eine Geschichte, Svenssons Kinderbuch ist davon nur das letzte Kapitel. Er hat einen ganzen Geschichtenkoffer mit sich herumge–tragen, einen Koffer voll …
[Motiv: Volksparkstadion Hamburg, Luftaufnahme, 1999]
(II)
… Erzähltem und Verschwiegenem, voller Steine und Blüten. Ich habe davon gerettet, was ich retten konnte. Dieser Papierstapel sind meine Tage bei Svensson, meine Notizen und Interviews, Svenssons Wüste und sein Urwald, Bierdosen und Luftschlangen, Hunde, Ratten, Tauben, Möwen, Pferde, Raben, Schwäne, Schlangen, Falter, Fische, die getretenen Tiere der Schöpfung (schwarz), Svenssons Tote, sein Seraverde und sein Williamsburg. Manchmal komme ich mir wie Svensson vor, ich …
[Motiv: Monte Bré am Abend, Plakat Daniele Buzzi, 1950]
(III)
… habe unsere Geschichten verrührt. Ich habe den Kellner mit dem verschwitzten Schnurrbart gefragt. Prego, hat er gesagt, es ist Mittwoch. Darauf ich: Mille grazie e un altro bicchiere di vino per favore. Ich bin also aus der Zeit gefallen, aber nun bin ich wieder zurück in Lugano, heute ist Mittwoch. Im Pool des Lido Seegarten schwimmen schwarze Plastikenten, eine Ratte …
[Motiv: Vaccatione en Svizzera, Illustrator unbekannt, 1925]
(IV)
… wartet am Beckenrand, auf der Badeinsel im See steht ein Reiher auf grünem Kunstrasen. Zeit ist ein See und die Erinnerung ein trauriger Hund. Reiher können extrem langsam fliegen, wenn sie wollen. Ich habe wieder gelernt, solche Dinge zu beobachten. Du hattest recht, Elisabeth: dieser Svensson ist ein seltsamer Mann, aber er ist nicht seltsamer als wir alle. Unsere Geschichten passen nicht auf eine Zeitungsseite. Ich bin die Zeitungsseiten leid, Elisabeth. Das Leben ist ein Wirbel und kein Strich.
[Motiv: Tessiner Dorfszene, Plakat Daniele Buzzi, 1943]
(V)
Ich esse Erdnüsse und habe damit die Ratte gefüttert. Du hattest recht, Elisabeth: das Hotel ist schön, aber es verkommt, wie alles Schöne verkommt (Rosen,Geranien, Plastikliegen). Auf der Seeseite isst ein altes Ehepaar unter Lichterketten Fisch, dazu Chopin vom Band, neben mir steht eine Gefriertruhe (die Kabel herausgerissen). Die Sonne geht unter.
[Motiv: Caffé del Porto, s/w, »Invierno 1939/40«]
(VI)
Ich schicke Dir unsere Geschichte, Elisabeth. Der Rest ist Vergangenheit und Kadavergehorsam (obbedienza cieca) und fault vor sich hin, mit einem dreibeinigen Schäferhund (Lua) an der wahrscheinlich tiefsten Stelle des Luganer Sees (288 Meter). Da unten kommt kein Licht mehr hin, hat Svensson gesagt, da unten sind die Fische weiß und irre schön.
[Motiv: Monte Bré am Morgen, Plakat Daniele Buzzi, 1950]
(VII)
Liebe Elisabeth, ich habe gelernt: man muss sich nicht so anstellen. Ich bleibe noch ein paar Tage. Du hattest recht: es gibt einen guten Barbaresco in dieser Gegend (Taleggio & Quartirolo). Keine Zigaretten. Ich habe eine kleine, schöne Frau geküsst und Dich damit gemeint. Ich bin müde. Ich komme mit dem Zug zurück. Ich habe nachgedacht.
Minä tulen sinne, rakkain terveisin,
Mandelkern
Daniel
[Motiv: Porlezza, 2001]
(Und wer genau ist Daniel Mandelkern?)
Elisabeth hat eine Entscheidung verlangt, und ich habe unsere Wohnung ohne eine Antwort verlassen. So geht es nicht. Mein Flug nach Mailand verlässt Hamburg erst in einer Stunde. Ich sitze allein und völlig übermüdet in der Wartehalle an Gate 08 (jenseits des Rollfelds die Kiefern am Rand von Niendorf). An Gate 07 scherzen zwei italienische Geschäftsfrauen. Ich stehe auf, ich muss mich bewegen, um nicht einzuschlafen. Etwas weiter den Gang hinunter ein Zeitschriftenstand: ich kaufe die Süddeutsche Zeitung, ich kaufe eine Postkarte (Motiv: Volksparkstadion Hamburg, Luftaufnahme, 1999), ich sehe Notizbücher Marke Semikolon. Die gibt es sonst nur in einem Papierwarenladen neben der Hochschule für bildende Künste am Lerchenfeld, was jedes Mal ein Tagesausflug ist, also kaufe ich gleich drei. Ich kaufe Zigaretten. Ich fange jetzt wieder an zu rauchen, denn Raucher sind deutlich weniger fertil, ihre Spermien halten nicht so lange durch (Raucherspermien geben irgendwann auf). Die Zigaretten sind teurer geworden seit meiner letzten Schachtel. An einem Automaten kaufe ich Kaffee und gehe zurück zum Gate, ich reiße das Zellophan vom Notizbuch und notiere meine Müdigkeit und meine Kopfschmerzen. Dann notiere ich die Schlagzeilen der Süddeutschen Zeitung vom 6./7. August 2005:
»Risiko Kaiserschnitt«
»Wahnsinn Mobilität: schneller, höher, weiter, irrer«
»Luft im gesunkenen Mini-U-Boot wird knapp«.
Ich schreibe, weil ich immer schreibe, wenn die Dinge kompliziert werden. Ich bin allein, ich könnte rauchen. Ich könnte die Notizbücher in die Eimer neben mir werfen (rot grün blau gekennzeichnete Mülltrennung). Ich sollte aufstehen und zurückkehren, zurück zu meiner Frau.
Wie ich hierhergekommen bin: Elisabeth und ich sind nicht laut geworden, ich habe unsere Wohnung mitten in der Nacht und ohne Fazit verlassen (wir kämpfen bei Zimmerlautstärke). Das Dossier zu Svensson vom Küchentisch genommen und den halbgepackten Koffer durch den Flur getragen, die Wohnungstür dann aber von außen viel zu heftig ins Schloss geworfen und im leichten Nieselregen die Straße fast entlanggerannt. Weg von Elisabeth, das Geräusch des lächerlichen Rollkoffers auf den Gehwegplatten hinter mir ist lauter als erwartet (für deine journalistischen Tagesreisen, hatte Elisabeth gesagt und mir den Koffer ins Büro gestellt). Ich habe mein Telefon ausgeschaltet, um ihre Anrufe ignorieren zu können (sie wird wie immer das letzte Wort haben wollen). Dem Taxifahrer, der mich von der Hoheluftbrücke zum Flughafen gefahren hat, ein absurd hohes Trinkgeld gezahlt (Lösegeld). Vor dem einzigen besetzten Schalter in der ansonsten leeren Eingangshalle habe ich den Koffer geöffnet und mein Telefon zwischen Anzug und Hemden vergraben (zwischen Aufnahmegerät und Rasierer). Ich habe die Zahnbürste in meine Hemdtasche gesteckt. Das Bodenpersonal schien auf mich zu warten. Mailand? Ja. Ausweispapiere? Herr Mandelkern? Ja. Als ich meine überpünktliche Ankunft und mich erklären wollte, lachte die Lufthansa-Angestellte routiniert: ihretwegen könne ich mein ganzes Leben in mein Gepäck falten, solange es unter der zulässigen Gewichtsgrenze bliebe (die Waage zeigte 12,7 Kilo). Es sei noch ein Platz in der früheren Maschine frei, ein Direktflug, ob ich den haben wolle? Gut. An der Sicherheitsschleuse bin ich in der Morgendämmerung der einzige Fluggast gewesen, ich habe die beiden Recherchemappen zu Svensson neben meinen Gürtel in die graue Plastikwanne gelegt. Nein, habe ich gesagt, sonst hätte ich nichts weiter dabei (ich habe alles aufgegeben). Der Ring an meinem Finger hat keinen Alarm ausgelöst. Jetzt sitze ich hier um halb sieben am Hamburger Flughafen in der fast leeren Wartehalle am Gate 08, viel zu früh, weil ich unsere Wohnung mitten in der Nacht und ohne ein Wort verlassen habe. Ich bin einfach gegangen.
fragte ich letzten Mittwoch in die wöchentliche Redaktionskonferenz, die Elisabeth leitet, denn als »Dirk Svensson« war die Auftragsreise in ihrer aktualisierten Monatsplanung aufgeführt und meinem Namen zugeteilt. Eine Sekunde lang der Gedanke, sofort aufzustehen und zu gehen, den Auftrag also rundheraus abzulehnen.
Dirk Svensson: Gespräch & Porträt (Mandelkern)
Elisabeth und ich haben seit Tagen kein persönlich gemeintes Wort gewechselt, auch beruflich begegnet sie mir seit Wochen mit bockiger Entschiedenheit. Sie hat den Auftrag an mich vergeben, während ich desinteressiert und wütend zugleich ihren Blick erwiderte (ihr dringlicher Mund). »Dirk Svensson: Gespräch & Porträt« bedeutet ein Wochenende weniger Zeit für das, was ich Elisabeth privat sagen möchte. Gehört habe ich von Svensson. Man kann seinem Namen zurzeit nicht entkommen, er hat ein einziges Kinderbuch geschrieben und ist wahrscheinlich im Begriff, sich damit eine goldene Nase zu verdienen. Ich interessiere mich nicht für Kinderbücher und ihre Autoren, ich möchte keine Geschichte über diesen Svensson schreiben, hätte ich in der Redaktionskonferenz sagen können, ich möchte mit dir reden. Aber ich blieb sitzen und sah erst Elisabeth an (rote Haare aus dem Nacken gebunden) und dann auf meine Füße (grüne Flip-Flops). Warum ausgerechnet jetzt?, fragte ich, und Elisabeth ging ganz professionell auf meine Frage ein: wenn der Text nicht in der nächsten Woche erscheinen könne, sagte sie, dann zumindest übernächste, sonst bringe eine andere Zeitung die Geschichte. Der Termin habe sich heute ergeben, Svensson habe sich telefonisch gemeldet und uns tatsächlich ein Treffen zugesagt (die Verbindung sei sehr schlecht gewesen). Der Mensch Svensson, sagte Elisabeth in der Redaktionskonferenz, der Mensch bleibe hinter diesem einen Kinderbuch und seinen Verkaufszahlen verborgen. Ich hatte die Recherche zwar begonnen, dann aber an ihre Praktikantin weitergegeben, weil mich Kinderbücher noch nie interessiert haben. Seit Wochen wird in der Redaktion von ihm gesprochen, und seit Wochen wird diese Geschichte verschoben. Svensson will nicht reisen, er lässt alle Termine platzen, er lebt allein mit seinem Hund, und dieser Hund soll sein Ein und Alles sein (ein schwarzer Schäferhund mit drei Beinen). Svenssons genauer Aufenthaltsort ist uns nicht bekannt: nordöstlich von Mailand, irgendwo am Lago di Lugano. Elisabeth schob die beiden schwarzen Mappen über den Tisch zu mir. Mandelkern ist die Idealbesetzung für diese Geschichte, erklärte sie der Redaktionskonferenz, dieser Auftrag passe besser zu mir als zu irgendeinem anderen. Die Reise zum Dopinglabor von Châtenay-Malabry würde stattdessen Harnisch als ehemaliger Sportjournalist übernehmen (Harnisch ist so sportlich wie ein Bleistift). Ich bin Ethnologe und bekomme von Elisabeth die eigenartigen Aufträge: Mandelkern schreibt über Matrilinearität und Männerkindbett, also trifft Mandelkern Kinderbuchautoren und ihre Hunde. Am Samstag (heute) solle ich also nach Mailand fliegen und am Sonntag zurück (um vier). Svensson ist speziell, sagte Elisabeth und lachte, aber Porträts und Seltsamkeiten sind ja deine Spezialgebiete, Mandelkern.
Es ist Elisabeths Diplomatie vor den Kollegen, die ich nicht ertrage, ihre trotzige Diplomatie, die, um gerecht zu scheinen, ungerecht sein muss (gleichmäßig verteiltes Grün ihrer Augen). Ihre Praktikantin habe recherchiert, ausgedruckt und gebunden, sagte Elisabeth später auf dem Flur vor dem Konferenzzimmer, jetzt sei ich an der Reihe. Sie zeigte auf die schwarzen Mappen in meiner Hand, dann unterbrach uns ihr Telefon. Elisabeth meldete sich mit ihrem Vornamen. Bestimmt findest du dort unten Taleggio und Quartirolo, flüsterte sie mir zu, als würde ich kurz zum Feinkost-Schweizer in der Grindelallee gehen und Besorgungen machen (Christls Comestibles). Und Barbaresco! Das war am Mittwoch: sie wollte persönlich werden, ich drehte mich um und ging. Am Donnerstag lebten wir nebeneinander her und aneinander vorbei: Elisabeth schlief, als ich nach Hause kam, ich schlief, als sie aufbrach (seit ich für Elisabeths Redaktion arbeite, ist unsere Ehe professioneller geworden). Am Freitagmorgen trafen wir uns zufällig in der Küche. Wir sollten heute Abend essen gehen, sagte ich, auf neutralem Terrain lässt sich vernünftig reden (Elisabeths rotes Haar im Gegenlicht wie ein Heiligenschein, Elisabeth ist eine heilige Hexe). Darauf Elisabeth: wir trinken zu viel. Wir müssen nicht trinken, sagte ich, wir müssen uns unterhalten.
Wir verabredeten uns in einem überlauten Restaurant am Paulinenplatz (Mandolinenmusik und italienisches Kulissengeschrei). Immerhin Italien, sagte ich und meinte damit den Wein. Ich wollte das Gespräch in aller Vorsicht beginnen. Darauf Elisabeth: Svensson hat auch keine Kinder, obwohl er Kinderbuchautor ist, er scheint ein seltsamer Mensch zu sein, vielleicht versteht ihr euch. Mir fiel auf, dass Elisabeth nicht rauchte. Ich glaube nicht, schrie ich zurück und bemühte mich um ein Lachen, er hat einen schwarzen Hund mit drei Beinen, schwarze Hunde sind mir schon farblich zuwider, schwarze Hunde stehen am Eingang der Hölle und warten. Elisabeth trank ihr Glas schnell aus und schenkte uns nach. Deine Sorgen möchte ich haben, sagte sie, vielleicht ist das eine gute Geschichte. Wir bestellten und sahen in unsere Gläser (Elisabeths schmaler Hals, wenn sie schluckt wie ein Schwan). Als ich später fragte, warum es ausgerechnet dieses Wochenende sein müsse, antwortete Elisabeth: Kapazitäten. Oder wärst du lieber nach Châtenay-Malabry gefahren und hättest Lance Armstrongs gefrorene Urinproben nach ihrem moralischen Gehalt befragt?
Elisabeth hat meine Sorgen nicht.
Sie bestellte noch einen Wein, dieselbe Rebsorte, diesmal ein Glas (Barbaresco). Dass wir auch noch einige Flaschen in unserer Wohnung hätten, sagte Elisabeth, und ich antwortete jetzt nur noch widerwillig: gut. Kurz darauf öffnete ich eine dieser Flaschen, worauf wir erst in der Küche tranken (unsere Küche) und auch dort nur wenig sprachen (sie auf dem Ceranfeld, ich auf dem Boden neben den Weinkisten). Ich ignorierte die zwei schwarzen Recherchemappen zu Svensson auf dem Küchentisch. Elisabeth wies mich darauf hin, dass sie das Rauchen aufgebe, wie auch diese und jene Redakteurin, sie sprach von Yoga und ihrem achtunddreißigsten Geburtstag. All diese Dinge wisse ich bereits, begann ich, wir würden nur noch an diesen Oberflächen entlangreden, ich müsse unbedingt mal wieder mit der Frau sprechen, die ich geheiratet hätte, wir sollten mal wieder eine gelungene Unterhaltung führen (wir umkreisen ein Kind). Elisabeth stand auf, stellte ihr Weinglas ab und holte Luft:
Du solltest mal wieder etwas Gelungenes schreiben, Mandelkern!
Damit sie nicht weitersprach, stand ich auf und versuchte, sie zu küssen. Wir rangen, wir sahen verbissen aneinander vorbei, dann erwischte sie mich mit dem Ellenbogen an der Oberlippe, im Reflex griff ich ihr Handgelenk eine Spur zu fest. Ihr ungläubiges Lachen, als ich sie losließ und meine Oberlippe nach Blut abtastete (uns gerät die Arbeit zwischen unsere Leben). Etwas später und endlich betrunken landeten wir doch noch auf der Schlafempore, Sex ist bei Elisabeth und mir seit einigen Wochen eine Frage der Betrunkenheit, und vielleicht mussten wir die Kondome neben dem Bett übersehen (ihre Pillen in der alten Schulstiftbüchse; auf der Rückseite drei Namen eingeritzt, sonst habe ich nicht viel aus ihrem Leben vor mir finden können). Als wir uns umwälzten und ich kurz aus ihr herausrutschte, sagte Elisabeth: in mir nistet sich heute nichts ein, und jetzt halt still, Mandelkern! Elisabeth ahnt meine Pläne für die kinderlosen nächsten Monate und Jahre (sagen konnte ich ihr bisher nichts; es gelingt mir nicht). Elisabeth weiß: manchmal reicht ein falsches Wort, und ich schrumpfe und schwinde und stehe auf und gehe zum Fenster, nur um auf das dunklere Ende der Bismarckstraße hinauszusehen und zu sagen, so gehe es nicht (im Sommer kann man durch das Laub der Kastanien die Laternen nicht sehen). Also hielt ich still (also beschloss ich, das Flugzeug zu nehmen).
Elisabeth und ich bewohnen eine für meine finanziellen Verhältnisse zu große und zu teure Altbauwohnung Ecke Bismarckstraße/Mansteinstraße. Schlafzimmer, Wohnzimmer, Arbeitszimmer. Wir haben im Sommer 2003 geheiratet. Ich liebe Elisabeth. Ich bin studierter Ethnologe und freier Kulturjournalist. Ich kämpfe, wie alle kämpfen. Wir haben ein leeres Zimmer, das wir Gästezimmer nennen. Elisabeth ist eine schöne Frau. Ich fahre einen zwanzig Jahre alten Renault vier. Vielleicht ist ein anderes Leben ein besseres Leben. Bei unseren Gehältern ist das einzig Sinnvolle, sagt Elisabeth, wenn ich die Miete bezahle und du das Telefon. Elisabeth ist die schönste Frau, mit der ich je eine Altbauwohnung bewohnt habe. Ethnologie hat für mich nichts mit Papua-Neuguinea zu tun. Ich trage einen Ehering an der linken Hand (gebürstetes Silber). Elisabeth nimmt die Pille nicht mehr, sie will jetzt ein Kind. Elisabeth ist eine nüchterne Frau. Sie hat ein Kind bekommen, sie hat es verloren, sie will es noch einmal riskieren. Da nistet sich nichts ein, sagte Elisabeth. Also hielt ich still. Elisabeth rief dann Daniel Daniel, sie rief Daniel mitten in mein Gesicht, sie meinte wohl tatsächlich mich.
Im Flur vor dem bodentiefen Spiegel gestanden und den Wein ausgetrunken. Das Blut an mir betrachtet, die Schlieren neben dem Bauchnabel, und Elisabeth hinter mir griff in das getrocknete Blut an meinem Schwanz, in ihr eigenes getrocknetes Blut an meinem Schwanz und in meinen Haaren, und sagte, morgen in der Schlacht denk an mich (mein Schwanz ein stumpfes Schwert; Elisabeth und ich martialisch: wir wetzen uns aneinander stumpf, wir schlagen unsere Klingen schartig). Als ich im Bad das Blut abwaschen wollte, saß Elisabeth auf dem Klo und sagte, weißt du, Daniel Mandelkern, ich warte darauf, dass du dich entscheidest (die Drastik pissender Frauen).
Elisabeth wartete auf eine Entscheidung, ich stand verklebt vor dem Waschbecken. Sie strich ihr Haar hinter die Ohren und griff nach dem Klopapier. Mandelkern? Ich muss sie angestarrt haben. Daniel? Sie wischte sich sauber und zog die Spülung. Plötzlich war Elisabeth überall: ich sah und hörte und roch und schmeckte sie, ihr Blut an mir, ihr Wein in meinem Mund, ich tastete nach meiner geschwollenen Lippe, meine Zunge fuhr über den feinen Riss auf der Innenseite, der noch immer blutete (ihr zufälliger Ellenbogen). Du guckst wie ein Idiot vor einer Mathearbeit, sagte Elisabeth. Ob ich verstünde, was sie gesagt habe. Ja, sagte ich und starrte weiter, nein, sagte ich, vielleicht
(Revolverschaltung Italien Universität Mandelkern Hamburg Berkeley Blut Almond Ethnologie Zeit Barolo Bréton Kind Renault Anne Laura Eva Hornberg Carolina Eins PetShop-Boys Katrin Britta Paternoster Kolberg Matrilinearität Geertz Svensson Oktaeder Aquarium Aquarium Couvade Venasque MalinowskiHeimwehtouristen). Moment, sagte ich und spuckte in die Badewanne. Ich kehrte Elisabeth den Rücken zu und schloss die Badezimmertür hinter mir, ich sammelte meine verstreuten Kleidungsstücke auf und holte die Mappen aus der dunklen Küche. Dann nahm ich den Koffer und ging.
Eigentlich bin ich Ethnologe. In Amerika bin ich Cultural Anthropologist. Ich beobachte Menschen, ich sammle Gespräche, ich sondiere Hierarchien, ich mache Bilder, ich ordne Texte, ich katalogisiere Materialien, ich stelle meine Ideen zusammen. In England bin ich Social Anthropologist. Seit fast zwei Jahren aber schreibe ich für Elisabeths Redaktion. Ich habe für sie Menschen befragt und porträtiert, ich habe Lebensläufe stenographiert und Weltsichten zusammengefasst, ich bin ihren Bitten nachgekommen. Ich führe Gespräche und schreibe Porträts, gerahmt von tagelangem Schweigen in Flugzeugen, Hotels und Busbahnhöfen. Ich schreibe mit, weil ich die Dinge ordnen will (ich will mich sortieren).
Ich halte die Hand mit dem Stift und schreibe, ich notiere mich (Daniel Mandelkern). Ich verschweige wenig, ich notiere fast alles (Flughafenhallen, Zeitungen, Zigarettenpreise, schwarze Schäferhunde mit drei Beinen). Ich schreibe meinen Körper auf: Durchfall, dreieinhalb Liter Wein gestern Abend, zu zweit. Ich warte noch immer allein am Gate. Der Rotwein ist mir nicht gut bekommen (Kopfschmerzen). Später will ich Elisabeths Haar aufschreiben, ihr Blut an mir, noch später das Gerede ein paar Sitze weiter, dort sitzen immer noch die beiden Italienerinnen, mein Italienisch ist miserabel, deshalb das Wort »Gerede«. Ich notiere meine Angst, mein Glück und Zögern, ich schreibe:
Elisabeth Elisabeth Elisabeth,
das dritte Mal mit deutlichem Tadel in der Schrift. Ich notiere, dass es nichts bringt, mit seiner Chefin verheiratet zu sein, dass es falsch ist, für seine Frau zu arbeiten, dass ein Kind unser Problem nicht lösen wird. Dass es so nicht geht, Elisabeth! Mit einem Pappbecher Kaffee und der ersten Zigarette seit Monaten sitze ich im Nichtraucherwartebereich des Hamburger Flughafens. Ich schreibe »Nichtraucherwartebereich«, obwohl ich jetzt rauche, obwohl außer mir noch niemand wartet (so viel zur Wahrheit).
Warum jetzt ausgerechnet ein Bus? Aber ich kann nicht aussteigen und die paar Meter zu Fuß zum Flugzeug gehen (Abreisen beginnt mit dem Zischen der Hydrauliktüren). Der Gelenkbus nur halb voll mit bunten Sommerhemden, ein paar Handgepäcklern und Vielfliegern, die meisten telefonieren. Ich muss das Schaukeln ertragen (im Spiegel über der Bustür: Rotweinreste an meinen Lippen). Der Wein ist mir nicht gut bekommen, der Wein war einfach zu viel Wein. Ich überlege, ob ich Elisabeth anrufen soll. Ich würde sie wecken, und mir wäre nicht allein hundsmiserabel. Sie wird trotz ihrer Kopfschmerzen weiterschlafen wollen (unsere letzte und halbleere Flasche neben den roten Ziffern des Weckers). Ich müsste ihr erklären, warum ich gegangen bin. Ich müsste über Entscheidungen und Kinderwünsche und Lebensentwürfe sprechen. Ich müsste Elisabeth sagen, dass ich an der Ehe zweifle (an unserer Ehe). Ich könnte das Wort »Scheidung« aussprechen, ich könnte meine Mutter zitieren: der Ton macht die Musik. Ich rufe nicht an, ich habe mein Telefon im Koffer vergraben (solche Gedanken, solche Strategien, solche Boshaftigkeiten).
Ein paar Sitze vor mir im Bus eine Frau mit Kind. Am Grün ihres Trägerhemds liegt es nicht, dass sie mir auffällt. Sie zündet sich eine Zigarette an. Diese Frau ist sehr klein, ihr Rücken leicht gekrümmt, ihre Nackenwirbel deutlich zu sehen, kurzes blondes Haar, zurückgehalten von einem geschmacklosen Haarband (pinke Rosen auf schwarzem Untergrund), ihr geblümter Rock ein wenig zu kurz (ihre Füße stehen auf dem Radkasten). Ich sehe sie von hinten, ich kann mir ein Gesicht zu diesem Rücken und diesem Haarband nur schwer vorstellen. Sie hat kein Gepäck, in ihrer kleinen Hand hält sie nur eine Zigarettenschachtel und einen Reisepass (Suomi). Sie raucht trotz Rauchverbot (wie ich). Der Junge umklammert einen kleinen hellblauen Rucksack auf seinem Schoß. Drei, vielleicht fünf Jahre, ich kann das Alter von Kindern nicht schätzen (sein helles Haar – ihr helles Haar). Schwer vorzustellen: ihr Körper als der Körper einer Mutter. Elisabeth ist langgliedriger als diese Frau (Elisabeth mit der Haut der Rothaarigen, man sieht ihr Alter nur in den Augenwinkeln und um die Kaiserschnittnarbe unter dem Bauchnabel). Ein Nichtraucherbus!, ruft ein Mann, aber die Frau ignoriert ihn und dreht sich zu mir um, als wäre ich es gewesen, der sie ermahnt hat. Sie lächelt mich an (stur und herablassend, diesen Ausdruck beherrscht Elisabeth genauso). Der Junge flüstert ihr etwas ins Ohr. Der Himmel vor den Fenstern hängt nordisch über den Kiefern (Rollfeld, Niendorf), dem hellen Asphalt und den Triebwerken. Die Frau dreht sich zurück und streicht dem Jungen über das Haar, gibt ihm den Reisepass und die Zigarettenschachtel, er verstaut beides in seinem Rucksack (sie achtet darauf, den Rauch nicht in seine Richtung zu atmen). Der Bus neigt sich noch in eine letzte Kurve und hält bei einer kleinen Maschine. Ich mache jetzt einen Spaziergang um das Flugzeug, Mama, sagt der Junge. Er nimmt den Rucksack und steigt vorsichtig aus dem Bus. Seine Augen prüfen seine Mutter hinter der Scheibe des Busses.
Sie bleibt, wo sie ist,
bis sie schließlich vom Busfahrer gebeten wird und mit der Hacke die Zigarette auf dem Rollfeld so demonstrativ austritt, als wäre der Fahrer im Unrecht (dunkelgrüne Chucks). Der Junge trägt seinen kleinen Rucksack die Treppe hinauf (Stufe für Stufe, er hat zu kurze Beine), bleibt vor der ovalen Tür einen Augenblick stehen und steigt mit einem großen Schritt über die Schwelle, ohne sich umzusehen. Erst dann folgt sie ihm und ich ihr.
Ich bin an einen Fensterplatz geraten, und das Flugzeug dreht mich weg vom Terminal. Ich beobachte einen Graureiher auf der anderen Seite des Rollfelds, er schwingt sich aus dem Stand in die Luft und verschwindet im hellen Nebel. Die Geschäftsreisenden um mich herum telefonieren, ein Absturz durch mitgeführte elektronische Geräte ist jetzt kurz meine einzige Sorge. Ich muss nicht erst ermahnt werden, obwohl ich nicht verstehe, was Telefone und Computer mit der Navigation des Flugzeugs zu tun haben (ich habe mein Telefon im Gepäck vergraben). In der Sitzreihe vor mir die Frau im grünen Trägerhemd, neben ihr steht der blonde Junge auf dem Sitz und sieht mich an (hellblaue Augen, keine Ähnlichkeit der Gesichter). Auch die Frau steigt auf den Sitz und holt ein Buch aus dem Rucksack im Gepäckfach (ihr etwas zu rundes Gesicht und ihre müden Augen).
Ich bereite mich vor. Die akribische Praktikantin hat 90 Seiten Material zusammengestellt, Kataloge und Rezensionen, dazu dieses Kinderbuch (Titel: Die Geschichte von Leo und dem Nichtviel). Sogar einen Stadtplan von Lugano hat sie ausgedruckt. Kein einziges Interview ist dabei, kein ordentliches Porträt, es gibt nur Kurzviten und Vermutungen über Dirk Svensson. Sein Buch hat sich bisher mehr als 100000 Mal verkauft, Stand 31. Juli, der Verlag rechnet optimistisch mit dem Doppelten. Das Buch soll in mindestens 17 Sprachen übersetzt werden, trotz Reimen, sogar ins Isländische, eine amerikanische Ausgabe liegt bereits vor. Bereits jetzt ist es ein großer Erfolg. Die Kollegin Jagla spricht von »einer Relevanz, selten für ein Kinderbuch«, die New York Times von »fundamental accuracy of statement, rarely found in children’s literature«. Wer hat da von wem abgeschrieben? Oben auf dem Stapel liegt eine Nachricht von Elisabeth: »Mein Mandelkern, die Geschichte von Leo und dem Nichtviel. Ihr trefft Euch am Samstag in Lugano, am Bootsanleger der Riva Bartolli, direkt bei den grünen Tretbooten. Das Hotel Lido Seegarten ist schön. Das ist jetzt Deine Geschichte. Denk nach! Elisabeth«.
Sie wird den Zettel vor unserem Streit dazugelegt haben. Mein Mandelkern! Denk nach! 90 Seiten Kinderbuchrezensionen, Elisabeths nachgereichter Befehlston, eine zweideutige Auftragsvergabe, meine Landverschickung. Elisabeth hat eine Entscheidung verlangt, ich habe mich gesträubt (mein Ausspucken Umdrehen Türenschließen). Auf Anweisung meiner Frau und Vorgesetzten mit einem ausgedruckten Stadtplan im Flugzeug nach Mailand, auf dem Weg zu einem Bootssteg in Lugano, unter uns Niendorf und weiter unten Eimsbüttel und die Alster (mein Fenster und die geduckten Kiefern am Rand des Rollfelds, der heulende Start, keine Komplikationen). Elisabeth wird jetzt aufwachen und den Wein erbrechen; sie trinkt, um mir zuhören zu können, ohne mich zu korrigieren. Ich trinke, um zu reden und nicht nur zuhören zu müssen; sie hat gestern mehr getrunken als ich. Dann die Wolken zwischen uns und der Erde, das Verschwinden des Anschnallbefehls, eine mindestens sechzigjährige Stewardess, zwei Mineralwasser gegen die Kopfschmerzen. Ich lese in den Recherchemappen: Der Luganer See ist ein See im Süden des Kantons Tessin, halb in der Schweiz und in Italien, benannt nach der Stadt Lugano, auch Lago Ceresio, tiefste Stelle 288 Meter. Hermann Hesse hat in Montagnola in den Hügeln über dem See gelebt (Und wer genau ist dieser Svensson?, zitiert mich die große Handschrift meiner Frau auf einer kopierten Seite). Elisabeths professionelle Anweisung: ein Porträt von 16000 Zeichen. Die kleine Frau vor mir liest dem kleinen Jungen im Flugzeugrauschen aus einem Buch vor: Die Geschichte von Leo und dem Nichtviel, liest sie, fängt so an.
Ein dienstreisender Journalist auf einer Flugzeugtoilette, das getrocknete Blut seiner Frau an den Händen (Elisabeth, denke ich, Elisabeth). Dass die kleine Frau dem Jungen ausgerechnet Svenssons Kinderbuch vorliest, verwirrt mich. Ich stehe geduckt vor dem Spiegel und besichtige mich: müde sehe ich aus, unrasiert und verkatert, ein Rotweinfleck am weißen Hemdsärmel, Flip-Flops an den Füßen, die Anzughose geöffnet. Ich frage mich im Spiegel – ich frage Dich, Elisabeth – wie es so weit kommen konnte. In der viel zu niedrigen Flugzeugtoilette von Flug LH 3920, gebückt und mit verbissenem Lächeln, überlege ich, wann wir unsere Vornamen verloren haben. Wir haben doch einmal miteinander reden können, wir waren doch einmal gleich alt, wir haben doch einmal gewusst, wer wir sind (wir waren einmal: wir).
Wir haben uns doch einmal erkannt, Elisabeth!
Ich klemme das Hemd unter mein Kinn und versuche, das Blut mit Papiertüchern von meinem Bauch und aus den Schamhaaren zu entfernen, aber die Tücher lösen sich auf und krümeln. Dein Blut verschwindet nicht. Ich spüre den feinen Riss in meiner Oberlippe, das Flugzeug wird sich bereits im Luftraum über Frankfurt befinden, aber das Wort »Scheidung« hält sich beharrlich in der Luft (die Möglichkeit eines anderen Lebens). Als zum zweiten Mal jemand an die Toilettentür pocht, ziehe ich meinen Ring vom Finger und stecke ihn in die Hosentasche (E. E. E.). Ich rolle die Hemdsärmel auf und putze mir die Zähne mit Wasser (die kleine schöne Mutter soll den Rotwein nicht sehen).
Der weiße Rahmen des Spiegels im Flur macht aus Dir und mir ein altes Familienbild (schwarzweiß im Mondlicht), wohl etwas zu dunkel und etwas zu nackt für ein Familienalbum. Ein Bild, das wir später in einem Schuhkarton entdecken und viel zu wirklich für die offizielle Erinnerung finden.
Unter dem Flugzeug liegt seit unserem Start in Hamburg eine dicke Wolkendecke. Die kleine Frau sieht mich eine Spur zu lange an, als sie auf dem Weg zur Toilette an mir vorbeigeht (sie hat ihr Haarband gewechselt). Ich befinde mich nur in diesem Flugzeug, denke ich, weil meine Chefin mir diesen ärgerlichen Auftrag zugewiesen hat. Anstatt mit meiner Frau zu reden, bin ich auf dem Weg nach Lugano. Mein Ehering steckt in meiner Hosentasche, aber Elisabeths Blut hat sich nicht abwaschen lassen. Die kleine Frau lächelt, ich lächele zurück. Die Ansage des Piloten unterbricht unseren Blick: wir befinden uns über dem Sankt Gotthard, sagt er, unter uns die Nord-Süd-Wetterscheide. Ich sehe aus dem Fenster, die Wolkendecke bricht über den felsigen Bergen ab. In unserem Rücken kann ich noch Regenschleier ausmachen, Richtung Süden liegen die Berge im Sonnenlicht, menschenleer, die Straßen und Wege nicht gut zu erkennen (vereinzelte Häuser). Wenn sie und ich dort unten lebten, denke ich, würde uns niemand kennen (ein anderes Leben).
steht auf der Titelseite der Süddeutschen. Rechts von mir ein Mann, der Salz in seinen Tomatensaft rührt, dann Wodka. Ein Artikel über Geburtenraten und Kaiserschnittquoten. Nach der ersten Operation würden Frauen seltener wieder schwanger, steht dort. Möglicherweise vermieden Frauen die zweite Schwangerschaft absichtlich, weil der Kaiserschnitt eine so negative Erfahrung gewesen sei, sagt Siladiyta Bhattacharya von der Universität Aberdeen. Frauen sehnten wegen Schmerzen und Entzündungen, die nach der Operation aufträten, häufig keine neue Mutterschaft herbei. Elisabeth will es noch einmal riskieren (Trinken auf Flugreisen, Kopfschmerzen). Ich erbitte ein weiteres Wasser zum Käsesandwich (die Angewohnheit, sich auf Reisen für die lokale Küche zu interessieren; Taleggio und Quartirolo, Elisabeth liebt Käse). Einmal bestellte Elisabeth acht Kisten Barbaresco bei Christls Comestibles in der Grindelallee, und ich kam mir bei Lieferung und Unterschrift bevormundet vor.
(Zusammenhänge herstellen, wo keine Zusammenhänge sind)
Während die schöne Mutter dem Jungen vorliest, blättere ich durch das Buch und sehe die Bilder an. Irgendwann bricht ihre Lesestimme ab, und der Junge beginnt wieder von vorn. Ich lese weiter. Leo und das Nichtviel, der fünfjährige Leo verliert seinen besten Freund (ist der Tod für Kinder wie ein Umzug?). Einen Sommer lang sitzt er in seinem Zimmer und erfindet Geschichten. Wenn seine Mutter klopft und fragt, was er denn in seinem Zimmer mache, antwortet er: nicht viel. Ob er seinen Freund vermisse? Nicht viel, immer: nicht viel. Das Nichtviel sind Leos Geschichten (was für eine Idee ist ein Nichtviel? Es ist nicht nichts, immerhin).
Vor meinen Augen bleibt dieses Bild: ein Mann namens Mandelkern liegt still auf dem Rücken (ich), eine Frau namens Elisabeth kommt, auf ihm sitzend, in die Leere ihres Kopfes starrend, ihre Knöchel mit den Händen umfasst (Du). Mehrmals ruft sie seinen Vornamen in die Luft zwischen ihnen, und als er später nach dem Warum fragt (warum Daniel Daniel), antwortet sie, das denke sie immer, wenn er keine Widerworte geben würde. Elisabeth lacht, Mandelkern nicht.
Mein Gepäck sei nicht in Mailand eingetroffen, stellt eine Mitarbeiterin am Lost & Found fest, das sage jedenfalls das System. Der Koffer stehe wahrscheinlich in Frankfurt, das liege wohl an der kurzfristigen Umbuchung, ich sei früher angekommen als mein Gepäck. Flüche hätten jetzt keinen Sinn. Ich hinterlasse die Adresse des Hotels: Hotel Lido Seegarten, Viale Castagnola 24, CH-6906 Lugano (ich werde das Interview mit Stift und Papier dokumentieren müssen).
Mit meiner Plastiktüte auf einer Bank neben der Bushaltestelle (das Flughafengebäude mattgrün, Lichtflächen und Glasfronten). »Die günstigste Verbindung Malpensa–Lugano ist der Airport-Express!«, steht im Ablaufplan, den Elisabeths Praktikantin geschrieben hat (eine fettige Person mit Telefonstimme und absurdem Talent für Datenbanken und Fahrpläne). Nicht weit entfernt wieder die kleine Frau im Trägerhemd, jetzt mit dem schläfrigen Jungen an der Hand. Mit dem Zeigefinger streicht sie eine feuchte Strähne aus seiner Stirn und sieht in die Leere jenseits der Busse; sie ist seine Mutter (vor allem aber ist sie von einer undurchschaubaren Schönheit, einer schmalen Schönheit). Ihre Beine sind kurz, aber viel zu fein, um plump zu wirken. Sie sieht kurz zu mir herüber, dann verschwindet sie hinter einem Bus (www.airportbus.ch). Ich könnte ihren Koffer tragen (ich könnte ihr mein Leben anbieten), aber sie reist anscheinend ohne Gepäck.
Il biglietto di corsa semplice è valido per il giorno cui è stato rilasciato. La mancata effettuazione del viaggio per causa di forza maggiore o per fatto proprio del passagero non dà diritto ad alcun rimborso, né alla proroga di validità.
Manche Reisen macht man gemeinsam. Zu meiner Überraschung steigt auch die kleine, schöne Frau mit dem Jungen in den Bus nach Lugano, diesmal sitzt sie ein paar Reihen hinter mir. Der Bus biegt über Zubringer auf eine Autobahn, fährt zunächst über flaches Land (Lagerhallen in Schnellbauweise, Parmalat- und Danonefabriken, Palmen), einmal durch ein Wohnviertel (die Rückseiten fünfstöckiger Häuser, Wäsche zwischen den Fenstern, viel Rosa). Ich lese weiter im Svensson-Dossier: Dirk Svensson, 1973 im Ruhrgebiet geboren und aufgewachsen, das Bild im Verlagskatalog zeigt ihn lächelnd vor einer steinernen Hauswand, er trägt ein Hemd mit aufgekrempelten Ärmeln und Anzughosen. Er kniet neben einem schwarzen Hund (man kann nicht erkennen, ob er nur drei Beine hat: Svensson verstellt den Blick). Sein Lebenslauf klingt wie meiner (sein Hemd aufgerollt wie meins). An der Grenze zur Schweiz bei Chiasso stellt sich der Junge auf den Sitz und holt die Pässe aus seinem Rucksack, jetzt schläft seine Mutter (ich habe vor Jahren ein paar Brocken Finnisch gelernt). Ich halte Svenssons Buch hoch und zwinkere ihm zu, der Junge hebt seine Hand (der Busbahnhof dann am Berg über der Stadt, das Wasser glänzt in der Sonne wie Metall, die Boote darauf wie Kratzer). Als wir aussteigen, und der Junge mir zum Abschied wirklich winkt, könnte ich hingehen und mit den beiden sprechen, ich könnte der kleinen schönen Mutter eine Zigarette anbieten, aber sie zieht den Jungen über den Platz Richtung Stadt und verschwindet in einem grauen Betoneingang (Funicolare, Tauben). Ich nehme ein Taxi zur Piazza Manzoni und setze mich in ein Café (drei Mineralwasser, die Möglichkeit eines anderen Lebens).
Ich warte auf Svensson. Ich werde zwei Stunden haben, um meine Fragen zu stellen. Eigentlich müsste ich das Dossier noch einmal durchblättern, aber vor Müdigkeit verschwimmen die Buchstaben (Kopfschmerzen). Ich warte mit Blick auf den Brunnen. Lugano ist eine Stadt, die ihre Schönheit kennt: durch eine Lücke zwischen den Häusern schimmert der See, manchmal ein blendend weißes Segel, Kastanien, Gingkos und Palmen im frühen Nachmittagslicht. Ich könnte aufstehen und die Mappen liegen lassen, ich könnte im Hotel auf die Rückreise warten (ich könnte mich weigern). Die Sonne steht steil auf den Pflastersteinen, Kinder und Tauben unter den Tischen, die Spatzen auf den Brotkörben der Cafés werden nachlässig verscheucht (zutrauliche Spatzen sind Komplimente). Das Hellgrün der zum Wasser hängenden Zweige, ein Junge füttert Schwäne (8) mit Burgerbrötchen aus einer McDonald’s-Tüte, Paare lassen sich vor dem Brunnen fotografieren (ihre Gesichter für die Dauer des Bildes glücklich). Ich bin auch hier viel zu früh. Ich denke an Elisabeth und die Taubheit, die mein Gehen hinterlässt. Dann trotz allem: dass ich für ein Interview nicht angemessen gekleidet bin (Flip-Flops und Rotweinflecken). Im Kaufhaus Manor kaufe ich ein sauberes Oberhemd, ich kaufe noch eine Schachtel Zigaretten (Muratti 2000), ich kaufe Postkarten (Motiv 1: Monte Bré am Abend, Motiv 2: Motiv 3: Dorfszene