Susanne Lütje
Rummel auf dem Biohof
Mit Bildern von Marina Rachner
Fischer e-books
((Foto der Autorin))
Susanne Lütje ist in einem kleinen Dorf aufgewachsen – leider nicht auf einem Bauernhof. Für das Studium hat sie sich bis nach Hamburg gewagt, aber inzwischen lebt sie mit ihrer Familie, einem Hund und zwei Katzen wieder auf dem Land – leider nicht auf einem Bauernhof. Dabei ist eins sicher: Wenn sie nicht am allerliebsten Bücher schreiben würde, dann wäre sie am liebsten Biobauer!
In der Reihe ›Radieschen & Co.‹ sind von ihr im Programm der Fischer Schatzinsel ebenfalls die beiden Bände ›Wirbel auf dem Wochenmarkt‹ und ›Das Geheimnis der alten Mühle‹ erschienen.
((Foto der Illustratorin))
Machina Rachner, geboren 1971, studierte Graphik-Design in Hamburg mit dem Schwerpunkt Kinderbuchillustration. Seit 1999 ist sie als freiberufliche Illustratorin für mehrere Verlage tätig.
Covergestaltung: bilekjaeger, Stuttgart
Coverabbildung: Marina Rachner
Fischer Schatzinsel
ist das Kinder- und Jugendbuchprogramm
der S. Fischer Verlage
www.fischerschatzinsel.de
Nach den Regeln der neuen Rechtschreibung
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2011
Die Originalausgabe erschien 2009
im Hardcover-Programm der Fischer Schatzinsel
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2009
Druck und Bindung:
Printed in Germany
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
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ISBN 978-3-10-401649-8
Für meinen Bruder,
den Tunnelkönig
Es war der letzte Abend der Sommerferien. Morgen war Schluss mit lustig, wie Papa sagte.
Hannah kletterte auf das Holzgatter der großen Weide und ließ die Beine baumeln. Sommerbeine, die dunkel waren von Sonne und Dreck. Den Dreck würde sie nachher in der Badewanne wegschrubben müssen. Mama duldete Dreck nur in den Ferien. Schule hieß: Dreck weg.
Wehmütig kratzte Hannah den Schorf von einem alten Mückenstich. Warum konnten nicht immer Ferien sein? Tage ohne Schule. Tage mit nur einer schwierigen Frage: Was wollte sie heute am liebsten tun? Mit Max und Pauli auf dem Heuboden spielen? Mit Papa Trecker fahren? Mit Mama den Hühnerstall streichen? Oder mit Lisa zum Badesee reiten und hinterher über die Stoppelfelder galoppieren, bis sie wieder trocken waren? Warum konnte es nicht immer so bleiben? Zumindest noch ein paar Monate lang.
Hinter ihr schnaubte es.
Hannah warf einen Blick über die Schulter und lächelte. »Hallo, Radieschen.« Sie streckte eine Hand nach hinten und strich über das warme Fell. »Wartest du auch?«
Die Kuh rieb ihren braunen Kopf an Hannahs Schulter. Anemone und Rosmarie drängelten von rechts und links an das Gatter heran. Resi muhte, und Gretchen stimmte heiser mit ein.
»Genau«, erwiderte Hannah. »Ich finde auch, heute lässt er sich Zeit.«
Kühe waren die pünktlichsten Tiere, die Hannah kannte. Sie mussten einen Wecker in sich haben, der jeden Morgen und jeden Abend klingelte. Von diesem Moment an warteten sie darauf, gemolken zu werden. Und da Papa das wusste, kam er sicher gleich vom Feld zurück. Er ließ die Kühe nie lange warten.
Hannah lehnte ihren Kopf gegen Radieschen. Das war tröstlich. Und wenn sie Trost nötig hatte, dann heute. Ab morgen würde sie auf die nächsten Ferien warten. Am meisten auf die Sommerferien. Ein Jahr lang warten. Dabei hasste sie Warten. Nichts war so öde und blöde und langweilig und fad und –
Da hinten kam der Trecker. Endlich.
Mit einem Satz war Hannah vom Gatter gesprungen und lief am Zaun entlang. Als sie nahe genug war, machte sie ihrem Vater ein Zeichen.
Er brachte den Trecker zum Stehen und schob sich die klobigen Ohrenschützer in den Nacken.
Hannah kletterte ins Fahrerhaus. »Ich soll dir sagen, dass ein Mann angerufen hat!«, brüllte sie über das Dröhnen des Motors hinweg.
»Was für ein Mann?«, brüllte Papa zurück und fuhr mit einem Ruck wieder los.
»Ein Wilhelm Wilhelmsen oder so ähnlich!«, brüllte Hannah.
»O gut!«, brüllte Papa. »Hat er gesagt, ob er kommt?«
»Mama sagt, in drei Wochen!«
»Das ist ja super!«, brüllte Papa. Er hielt neben dem Gatter der großen Weide, stellte den Motor ab und sah Hannah mit einem breiten Grinsen an. »Kannst du das Gatter öffnen?«
Radieschen muhte ungeduldig, doch Hannah schüttelte den Kopf. Die Kühe mussten warten. Erst wollte sie wissen, was hinter diesem rätselhaften Anruf steckte. So wie ihr Vater grinste, musste es eine ziemlich tolle Überraschung sein. »Jetzt sag schon, Papa! Was ist so super daran, dass dieser Wilhelm Wilhelmsen vorbeikommt?«
»Er will einen Jahrmarkt veranstalten«, erwiderte ihr Vater und strahlte übers ganze Gesicht. »Einen Jahrmarkt auf unserer großen Weide!«
»Einen richtigen Jahrmarkt?« Hannah war nicht sicher, ob sie etwas so Unglaubliches glauben sollte. »Hier bei uns?«
»Ja, ich find’s auch komisch. Ausgerechnet in diesem kleinen Nest hier. Aber er muss es ja wissen. Und ich bin froh, dass ich die Weide verpachten kann. Außerdem dachte ich mir, dass es für dich ’ne schöne Sache wär. Jeden Tag Karussell –«
»Und gebrannte Mandeln!«, rief Hannah begeistert. »Dann brauch ich aber dringend eine Taschengelderhöhung.«
»Nur keine Sorge«, meinte Papa. »Der Hof macht Arbeit genug. Da hast du im Handumdrehen ein Vermögen verdient.«
Hannah verdrehte die Augen und schielte so mitleiderregend, wie sie nur konnte.
»Armes Kind«, sagte er lachend. »Zum Trost schieß ich dir eine echte Plastikrose. Aber erst in drei Wochen. Jetzt muss ich melken.«
Hannah sprang ab, und ihr Vater fuhr hupend den Hügel zum Hof hinauf.
Sobald das Gatter offen war, trotteten die Kühe los. Den kurzen Weg zum Stall würden sie sogar mit verbundenen Augen finden. Dabei brauchten sie keine Begleitung.
Hannah schaute über die leere Weide. In drei Wochen würde daraus ein richtiger Rummelplatz werden! Ein Gewimmel von Leuten, die sich zwischen Buden und Karussells hindurchschlängelten.
Hannah begann zu laufen. Was gab es noch auf einem Jahrmarkt? Eine Geisterbahn natürlich und ein Riesenrad. Vielleicht sogar eine Achterbahn. Eis, Zuckerwatte und Lebkuchenherzen, so viel sie wollte. Gut, dass morgen Schule war. Da konnte sie allen erzählen, dass es bald einen Jahrmarkt geben würde. Einen Jahrmarkt auf ihrer Kuhweide!
Sie drehte sich so schnell-schnell-schnell wie ein Karussell-sell-SCHLLPP. Es schlürfte, als der weiche Brei zwischen ihren Zehen hindurchflutschte.
»Ach du schöne Scheiße.« Hannah starrte auf ihren Fuß, der bis zum Knöchel in einem frischen Kuhfladen steckte. Dann wischte sie die dunkle Pampe, so gut es ging, im Gras ab und lief zum Hof hinauf. Zeit für die Badewanne.
Dreimal wurde geklopft, dann ging die Tür auf und eine fröhliche Jungenstimme rief: »Herein, herein! Kommen Sie näher, treten Sie ein!«
Die ganze Klasse starrte zur Tür. Der Junge, der grinsend hereinkam, hatte blonde Strubbelhaare und trug seinen Rucksack vorne statt hinten. Zielstrebig steuerte er auf das vordere Pult zu, zog dabei ein großes Heft aus dem Rucksack und hielt es der Lehrerin hin. »Guten Tag, grüß Gott, hallo, freut mich sehr! Sind Sie Frau Hesse? Dann ist das für Sie.«
»Oh«, sagte Frau Hesse verwirrt, »danke.« Sie blickte auf das Heft und lächelte. »Ach so, du bist Wilhelm.«
Wilhelm?, dachte Hannah verwundert. Was für ein komischer Name.
»Wilhelm?«, rief ihre Freundin Lisa entsetzt. »Was ist denn das für ’n Name?«
Der Junge drehte sich zur Klasse und machte eine Verbeugung. »Wilhelm Wilhelmsen der Dritte, um ganz genau zu sein. Aber ihr könnt mich Will nennen.«
Hannah sah ihn erstaunt an. Natürlich hatte sie gewusst, dass heute die Leute vom Jahrmarkt endlich anreisen würden. Doch dass zum Jahrmarkt auch Kinder gehörten, darüber hatte sie nie nachgedacht.
»Wieso heißt du Wilhelm der Dritte?«, fragte Max. »So heißen doch eigentlich nur Könige.«
Will grinste. »Ja, stimmt genau. Wir sind die Könige des Kettenkarussells, und unsere Geschichte reicht weit zurück. An seinem siebzehnten Geburtstag hat mein Großvater das erste Mal ein Kettenkarussell gesehen. Und nach seiner ersten Runde wusste er, was er wollte: ein eigenes Kettenkarussell. Sieben Jahre lang hat er auf allen Jahrmärkten der Welt gearbeitet, um das Geld zusammenzubekommen. Und an dem Tag, als der Kaufvertrag endlich unterschrieben war, hat mein Großvater ein riesiges Schild malen lassen: Wilhelm Wilhelmsens Kettenkarussell. Und als er einen Sohn bekam, hat er ihn wieder Wilhelm genannt. Denn sonst hätte er ja das Schild neu malen lassen müssen. Und mein Vater hat es genauso gemacht.«
Während Will erzählte, wanderte sein Blick langsam über die Kinder, die vor ihm saßen. Als würde er ein bestimmtes Gesicht suchen, dachte Hannah. Aber das war natürlich Quatsch. Wer sollte das sein? Er kannte ja keinen von ihnen.
Mit dem großen Rucksack im Arm sah Will sehr klein aus. Klein und schmal. Ein halbes Hemd, würde Papa sagen. Für ein halbes Hemd hatte er allerdings eine laute Stimme.
»Wir Wilhelmsens sind fahrendes Volk
und ziehen von da nach dort,
von Markt zu Markt, von Ort zu Ort.
Und unser Kettenkarussell
dreht sich mal langsam und mal schnell.«
Es klang, als würde er ein Gedicht aufsagen. Auswendig gelernt, aber trotzdem schön.
»Heute wird aufgebaut, und morgen geht’s dann richtig los! Bringt alle mit. Onkel und Tanten, Freunde und Verwandten. Für jeden, den ihr mitbringt, fahrt ihr eine Runde Kettenkarussell gratis!«
»Können wir auch Autoskooter gratis fahren?«, fragte Finn.
»Und Achterbahn?«, fragte Jonas.
»Und Riesenrad?«, fragte Lisa.
»Und ich bin schon Flugkarussell gefahren«, rief Max und sprang so begeistert auf, dass sein Stuhl umkippte. »Da konnte man das Meer sehen!«
Das Chaos war nicht mehr aufzuhalten. Flugkarussell, genau! Noch besser war der fliegende Hai! Gar nicht! Die Wildwasserbahn! Der Looping! Der rasende Roland!
»RUHE!!!« Frau Hesse ließ das Klassenbuch aufs Pult knallen.
Lautlos wirbelte Kreidestaub durch die Luft, und Will musste niesen. Er nieste und nieste und nieste. Dann fuhr er sich mit dem Ärmel grinsend über die Nase und sagte: »Wir sind ein Jahrmarkt so wie früher. Mit Kettenkarussell und Schiffschaukeln, Dosenwerfen und Entenangeln. Mit den leckersten Mandeln, den größten Luftballons und der schönsten Drehorgelmusik. Und mit Madame Stachnitzky – der besten Wahrsagerin der Welt!«
Lisa stieß Hannah an und flüsterte: »Eine Wahrsagerin! Da müssen wir hin.«
»Hannah hat uns schon vor Wochen von eurem Jahrmarkt erzählt«, sagte Frau Hesse. »Wie schön, dass es jetzt endlich so weit ist.«
Hannah spürte, wie alle sie ansahen. Angestrengt betrachtete sie den Tintenfleck auf ihrem Zeigefinger. Ein kleiner blauer Käfer, der zitterte, wenn sie den Finger knickte.
»Ihr beide seid ja Nachbarn für die nächste Zeit«, fuhr Frau Hesse fort. »Wäre es da nicht schön, wenn ihr auch in der Schule zusammensitzt?«
Nein!, dachte Hannah.
»Klar«, sagte Will und sah plötzlich sehr zufrieden aus. »Das wäre großartig.«
Für Lisa war die neue Sitzordnung am schlimmsten. Sie hatte ihren Platz neben Hannah räumen müssen und saß nun zwischen Finn und Jonas, den beiden größten Idioten der Klasse. Kein Wunder, dass sie schlechte Laune hatte.
»Der König des Kettenkarussells hält Hof«, knurrte sie in der Pause und riss den Deckel ihrer Brotdose auf. »Und wie sie ihn alle anhimmeln! Nur weil er ihnen Luftballons und Dosenwerfen verspricht. Wenn das alles ist, was dieser Jahrmarkt zu bieten hat, wird das ja superöde.«
Hannah sah zu der Gruppe, die sich um Will versammelt hatte. Er saß auf der Kletterstange, trommelte mit einer Hand auf seiner Hosentasche, fuchtelte mit der anderen in der Luft herum und erzählte. Die anderen standen im Halbkreis vor ihm und lachten.
Lisa brach einen Schokoriegel in der Mitte durch. Sie war mit Süßigkeiten immer bestens versorgt, weil ihren Eltern der Laden im Dorf gehörte. Und alle Süßigkeiten, die Lisa mitbrachte, teilte sie mit Hannah. Das war im Kindergarten schon so gewesen.
Die Gruppe um die Kletterstange johlte noch lauter. Max ließ sich vor Lachen in den Sand fallen.
Hannah knabberte stirnrunzelnd an ihrem halben Schokoriegel. Was konnte denn so furchtbar lustig sein? Vielleicht sollten sie doch mal rübergehen und zuhören.
Lisa brummte: »Mein Vater sagt immer, bei solchen Leuten muss man aufpassen.«
»Bei welchen Leuten?«, fragte Hannah.
»Bei Leuten, die nirgendwo hingehören«, sagte Lisa. »Leute, die wie Zigeuner leben. Mein Vater sagt, die kommen und gehen, wie es ihnen passt. Und wenn sie gehen, muss man gut auf seine Sachen aufpassen, sonst sind die auch weg.«
Hannah war froh, dass es in diesem Moment klingelte und sie nicht antworten musste. Sie dachte daran, was Papa über Lisas Vater sagte: Holger Holzkamp – das ist ein Fall für sich.
Nach der letzten Stunde ließ Hannah sich Zeit, ihren Ranzen zu packen. Sie steckte die Stifte in die Federmappe. Sie packte jeden Hefter einzeln ein und strich die abgeknickten Ecken glatt.
Doch sosehr sie auch trödelte, es nützte ihr nichts. Will rührte sich nicht von der Stelle. Er saß auf einem Tisch, hielt seinen Rucksack fest und pfiff vor sich hin.
Lisa wischte die Tafel sauber. Dann setzte sie den Ranzen auf und sah zu Will hinüber. »Wartest du auf etwas Bestimmtes?«
»Ich warte auf Hannah.«
Hannah merkte, dass sie rot wurde, und beugte sich über ihren Ranzen. In der hintersten Ecke entdeckte sie eine leere Tintenpatrone. Und ganz hinten steckte der Elternbrief, den sie vor den Ferien hätte abgeben sollen.
»Hast du Angst, dass du dich alleine verläufst?«, fragte Lisa.
»Nee«, sagte Will. »Erstens hab ich nie Angst, und zweitens kann ich mich gar nicht verlaufen. Ich habe einen parapsychologischen Orientierungssinn.«
»Na, wenn du so was Tolles hast, brauchst du uns ja nicht.« Lisa drehte sich zu Hannah um. »Können wir los?«
Bevor Hannah antworten konnte, sprang Will vom Tisch und rief: »Sofort und unverzüglich! Ich bin bereit.«
Hindernisse aller Art schienen eine magische Anziehungskraft auf den König des Kettenkarussells auszuüben. Er sprang über jede Mülltonne und balancierte auf allen Gartenmauern.
An der Straßenecke, wo Lisa abbiegen musste, blieben sie stehen.
»Wollen wir nachher ausreiten?«, fragte Lisa.
Hannah nickte. »Ich ruf dich an.«
Über ihnen ertönte ein seltsames Geräusch. Sie sahen beide nach oben.
Will hing an dem Mast einer Straßenlaterne und jodelte.
»Oha«, meinte Hannah. »Hoffentlich ist das nicht ansteckend.«
Sobald Lisa weg war, rutschte Will von der Laterne und ging neben Hannah her.
Sie warf ihm einen verwunderten Blick zu. In der Schule hatte er wie ein Wasserfall gequasselt und eben sogar gejodelt! Und jetzt? Kein Wort. Was für ein komischer Kauz.
Schließlich hielt sie es nicht mehr aus und fragte: »Stimmt das, was du vorhin erzählt hast? Dass du dich nicht verlaufen kannst, weil du dieses Dings hast?«
»Einen parapsychologischen Orientierungssinn«, sagte Will. »Ja, das stimmt.«
»Heißt das, du findest immer nach Hause, egal, wo du bist?«
»Nicht ganz«, sagte Will. »Ich kann den gleichen Weg zurückfinden, den ich gekommen bin.«
Hannah überlegte eine Weile. »Ich wüsste gar nicht, ob ich so was auch hab. Hier in der Gegend kenn ich mich überall aus, hier kann ich mich gar nicht verlaufen. Und wenn wir meine Oma besuchen, ist immer jemand dabei, der den Weg kennt.«
Sie gingen die Auffahrt entlang, die zum Hof führte. Als Benja mit großen Sprüngen auf sie zugerannt kam, blieb Will stehen.
»Keine Angst«, sagte Hannah. »Sie tut dir nichts, wenn ich –«
»Ich weiß«, sagte Will und ging in die Hocke. »Wir haben uns heute Morgen schon kennengelernt. Da bist du ja wieder!« Er hielt Benja die Hände hin, damit sie daran schnuppern konnte. »Was für eine Sorte Hund bist du denn?«
Hannah verdrehte die Augen. »Sie ist ein Berner Sennenhund, und das sind die klügsten Hunde der Welt. Aber sprechen können sie nicht.«
»Das macht nichts«, sagte Will. »Du bist ein toller Hund.«
Hannah ging weiter. Sie hatte Hunger. Sollte der Kerl sich mit ihrem Hund unterhalten, so viel er wollte. Hauptsache, sie war ihn endlich los.
Nach wenigen Schritten hatten die beiden anderen sie eingeholt. Benja lief dicht neben Will her und ließ sich streicheln.
Er warf Hannah einen strahlenden Blick zu und fragte: »Wer wohnt denn alles auf eurem Hof?«
Frag doch den Hund!, wollte Hannah schreien. Und dass er verrückt war, eine Nervensäge, ein Angeber, ein komischer Kauz! Einer, der auf Straßenlampen jodelte und dann plötzlich gar nichts mehr sagte. Ein halbes Hemd mit blonden Strubbelhaaren und einem Rucksack vor dem Bauch. Sie holte Luft und sah ihn an. Seine Augen waren grün, und er hatte ein schiefes Lächeln.
Gegen ein schiefes Lächeln anzukommen war schwerer, als Hannah gedacht hätte.
Sie drehte sich um und zeigte auf das alte Reetdachhaus. »Da wohnen der klügste Hund der Welt und meine Eltern und ich. Und manchmal auch Frieda und Friedolin, unsere Katzen. Aber die wohnen eigentlich überall. Und das –«, sie deutete auf das große Gebäude rechts vom Haus, »das ist der Stall für die Kühe und Pferde. Aber bis auf Gulliver und Lola sind alle auf der Weide.«
Will machte große Augen. »Ihr habt Kühe und Pferde?«
»Na ja«, sagte Hannah. »Eigentlich nur ein Pony. Die anderen Pferde wohnen hier zur Miete. Aber Kühe haben wir viele. Und ein paar Kälber und Färsen. Und natürlich Schröder, unseren Stier. Und hinten im Garten sind die Hühner.«
Will zeigte auf die riesige Scheune auf der linken Seite. »Und was ist da drin?«
»Maschinen, Werkstatt und Lagerräume.«
Will nickte begeistert. »Es ist toll hier. Und da –«, er lief bis zum Feldweg, der zwischen Haus und Stall den Hügel hinabführte, »– da wohnen wir!«
Hannah sah auf die große Weide hinunter. Dort parkten drei Autos, zwei Wohnwagen, ein Transporter, ein Wohnmobil, eine Zugmaschine, vier Hänger und etwas abseits ein bunter Zirkuswagen. Mehrere Leute waren mit Abladen beschäftigt. Es ging los.
Jetzt ging es wirklich los!
»Du musst unbedingt meine Fische kennenlernen«, sagte Will. »Sie heißen alle Flosse, weil man sie so schwer auseinanderhalten kann. Und sie hassen es, wenn wir weiterreisen. Dann muss ich das halbe Wasser rauslassen, damit bei der Fahrt nichts überschwappt. Komm, ich stell dir die Jungs vor.«
»Ähm«, sagte Hannah und sah zum Haus. »Ich muss jetzt essen. Meine Mutter wartet schon.«
Auch Will sah zum Haus und nickte schließlich. »Natürlich. Deine Mutter wartet. Ist ja klar.« Er setzte sich neben Benja auf den Boden und schüttelte ihr die Pfote. »Ich bin Wilhelm Wilhelmsen der Dritte. Und wie heißt du?«
Hannah nahm Frieda vom Tisch und setzte sich mit der Katze auf die Küchenbank. »Frau Hesse hat gesagt, dass er nächste Woche bei uns in die Klasse geht.«
»Mir tut der Junge leid«, meinte Mama und schüttete Spaghetti in ein Nudelsieb. »So ein rastloses Leben, das wäre nichts für mich. Und alle naslang in einer neuen Schule.«
»Er heißt auch Wilhelm Wilhelmsen, genau wie sein Vater und sein Großvater«, erzählte Hannah. »Das war einfacher, als den Namen auf ihrem Schild zu ändern.«