image
image
image

Inhalt

Ich widme dieses Buch unseren Kindern Sarah, Johannes
und David, die nach Kräften versucht haben, es zu verhindern,
und meiner Frau Nora, die es trotzdem ermöglicht hat.

I.
Aus aktuellem Anlass –
Anmerkungen zur Neuausgabe

Plötzlich ist das Thema NS-Raubkunst in aller Munde. Als im November 2013 durch eine Indiskretion bekannt wurde, dass bayerische Behörden Teile der Sammlung eines jener Kunsthändler beschlagnahmt hatten, der im Auftrag der Nationalsozialisten die sogenannte »Entartete Kunst« verkauft hatte, gab es plötzlich Hunderte von Experten. Monatelang ließen große Tageszeitungen Juristen und Philosophen, Historiker und Museumsdirektoren darüber diskutieren, was denn nun mit jenen rund 1400 Bildern zu geschehen habe, die nach einer Durchsuchung in einer Münchner Wohnung gefunden worden waren. Cornelius Gurlitt, der Sohn des Kunsthändlers und Erbe seiner Kunstsammlung, ein alter Mann von über 80 Jahren, wurde von den Medien regelrecht gejagt. Irgendwann gab es das erste Foto, heimlich beim Einkaufen aufgenommen. Irgendwann gelang es einer Journalistin, den Mann abzufangen, ihn drei Tage bis ins Zimmer seines Arztes und bis auf die Bettkante im Hotelzimmer zu begleiten und ihm Aussagen zu seinen Bildern abzuringen. Als Mensch aus einer anderen Zeit wurde Gurlitt in ihrer Reportage beschrieben. Ob dieser Mensch sich der Tatsache bewusst war, dass er gerade sein Innerstes einer Weltöffentlichkeit offenbarte, ging aus der Geschichte nicht klar hervor. Cornelius Gurlitt, der bis Weihnachten 2013 problemlos allein zurecht gekommen war, wurde danach aus gesundheitlichen Gründen vom Amtsgericht München unter Betreuung gestellt. Auch dieses Detail warf in der Öffentlichkeit Fragen auf.

So faszinierend war die Geschichte vom angeblich milliardenschweren Nazi-Schatz von München-Schwabing, dass die entscheidenden Fragen lange niemand stellte: Warum konzentrierte sich die allgemeine Erregung auf diesen einen Mann? Warum machte man ihn für Vorgänge verantwortlich, in die bestenfalls sein Vater verstrickt gewesen war? Warum fragte niemand nach der kollektiven gesellschaftlichen Verantwortung dafür, dass auch fast sieben Jahrzehnte nach Kriegsende noch Holocaust-Opfer nach ihrem Besitz suchen und um Rückgabe betteln müssen, dass der Nachfolgestaat der Hitler-Diktatur ihnen dabei aber nicht durch Gesetze und Vorschriften effektiv hilft?

Cornelius Gurlitt nämlich konnten die Strafverfolgungsbehörden auch fast zwei Jahre später noch nichts vorwerfen, das die jahrelange Konfiszierung seines Privatbesitzes rechtfertigen könnte. Geschäfte mit den Nationalsozialisten hatte sein Vater gemacht, nicht er. Die Gesetze und Erlasse, nach denen die sogenannte »Entartete Kunst« ab 1937 aus den Museen entfernt und an Kunsthändler weitergereicht wurde, hat nach dem Krieg niemand außer Kraft gesetzt. Bei Werken, die zwischen 1933 und 1945 nicht aus öffentlichem, sondern aus privatem Besitz – oft von jüdischen Sammlern – gestohlen oder enteignet worden waren, sind alle Anspruchsfristen auf Rückgabe seit Jahrzehnten abgelaufen. Und auch wenn einige Politiker mit dieser populistischen Forderung schnell in die Medien drängten – unter anderem, um Kritiker aus dem Ausland zu beruhigen: Die entsprechenden Gesetze lassen sich in einem Rechtsstaat auch nicht rückwirkend verändern, wie gefordert wurde. Die Bundesrepublik hat es nach 1945 versäumt, in diesem Bereich Gesetze zu erlassen, die die Opfer des Nationalsozialismus geschützt hätten. Stattdessen konnten die Täter ihre Beute zum größten Teil behalten und verkaufen. Wie es dazu vor, im und noch lange nach dem Krieg kommen konnte, wie bis heute mit der NS-Raubkunst gehandelt wird und warum die einstigen Besitzer keine juristischen Möglichkeiten haben, dagegen etwas zu unternehmen, beschreibt dieses Buch.

In Deutschland gibt es nach wie vor Tausende Besitzer von NS-Raubkunst. Cornelius Gurlitt ist keineswegs allein. In unzähligen Wohnzimmern hängen Bilder über den Sofas, die während der NS-Diktatur auf sogenannten »Judenauktionen« als deutlich gekennzeichneter »nichtarischer Besitz« ganz bewusst weit unter Wert verkauft worden waren. Cornelius Gurlitt hat einfach nur Pech gehabt, als er den Zollfahndern im Zug auffiel, weil er viel Bargeld bei sich hatte und zur Begründung etwas von Bilderverkäufen erzählte. Nicht einmal das war gelogen: Das Geld, das er bei sich hatte, stammte von einem Konto, das er nach einer Auktion in Bern angelegt hatte– allerdings gut zwanzig Jahre zuvor. Über seinen Namen war schnell der Familienhintergrund hergestellt – und ein Ermittlungsverfahren nahm seinen Lauf, das schließlich zu behördlichen Maßnahmen führte, die zahlreiche Juristen für absolut unverhältnismäßig halten.

Sich über ihn und sein jahrzehntelanges Schweigen gegenüber jenen Menschen, denen manche der Gurlitt-Bilder einst gehört hatten, moralisch zu empören, ist nicht schwer. Die bayerischen Ermittlungsbehörden allerdings schwiegen nach ihrer Entdeckung ebenfalls und informierten keinen der ehemaligen Besitzer, obwohl manche von ihnen schnell zu ermitteln waren.

Schon 1998 haben sich die deutschen Museen in öffentlicher Trägerschaft zwar dazu verpflichtet, in ihren Beständen nach Raubkunst zu suchen, sie zu veröffentlichen und gegebenenfalls auch nach einer »fairen und gerechten Lösung« zu suchen. Einige wenige Häuser wie die Hamburger Kunsthalle oder die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden setzten diese Erklärung schnell um. Mehr Museen folgten aber erst, als Bund und Länder für die entsprechenden Recherchen auf Antrag auch Geld zur Verfügung stellten. Dort geschieht zum Teil hervorragende Arbeit, die nur an wenigen Orten Gefahr läuft, über den wissenschaftlichen Ehrgeiz den eigentlichen Grund für diese Arbeit aus dem Blick zu verlieren: die berechtigten Interessen der Opfer, hinter denen jede institutionelle Besitzstandswahrung zurückzustehen hat. Nach wie vor sind es aber viel zu wenige Häuser, die die Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit als existenzielle Aufgabe begreifen.

Nur wenige der schon damals beschriebenen Probleme sind seit dem ersten Erscheinen dieses Buches vor fünf Jahren systematisch bearbeitet oder gar gelöst worden. Der Fall Gurlitt hat diese kultur- und rechtsstaatliche Blamage nun wieder zurück ins gesellschaftliche Bewusstsein gerückt und bietet dadurch die Chance, das Thema NS-Raubkunst endlich neu und effektiver als bisher anzugehen. Er hat bewiesen, was dieses Buch schon 2009 belegt hat: Die bisherigen Anstrengungen reichen bei allem vorhandenen guten Willen für diese Aufgabe, die eine Aufgabe der gesamten Gesellschaft dieses Landes ist, nach wie vor bei Weitem nicht aus. Es muss sich mehr tun in Deutschland. Vorschläge dazu, welche Maßnahmen und Initiativen das sein könnten, finden sich am Ende dieses Buches.

Vielleicht werden wir Cornelius Gurlitt eines Tages dankbar sein.

Köln, im Januar 2014

Stefan Koldehoff

II.
Die Geschäfte des Herrn Speer –
ein Vorwort

Das alte BP-Parkhaus am Neumarkt gehört nicht zu den schönsten Orten in der Kölner Innenstadt. Irgendwann in den Fünfzigerjahren gebaut, ist es eng und dunkel und laut. Breite Rampen schieben sich in der Mitte in die Höhe. Um sie herum sind rechteckig die viel zu kleinen Parkdecks angeordnet. Die Türen klemmen, die Farbe blättert ab, in den Ecken riecht es nach Benzin und Urin. Lackspuren zeigen überall, wer wo die Kurve nicht bekommen hat. Niemand würde vermuten, dass hier seriöse Geldgeschäfte abgewickelt werden – schon gar nicht, wenn es um edle, teure Kunstwerke geht. Den Mann, der hier seit Ende der Siebzigerjahre regelmäßig seinen nicht mehr ganz neuen NSU Ro 80 parkte, störte das nicht. Er kam nur, um nebenan Geld abzuholen – jeweils größere Summen, dezent verpackt und ohne Quittung. Der Verkauf von Gemälden hatte ihm das Geld eingebracht, das jeweils in Gegenwart mehrerer Zeugen übergeben wurde. Belege wollte der Herr mit dem schütteren weißen Haar und den buschigen dunklen Augenbrauen nämlich nicht unterschreiben.

Der 75-Jährige, der in Köln regelmäßig seine Geldkuverts entgegennahm, wusste, wie man es schafft, keine Spuren zu hinterlassen und systematisch die Wahrheit über sich selbst zu verdrehen oder zu verbergen. Dreieinhalb Jahrzehnte zuvor hatte ihm diese Fähigkeit das Leben gerettet. Damals, bei den Nürnberger Prozessen, spielte Albert Speer dem internationalen Tribunal einen reumütigen Sünder vor, der von den Kriegsverbrechen der Nationalsozialisten nichts gewusst habe. Die Alliierten glaubten Hitlers ehemaligem Rüstungsminister und verurteilten ihn nicht zum Tod, sondern nur zu einer Haftstrafe von 20 Jahren. Verschiedene Historiker haben inzwischen belegt, dass Speer in Nürnberg log und sehr wohl vom systematischen Mord an den europäischen Juden wusste. Nachzulesen ist die Wahrheit auch in einem Konvolut von 100 Briefen, die der frühere NS-Minister zwischen Mai 1971 und August 1981 an die ehemalige französische Widerstandskämpferin Hélène Jeanty Raven geschrieben hatte und die im März 2007 im Londoner Auktionshaus Bonhams versteigert wurden.1 Einen Tag vor Weihnachten 1971 schien Speer demnach sein Gewissen erleichtern zu wollen. Er schrieb an »Chère Ninette«: »Das wird ein sehr schwieriger Brief, einer der schwerwiegendsten meines ganzen Lebens.« Anschließend gestand er seiner Briefpartnerin, deren ersten Ehemann die Nationalsozialisten erschossen hatten, dass er Heinrich Himmlers berüchtigter »Posener Rede« vom 6. Oktober 1943 doch bis zum Ende beigewohnt hatte. In dieser Geheimrede kündigte der »Reichsführer-SS« bei einer Tagung im Rathaus der von den Deutschen besetzten polnischen Stadt vor Reichs- und Gauleitern unmissverständlich die Ausrottung des jüdischen Volkes samt seiner Kinder an.2

Von Speer hieß es jahrzehntelang, er habe an jenem Tag zwar selbst um 9 Uhr einen Vortrag über die aktuelle Rüstungsproduktion gehalten, sei dann aber bereits vor der Himmler-Rede abgereist. Der »Generalinspektor für das deutsche Straßenwesen, Festungsbau, Wasser und Energie« war für die Materialvergabe beim Bau der Konzentrations- und Vernichtungslager verantwortlich, und als Rüstungsminister setzte er Millionen von Zwangsarbeitern ein – darunter Kinder und Jugendliche, von denen Tausende ums Leben kamen. Doch seine Beteiligung am nationalsozialistischen Massenmorden war nicht das einzige historische Detail, das Albert Speer der Weltöffentlichkeit vorenthielt. Der hohe NS-Funktionär häufte neben einem großen Vermögen eine stattliche Kunstsammlung an. Erst Jahre nach Krieg und Haft erfuhr der verurteilte Hauptkriegsverbrecher dann vom Schicksal »seiner« Kunstwerke. Ende der Siebzigerjahre wollte ein ehemaliger Freund, der inzwischen in Mexiko lebte, Teile der ehemaligen Sammlung Speer im Kölner Auktionshaus Lempertz versteigern lassen. Ein Kustos am Düsseldorfer Kunstmuseum, der um eine Expertise gebeten worden war, erkannte dabei ein Gemälde von Arnold Böcklin wieder. Speer wurde darüber von Henrik Hanstein informiert, dem damaligen Juniorchef und heutigen Inhaber von Lempertz. Der ehemalige NS-Minister einigte sich mit den Bewahrern der Bilder und entschied, seinen Anteil ebenfalls in Köln zu versilbern.

Immer wieder parkte Speer seitdem das Auto im Parkhaus am Kölner Neumarkt, stieg die Treppen zur Straße hinab, bog um die Ecke und betrat den Eingang des Kunsthauses Lempertz. Rund 20 bis 30 Bilder seien es schließlich gewesen, die der Nazi bei seinem Unternehmen einlieferte, erinnert sich Hanstein. Das Geld habe Speer in bar erhalten, offenbar an Steuer und Familie vorbei, um davon seine heimliche Geliebte zu finanzieren: »Nein, er hat nie eine Unterschrift geleistet«, so Hanstein. »Wir haben jedes Mal vier oder fünf Zeugen geholt, die bestätigt haben, dass er das Geld bekommen hat. Regelmäßig war in jeder Auktion bis zu seinem Tod etwas von ihm dabei.«3 Knapp eine Million D-Mark flossen auf diese Weise in Speers schwarze Kasse.

Moralische Bedenken scheint der Kölner Kunsthändler bei den dubiosen Deals mit dem NS-Kriegsverbrecher nicht gehabt zu haben. Er erzählte dem Journalisten Heinrich Breloer für dessen Dokumentarband Die Akte Speer bereitwillig alle Details in einem Interview, dessen Brisanz die Öffentlichkeit kaum wahrgenommen hat. Sein Unternehmen habe bei Speer »kein einziges Bild gefunden, das irgendwie mit jüdischer Provenienz in Zusammenhang steht. Es ist auch nie eine Reklamation gekommen.«4 Der Londoner Kunsthändler Jonathan Green sah die Dinge allerdings anders. Er ersteigerte im April 2006 im Kölner Auktionshaus Van Ham für 430000 Euro telefonisch das Gemälde Landschaft mit Motiven des Englischen Gartens von Caserta aus dem Jahr 1795 von Jakob Philipp Hackert. Wie Green nach der Auktion erfuhr, stammte es aus ehemaligem Speer-Besitz. Auch Van Ham hatte die durchaus bekannte Provenienz des Bildes nicht erwähnt. Der Brite verlangte die Rücknahme, weil die Herkunft verschwiegen worden und keinesfalls geklärt sei.

Die Parkhausszene, die Henrik Hanstein so offen beschreibt und sogar in einem Buch drucken ließ, ist symptomatisch für jenes zwielichtige Halbdunkel, in dem in der Nachkriegs-Bundesrepublik mit NS-Raubkunst gehandelt wurde – und wird. Auf der einen Seite steht dabei der Kunsthandel, der nach 1945 am sogenannten Wirtschaftswunder partizipierte, auf der anderen Seite finden sich die heute nahezu vergessenen Namen jener jüdischen Sammler, die ihrer Kunstwerke in der NS-Zeit beraubt wurden. Wer kennt zum Beispiel noch Leo Bendel, Marie Busch, Max Silberberg oder Walter Westfeld? Wem sagen die Namen von Alexander Lewin, Emma Budge, Bernhard Altmann oder Elise und Leo Smoschewer etwas? Wer wüsste noch, dass sie einmal großartige Kunstsammlungen besessen haben – genau wie Vally Honig-Roeren, Max Emden, Alice und Hans Rubinstein, Berthold Nothmann, Paul Schüler und Max Stern? Tausende von jüdischen Kunstsammlungen waren es, die die Nationalsozialisten nach 1933 zerschlugen, indem sie die wertvollen Bilder, Skulpturen, Möbel, Schmuckstücke und Teppiche beschlagnahmten oder deren Eigentümer nach ständig verschärften Gesetzen und Vorschriften enteigneten. Die wirtschaftliche Vernichtung der jüdischen Bevölkerung bereitete die physische Vernichtung vor: den Völkermord an den vorher entrechteten und ausgeplünderten Juden. Deutsche Galeristen und Auktionatoren waren daran maßgeblich beteiligt. Sie versorgten freiwillig und willfährig die NS-Elite mit Kunstgegenständen für deren Amtsräume und Privatresidenzen. Gegen gute Entlohnung statteten sie die öffentlichen Museen des angeblich »Tausendjährigen Reichs« mit dekorativen Gemälden aus und betrieben vor allem nach Kriegsbeginn einen schwunghaften Handel mit privaten Sammlern. Wie ausnahmslos jeder Wirtschaftszweig in Deutschland war auch der Kunsthandel zwischen 1933 und 1945 untrennbar in das nationalsozialistische Gewaltregime verstrickt. Woher die Werke stammten, die die Amtsräume und Privathäuser von Hitler und Goebbels, Speer und Ribbentrop schmückten oder für den Verkauf gegen Devisen vorgesehen waren, spielte keine Rolle. Die meisten Vorbesitzer hatten die Nationalsozialisten ohnehin ins Exil getrieben oder in Auschwitz und Theresienstadt, Majdanek und Treblinka ermordet. Sie konnten nicht mehr nachfragen.

Die wenigen Überlebenden des Holocaust und ihre Nachkommen erhielten nach dem Krieg nur einen Bruchteil ihres ursprünglichen Besitzes zurück. Verschollen oder vernichtet waren die Kunstwerke aber nicht. Im Gegenteil: Die meisten der Bilder, Skulpturen und Möbel, die vor 1945 ihren legitimen Eigentümern unter Druck und Gewalt entzogen wurden, durften häufig jene Parteigenossen behalten, die sie in den Jahren zuvor den jüdischen Sammlern gestohlen hatten. Keine staatliche Stelle kontrollierte ernsthaft, ob sie nach 1945 an die jüdischen NS-Opfer oder ihre Familien restituiert wurden. Bis heute wird mit Tausenden dieser Kulturgüter viel Geld verdient. Sie werden auf Auktionen angeboten und in Galerien verkauft – manchmal sogar mit Hinweis auf ihre jüdischen Vorbesitzer, manchmal mit Provenienzen, die erstaunlicherweise erst nach 1945 beginnen. Werkverzeichnisse nennen keine Vorkriegsbesitzer, Auktionskataloge machen häufig überhaupt keine Angaben. Große Fragen wirft das noch immer durchaus übliche Vorgehen bislang allerdings nicht auf. Viele deutsche Kunsthändler lehnen stattdessen die seit einigen Jahren öffentlich geführte Debatte über die Restitution von in der NS-Zeit entzogenen Kunstwerken ab. Sie rufen laut und vernehmlich nach einem Schlussstrich unter ebenjenes Thema, dessen Verursacher der eigene Berufsstand ist – durch seine schuldhafte Verstrickung ins NS-System, ein bis heute in weiten Kreisen der Branche fehlendes Unrechtsbewusstsein und die mangelnde Bereitschaft zur Aufarbeitung der Vergangenheit.

So profitieren Galerien und Auktionshäuser nach wie vor vom größten Kunstraub der Geschichte. Anstrengungen, dessen Hintergründe als Teil der deutschen Geschichte systematisch zu dokumentieren, hat es bisher nicht gegeben. Dabei wäre genau das 65 Jahre nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland und 25 Jahre nach dem Fall der Mauer dringend nötig, meint der ehemalige Direktor des Jüdischen Museums in Frankfurt am Main, Georg Heuberger: »Als die Zeitzeugen noch gelebt haben, als die Dokumente noch präsent waren, ist es versäumt worden. Dadurch hat sich ein Schuld- und Schuldenberg aufgebaut, der jetzt abgetragen werden muss. Und dieser Verantwortung und dieser entscheidenden Debatte will man sich nicht stellen. Alle gesellschaftlichen Gruppen der Bundesrepublik, von den Steuerberatern, den Zahnärzten über Anwälte und Ärzte sowieso, haben heute ihre Verstrickung in der NS-Zeit aufgearbeitet. Wo bleiben hier die großen Kulturinstitutionen?«5

Überall blühte zwischen 1933 und 1945 das Geschäft mit der geraubten Kunst, und in ganz Deutschland gab es unzählige Beteiligte, die davon profitierten – weit über das Kriegsende hinaus. Allein die gedruckte »Handreichung«, mit der die Bundesregierung seit Februar 2001 überwiegend vergeblich die deutschen Museen zu eigenen Provenienzforschungen auffordert und die inzwischen im Internet fortgeschrieben wird, enthält eine Liste mit fast 200 Namen von Beamten, Gutachtern, Kuratoren, Kunsthistorikern, Diplomaten, Kunsthändlern, Auktionshäusern und Speditionen, die in den Handel mit geraubter Kunst verwickelt waren – darunter so klingende Namen wie der der Münchner Galeristin Maria Almas Dietrich, die im besetzten Paris rund 320 Gemälde erwarb und auch nach dem Krieg noch über ein gut gefülltes Bilderlager verfügte. Tatsächlich dürfte die Zahl der beteiligten Museumsmitarbeiter und Kunsthändler in die Tausende gehen.6

Die Bilder, Grafiken und Plastiken, die Möbel, Teppiche und Zeichnungen, die damals unter NS-Druck ihre Besitzer wechselten, lagern zum Teil auch 70 Jahre nach Kriegsende noch in bundesdeutschen Museen. Die haben schon immer – und erst recht nach der »Washingtoner Erklärung« von 1998 – moralisch kein Recht, sie zu besitzen. Vor allem aber sind diese Kulturgüter zu einem großen Teil über den Handel in Umlauf geblieben. Woher die Werke kamen, die den Händlern über Vermittlungsgebühren und Provisionen reichlich Geld in die Kassen spülen, interessiert damals wie heute kaum jemanden.

Ein Grund dafür sind jene Kontinuitäten, die hier beschrieben werden. Wer vor dem Krieg mit Kunst gehandelt hatte, konnte das Geschäft nach dem Krieg problemlos weiter betreiben – mit Lagern voller Bilder, nach deren Herkunft niemand fragte, weil die Zeit des Nationalsozialismus kollektiv tabuisiert war und niemand darüber sprechen wollte. Das Buch berichtet daher von den großen Kunsthäusern, die vom Kunstraub der Nationalsozialisten profitierten. Es erzählt von jenen kleinen Händlern, die in der Verfolgung der deutschen Juden plötzlich die Möglichkeit sahen, am großen Geldverdienen teilzuhaben. Und es rekonstruiert, wie selbst angesehene Museumsmitarbeiter sich nicht scheuten, beim schmutzigen Spiel mit den Meisterwerken mitzumachen.

Die strukturellen Kontinuitäten in ihrer Gesamtheit zu beschreiben, ist nicht möglich, weil die Zahl der betroffenen Personen viel zu groß ist. Jede mittelgroße deutsche Stadt verfügte nach 1933 über mindestens einen Gutachter, der bereit war, im Auftrag der NS-Finanzbehörden jenes Eigentum zu schätzen und zu vermarkten, mit dem die Verfolgten des NS-Regimes ihre Flucht zu finanzieren versuchten oder das ihnen schlicht enteignet und gestohlen wurde: Kunstwerke und Möbel, Kleidung und Geschirr, Teppiche und Bestecke, schließlich sogar die Eier und die Butter, die sich noch im Schrank fanden, nachdem die Besitzer deportiert worden waren.7 Deshalb konzentriert sich das Buch ausschließlich auf Werke der bildenden Kunst, weil sie durch die aktuelle Restitutionsdebatte in Deutschland gegenwärtig besonders im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses stehen. Einen Anspruch auf Vollständigkeit kann und will es nicht erheben. Sie auch nur annähernd zu erreichen, wäre Aufgabe eines universitären Forschungsprojektes. Die in den nachfolgenden Kapiteln genannten Personen und Firmen stehen, wie der Fall Gurlitt, der das Thema im Herbst 2013 wieder ins allgemeine Bewusstsein rückte, stellvertretend für Tausende andere.

III.
Gerettet oder gestohlen? Der Fall Gurlitt

Die von langer Hand geplante Aktion begann mit dem Druck auf einen nicht mehr ganz weißen Klingelknopf in der fünften Etage in einem Apartmenthaus im Münchner Nobelstadtteil Schwabing. Unten sind die Klingelschilder alphabetisch geordnet. Eine helle Steintreppe mit edlem Holzgeländer führt um ein großzügiges Atrium herum zu den 84 Wohnungen. Die Nähe zum Englischen Garten und die großen Balkone machten das Gebäude zu einer gesuchten, der Zugang über Tiefgarage und Aufzüge auch zu einer diskreten Adresse. Mitglieder aus der Entourage des Filmregisseurs Rainer Werner Fassbinder lebten hier in den 1970er-Jahren. In einer der 84Wohnungen gab es einige Jahre lang sogar eine Schüler-WG: Die Eltern eines der Jungen hatten sie als Wertanlage für ihren Sohn gekauft. Zu den Bewohnern zählte damals ein Gymnasiast, der später ausgerechnet zu einem der bekanntesten Raubkunst-Forscher weltweit werden sollte: Willi A. Korte, der Mitte der 1980er-Jahre in einem Bankschließfach in Texas den von einem GI gestohlenen mittelalterlichen Domschatz von Quedlinburg finden und seine Rückführung nach Deutschland verhandeln sollte.

Am 28. Februar 2012, einem Dienstagmorgen, hatte niemand auf das Klingeln in der fünften Etage reagiert. Vielleicht funktionierte die Klingel nicht, vielleicht war sie abgestellt. Auch Klopfen und Rufen reagierte der Bewohner der 90-Quadratmeter-Wohnung in der linken Haushälfte nicht. Weil die Beamten vor der Tür – angeblich gut zwei Dutzend Männer und Frauen – aber einen Durchsuchungsbeschluss in der Tasche hatten, der ihnen das Recht gab, sich Zutritt zur Wohnung mit dem schlichten Namensschild »Gurlitt« zu verschaffen, brachen sie die Wohnungstür auf. Dahinter trafen sie auf den Eigentümer des Apartments: einen kleinen alten Mann mit schlohweißem Haar, der auf den Einbruch in seine Wohnung und die vielen fremden Menschen entsprechend verschüchtert reagierte.

Was an jenem vorletzten Februartag des Jahres 2012 begann, sollte fast zwei Jahre später die bayerischen Finanzbehörden, die Augsburger Staatsanwaltschaft und einige angesehene Kunsthistorikerinnen unsterblich blamieren. Die Öffnung der Tür in Schwabing führte zu einer Sondersitzung des Kunstausschusses des Landtags in München und zum Eingeständnis eines Ministers, im Umgang mit dem damals 79 Jahre alten Cornelius Gurlitt seien »erhebliche Fehler« gemacht worden – und zwar auch noch lange nach der Durchsuchung in der fünften Etage in Schwabing. Über deren rechtliche Grundlage diskutieren Juristen bis heute: Durfte die Privatsphäre eines bis dahin unbescholtenen Mannes, dem auch zwei Jahre nach dem Eindringen in seine Wohnung noch keine Anklageschrift zugestellt wurde, einfach in die Öffentlichkeit gezerrt werden? Durften die rund 1400 Kunstwerke, die die Fahnder in seinem Apartment fanden und die bis heute als sein Privatbesitz gelten, einfach auf einer von Bund und Ländern betriebenen Internetseite veröffentlicht werden – nur weil der Verdacht besteht, dass sie nach 1937 als »entartet« aus deutschen Museen entfernt oder früher schon privaten Sammlern gestohlen, abgepresst oder enteignet wurden? Und schließlich: Wenn es schon zum Zeitpunkt der Durchsuchung in Schwabing den Verdacht gab, dass Cornelius Gurlitt gestohlene Zeichnungen, Aquarelle und Gemälde besaß – warum wurden dann fast zwei Jahre lang weder die Öffentlichkeit noch konkret bekannte Vorbesitzer über den Bilderfund von Schwabing informiert? Das nämlich wäre durchaus möglich gewesen, weil einige der gefundenen Werke von Sammlern konkret und öffentlich gesucht wurden. Im 500 Kilometer entfernten Berlin führten diese Fragen innerhalb weniger Tage zu massiven internationalen diplomatischen Verwicklungen.

Eurocity 197

Begonnen hat das Desaster bereits knapp anderthalb Jahre früher. Im September 2010 fiel Zollbeamten im Eurocity 197 von Zürich nach München ein älterer Mann auf, der erst am selben Morgen in die Schweiz eingereist war. Weil auf dieser Strecke gern Schwarzgeld von Schweizer Nummernkonten nach Deutschland transportiert wird, fragten die Grenzer den Mann, ob er Bargeld einführt. Zunächst bestritt der 76-Jährige das. Eine Durchsuchung auf der Zugtoilette förderte dann aber 18 bankfrische 500-Euro-Noten zutage. Der Mann, dessen österreichischer Ausweis auf den Namen Rolf Nikolaus Cornelius Gurlitt, geboren in Hamburg, lautet, sprach von Geschäften, die er getätigt habe. Er nannte die Galerie Kornfeld in Bern, eines der traditionsreichsten Auktionshäuser mit angeschlossener Galerie in Bern. Weil die Einfuhr von Bargeld aus der Schweiz nach Deutschland erst ab 10000 Euro meldepflichtig ist, ließen die Zollfahnder den Mann weiterreisen. Seinen Namen und die Adresse in München-Schwabing aber gaben sie weiter – zusammen mit der Auskunft, dass Cornelius Gurlitt eigenen Angaben zufolge Kunstwerke verkauft. Kollegen sollten prüfen, ob dies eventuell gewerbsmäßig geschah und ob die dafür möglicherweise fälligen Steuern bezahlt wurden. Die Steuerfahndung nahm ihre Arbeit auf.

Zu den Vorgängen der folgenden Wochen und Monate äußern sich die beteiligten Behörden bis heute unter Hinweis auf laufende Ermittlungen nicht. Fest steht aber, dass ihnen schnell die Bedeutung des Namens Gurlitt klar geworden sein muss. Und dass dieser Name durchaus auf einen regelmäßigen Handel mit Kunstwerken hindeuten könnte. Cornelius Gurlitts Vater nämlich, der Kunsthistoriker Hildebrand Gurlitt, war bis zu seinem Tod nicht nur ein bedeutender Museumsleiter gewesen. Er hatte zwischen 1933 und 1945 auch ausschließlich vom Handel mit Gemälden, Papierarbeiten und Plastiken gelebt – erst auf eigene Rechnung, später dann als Beauftragter der nationalsozialistischen Reichsregierung unter Adolf Hitler. Damit war aus dem möglichen Steuerfall Gurlitt auch ein politischer Fall geworden.

Gegner und Geschäftspartner der Nazis

Paul Theodor Ludwig Hildebrand Gurlitt, 1895 in Dresden als Sohn des Architekturhistorikers Cornelius und Enkel des Landschaftsmalers Louis Gurlitt geboren, hatte in Dresden, Berlin und Frankfurt Kunstgeschichte studiert.1 Nach seiner Promotion und einer Tätigkeit als Kritiker – unter anderem für die Vossische Zeitung, die Deutsche Allgemeine Zeitung und die Frankfurter Zeitung – wurde er 1925 Direktor des König-Albert-Museums in Zwickau. Bis 1930 machte Gurlitt das 1914 eingeweihte Haus trotz ständiger Finanznot durch eine kluge Ankaufspolitik, enge Zusammenarbeit mit Privatsammlern wie Salman Schocken und progressive Ausstellungen zu einem der führenden Museen der Moderne im Deutschen Reich. Gurlitt förderte die Expressionisten und Paul Klee, war mit Ernst Barlach befreundet und hielt engen Kontakt zum Bauhaus im nahen Dessau. Wegen dieses Engagements für die Moderne und wegen seiner Ankaufspolitik, die angeblich deutsche Klassiker benachteiligte, forderten nationalistische Kreise in Zwickau, darunter der Kampfbund für deutsche Kultur, auch mit antisemitischen Parolen 1930 erfolgreich Gurlitts Absetzung als Museumsdirektor, offiziell als Folge von Geldnot, drei Jahre vor der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten. Ludwig Justi, Leiter der Berliner Museen, veröffentlichte daraufhin in der Zeitschrift Museum der Gegenwart einen Aufsatz mit dem Titel »Der Zwickauer Skandal«.2 Gurlitt hielt sich mit einem Lehrauftrag an der Kunstgewerbeakademie Dresden und einem Buch über Käthe Kollwitz über Wasser und zog mit seiner Familie schließlich nach Hamburg, wo der 36-Jährige ab 1931 den Kunstverein leitete. Am 28. Dezember 1932 wurde dort sein Sohn Cornelius geboren.

Die Machtübernahme der Nationalsozialisten beendete 1933 auch in Hamburg Hildebrand Gurlitts Tätigkeit als Kunstvermittler. Dass seine Großmutter Elisabeth aus der jüdischen Kaufmannsfamilie Marcus in Königsberg stammte, machte auch ihren Enkel nach Auffassung des NS-Regimes zum »Vierteljuden«; seine Famile galt als »jüdisch versippt«. Und auch hier, in Hamburg, traf Gurlitts Kunstauffassung nur noch auf wenig Gegenliebe – obwohl es noch bis 1936 selbst in der NS-Führung Kräfte gab – unter ihnen Propagandaminister Joseph Goebbels, der spätere Kulturminister Bernhard Rust und »Reichsjugendführer« Baldur von Schirach –, die versuchten, den Expressionismus gegen den Willen von Hitlers »Blut-und-Boden«-Ideologen Alfred Rosenberg als »nordische« Staatskunst im sogenannten »Dritten Reich« zu etablieren.3 Früh schon wandten sich aber auch in Hamburg der Kampfbund für deutsche Kultur und die publizistischen Organe der Nationalsozialisten gegen Gurlitt. Im Hamburger Tageblatt hieß es bereits am 29. November 1932 hämisch: »Die Geschosse, die wir gegen ihn und den Kunstverein versenden müssen, stammen aus derselben Gießerei wie diejenigen, mit denen ihn unsere Kampfgenossen in der Stadt Zwickau aus seiner Stellung als Direktor des dortigen Museums herausgeholt haben. Er wurde am 1. April 1930 entlassen und siedelte – o glückliches Zwickau! – nach Hamburg über, wo er jetzt im Schatten des Rothenbaums als Märtyrer der ›modernen Kunst‹ ausruhen oder sich still weiterentfalten möchte. (…) Aber wir sind nicht bescheidener als unsere Zwickauer Mitkämpfer und erwarten von Herrn Dr. Gurlitt (…) die Freude, ihn auch in unserer Stadt sein kunstfeindliches Tun beendigen zu sehen. Wir werden jedenfalls mit nicht geringerem Kunstliebeseifer als die Zwickauer ein solches ›happy end‹ herbeizuführen suchen.«4

Um einer Entlassung zuvorzukommen, stellte Hildebrand Gurlitt sein Amt am 14. Juli 1933 zur Verfügung.5 Zum zweiten Mal innerhalb von dreieinhalb Jahren war er das Opfer seines Engagements für die unabhängige Moderne in Deutschland geworden. Dem jungen Familienvater blieb nicht viel anderes übrig, als sich 1934 als Kunsthändler mit der Galerie »Kunstkabinett Dr. H. Gurlitt« zunächst in der Klopstockstraße 35 an der Elbchaussee im vornehmen Altona, später dann in der Alten Rabenstraße 6 an der Außenalster, unmittelbar beim Kunstverein, selbstständig zu machen. Das Geschäft entwickelte sich schnell positiv. Schon im ersten Geschäftsjahr nahm Gurlitt nach eigenen Angaben 10–12000 Reichsmark ein. Bis 1943 steigerte sich diese Summe auf rund 200000 Reichsmark.6

Verschiedene Leumundszeugnisse, die sich Hildebrand Gurlitt nach 1945 im Rahmen seines Entnazifizierungsverfahrens von Hamburger Zeitgenossen ausstellen ließ, beschreiben seine Galerie als einen Hort der Freiheit. So bestätigte im Januar 1946 der Hamburger Rechtsanwalt Dr. Walter Clemens: »Das von ihm in Hamburg ins Leben gerufene Kunstkabinett war eine Insel der freien Gesinnung. Dort sammelten sich liberal gesinnte geistige Menschen ohne Rücksicht auf Rasse und Religion, um ihre Gedanken frei und offen auszutauschen. Sie konnten dies tun, weil sie wussten, dass sie in diesem Gurlittschen Kreis vor Denunzianten und Bespitzelung sicher waren. Im Hause Gurlitt hatte insbesondere die Kunst jeder Richting [sic!], auch die sogenannte »entartete«, eine Heimatstatt. Dem Freundeskreis des Hauses wurde [sic!] dort oft die von der nationalsozialistischen Regierung verfemten Kunstwerke aus verschiedenen Kunstperioden vorgeführt. Das Haus war ein Kulturzentrum, in dem, unbeirrt von dem politischen und geistigen terror [sic!] des Nationalsozialismus, die Idee der geistigen Freiheit verehrt und liebevoll gepflegt wurde.«7 Auch der Direktor der Städtischen Kunstsammlung Chemnitz, Friedrich Schreiber-Weigand, bescheinigte Gurlitt wenig später anti-nazistische Gesinnung und schrieb: »Als Kunsthändler, in welche Lage ihn die Verhältnisse zwangen, ist er wiederum in der Nazizeit mit innerer Überzeugung und Mut für die angeprangerte ›entartete Kunst‹ eingetreten und hat damit manches der Werke gerettet und dem Privatbesitz zugeführt.«8 Und Gurlitts ehemalige Sekretärin Maya Gotthelf, nach NS-Diktion »Halbjüdin« und ab Januar 1944 Zwangsarbeiterin, testierte: »Ich kann mit bestem Gewissen bestätigen, dass Herr Dr. Gurlitt sich in seinen Briefen niemals irgendwie nazistisch geäussert hat, ich die Briefe niemals mit Heil Hitler unterzeichnet habe. Auch sonst habe ich im Verlauf dieser zwei Jahre reichlich Gelegenheit gehabt die antifaschistische Einstellung von Herrn Dr. Gurlitt kennen zu lernen. Ich habe in seinem Hause wiederholt zusammen mit Herrn Dr. Gurlitt den feindlichen Auslandssender gehört und nazifeindliche Gespräche geführt. Herr Dr. Gurlitt hat sich trotz seiner selbst sehr exponierten Stellung aufopfernd für Juden und politisch Verfolgte eingesetzt.«9

Das bedeutete allerdings auch, dass Hildebrand Gurlitt Juden, die emigrieren wollten oder Zwangszahlungen wie die »Judenvermögensabgabe« entrichten mussten, beim Verkauf von Kunstwerken half. Dabei zahlte er auch Preise, die deutlich unter dem Marktwert der jeweiligen Werke lagen.10

So ist der Fall des jüdischen Arztes und Kunstsammlers Ernst Julius Wolffson (1881–1955) dokumentiert, dem die Nationalsozialisten die Approbation entzogen und den sie aus der Hamburger Ärztekammer ausgeschlossen hatten, deren Vorstand er seit 1925 angehört hatte. Als er dann auch noch die allen deutschen Juden nach dem Novemberpogrom 1938 zynisch als angebliche »Sühneleistung« für »die feindliche Haltung des Judentums gegenüber dem deutschen Volk« abverlangte »Judenvermögensabgabe« begleichen sollte, beauftragte er im Dezember des Jahres Hildebrand Gurlitt mit dem Verkauf von neun Zeichnungen von Adolph von Menzel aus seinem Besitz. Gurlitt bezahlte ihm dafür 2550 Reichsmark. »Da der Wert der Werke wesentlich höher einzustufen war«, folgert die Kunsthistorikerin Vanessa-Maria Voigt, »nutzte der Händler zumindest in diesem Fall die ausweglose Situation des Eigentümers für seine eigenen Zwecke aus.« Weitere Werke musste Wolffson im April 1939 über die Hamburger Galerie Commeter verkaufen, deren Inhaber Wilhelm Suhr für die Reichskammer der Bildenden Künste Wertgutachten für Umzugsgut und Kunstwerke von zur Emigration gezwungenen Ausreisenden erstellte und diese Werke dann in seiner Galerie auch gleich verkaufte.11 Nur aufgrund der sogenannten »Mischehenbestimmung« und nachdem sich einflussreiche Hamburger Bürger für ihn eingesetzt hatten, wurde Wolffson aus dem Konzentrationslager Sachsenhausen wieder entlassen. Als der Familienanwalt nach dem Krieg die Rückgabe der Menzel-Zeichnungen verlangte, verweigerte Hildebrand Gurlitt jede Auskunft darüber, wohin er sie verkauft hatte. Er nannte auch nicht den Namen des Hamburger Zigarettenfabrikanten Hermann Bernhard Fürchtegott Reemtsma, der zwei der Blätter erworben hatte.12

Schon im August 1935 hatte auch George Eduard Behrens aus der bekannten, Mitte des 19. Jahrhunderts vom Judentum zum Protestantismus konvertierten Hamburger Bankiersfamilie Hildebrand Gurlitt um den Verkauf von Menzel-Gemälden – darunter »Pariser Wochentag« (1869), »Alt Synagogetag« (1853), »Hochaltar der Damenstiftskirche in München« (1873), »Beati Possidentis« (1888), »Sämtliche nicht bei der Sache« (1886) sowie »Jardin des Plantes« (1869) – gebeten. Auch Behrens war die Ausfuhr verboten worden, da es sich um »national wertvollen Kunstbesitz« handle.13 Gurlitt bat Werke aus dem Konvolut unter anderem dem Wallraf-Richartz-Museum in Köln und der Nationalgalerie in Berlin an. Einige der Bilder gehören heute zur Sammlung Georg Schäfer in Schweinfurt, für die zwar ein öffentliches Museum gebaut wurde, die aber dennoch weiterhin als private Stiftung gilt und deshalb rein rechtlich nicht den Verpflichtungen der Washingtoner und der Berliner Erklärung von 1998/99 unterliegt.14

Was Hilfe bei der durch NS-Zwangsvorschriften oder für die Flucht ins Exil dringend notwendig gewordenen Geldbeschaffung gewesen sein könnte, nachdem Juden schon ab 1935 offiziell keine Kulturgüter mehr aus Deutschland ins Ausland verkaufen durften, und was eigennützige Ausnutzung einer Zwangslage war, lässt sich mit dem Abstand von acht Jahrzehnten oft nicht mehr klar beurteilen. Fest steht aber, dass Hildebrand Gurlitt am Geschäft mit der NS-Raubkunst verdiente, dadurch seine Position gegenüber dem NS-Regime sicherte und nach dem Krieg gegenüber den Alliierten über die Herkunft zahlreicher Werke in seinem Besitz log. So erklärte er auch über das Gemälde »Das Atelier des Malers Grossmann« des bulgarisch-französischen Malers Jules Pascin, es habe schon vor 1933 seinem Vater gehört. In Wahrheit hatte Hildebrand Gurlitt das 54x73 Zentimeter große Ölbild 1936 Professor Julius Ferdinand Wolff abgekauft. Der ebenfalls jüdische Chefredakteur der Dresdner Neuesten Nachrichten war 1933 von den Nationalsozialisten abgesetzt und anschließend wirtschaftlich ruiniert worden. Als er, seine Frau und sein Bruder 1943 in ein Konzentra­tionslager deportiert werden sollten, nahmen sich die drei das Leben. Gurlitt konnte das Gemälde nach dem Krieg behalten und gewinnbringend verkaufen. Über französischen Privatbesitz fand es schließlich 1972 in eine Auktion bei Christie’s in London, bei der es für knapp 40000 Dollar nach Chicago verkauft wurde. Julius Ferdinand Wolff hatte 37 Jahre zuvor von Hildebrand Gurlitt gerade einmal 600 Reichsmark dafür erhalten – was schon damals deutlich weniger als der Marktwert eines Pascin-Gemäldes war.

Zeitgenossen erzählten später eine Anekdote, die trotzdem Gurlitts regimekritische Haltung belegen sollte: Um 1933 nicht auf dem Gebäude des Hamburger Kunstvereins in der Neuen Rabenstraße die Hakenkreuzfahne aufziehen zu müssen, habe der Direktor einfach den Mast absägen lassen.15

Kunsthändler des Diktators

Dass sich Gurlitt auch weiterhin für progressive und sozialbewusste Künstler einsetzte und deren Werke – angeblich in einem Kellerraum – auch weiterhin verkaufte16, blieb allerdings nicht unbemerkt. Als er 1937 Bilder des Malers Franz Radziwill ausstellte, der zwar NSDAP-Mitglied war und 1934 das Deutsche Reich auf der Biennale von Venedig vertreten hatte, drohte man Gurlitt die Schließung seiner Galerie an. Radziwill war 1935 als »Kulturbolschewist« denunziert, wegen angeblicher »pädagogischer Unfähigkeit« als Professor an der Kunstakademie Düsseldorf entlassen und mit Ausstellungsverbot belegt worden. Zwar hatte ihn das Regime 1936 rehabilitiert, trotzdem blieb seine Kunst umstritten. Ziemlich bald stand allerdings fest, dass diese Ausstellung für Hildebrand Gurlitt zwar das offizielle Verbot des Handels mit moderner Kunst bedeutete, ansonsten aber keine weitreichenderen Folgen haben würde. Die Nationalsozialisten hatten andere Pläne mit ihm, sie brauchten seine ausgezeichneten Handelskontakte, um aus der sogenannten »Entarteten Kunst« Geld zu machen.

Nach Ende der Olympischen Spiele von 1936, bei der sich Hitler der Welt noch als weltoffener Staatschef präsentieren wollte, änderte der Diktator auch seine Kulturpolitik. Am 24. Juli 1937 zwang ein Erlass alle deutschen Museen, an eine Auswahlkommission Kunstwerke herauszugeben, die das Regime als »Ausdruck des Kulturverfalls« oder als »entartet« ansah. In den folgenden Wochen und Monaten wurden aus mehr als 100 Museen geschätzte 20–21000 Werke von rund 1400 Künstlern beschlagnahmt. Einen Teil dieser Gemälde, Papierarbeiten und Plastiken ließ sich Hermann Göring überstellen. Für einige davon zahlte er von einem Verfügungskonto Entschädigungen an die betroffenen Museen. Viele dieser Arbeiten – darunter Gemälde von van Gogh und Cézanne – tauschte Göring im Ausland gegen Altmeister-Gemälde für die Privatsammlung auf seinem Landsitz Karinhall in der Schorfheide bei Berlin ein.17 Angeblich wollte er sie eines Tages dem deutschen Volk zugänglich machen.

Ziel der Beschlagnahme, die am 31. Mai 1938 nachträglich durch das nur drei Paragrafen und 20 Zeilen umfassende »Gesetz über Einziehung von Erzeugnissen entarteter Kunst« legalisiert wurde, war keinesfalls in erster Linie die Vernichtung der beschlagnahmten Kunstwerke aus »Museen oder der Öffentlichkeit zugänglichen Sammlungen… soweit sie bei der Sicherstellung im Eigentum von Reichsangehörigen oder inländischen juristischen Personen standen«. Die Nationalsozialisten wussten genau, dass die Bilder und Plastiken, die sie aus den Museen geholt hatten, vor allem ausländischen Sammlern viel Geld wert sein würden. Mit ihnen ließen sich harte Devisen für die Kriegskasse verdienen. Deshalb wurden die 125 bedeutendsten Gemälde – darunter van Goghs Selbstbildnis für Paul Gauguin aus der Münchner Staatsgalerie und Picassos Akrobat mit jungem Harlekin aus dem Städtischen Museum Wuppertal – für eine Auktion ausgesondert, die am 30. Juni 1939, acht Wochen vor dem deutschen Angriff auf Polen, im Luzerner Auktionshaus Fischer stattfinden und insgesamt mäßige 500000 Schweizer Franken einspielen sollte. 650 Werke zeigte das Propagandaministerium zusammen mit der Reichskammer der Bildenden Künste zunächst in der Ausstellung Entartete Kunst in den Münchner Hofgarten-Arkaden. Als sie mit zwei Millionen Besuchern ein Erfolg wurde, folgte eine Ausstellungstournee bis ins Frühjahr 1941. In Wien, Salzburg, Hamburg, Berlin, Leipzig, Düsseldorf, Hamburg, Frankfurt am Main, Stettin und Halle sahen mehr als drei Millionen Menschen Werke unter anderem von Barlach und Beckmann, Corinth und Dix, Grosz und Kandinsky, Kirchner und Klee, Kokoschka und Kollwitz, Modersohn-Becker und Mondrian, Pankok und Pechstein, Schlemmer, Schlichter und Schmidt-Rottluff.18 Vor allem ausländische Besucher verstanden die Schmähausstellung aber durchaus auch schon als Präsentation von frischer Ware für den Kunstmarkt.

Kunst für die Kriegskasse

Tatsächlich wurde die sogenannte »Entartete Kunst« nämlich bald auch zum Kauf angeboten. Vor allem vier von den Nationalsozialisten beauftragte Kunsthändler hatten Zugang zu den zentralen Lagern mit »international verwertbarer Kunst« wie dem Viktoria-Speicher in der Köpenicker Straße 14 in Kreuzberg und dem Barockschloss Schönhausen im Bezirk Pankow, die der dort ansässige Kunstdienst der Evangelischen Kirche fürs Regime verwaltete: Bernhard A. Boehmer, Ferdinand Möller, Karl Buchholz– und Hildebrand Gurlitt (→ Kapitel 3). Ihre Provision betrug bis zu 25 Prozent. Gurlitt konzentrierte sich dabei vor allem auf die sehr preiswerten grafischen Arbeiten. Sie verkaufte er – entgegen den geltenden Vorschriften – im Keller seiner Galerie durchaus auch an deutsche Sammler. Dem Propagandaministerium gegenüber behauptete er allerdings im Januar 1940, »dass die mir übergebenen Kunstwerke im Inland und von Inländern nicht gesehen werden. Nur einigen Freunden und Bekannten, die mir beim Export helfen, habe ich das Material gezeigt.«19 Trotz der Femeausstellung war die Nachfrage nach moderner Kunst auch im Inland ungebrochen. Etwas mehr als 3700 Werke – viele davon Papierarbeiten – soll Gurlitt aus Schloss Schönhausen übernommen haben.20

Evangelischen Kunstdienstes21