Wo wir zu Hause sind

Inhaltsverzeichnis

Fußnoten

Walter Benjamin: Über Haschisch

Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M., 2000

Walter Benjamin: Gesammelte Briefe. Band VI. 1938–1940

Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M., 2000

»Lob der Dialektik«

aus: Bertolt Brecht: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Band 11: Gedichte 1

© Bertolt-Brecht-Erben/Suhrkamp Verlag 1988

Fritz Fränkel: Als Arzt bei der Internationalen Brigade

aus: Einheit für Hilfe und Verteidigung, Paris, Januar 1937

Suzanne Pollak: Familientreffen. Eine Spurensuche

Picus-Verlag, Wien, 1994

»An die Nachgeborenen«

aus: Bertolt Brecht: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Band 12: Gedichte 2

© Bertolt-Brecht-Erben/Suhrkamp Verlag 1988

Israel in Bild und Text

Botschaft des Staates Israel, Berlin, 2011

An einem warmen Septembertag heiratete mein Bruder in einem brandenburgischen Herrenhaus. Die ganze Familie war eingeladen, auch die aus Israel, England, Frankreich und Österreich. Das Herrenhaus war irgendwann voll von Leos. Und als am Abend im Garten getanzt wurde, als die Cousins und Cousinen, die Onkel und Tanten zu den Klängen einer russischen Gitarrenband umherwirbelten, da dachte ich, wie schön es wäre, immer so viele zu sein.

Es ist nämlich so, dass wir hier in Berlin eine ziemlich kleine Familie sind. Außerdem streiten wir gerne und sind nachtragend, weshalb wir selten alle an einem Ort zusammenkommen. Familie ist für mich, wenn vier Menschen um einen Tisch sitzen. Die vielen anderen Leos waren immer fern, in der ganzen Welt verteilt. Manchmal kamen sie uns besuchen, aber sie blieben nie lange genug, um richtige Verwandte zu werden.

Als Kind habe ich Menschen mit großen Familien beneidet, alles schien mir so warm und selbstverständlich zu sein, wie ein Nest, aus dem man nicht herausfallen kann. Meine eigene Familie kam mir dagegen zerbrechlich vor.

Meine Mutter erklärte, es klang kompliziert. Sie sagte, das Judentum sei eine Religion, unsere Familie sei zwar nicht religiös gewesen, aber trotzdem verfolgt worden. Ich erfuhr, dass auch ihr Vater Berlin verlassen musste, dass er in Frankreich zur Schule ging und mit sechzehn in der Résistance gegen die Nazis kämpfte. »Dein Großvater kam nach dem Krieg nach Berlin zurück, um den Sozialismus aufzubauen. Die anderen blieben in den Ländern, in die sie geflüchtet waren. Deshalb sind wir heute die Einzigen, die hier leben«, sagte meine Mutter. Ich weiß noch, dass ich damals sauer auf meinen Großvater war. Ich meine, warum musste ausgerechnet er den Sozialismus aufbauen? Ich hätte in London, Wien oder Paris leben können – statt in Berlin-Lichtenberg.

Wobei ich es natürlich auch ganz schick fand, so viele Verwandte in so vielen Ländern zu haben, man konnte andere Leute damit beeindrucken. Unsere in die Welt vertriebene Familie gab uns selbst etwas Weltläufiges. Ich erinnere mich an die Besuche von Ilse, die die gleichen sanften Augen wie mein Großvater hatte, einen schläfrigen Wiener Dialekt sprach und mir jedes Mal Mozartkugeln

Einmal brachte André auch seine Mutter Hilde mit, von der es in der Familie hieß, sie sei Millionärin. Es war einige Tage vor Weihnachten, als Hilde uns besuchen kam, und ich war sehr aufgeregt, weil ich noch nie eine Millionärin gesehen hatte. Außerdem hoffte ich natürlich auf ein Weihnachtsgeschenk. Hilde trug einen abgewetzten Mantel, dessen linke Tasche abgerissen war, auf ihrem Kopf saß eine viel zu große Wollmütze. Ich war überrascht, weil die Millionäre, die ich aus dem Fernsehen kannte, anders aussahen. Hilde eilte mit leuchtenden Augen auf meinen Bruder und mich zu. »Ich habe euch ein Geschenk mitgebracht«, rief sie. Dann holte Hilde eine Apfelsine aus ihrer Handtasche, überreichte sie uns mit feierlichem Ernst und mit der Mahnung verbunden, sie gerecht zu teilen.

An all das musste ich denken, als ich meine Familie in dem brandenburgischen Herrenhaus tanzen sah. Viele Jahre sind vergangen, Ilse und Hilde sind schon länger tot, wie auch mein Großvater und der Sozialismus, den er aufzubauen half. Heute kann ich selbst durch die Welt reisen und meine Familie besuchen, aber je näher ich meinen Leuten in der Ferne komme, desto mehr fehlen sie mir hier, zu Hause. Ich fühle mich wie ein Scheidungskind, das immer hofft, eines Tages könnten wieder alle zusammen sein.

An diesem warmen Septemberabend wurde mir klar, wie tief die Sehnsucht der anderen nach ihrer verlorenen Heimat ist. Wie sehr sie die Nähe und Zugehörigkeit brauchen, Erinnerungen suchen. Ich begriff, warum unsere Verwandten aus Israel in letzter Zeit immer öfter nach Berlin kommen. Warum sie so stolz auf ihre deutschen Pässe sind, die sie sich in der Botschaft in Tel Aviv vor ein paar Jahren ausstellen ließen. Ich begriff, warum mein Onkel André letztes Jahr seine Londoner Familie in einen feuchten Keller in der Berliner General-Pape-Straße führte, wo sein Vater im März 1933 inhaftiert und gefoltert wurde. Warum mein Cousin Aron letzten Winter beschloss, zusammen mit seiner Verlobten aus Haifa nach Berlin zu

Die Geschichte meiner Familie scheint wie ein Pendel zu sein, das langsam zurückschwingt.

Wobei wohl jede Generation ihre eigene Geschwindigkeit hat. In Teilen der israelischen Familie sorgte die Hochzeit meines Cousins in Berlin für Entsetzen. »Nur gut, dass Hanan und Nina das nicht erleben mussten«, hieß es. Hanan und Nina flüchteten 1936 auf einem Schiff von Amsterdam nach Palästina. Sie waren die Begründer des mittlerweile riesigen israelischen Familienzweiges. Als Hanan und Nina noch in Berlin lebten, hießen sie Hans und Irmgard. Ihre Eltern hatten diese Namen mit Bedacht gewählt, sie sollten deutsch klingen, das war das Allerwichtigste. Irmgard war eine schöne, lustige Frau, die sich auf Fotos gerne als Hexe verkleidete. Sie studierte Jura an der Friedrich-Wilhelms-Universität, wo sie im ersten Studienjahr Hans kennenlernte. Im Oktober 1933 mussten die beiden die Universität verlassen, die deutschen Namen hatten nichts genutzt.

Ninas ältere Schwester Hilde war Schauspielerin, sie arbeitete mit Max Reinhardt am Deutschen Theater, bevor sie im Juni 1929 ihre Stimme verlor und ihren späteren Mann, den Nervenarzt Fritz Fränkel, kennenlernte, der sie nicht nur heilte, sondern kurz darauf auch heiratete. Fränkel, einer der Gründer der KPD, wurde am 21. März 1933 von der SA verhaftet und zwei Tage später nur unter der Bedingung wieder freigelassen, Deutschland umgehend zu verlassen. Am 25. März stieg das Paar mit ihrem zwei Jahre alten Sohn André am Bahnhof Zoo in den

Ilse, die älteste Schwester meines Großvaters, spielte Klavier, liebte die Malerei und wollte unbedingt Psychologie studieren. Im März 1933 verließ sie das Gymnasium, nachdem ihr Vater von der SA verhaftet und ins KZ Oranienburg gebracht worden war. Als der Vater wieder freikam, flüchtete die Familie nach Paris. Was hatten wir für eine schöne Kindheit, und dann war auf einmal alles vorbei und wir mußten sehr schnell erwachsen werden, schrieb Ilse später in ihr Tagebuch.

Ilse war 15, als sie Deutschland verlassen musste. Irmgard war 22 und Hilde 26. Sie wurden aus ihren Leben gerissen, mussten aufbrechen ins Ungewisse. Ich wollte wissen, wie die drei Frauen in Berlin gelebt haben, wovon sie geträumt haben, wie sie geflohen sind. Wie sahen ihre neuen Leben aus? Was haben sie ihren Kindern von der Vergangenheit erzählt? Und warum kommen jetzt auf einmal ihre Enkel nach Berlin zurück?

Ich bin auf den Spuren dieser drei Berlinerinnen gereist, habe auf Dachböden, in Kellern und Archiven nach Briefen, Dokumenten und Fotos gesucht, habe ihre Familien befragt. Je länger ich mich mit Ilse, Irmgard und Hilde beschäftige, desto mehr bedauere ich, dass ich mich nicht schon eher für ihre Geschichten interessiert habe. Zu der Zeit, als sie noch lebten, gab es so viele andere Dinge, die mir näher und wichtiger waren. Ich bin ihnen begegnet, aber wirklich gekannt habe ich sie nicht. Wie gerne würde ich sie heute alle noch mal treffen und ihnen die Fragen stellen, die ich mittlerweile habe.

Die erste Begegnung zwischen Irmgard und Hans wird in der Familie in Israel wie eine Heiligengeschichte erzählt. Bei größeren Familienfesten wird sie sogar als Krippenspiel aufgeführt. Jeder in der Familie kennt den Dialog auswendig, der sich Anfang Mai 1931, zu Beginn des Sommersemesters, im Foyer der Friedrich-Wilhelms-Universität Unter den Linden, zwischen den beiden Jurastudenten entsponnen haben soll. Irmgard war gerade frisch immatrikuliert und auf der Suche nach einer Versammlung der sozialistischen Studentenschaft. Im Foyer traf sie Hans, der ihr nicht nur den Weg zum Ort der Versammlung wies, sondern sie auch gleich dahin begleitete, um sie später zu einer Tasse Kaffee einzuladen, woraufhin die Dinge unweigerlich ihren Lauf nahmen.

Irmgard und Hans, 1932 in Berlin

Irmgard war 19, hatte dichte schwarze Haare, verträumte braune Augen und einen Mund, der in der Familie völlig zu Recht als sinnlich gepriesen wird. Es gibt ein Foto, das ein paar Monate nach ihrem ersten Treffen aufgenommen wurde, es zeigt das junge Liebespaar auf einer Wandertour durch Brandenburg. Irmgard trägt ein helles Sommerkleid mit weißem Spitzenkragen. Sie wirkt kräftig,

Mein Cousin Aron kennt diese Geschichte, seit er denken kann. Diese Fabel aus dem fernen Berlin ist der Gründungsmythos, mit dem alles begann. An einem Tag im Frühjahr 2017 steht er nun zum ersten Mal selbst in dem mächtigen Foyer der Universität. Er betrachtet die mit braunem Marmor verkleideten Säulen und Paneele, die wuchtige Treppe, die sich zu den Ballustraden

Aron wohnt seit mehr als einem Jahr in Berlin, er ist 22 und bereitet sich gerade auf die deutsche Hochschulzugangsprüfung vor. Dann will er Veterinärmedizin studieren, und es könnte passieren, dass er bald an eben die Universität zurückkehrt, die seine Großeltern vor 80 Jahren verlassen mussten. Ist er ein historischer Wiedergänger? Aron lächelt verlegen, er sagt, er habe kaum Erinnerungen an die Großeltern, die starben, als er noch sehr klein war. Ihre Geschichte erscheint ihm wie eine dunkle, verschlossene Box, die irgendwo steht, wo keiner sie finden muss. Manchmal wurde diese Box ein wenig geöffnet, dann ging ein beklommener Schauer durch die Familie. Aron sagt, er habe dieses Gefühl nie gemocht. Diese leise Verunsicherung, diesen trüben Schatten, diese kaum wahrzunehmende Traurigkeit in den Augen seiner Mutter. Es war etwas Unausgesprochenes, Bedrohliches, das er schnell wieder vergessen wollte.

»Ich bin nicht nach Berlin gekommen, um diese Box zu öffnen«, sagt er mit einer Vehemenz, die ihn selbst zu überraschen scheint. Es sei ihm eigentlich um viel praktischere Dinge gegangen. Er erzählt, wie schwer es in Israel sei, einen Studienplatz als Veterinärmediziner zu bekommen. Er spricht von seinem deutschen Pass, der ihm hier die Türen öffnet. Er sagt, wie wunderbar es sei, ein bisschen Ruhe vor Israel zu haben, einzutauchen in die Berliner Leichtigkeit. »Ich fühle mich hier nicht als Deutscher, aber auch nicht als Fremder. Ich kann einfach ich selbst sein.«

Hans ist ein Charlottenburger Notarssohn, er hat mit der Arbeiterklasse genauso wenig zu tun wie Irmgard, deren Mutter aus einer vermögenden Danziger Kaufmannsfamilie stammt. Wobei Irmgard schon als Kind die Armut kennenlernt, als das komplette Vermögen der Mutter in der großen Inflation von 1919 innerhalb von Monaten verschwindet. Der Vater starb im Ersten Weltkrieg an der russischen Front, und so muss die Familie von der kleinen Witwenrente und den Almosen der Verwandten leben. Irmgard wächst in evangelischen Mädcheninternaten auf, sie stopft ihre Kleider selbst und hat nur ein Paar Schuhe für das ganze Jahr. Aber das sei nicht wichtig, erklärt sie Hans, weil letztlich nur die Bildung und der Wille zählten. Und wenn sie in ein paar Jahren eine fertig studierte Juristin sei, dann werde sie auch gutes Geld verdienen, und ihre Kinder müssten nie selbst Kleider stopfen.

»Oder du heiratest einen Juristen und lässt ihn das Geld verdienen«, sagt Hans lächelnd. Irmgard wirft ihm einen wütenden Blick zu und sagt, sie wolle von keinem Mann abhängig sein. Zum Glück wechselt Hans in diesem Moment

Später reihen sie sich in den Demonstrationszug ein, der Richtung Universität marschiert. Die meisten der Demonstranten sind Studenten, sie tragen rote Fahnen und singen revolutionäre Arbeiterlieder. In der Universitätsstraße treffen sie auf eine Horde vom Nationalsozialistischen Studentenbund. Die Nazistudenten sind zwar zahlenmäßig unterlegen, aber sie greifen mit Gürteln, Totschlägern und Stöcken an. Hans nimmt Irmgards Hand und zieht sie aus der Menge. Er rennt mit ihr in einen Hauseingang, dann weiter in einen Hof. Sie verstecken sich hinter den Mülltonnen, dort kauern sie, schwer atmend. Irgendwann fängt Irmgard an zu kichern, sie fragt Hans, ob seine Verabredungen mit Frauen immer so laufen. Nun muss auch Hans lachen.

Hans wird später sagen, ihm sei schon in diesem Moment klar gewesen, dass sie die Frau seines Lebens ist. Irmgard dagegen wird noch lange brauchen, um sich für ihn zu entscheiden. Ihren Töchtern erklärt sie später einmal, sie hätte kein Problem damit gehabt, alleine zu leben, wenn

Auch störrisch ist sie, hält an Ideen und Prinzipien fest, die ihr wichtig sind. Eines dieser Prinzipien ist es offenbar, an allem erst einmal zu zweifeln. Als Hans ihr nach ein paar Wochen seine Liebe gesteht, schaut sie ihn prüfend an und sagt: »Beweise es.« Der arme Hans ist davon so verunsichert, dass er einen Freund um Rat bittet, der ebenfalls an der juristischen Fakultät studiert und Irmgard ein wenig kennt. Der Freund sagt, es sei sicher nicht einfach, mit einer solchen Frau zu leben, aber dafür werde es Hans nie langweilig sein.

Der Sommer, in dem Irmgard und Hans zusammen durch Brandenburg wandern, muss für beide eine wichtige Zeit gewesen sein. Sie laufen querfeldein durch Wälder und Felder, übernachten in Scheunen oder Schafställen, trinken morgens die warme Milch, die der Bauer ihnen bringt. Irmgard erzählt Hans Geschichten, die von zwei Mädchen handeln, die aus einem Pensionat fliehen, eine Bank überfallen und gemeinsam mit anderen Mädchen eine große Räuberbande gründen. Hans fragt, wo sie denn diese unglaubliche Geschichte herhabe. »Na, die habe ich mir gerade ausgedacht«, sagt sie lachend, und dann schaut sie ihn besorgt an, wie einen bedauernswerten Jungen, der offenbar Probleme damit hat, die einfachsten Sachen zu verstehen.

Irmgard ist evangelisch getauft, die Familie ist nicht religiös, sie selbst begreift sich wahrscheinlich gar nicht als Jüdin. Das klingt zumindest aus einem Lebenslauf heraus, den sie Jahre später im französischen Exil schreiben wird: Ich wurde nicht jüdisch erzogen, weder im Glauben noch in der Tradition. Ich wußte lange gar nicht, was es bedeutet, ein Jude zu sein. Aber immer wieder war es so, daß die anderen es besser wußten. Ob an den Tanzabenden, wo niemand mich auffordern wollte, obwohl ich doch nicht gar so häßlich bin. Oder an den Geburtstagen, zu denen ich nicht eingeladen wurde. Später in Berlin, auch da gab es diese Blicke, diese Ablehnung, die manchmal deutlich und dann wieder kaum zu spüren war.

Woran haben die anderen sie erkannt? Lag es an ihrem Familiennamen? Oder an ihrem Aussehen? An ihren dunklen Haaren und Augen, am matten Teint ihrer Haut? Es gibt ein Foto, auf dem sie zusammen mit ihrer Schwester Hilde zu sehen ist. Hilde hat blonde geflochtene Zöpfe, Irmgard trägt eine schwarze Schleife im ebenholzfarbenen Haar. Nichts deutet darauf hin, dass die beiden Geschwister sind. Hat Hilde es leichter gehabt, unerkannt zu

Vielleicht lag es an der Stimmung, die zu dieser Zeit in Berlin herrschte. An der Radikalisierung der politischen Kräfte, der Anspannung, die immer größer wurde und nach Entladung suchte. Die Universität muss wie eine Arena gewesen sein, in der diese Kräfte ungebremst aufeinanderprallten. Denn die Schlägereien zwischen Sozialisten und Nazis fanden nicht nur draußen in den Straßen statt, auch im Foyer der Universität stürzte man sich aufeinander. Auf der einen Seite des Foyers standen die Roten, auf der anderen Seite die Braunen, es kam immer wieder zu Handgemengen und blutigen Schlägereien. Mehrmals musste die Polizei die Universität räumen, die dann für Tage geschlossen blieb. So gesehen erscheint dieses erste Treffen von Irmgard und Hans am Schwarzen Brett der sozialistischen Studentenschaft in einem weniger romantischen Licht. Wie viel Zeit blieb ihnen für ihre Liebe? Wie beschäftigt waren sie mit all dem, was um sie herum geschah?

Hans muss die Gefahr deutlich und früh gespürt haben. Seinen Kindern erzählte er später von der Bücherverbrennung auf dem Berliner Opernplatz, von den Flammen, die in der Nacht des 10. Mai 1933 die Fassade der Universität erleuchteten. Er beschrieb die johlende Menge auf dem Platz, die Studenten in den braunen Uniformen, die auf Lastwagen standen und die »undeutschen Bücher« aus der Universitätsbibliothek stapelweise ins Feuer warfen. Hans

Ich gehe zusammen mit Aron zu dem Platz gegenüber der Universität, der heute Bebelplatz heißt. Aron blickt durch die Glasplatte, die in den Boden eingelassen ist, an der Stelle, an der damals das Feuer brannte. Unter der Glasplatte ist ein dunkler Raum mit leeren Bücherregalen zu sehen. Ich denke an die Box, von der Aron gesprochen hat. Diese Box, die er am liebsten verschlossen halten möchte. Aron steht lange schweigend da. Ich frage mich, ob es ein Fehler war, ihn hierherzubringen. Warum konfrontiere ich ihn mit etwas, das er gar nicht sehen will? Warum verscheuche ich die Berliner Leichtigkeit, die er gerade genießt? Aron scheint meine Gedanken zu erraten. Er sagt, er habe vor Kurzem mit seinem Vater telefoniert, dabei habe er ein paar Sätze auf Deutsch gesagt, was für den Vater nicht einfach zu ertragen gewesen sei. Die Sprache der verhassten Mörder aus dem Mund seines geliebten Jungen. »Er hat dann gesagt, ich soll ruhig weiter mit ihm Deutsch sprechen, es sei eine gute Therapie.«

Und dann ist er doch weggelaufen, direkt nach Berlin. In diese Stadt, in der er sich so beschwingt fühlt, weil ihn die Vergangenheit hier weniger belastet als die Zukunft in Tel Aviv.

Als Irmgard und Hans von der Universität geworfen wurden, brach ihr Leben entzwei. Sie waren 21 Jahre alt und hatten plötzlich keine Zukunft mehr. Vor allem für Irmgard muss es schwer gewesen sein, ihren Traum vom selbstbestimmten Leben einer gut ausgebildeten Juristin so schnell aufzugeben. Wie es eigentlich zu der Exmatrikulation kam und warum sie beide so früh ausgeschlossen wurden, während andere jüdische Studenten noch Jahre an der Juristischen Fakultät der Friedrich-Wilhelms-Universität bleiben durften, darüber haben sie selbst nie etwas erzählt. Deshalb fahre ich an einem windigen Herbsttag zum Archiv der heutigen Humboldt-Universität, ein nüchterner Flachbau in einem Niemandsland aus Brachflächen und vergessenen Industriegebäuden in Berlin-Adlershof. Die Archivarin blättert in dicken Findbüchern, verschwindet lange im Magazin und legt schließlich zwei Dokumente vor mich auf den

Irmgards Karte ist rosafarben, die von Hans ist weiß. Irmgard hat eine rundliche Mädchenhandschrift, Hans schreibt raumgreifend, mit großen Schwüngen. Es ist ein seltsames Gefühl, diese Karten in den Händen zu halten, mit den Fingern über das raue Papier zu streichen und mir vorzustellen, dass vor mehr als 80 Jahren die Finger der beiden über dieses Papier geglitten sind. Hans hat sich am 16. April 1930 eingeschrieben, wohnt zu der Zeit in der Innsbrucker Straße 54 in Berlin-Schöneberg. In der Spalte Religion hat er einen Strich gemacht. Der Beruf des Vaters: Rechtsanwalt und Notar. Auf Irmgards Karte ist eine Adresse in Zehlendorf vermerkt, Johannesstraße 13. Ich spüre, wie mir erst jetzt wirklich klar wird, dass die beiden in dieser Stadt gelebt haben, dass sie Berliner waren wie ich. Keine Ahnung, warum ich diese Beweise brauche, aber wahrscheinlich ist es manchmal so, dass zwei Karteikarten überzeugender sind, als eine immer nur von anderen gehörte Geschichte.

Irmgard immatrikulierte sich am 17. April 1931. Ich finde ihr vergilbtes Studienbuch, in dem Seite für Seite die Kurse aufgelistet sind, die sie in den ersten Semestern belegte. Strafrecht für Anfänger, BGB, Zivilrecht. Unten auf den Seiten kleben die Gebührenmarken, die mit dem preußischen Adler abgestempelt sind. Es ist vermerkt, dass Irmgard von den Gebühren befreit ist, was vermutlich damit zusammenhängt, dass ihr Vater im Ersten Weltkrieg in Ostpreußen fiel. Bis zum Sommersemester 1932 belegt Irmgard regelmäßig ihre Kurse, aber bereits mit Beginn

Das heißt, Irmgard wurde gar nicht exmatrikuliert, weil sie Jüdin war, sondern weil man sie offenbar für eine Marxistin hielt. Ich finde den Ministerialerlass später in den Akten der Juristischen Fakultät. Gelbliches maschinenbeschriebenes Papier. Der Erlass dient der Ausführung des »Gesetzes gegen die Überfüllung der Deutschen Schulen und Hochschulen«. Es sieht vor, die Zahl der Studierenden nichtarischer Abstammung in einer jeden Fakultät auf 5 v.H. zu begrenzen. Die überzähligen Studenten nichtarischer Herkunft sind unverzüglich vom weiteren Studium auszuschließen, sofern die Gebühren von ihnen noch nicht gezahlt wurden. So ist das deutsche Ministerialwesen im Frühsommer 1933, es schreckt nicht davor zurück, Tausende jüdische Studenten zu diskriminieren, aber eine bezahlte Gebühr bleibt dann doch etwas sehr Bedeutendes.

Dieser Erlass kommt einer Zulassungssperre für Juden gleich, weil in kaum einer Fakultät weniger als fünf Prozent der Studenten jüdischer Abstammung sind. Zudem werden alle Studenten und Hochschullehrer angewiesen, einen Fragebogen auszufüllen, der über ihre Abstammung Auskunft gibt. Falsche Angaben führen zu sofortigem Ausschluß von der Hochschule. Ich blättere weiter in dem

Ich finde in den Papieren des Senats der Universität eine blaue Aktenmappe. Auf dem Deckblatt steht in säuberlicher Sütterlinschrift: »Liste der auf Grund antinationaler Gesinnung von der Hochschule ausgeschlossenen Studenten. Stand 1933«. 124 Namen sind in dieser Aktenmappe alphabetisch aufgeführt. Auf Seite 11 finde ich den Eintrag: Irmgard Leo, 29.8.11, marx. Berlin.

Diese eine Zeile hat Irmgards Leben auf den Kopf gestellt, hat aus einer hoffnungsvollen Jurastudentin eine Ausgestoßene gemacht. Seltsamerweise steht Hans nicht auf der Liste. Auf seiner Immatrikulationskarte ist als Abgangsdatum der 23. Juli 1933 vermerkt. Ist er von sich aus gegangen? Ist er der Ahnung gefolgt, die ihn schon im Mai bei der Verbrennung der Bücher auf dem Opernplatz beschlichen hatte? In den Sitzungsprotokollen der Juristischen Fakultät finde ich eine Meldung darüber, dass am 16. Juni 1933 »die Fragebögen zur rassischen Abstammung der Studierenden« ausgegeben wurden. Vielleicht war das für Hans das Signal zum Gehen.

Irmgards Name steht auf Seite 10, zwischen einem Fritz Levinsohn und einem Karl-Heinz Leipziger. Wollte man dokumentieren, wie groß das Bedürfnis der jüdischen Bildungselite in dieser Zeit war, die eigenen Wurzeln zu vergessen und so deutsch zu werden, wie es eben ging, dann müsste man eigentlich nur diese traurige, in schwarzen Karton gebundene Liste zeigen, auf der fast alle Studenten typische deutsche Vornamen tragen, während die Nachnamen ach so jüdisch klingen.

Ich verlasse das Universitätsarchiv, fahre zurück nach Hause, durch das kalte, dunkle Berlin, das mir an diesem Abend noch kälter und dunkler erscheint. Es ist schwer, die Bilder loszuwerden, die aus den verstaubten Akten aufgestiegen sind. Noch schwerer ist es, dieses vergangene Berlin mit dem heutigen zusammenzubringen.

Ein paar Wochen nachdem ich zusammen mit Aron durch die Universität gelaufen bin, heiratet er in Berlin. Die

Am Abend der Hochzeit gibt es eine Feier in einem italienischen Restaurant. Arons Mutter hält eine Rede, sie erinnert an ihre Mutter Irmgard, die bereits Nina hieß, als ihre Kinder geboren wurden: »Heute Abend schließt sich ein Kreis. Und auch wenn es traurig für mich ist, dass mein Junge nun so weit weg von uns lebt, bin ich doch froh, dass er Berlin gewählt hat, diese Stadt, die für uns alle ein Zuhause geblieben ist.« Arons Mutter weint, die Familie

Ich versuche mir vorzustellen, was es wohl für Irmgard bedeutet hätte, wenn sie an diesem Abend in Berlin dabei gewesen wäre. Ob bei ihr die Wehmut oder die Freude überwogen hätte. Ich vermute, dieses Bild vom sich schließenden Kreis hätte sie so nicht gewählt, weil es ja bedeutet, dass eine Geschichte ihren natürlichen Endpunkt erreicht. Für Irmgard war dieser Endpunkt vermutlich schon vor langer Zeit erreicht, als sie mit ihrer Familie in Israel Ruhe und Zufriedenheit fand. Den Luxus der Nostalgie konnten sich erst ihre Kinder leisten. Und dann brauchte es wohl noch eine weitere Generation, um noch nicht mal mehr nostalgisch zu werden, sondern einfach nur Veterinärmedizin studieren zu wollen, in einem Land, in dem es keinen Krieg gibt.

Aber zurück in die Zeit, als Irmgard selbst noch jünger war, als ihr Enkel Aron es heute ist. In die Zeit, in der auf einmal alles zu Ende schien. Was tat Irmgard, nachdem sie die Universität verlassen musste? Wie verbrachte sie ihre Tage? Wovon lebte sie? Hatte sie irgendeine Idee, was nun kommen würde? Ihre Kinder sagen, sie habe nie über diese Zeit sprechen wollen. Sie habe immer nur gesagt, es sei schwierig gewesen, sie habe sich gefragt, ob das Leben überhaupt noch etwas für sie bereithalte. Irmgard war ehrgeizig und zielstrebig, sie hatte immer einen Plan, steckte voller Energie und Ideen. Auch deshalb war diese

Es gibt keine Spuren von ihr aus diesen Wochen und Monaten, niemand aus der Familie weiß etwas über diese Zeit. Ein paar Antworten finde ich erst, als ich einen Monat später nach Israel fahre. Ich besuche Michal, Irmgards jüngste Tochter. Michal wohnt in Hazor, einer kleinen Stadt am Fuße der Golanhöhen, nicht weit von dem Kibbuz entfernt, in dem Irmgard den größten Teil ihres Lebens verbrachte, umgeben von dunklen Bergketten, grünen Avocadohainen und der rötlichen aufgebrochenen Erde der bestellten Felder.

Michal ist eine zierliche Frau mit einer rauen, warmen Stimme. Sie erzählt, wir trinken Tee mit Zitronengras, das auf ihrer Terrasse wächst. Dann führt Michal mich zu einem alten Kleiderschrank, in dem Kisten, Beutel und Dosen übereinandergestapelt sind. »Ninas Sachen«, sagt sie. »Auch aus der Zeit, als sie noch Irmgard hieß.«

Vorsichtig öffne ich die erste Kiste, ich sehe Briefe, Dokumente, alte Zeitungen und Fotos. Irmgard scheint so ziemlich alles mitgenommen zu haben, als sie im Juli 1936 das Schiff in Triest bestieg, das sie nach Palästina brachte. Ich finde ihre Zeugnisse aus der Grundschule, verschiedenfarbige Impfscheine, die bestätigen, dass Irmgard Leo gegen Pocken und Diphtherie immunisiert wurde. Ich finde ein dickes Buch mit dem Titel »Im Hasenwunderland«, das von den Jungen Hansel und Franzel handelt, die in einem Dorf in Bayern Abenteuer erleben. Im Einband des Buches steht in ungelenker Kinderschrift geschrieben: Irmgard Leo 1918.

In einer Kiste finde ich etliche Papiere, die Irmgards Leben nach dem Abgang von der Universität erzählen. Es gibt da zum Beispiel eine Bescheinigung der Deutschen Buchhändlerlehranstalt in Leipzig, in der bestätigt wird, dass Irmgard sich dort am 16. August 1933 zum Studium einschrieb, die Lehranstalt allerdings bereits am 30. September wieder verließ. Irmgard Leo muß ihr berufliches Studium als Buchhändlerin infolge wirtschaftlicher Schwierigkeiten aufgeben, um in den Broterwerb überzugehen. Ihr Verhalten war ohne jeden Tadel, heißt es in der Bescheinigung.

Wie kam sie vom Jurastudium zur Buchhändlerlehre? Und warum warf sie nach nur sechs Wochen alles hin? Möglicherweise hatte ihre Entscheidung mit Hans zu tun, der kurz zuvor nach Amsterdam aufgebrochen war. In einer der Kisten in Hazor liegt ein Brief, in dem Hans sein Weggehen ankündigt. Auf der Rückseite des Briefes steht Irmgards kurze Antwort: »Warum fragst du mich eigentlich nicht, ob ich mitkommen will? Was soll mich denn hier noch halten? Mehr Hilfe als in der Fremde kann ich auch in Berlin nicht erwarten.« Das klingt traurig und

Irmgard schlägt sich nach ihrer Rückkehr aus Leipzig noch ein paar Monate mit kleinen Anstellungen durch. Sie findet in der Zeitung eine Annonce, ein blinder Mann aus Berlin-Schöneberg sucht jemanden, der ihn gelegentlich durch die Stadt führt. Der Mann ist alt und riecht schlecht. Wenn sie unterwegs sind, hakt er sich bei Irmgard unter, und sie muss ihm zuflüstern, was sie alles sieht. Der Mann interessiert sich besonders für Autos. Wenn ein Auto an ihnen vorbeifährt, muss sie sagen, um welches Fabrikat es sich handelt, welche Farbe es hat und ob es ordentlich gewaschen ist. Irmgard kennt sich mit Autos nicht besonders aus, der Mann schreit, dass sie eine dumme Göre sei und doch ihre Augen benutzen solle, dass man sich frage, wozu sie überhaupt Augen im Kopf habe. Nach ein paar Touren kann Irmgard nicht mehr. Sie denkt, dass es nun wirklich Zeit ist, zu gehen.

Zwei Tage später besteigt Irmgard am Anhalter Bahnhof einen Zug nach Köln, von dort wird sie zu ihrer Schwester nach Paris weiterreisen. Sogar das Zugticket hat sie aufbewahrt, ein Stück blassgrüne Pappe, das zum Aufenthalt in der zweiten Klasse berechtigt. Bei sich trägt Irmgard einen Brief, den ihr die Mutter vor der Abreise zugesteckt hat. Es sind deren Lieblingsverse aus der Bibel, in altdeutscher Schrift auf Büttenpapier. Diese Sprüche waren mir in manchen schweren Stunden Trost und Stütze, schreibt die Mutter. Behüt dich Gott, mein geliebtes Kind, möchte das Schicksal gut machen, was ich, ohne es zu wissen,

Das sind die letzten Worte einer Mutter, die nicht weiß, ob sie ihr Kind je wiedersehen wird. Was sie wohl meint, falsch gemacht zu haben? Auf jeden Fall ist Irmgards Mutter Katerina von nun an allein. Die Töchter leben zu dieser Zeit bereits in Paris. Irmgards Bruder Fritz, ein praktischer Arzt, ist wenige Wochen zuvor wegen kommunistischer Untergrundarbeit verhaftet worden. Deshalb will die Mutter Deutschland nicht verlassen, sie will in der Nähe sein, falls ihr Sohn Hilfe braucht. Die Kinder können gehen, wohin sie wollen, die Eltern bleiben da, wo sie vonnöten sind, schreibt sie später an Irmgard, die sie anfleht, aus Deutschland zu fliehen, solange es noch möglich ist.

Einer der Bibelverse, den Irmgard von ihrer Mutter mit auf den Weg bekommt, lautet:

Gott ist die Liebe. Und wer in der Liebe bleibt,

der bleibt in Gott. Und Gott in ihm.

Auf Fotos sieht Hilde selten zufrieden aus. Meistens hat sie die Lippen zu einer Art Schmollmund zusammengepresst. Mit Mitte 20 trägt sie die Haare kurz und gescheitelt, sie mag Hosenanzüge, wirkt spröde, androgyn, ein wenig dramatisch, auf jeden Fall interessant. Hildes Leben erscheint von Anfang an weniger geordnet und glatt als das ihrer Schwester Irmgard. Sie verlässt die Schule ohne Abitur, weil ihre Leistungen, vor allem in Mathematik, hoffnungslos schlecht sind. Sie hat, so erklärt sie ihrer Mutter, keine Lust auf Arithmetik und irgendwelche Naturgesetze. Hilde will Schauspielerin werden, am liebsten in einem Kabarett. Sie bewundert Marlene Dietrich, die mit schwarzem Zylinder, Frack und Zigarettenspitze verruchte Lieder singt. Hilde mag die grelle Theaterwelt, weil sie so anders ist als das, was sie kennt.

Hilde, 1929

Foto: © Atelier Joël-Heinzelmann, Berlin-Charlottenburg

Hildes Mutter, zwar verarmt, aber aus gutem Hause und mit einer klaren Vorstellung davon, was sich für eine junge Dame gehört, lässt Hilde eine Ausbildung zur Säuglingskrankenschwester im Pestalozzi-Fröbel-Haus in Berlin-Schöneberg absolvieren. »Wenn du akademisch nicht interessiert bist, dann bleibt dir nur, einen

Hilde folgt den Weisungen der Mutter, zieht ins Schwesternpensionat, beschließt dort jedoch recht bald, ihre Ausbildung selbst in die Hand zu nehmen. Nachts steigt sie aus dem Fenster im zweiten Stock, klettert auf einem Mauersims bis zur Regenrinne, die sie hinunterrutscht. So heimlich wie sie das Pensionat verlässt, geht sie anschließend ins Theater. Hilde schmuggelt sich durch Bühneneingänge und Schauspielerkantinen, sie kennt irgendwann die Garderobengänge und Kulissenräume, den

Auch hinter der Bühne kennt sie sich bald gut aus, Hilde bekommt erste kleine Jobs in der Ausstattung und als Kostümassistentin. Irgendwann verdient sie genug, um sich ein Zimmer in der Rosenthaler Straße, nicht weit vom Hackeschen Markt, leisten zu können. Sie verlässt das Schwesternwohnheim, ohne der Mutter etwas zu sagen. Erst als sie ein Jahr später ihre erste Rolle bekommt, wagt sie es, der Familie von ihrem Doppelleben zu erzählen. Die Mutter trägt es mit Fassung, sie verspürt wohl sogar einige Sympathie für Hildes Interessen, die auch mal ihre eigenen waren. Schließlich hat Katerina als junge Frau am Berliner Konservatorium studiert, hat dort gesungen und Klavier gespielt und galt als äußerst talentiert. Diese Zeit ging jäh zu Ende, als sie ihrem Erich in die schlesische Provinz folgte, wo dieser seinen ersten Posten als Gymnasiallehrer bekam. Auf vieles musste sie dort verzichten, die Trennung von der Musik, sagte sie später immer wieder, sei ihr am allerschwersten gefallen.

Sie unterstützt Hilde nun nicht gerade, aber sie hindert die Tochter auch nicht daran, ihrer Begeisterung nachzugehen. Hilde spielt im Kabarett »Die Wespen«, einer

Später lernt Hilde über den Schriftsteller Erich Weinert den berühmten Theaterregisseur Max Reinhardt kennen. Sie spielt in zwei seiner Produktionen, eine am Deutschen Theater, eine an der Volksbühne. Hilde ist begeistert von der einfühlsamen Art, mit der Reinhardt den Schauspielern ihre Rollen erklärt. Einmal legt der Meister ihr während einer Probe den Arm um die Schultern und flüstert ihr ins Ohr, welche Art von Spiel er in der nächsten Szene von ihr erwartet. Hilde wird durch diese Vertraulichkeit so nervös, dass sie vergisst, was Reinhardt ihr gerade gesagt hat, und prompt die Szene verdirbt.

Im Winter 1929 verliert Hilde auf einmal ihre Stimme. Sie konsultiert verschiedene Ärzte, aber keiner kann die Ursache ihres plötzlichen Verstummens erklären. Einer der Mediziner kommt auf die Idee, sie zum Nervenarzt und Psychologen Dr. Fritz Fränkel zu schicken, der offenbar in dem Ruf steht, schon so manchem Künstler aus einer körperlichen Unpässlichkeit geholfen zu haben. Nach ein paar Besuchen bei Fränkel kann Hilde wieder sprechen,

 

»So haben sich meine Eltern kennengelernt«, sagt Onkel André, zu dem ich gefahren bin, um mir von Hilde erzählen zu lassen. André sitzt in einem schweren Ohrensessel im Wohnzimmer seines Hauses im Londoner Stadtteil Camden. Er hat einen zerzausten grauen Bart und lustige Augen, die ständig in Bewegung sind. Manchmal trägt er eine russische Schapka aus schwarzem Fell und sieht aus wie Lenin kurz vor dem Ausbruch der Oktoberrevolution. Für mich war Onkel André schon immer sehr alt. Und sehr besonders. Das Erstaunlichste an ihm sind seine Freundlichkeit und die beschwingte Neugier, mit der er die Welt betrachtet. Er ist an allem interessiert, will alles verstehen. Er sagt, Hilde sei sehr beeindruckt gewesen von Fritz Fränkel, nicht nur, weil er so klug und kultiviert gewesen sei, sondern weil er offenbar die Gabe hatte, den Menschen in die Seele zu schauen, sie zu fühlen, sie zu verstehen.