Horst Herrmann
Ketzer in Deutschland
Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co. KG
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Horst Herrmann, geb. 1940, lehrte Theologie an der Universität Münster. Veröffentlichungen (u. a.): Ein unmoralisches Verhältnis, Anmerkungen eines Betroffenen zur Lage von Staat und Kirche in der BRD (1974); Die sieben Todsünden der Kirche, Nachwort Heinrich Böll (1976); Savonarola (1977). – Zum Fall Horst Herrmann: »Die Bannbulle aus Münster oder Erhielte Jesus heute Lehrverbot?« (1976).
Ein Meister Eckhart, ein Jan Hus, ein Martin Luther, ein Thomas Müntzer, ein Reinhold Schneider, ein Heinrich Böll stehen als Fanale für Gegenströmungen in der Kirche. Dazwischen gibt es unzählige unbekannte Namen. Auch ihnen soll in dieser Ketzerchronologie zum Licht verholfen werden, ihre auch durch Inquisition, Folter, Existenzentzug unbeugsame Haltung soll Würdigung erfahren.
Horst Herrmann möchte mit dem vorliegenden Buch zum einen den Informationsmangel zum Thema »Ketzerei« tilgen, zum anderen einen Denkanstoß für eine prinzipielle Neubesinnung leisten: Religion der Zukunft wird, wenn überhaupt, eine pluralistische Religion sein.
Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
Erschienen bei KiWi Bibliothek
© 2016 Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln
Covergestaltung: Rudolf Linn, Köln
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
Impressum der Reprint Vorlage
ISBN (eBook) 978-3-462-41001-3
Daß die Geschichte eine bessere Gesellschaft aus einer weniger guten verwirklicht hat, daß sie eine noch bessere in ihrem Verlaufe verwirklichen kann, ist eine Tatsache; aber eine andere Tatsache ist es, daß der Weg der Geschichte über das Elend und das Leiden der Individuen führt …
MAX HORKHEIMER
Das Phänomen der sogenannten »Ketzer« ist bis jetzt kaum aufgearbeitet worden. Schon gar nicht beim »Kirchenvolk«. Auch in der (katholischen) Theologie fehlt noch immer ein Standardwerk. Das wundert einen nicht, denn im Dienste der kirchenoffiziellen Wissenschaft behandelt man dieses Thema nicht gerne. »Ketzer« sind nämlich, von oben her gesehen, nichts anderes als Störenfriede, Abweichler und Systemveränderer, Leute eben, die nicht besonders gut zu der Mehrheit passen …
Dabei hat es zu allen Zeiten solche Menschen gegeben. Oft genug haben sie die kirchliche Doktrin und Disziplin fortgedeutet, für die Zukunft interpretiert und gelebt, bisher verschüttete Wahrheiten wieder zu allgemeinem Bewußtsein gebracht.
Es ist der modernen sozialtheoretischen und religionswissenschaftlichen Betrachtungsweise vorbehalten geblieben, auf diese Leistungen aufmerksam gemacht zu haben. Sie deutet das Phänomen der »Ketzerei« genauer: Als signifikanten Sonderfall des Abweichlertums und der Minorität schlechthin – und auch als Anwendungsfall der Eliminierung von Unbequemen. Das kirchenhistorisch immer schon präsente Material wird seither mehr und mehr transparent gemacht.
Je weiter aber dieser Aufklärungsprozeß fortschreitet, desto sublimer werden auch die Mittel neuzeitlicher Eliminierung: Allein die Durchsicht der alltäglichen kirchlichen Geschäftskorrespondenz von heute läßt da mehr Schlüsse zu als der Blick in die Folterkammern von ehedem.
Dieses Buch möchte zum einen die notwendige Information für einen breiteren Leserkreis bieten, indem es – an deutschen Beispielen konkretisiert – das Thema »Häresie« aufarbeitet; zum anderen möchte es einen Denkanstoß für eine prinzipielle Neubesinnung leisten: Religion der Zukunft ist, wenn überhaupt, eine Religion, die sich strikter als in ihrer Geschichte an das verbindliche Wort des Jesus von Nazaret hält und daher »das Unkraut mit dem Weizen bis zur Ernte wachsen« läßt, ohne sich dauernd um das Getto der »gesunden Lehre« zu kümmern.
Im übrigen planen Autor und Verlag, diesem Band einen zweiten über »Heilige in Deutschland« folgen zu lassen, der eine andere Seite der ganzen kirchlichen Wahrheit behandeln soll.
Münster, den 18. Oktober 1977
HORST HERRMANN
Weshalb hört man – im Raum der Kirchen und darüber hinaus – von den »Ketzern« ungleich weniger als etwa von den »Heiligen«? Wer weiß denn wirklich etwas Handfestes über all diese Menschen, die in den offiziellen Büchern immer nur in die »Anmerkungen« abwandern müssen, die eben erledigt sind, die eigentlich als überwunden zu gelten haben – und die doch meist nicht weniger für uns alle, für ihre Gesellschaft und Zeit, auch die der Kirchen, getan haben als die so offiziell Gefeierten, die ständig Hochgelobten?
Das mag etwas mit den frommen Büchern zu tun haben, die man immer wieder vorgelegt bekommt. In diesen Legenden ist ja alles so schön am Platz. Alles hat seine richtige Ordnung. Allerhand ist aufgeräumt. Die Heiligen haben sich seit Beginn ihres Lebens fest in der Hand. Versager darf es da einfach nicht geben. Nur der Erfolg, der »Sieg« zählt. Niederlagen werden behende in Überlegenheiten umgedeutet. Vom endgültigen Scheitern aber ist nicht die Rede. Am Schluß zumindest darf, wie in den Wildwestfilmen alter Machart, immer wieder das »Gute« triumphieren. Die Bösen hingegen sind besiegt, ausgerottet.
Und die Welt ist aufgeteilt. In Gute und in Böse. In »Sieger« und in »Unterlegene«. Man weiß künftig, woran man ist.
Nur einen Haken scheint das ganze Unternehmen zu haben: Schon ein Kind ahnt oder weiß, daß es eine solch aufgeräumte Welt gar nicht geben kann. Nicht einmal geben darf. Denn die Wirklichkeit der Welt – und die der Kirche – ist ungleich härter, unausgeglichener. Die frommen Bücher erzählen eben nur von der halben Wahrheit. Und ausgerechnet die ist auf die Dauer ziemlich langweilig.
Viele Menschen haben diesen einfachen Sachverhalt bis heute noch nicht zur Kenntnis genommen. Denn sie sind – von Kindheit auf – einseitig erzogen worden. Ihre Eltern haben vielleicht gemeint, es sei die beste Erziehung für das Leben, wenn sie ihrem Kind nur die Schokoladenseite der Dinge zeigten, sie allein mit wunscherfüllenden, angenehmen Dingen konfrontierten. Diese einseitige Wegzehrung nährt jedoch die Persönlichkeit nur einseitig, und das wirkliche Leben hat eben auch seine Schattenseiten.
Dennoch sind viele Eltern kaum einmal dazu bereit, ihren Kindern zu sagen, daß vieles, was im Leben nicht in Ordnung ist, seine Ursache in der menschlichen Natur hat, in Zorn, Angst, Aggression, Egoismus und unsozialem Verhalten der Menschen. Ihre Kinder sollen vielmehr glauben, alle Menschen seien von Natur aus gut. Dabei wissen gerade die Kinder nur zu gut, daß sie selbst hin und wieder böse sind; und oft, wenn sie es nicht sind, wären sie es doch viel lieber wieder. Diese Erfahrung widerspricht aber dem, was sie von den besorgten Eltern zu hören bekommen.
Die andere Seite der Wahrheit, gerade auch die »finstere«, die von den Siegern verdunkelte oder einseitig bestimmten Personen in die Schuhe geschobene, ist nämlich eine Realität. Der optimistische Fortschrittsglaube so vieler Menschen von heute, derjenige der Zweckoptimisten unter den Siegern nicht ausgenommen, tut aber so, als existiere die dunkle Seite des Menschen oder der menschlichen Institutionen nicht. Wie aber soll es unter diesen Umständen einem Menschen gelingen, seinem Leben einen Sinn zu geben?
Dabei ist es doch erklärte Absicht aller richtigen Erziehung, dem Menschen zu helfen, auch das Problematische des Lebens zu akzeptieren, ohne sich dadurch besiegen zu lassen. Das Rezept eines Sigmund Freud etwa lautet nicht von ungefähr: Nur durch mutiges Kämpfen gegen scheinbar übermächtige Widrigkeiten kann es dem Menschen gelingen, seinem Leben einen wirklichen Sinn abzuringen.
Und gerade das Kind sollte in seiner Entwicklung lernen, sich selbst immer besser zu verstehen. Erst dann vermag es auch andere zu verstehen und schließlich befriedigende und sinnerfüllte Beziehungen mit ihnen herzustellen und zu erhalten. Dieser Weg ist sehr neu – und sehr beschwerlich. Manche Erwachsene haben ihn noch nicht ganz zurückgelegt. Auch sie ringen noch ständig mit sich und ihrer Umwelt.
Weil das moderne Leben aber so kompliziert wirkt, muß man demjenigen, der zu erziehen ist oder der, als »Erwachsener«, sich selbst weiterzuformen hat, alle Möglichkeiten geben, sich selbst in dieser Welt zu verstehen und dem Chaos der eigenen Gefühle und Empfindungen einen bestimmten Sinn abzugewinnen. Daß dieses Ziel nicht erreicht wird, wenn man wesentliche Komponenten der Welt und des Lebens einfach unterschlägt oder mißachtet, liegt auf der Hand. Und daß man gerade im religiösen Bereich nicht mit Halbwahrheiten operieren darf, müßte ebenfalls außer Zweifel stehen. Nur so kann man nämlich zur Wahrheit erziehen.
Wir fragen also, um des Ganzen willen, ob man nicht doch einmal nach der verborgenen Seite dieser kirchlichen Wahrheit schauen sollte. Ob es da nicht noch einiges zu entdecken gäbe? Wer weiß?
Eine solche Entdeckungsreise ist allerdings nicht ungefährlich. Wir sind dafür kaum gut genug ausgerüstet. Im Geschichtsunterricht der Schulen jeden Typs hat man da bis vor kurzem ebenso geschlafen wie in der Religionslehre. Die Vorliebe der Lehrer und ihrer Bücher für die »Helden« war nur zu bekannt. Die Könige, die Generäle und die Kirchenfürsten waren stets interessanter als die Unterlegenen, die Abweichler, die Kleinen. Und so hat man sich darauf beschränkt, die Jahreszahlen der Großen zu memorieren. Über Jahrhunderte hinweg. Die Unterlegenen aber, die gaben nur noch den dunklen Hintergrund für so viel Goldmalerei ab. Diejenigen, die den Großen dabei behilflich sein mußten, das Podest der Historie zu erklimmen, hat man über all dem vergessen. Einfach übersehen. Sie sind in die Fußnoten der Geschichtsbücher abgerutscht. Man liest und hört allenfalls mit frommem Schauder von ihnen, den »Gescheiterten«. Was bleibt, sind immer die »Sieger«. Was überleben darf, ist fast ausschließlich das Gewaltige.
Vor soviel Gewalt und Siegerglück aber grauste es mir schon immer. Denn ich hatte mir überlegt, ob man den Siegern wirklich so unbesonnen folgen dürfe. Kann man denn mit der Gewalt – und mit den Geschichten über sie – leben? Oder wäre es nicht ehrlicher, auch die andere Seite mitzubedenken? Sollen wir immer nur die Namen der Könige auswendig lernen, die Kirchengeschichte immer nur nach den Päpsten einteilen, unser Leben ständig an den Heiligen orientieren? Ist nicht gerade dies der Beginn der Langeweile, der Anfang auch der Unwahrheit? Das wäre doch einer Überlegung wert.
Wer die ganze Wahrheit kennenlernen will, der sollte nicht bei den Legenden stehen bleiben, sondern weiterfragen. Hinter die Kulissen auch und gerade der »Sieger« schauen. Denn die Sucher der Mächtigen können eben nur Teilaspekte des Ganzen bieten, nicht viel mehr. Der Himmel, den sie ausmalen, ist derjenige der Orthodoxie, eine recht aufgeräumte und blitzblank geputzte Lokalität gewiß, aber wohl nur eine der vielen Wohnungen, die sich – wie kein Geringerer als Jesus von Nazaret meint – im Haase des Vaters finden lassen.
Vielleicht wohnt es sich in den übrigen Behausungen auch gar nicht so schlecht, wer weiß? Bevor wir uns daran machen, die Bewohner der »anderen Zimmer« aufzusuchen, müssen wir uns aber freimachen von all den offiziell vermittelten Vorstellungen, die uns so lange gefesselt haben. Denn die anderen, von denen man so wenig zu hören bekommt, wohnen durchaus nicht in der »Hölle«. So einfach, wie sich das manche noch immer vorstellen, hat es sich Gott nun doch nicht gemacht. Selbst die amtliche Kirche ist auf diesem Gebiet stets zurückhaltend, ja geradezu übervorsichtig gewesen. Sie hat immer nur festgestellt, daß ihr Glaube an die Auferstehung der Toten sagt, einige Menschen seien endgültig zur »Anschauung Gottes« gelangt, also, in vereinfachten Worten, »im Himmel«. Die vielen formell als »Heilige« anerkannten Menschen aus allen Jahrhunderten gehören dazu. Von ihnen berichten die erwähnten Bücher zu Recht.
Doch hat es sich andererseits keine Instanz der Kirche zugetraut, definitiv zu erklären, der oder jener konkrete Mensch habe sein ewiges Heil für immer verfehlt, sei also, wiederum vereinfacht ausgedrückt, in der »Hölle« gelandet. Das zu wissen und daran zu denken, ist gar nicht so unwichtig, vor allem, wenn man sich all der offiziellen Beschimpfungen, Beleidigungen und Bannflüche erinnert, die im Lauf der Kirchengeschichte wie ein unheilvolles Gewitter über die »Anderen« niedergegangen sind. Wir werden ja noch ausführlich davon hören, was die Verteidiger der einen Seite der Wahrheit denen auf der anderen Seite alles angetan haben, im Namen Gottes, versteht sich. Eine Flut von Schmutz wälzt sich da auf uns zu. Tröstlich nur ist zu wissen, daß dieser Strom die Verfolgten nicht ersticken konnte, auch wenn man ihr Gedächtnis ausgemerzt hat.
Und ebenso tröstlich ist die Erfahrung, daß es kaum einer von all den professionellen Verfolgern, Ausnahmen bestätigen die Regel, geschafft hat, schließlich seinerseits den offiziell anerkannten Heiligen zugerechnet zu werden. Wenn schon nicht die Wahrheit gesiegt hat, so doch die ausgleichende Gerechtigkeit. Wir aber wollen uns gar nicht ausdenken, was für ein Gesicht die Jäger da drüben in den ewigen Wohnungen gemacht haben, als sie die Gejagten, Gehenkten und Verbrannten dort ebenfalls am Tisch des Vaters sitzen sahen, sehen mußten …
Wer also ganz zuletzt wirklich »siegt«, steht so sicher gar nicht fest. Vielleicht kommen wir der göttlichen Endwahrheit da schon eher näher, wenn wir vermuten, daß wohl alle miteinander dem guten Willen Gottes unterliegen werden, die Hetzer und die Gehetzten.
Hienieden bei uns Menschen gelten jedoch Sieg und Niederlage als ausgemacht. Die Gewichte sind verteilt: Hier die Guten, da die Bösen, hier die Besitzer und Eigentümer der Wahrheit, dort die Irrenden. Diese Waage ist amtlich geeicht, da darf es eigentlich keinen Zweifel geben.
Wer aber hat diese Eichung wirklich vorgenommen? Die Sieger, also die eine Partei. Das macht stutzig. Denn so simpel kann es eigentlich gar nicht zugehen. Gerade die im menschlichen Abwägen und seinen Unwägbarkeiten begründete »Endgültigkeit» der offiziellen Geschichtsschreibung wird immer fragwürdiger. Und so wollen wir hier denn auch umgekehrt verfahren und versuchen, den Lebensschicksalen der »Unterlegenen« nachzugehen. Dieses Buch soll also keineswegs den vielen goldenen noch ein weiteres hinzufügen. Im Gegenteil, an Siegerliteratur ist ohnedies kein Mangel, wir wissen das schon. Fast sieht es so aus, als würden noch Generationen aus diesem Fundus leben können.
Nein, wir setzen uns entschieden von dieser Betrachtungsweise ab. Wir wollen das Gold der Siegergeschichte abkratzen und seinen Hintergrund freilegen. Dazu ist es notwendig, die offizielle Geschichte – und ihre Darstellungen – von ihrem Flitter zu befreien und sich konsequent genug all den vielen Vergessenen zuzuwenden, die da unter der Feingoldauflage der siegreichen Institution erstickt werden sollten. Da wird so manches zum Vorschein kommen, was das amtliche Bild korrigieren könnte. Da entdecken wir vor allem lebendige Menschen, denen von den Überlegenen ihrer Zeit Stillschweigen verordnet worden ist – und die doch weitersprechen. Ja, sie wenden sich an uns, nach so vielen Jahrhunderten. Sie wollen wieder gehört werden. Und ich meine, sie haben ein Recht auf späte, allzu späte Rehabilitation.
Die Beschäftigung mit ihrer »Sache« wäre gleichzeitig eine indirekte Anleitung zu selbständigem Denken und Handeln. Bisher sind wir ja fast völlig von jenen anderen abhängig gewesen, die den Ton der Sieger angegeben haben, mußten auf der breit ausgebauten und gut gepflegten Straße der Tradition dahinmarschieren, gleichsam im Gleichschritt. Links und rechts aber, so sagten unsere bisherigen Lehrer, lagen dunkle Wälder, unheimlich drohend, voll von Gefahren für uns, die wir da auf dem Asphalt der Gewohnheit gehen durften.
Und so ist denn unser Geschichtsverständnis in aller Regel von all den Obrigkeiten der Schule, des Staates und der Kirche geprägt, die – nach bester Gouvernantenübung – schon im voraus die nach ihrer Meinung guten Stückchen der Wahrheit für uns ausgewählt und die als unbekömmlich erachteten Stücke sorgfältig vor uns verborgen haben. Kurz und gut, wir sind bei Eklektikern in die Schule gegangen, bei Leuten somit, die es sich, bewußt oder unbewußt, zur Lebensaufgabe gemacht haben, aus dem übergroßen Angebot dieser Welt nur das für sich und die Sorgebefohlenen herauszupicken, was sie für richtig hielten. »Die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen!«, so würde das im Märchen heißen.
Ein solches Märchen aber wäre nicht schlecht erfunden, sondern wahr. Es ist in Wirklichkeit ja gar nicht anders: Die Informationen, die uns erreichen, sind vielfach gefiltert. Von wem? Von niemand anderem als von denen da oben. Von den Nachfolgern und Erben der »Sieger« von ehedem, mit denen sie, die Heutigen, mehr als nur die Tradition der goldenen Wahrheit verbindet. Doch davon, von der bis in Kleinigkeiten hinein gleichförmigen Mentalität all dieser sich zu Obrigkeit zählenden Menschen, wollen wir erst später sprechen. Fürs erste halten wir als Gedächtnisstütze nur das Eine fest: Unser historisches Wissen mußte sich bisher, alles im allem, fast notwendigerweise auf jene Bruchstücke beschränken, die es geschafft haben, durch eines der recht engmaschigen Informationsfilter der Beamteten zu fallen. Das meiste fällt da einfach unter den Tisch.
Auch der Einwand, heute sei das alles grundlegend anders geworden, verfängt nicht – oder nur bei denen, die sich bereits an ihr Untertanendasein gewöhnt haben. Zwar erfährt man seit einiger Zeit immer mehr, zumindest vom Zeitgeschehen. Doch stammen diese Informationen wiederum nur zum kleinsten Teil von der kirchlichen Obrigkeit. Diese hält nach wie vor dicht, nach alter Väter Sitte, und erscheint geradezu unangenehm berührt, wenn doch etwas durchsickert, auf dem Wege der »Indiskretion«, versteht sich. Nein, von dieser Seite ist nicht eben viel zu erhoffen. Der Beruf eines bischöflichen Pressesprechers ist für richtige Journalisten daher auch nicht besonders attraktiv. Für Filternachrichten und deren Lautverstärkung ist eben nicht jeder zu haben.
Am besten machen wir uns eben selbst auf den Weg, um nachzusehen, was es mit der »Wahrheit« auf sich hat. Mit der ganzen. Wir wollen uns doch, schon aus Gründen der Gerechtigkeit, nicht einfach damit abfinden, daß seit Menschengedenken lobend immer nur von denen berichtet werden soll, die von den Siegern den Ihren zugerechnet werden. Wir dulden es nicht länger, daß von all den Leidenden der kirchlichen Geschichte und Gegenwart, deren Schmerz schon deswegen verschwiegen zu werden pflegt, weil er sich so oft gegen die Sieggewohnten gerichtet hat, keine Rede ist.
Mit diesem »frisch hindurch« öffnen wir ein wenig die eigenen Augen für die Problematik des Leidens und zugleich für die Ungeheuerlichkeiten jeder obrigkeitlichen Einseitigkeit, für den Raub der wenigen am Besitz der vielen.
Man wird im Jahr 1978 ja noch, ohne Strafandrohungen befürchten zu müssen, offen fragen dürfen, wie es eigentlich um ein Geschichtsverständnis bestellt sei, das da in so selbstverständlicher Weise gefiltert werde, nicht zuletzt um seinen Vermittlern die Chance zu erhalten, alle »Gläubigen« gleichmäßig und ohne jede nennenswerte Abweichung auf die Tradition der Sieger einzuschwören. Oder macht diese gewollte Einheitlichkeit etwa nicht betroffen? Vermittelt sie nicht doch ein ungutes Gefühl?
Die »Abweichler« haben jedenfalls eine ähnlich lange Tradition wie die Leute, die sich zum Block der Mehrheitsdoktrin rechnen. Seit dem 13. Jahrhundert nennt man diese Menschen kurzerhand »Ketzer«. Die Herkunft dieses (Schimpf-)Namens ist dunkel. Aber das tut nicht viel zur Sache. Viel wichtiger ist unsere Feststellung, daß es sich bei ihnen um Menschen handelt, die für ihr gutes Recht gestritten haben, den Mächtigeren aber nicht gewachsen waren. Und so hat man sie schließlich ermordet, in den meisten Fällen grausam verbrannt. Auf dem Scheiterhaufen, den die Sieger gerne, allzu gerne angezündet haben. Nur Asche ist übriggeblieben. Und oft genug nicht einmal die. Denn die stolzen Sieger hatten sogar noch Angst, die versteckten Anhänger der Ermordeten würden diese Asche sammeln, um ein Andenken zu besitzen. Diese Angst war gar nicht so unbegründet. Bei den offiziellen Heiligen war das mit dem Sammeln von Reliquien, von heiligen Resten auch nicht anders. So konnte man nach dem Tod des Vorbilds ja immerhin ein paar persönliche Andenken mit nach Hause nehmen und dort verehren. Das ging aber doch wohl nur an, wenn es sich um »richtige« Heilige handelte, meinten die Siegermächte. Im Falle der »Ketzer« jedoch war das unpassend. Da war die Asche gefährlich. Und jeder, der Lust zeigte, sich die Überreste eines von den Offiziellen Verbrannten als Andenken mit nach Hause zu nehmen, machte sich nur verdächtig. Deshalb wurde die Asche der Ketzer in alle Winde zerstreut, meist ins Wasser geworfen. Nichts mehr sollte an die Unterlegenen erinnern.
Nur hatten die Sieger auch in diesem Falle wieder die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Denn das Wasser hat die Asche immer weiter getragen, vom Bach in den Fluß, von diesem in das Meer. Und auf diese stille Weise ist es dem »Ketzer« gelungen, wenigstens symbolisch sein Anliegen viel weiter zu verbreiten als das seine Henker geahnt hatten. Am Ende triumphiert also wieder einmal der Unterlegene, auf seine besondere Weise.
Verbrennung des Johannes Hus zu Konstanz 1415. Holzschnitt aus der Chronik des Ulrich von Richenthal, Augsburg 1483.
So ist zu Konstanz am Bodensee, wir nennen nur ein einziges Beispiel aus Deutschland, im Jahre 1415 der hartnäckige Ketzer Jan Hus bei lebendigem Leibe verbrannt worden. Seine Asche aber wirft man – der Tradition folgend – kurzerhand ins Wasser. Ein im Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchiv einzusehender Holzschnitt aus der Chronik des Ulrich Richenthal von 1483, welche die Ereignisse um das Konstanzer Konzil darstellt, vermeldet dazu lapidar: »hie ward die aesch des hussen als er verbrant ward und sein gebein in den rein gefuert …« Die Sieger auf dem Konzil, die tonangebende Partei in der damaligen Kirche wie ihre Mittäter auf weltlicher Seite haben damit ganze Arbeit geleistet. Die abweichlerische Lehre ist endgültig besiegt, so meinen sie. Dabei glimmt die Glut des radikalen Ketzers unter der Asche einfach weiter, und der tote Abweichler lebt in seinen Anschauungen über die Jahrhunderte fort. Die Namen seiner Besieger sind zumeist vergessen, der seine jedoch nicht. Muß man da überhaupt noch fragen, wer am Schluß wirklich überlebt hat?
Dabei haben die Täter, ganz im Vollgefühl, die reine Wahrheit – und nichts als diese – zu besitzen und zu verteidigen, seit jeher praktisch nichts unterlassen, um das Andenken an die Ketzer auszulöschen. Verfolgt man ihre Anstrengungen, so tun sie einem beinahe ein wenig leid. So viele Mühen, so viele Denunziationen, so viele Klageschreiben, so viel Tinte, so viel Geist, so viel guter Wille für das Wahre, so viele subtile Grausamkeiten und Folterungen, so viel Feuer – und doch alles ohne dauerhaften Erfolg.
Die Sieger von ehedem scheinen ganz übersehen zu haben, daß man mit derlei Methoden, und würden sie über Jahrhunderte hin angewendet, nichts erreichen kann. Martin Luther, einer der deutschen Ketzer, von denen noch die Rede sein muß, hat das seinerzeit viel besser gewußt. Er schreibt: »Ketzerei kann man nimmermehr mit Gewalt wehren. Es gehört ein anderer Griff dazu und ist hier ein anderer Streit und Händel denn mit dem Schwert. Gottes Wort soll hier streiten, wenn das nichts ausrichtet, so wird’s wohl unausgerichtet bleiben von weltlicher Gewalt, ob sie gleich die Welt mit Blut füllet. Ketzerei ist ein geistig Ding, das kann man mit keinem Eisen hauen, mit keinem Feuer verbrennen, mit keinem Wasser ertränken.« Recht so, sagen heutzutage einige. Aber noch längst nicht alle. Denn manche professionellen Hüter der Wahrheit rennen noch immer hinter den anderen, den »Irrenden« her und versuchen, diese mit allen Mitteln zur Wahrheit der Sieger zu bekehren. Wir hören noch davon.
Vorerst aber sei uns wieder ein Stück gesunder Skepsis erlaubt. Wir erinnern nämlich daran, daß es im Lauf der Kirchengeschichte ohnedies nie so ganz eindeutig gewesen ist, wer denn nun eigentlich die Wahrheit und wer den Irrtum vertreten hat. Wilde und geradezu ausfällige Kämpfe sind zwar zu allen Zeiten geführt worden, doch zumeist um Fragen, von denen heute nur noch die Spezialisten etwas verstehen. Für viele von uns ist das einfach viel Lärm um nichts. Wir stehen ja heute recht reserviert all diesen Auseinandersetzungen gegenüber, welche da geführt worden sind von Päpsten und Kaisern, von Bischöfen und Theologen, von Gegenpäpsten auch, die sich gegenseitig in schönster christlicher Eintracht für »Ketzer« hielten und deren Klagen und Gegenklagen sich ständig überkreuzten. Für uns Heutige ist das meiste von alldem nur noch historische Erinnerung. Recht so. Was soll’s?
Und doch dürfen auch wir eine wichtige Tatsache nicht einfach übersehen: Sehr viele Menschen, auch in unserem eigenen Land, haben für diese Streitigkeiten, die uns nicht mehr in jedem Falle sonderlich viel bedeuten können, ihr Leben eingesetzt – und verloren. Sich ihrer zu erinnern, ist mehr als eine fromme Anmutung. Ihr Gedächtnis ist Verpflichtung, denn sie haben es gewagt, sich zu ihrer Zeit den Mächtigen und deren Ansichten entgegenzustellen, und dafür ihr Leben in die Wagschale des Todes geworfen. Ein solches Opfer darf nicht ganz umsonst gewesen sein. Rückgrat zu beweisen, ist nämlich noch immer eine so seltene Angelegenheit, daß man eigens darauf hinweisen muß, wenn sich Menschen mit dem Mut zur eigenen Sache finden. Und es ist ganz schön zu wissen, daß es in der großen Masse der Angepaßten und der Mitläufer noch zu allen Zeiten einige wenige gegeben hat, auch in unserem Land, die aufbegehrt haben, Leute also mit einer förmlichen »Ketzergesinnung«.
Diese Menschen scheuten sich kaum einmal, mit ihren »inneren Vorbehalten« zu leben. Eben dieses Verhalten aber braucht nichts Gestriges zu sein. Auch heute kann man es Stück um Stück einüben. Je mehr wir von den Menschen erfahren, die ihr Leben ganz auf der anderen Seite verbracht haben, desto einsichtiger und leichter nachvollziehbar werden eben diese Vorbehalte werden. Denn angesichts der Leiden der Unterlegenen erwirbt man sich mit der Zeit ein gesundes Mißtrauen gegenüber den Anschauungen der Herrschenden, mögen diese auch mit noch so viel Pomp vorgetragen werden. Und das ist gut so. Es zeugt von geistiger und seelischer Gesundung. Die Untertanenmentalität, diese scheinbar unheilbare Krankheit der meisten Menschen (gerade in Deutschland), hört damit auf zu existieren. Zumindest werden wir Rekonvaleszenten.
Die Heilung umfaßt aber noch mehr. Zusammen mit der Untertanenhaltung im geistlich-kirchlichen Bereich könnten ja auch, so meint Adolf Holl, ein Ketzer unserer Tage, der Respekt vor Definitionen aller Art sowie die Fügsamkeit gegenüber siegreich-einseitigen Traditionen schwinden, wenigstens in gleichem Maße wie das plumpe Fasziniertsein von allem Gewaltigen, Pompösen und Bedeutenden und so weiter, ja selbst wie das blinde Vertrauen auf die »letzten Wahrheiten« und auf die »Grundwerte« der Mächtigen sowie auf die idealisierte Vergangenheit, nämlich die sieghafte der Gewalttäter.
Und noch eine Überlegung: Alle bekannteren Religionen haben in Ketzergesinnungen ihren Ursprung. Erst später, nach ihrer Konsolidierung, haben dann die Vielen, die mit dem Strom Schwimmenden, das Sagen bekommen. Zu Beginn aber, vor der Institutionalisierung der großen Ketzergedanken des Anfangs, gingen die Abweichler voran. Das Judentum etwa war eine strikte Abkehr von der Götterbetriebsamkeit der damaligen heidnischen Umwelt. Die frühe Christenheit hatte ständig mit der staats- und religionstragenden Ideologie im großrömischen Reich zu kämpfen. Die Reformatoren waren ihrerseits wieder mit dem etablierten Kirchentum ihrer Zeit, welches den großen Anfang des Jesus von Nazaret längst vergessen hatte, unzufrieden. Abweichler und Ketzer finden sich also immer wieder, und nicht am schlechtesten Platz der Geschichte.
Gott sei Dank, möchte ich sagen. Es ist gut und schön, daß es nicht nur Sieger gibt. Nicht nur Raubfische, die mit dem Strom schwimmen und dabei fett werden …
Gott sei Dank haben wir Menschen auch ein anderes klassisches Erbe, das der »Ketzer«. Diese Erbschaft selbst ist im übrigen gar nicht so klein. Sie besteht unter anderem darin, das Bestehende nicht von vornherein ernster zu nehmen als das Mögliche und daher immer wieder mit der Chance der Veränderung zu rechnen. Gelingt einem dies, so kann man die Langeweile des Etablierten nur allzu froh den Hütern der Institutionen überlassen.
Wenn es zwei Seiten der Wahrheit gibt, so steht noch gar nicht fest, welche von den beiden die »bessere« ist. Viele Menschen, mit denen ich mich darüber unterhalten habe, sind einer ähnlichen Meinung. Im stillen findet sich nämlich sehr viel mehr an innerem Vorbehalt, auch an Zweifel an den Wahrheiten der Sieger, an Spott über die da oben als diese selbst glauben. Es gibt viele Menschen unter uns, die ganz anders leben möchten als man es ihnen in der amtlichen Kirche zumutet.
Besonders viel Ketzergesinnung aber habe ich bei Kindern erlebt. Diese leben nämlich noch soviel ursprünglicher als die meisten der angepaßten Erwachsenen, daß es eine helle Freude ist, ihre Zweifel und ihren Spott gegenüber den Gewaltigen mitzuerleben.
Eine kleine Episode dazu: In einer deutschen Bischofsstadt mußten sonntags noch vor gar nicht allzu langer Zeit die jungen Priesteramtskandidaten in voller Montur vom Seminar zum Dom ziehen, zwei und zwei, um dort dem Pontifikalamt des Herrn Bischofs beizuwohnen. Volle Montur, das hieß: langer schwarzer Talar, weißes Rochett, auf dem Kopf das Birett. Da der Herr Regens (in violett!) hinter den jungen Leuten drein wandelte, war äußerste Zurückhaltung geboten. So schwieg man also lieber, verhielt sich angepaßt. Und die Frommen, die von der Straße aus das hehre Schauspiel mitverfolgten, schwiegen auch, voller Andacht und Erbauung. Nur einem Kind ist es seinerzeit, so geht die Legende, gelungen, dieses Traumspiel zu entlarven. Es rief, ein kleiner zweifelnder Ketzer, seiner Mama zu: »Schau mal, so viele Frisöre!«
Von Stund an war es mit der Ehrfurcht vor den weißen Rochetten vorbei. Keiner von all den Hochwürdigen Herren konnte die Erinnerung an das Kind und an dessen Entlarvung einer bestimmten Klerikermode aus seinem Gedächtnis streichen. Jener Herr Regens aber hat es seither nicht mehr geschafft, Talar, Rochett und Birett mit so salbungsvollen Vokabeln wie bisher schmackhaft zu machen. Alles dachte künftig nur noch an die »Frisöre«. Der Verblendungszusammenhang war zerstört. Ein für allemal. Was doch nur ein so kleiner und unschuldiger »Ketzer« alles anrichten kann!
Yaak Karsunke hat im Prolog zu seiner Bauernoper aus dem Jahre 1973 diese Richtung weitergewiesen:
Damen und Herren –
wir zeigen heute
Ein einfaches Stück, über einfache Leute
Die man so lange bescheißt
Bis ihnen schließlich der Geduldsfaden reißt
So daß sie sich gewaltsam erheben
Was viele von ihnen leider nicht überleben
Sowas passierte vor rund 450 Jahren
(Und nicht etwa bei den Krimtataren)
Es handelt sich vielmehr um deutsche Bauern
Die sollt ihr nun nicht etwa bedauern
Wir finden nur, daß ihr euch wundern müßt
Wie wenig ihr über eure Vorfahren wißt
Oder sitzen hier lauter Königskinder?
Schindet man euch oder seid ihr selbst Schinder
Landes-Auspresser, Kleine-Leute-Würger?
Seid ihr Könige oder Bürger?
Wir denken, daß ihr Bürger seid
Drum stoßen wir euch heute bescheid
Und müssen euch vor allem mahnen:
Hört ihr von Fürsten – fragt nach den Untertanen!
Über die steht in Büchern meist wenig drin
Und das wenige ist noch im Obrigkeits-Sinn
Geschrieben, um euch ruhig zu halten
Denn: kriegt ihr auf der Stirn erst mal Falten
Vom Grübeln über den Lauf der Welt
Kann sein, daß da mancher drüber stolpert und fällt
Der jetzt noch ruhig oben sitzt …
Deutlicher Deutendes gibt es eigentlich gar nicht mehr zu sagen. Es handelt sich demnach im folgenden um das Auf- und Nachzeichnen einer langen Tradition von Verfolgten und um nichts anderes. Um eine Vergangenheit also, der nachzuspüren es sich lohnt, zumal es sich nicht um diejenige der Krimtataren handelt, sondern um die unseres eigenen Volkes. Zwar haben die Sieger nichts unterlassen, um sich an den Unterlegenen zu rächen. Oft genug hat man die »Ketzer« und viele ihrer Anhänger nicht nur physisch vernichtet (bis hin zum Ausstreuen ihrer Asche), sondern auch ihr Andenken in den Schmutz der amtlichen Verleumdungen gezerrt. Für lange Jahre ist daher die lebendige Person des Ketzers in einem dichten Gespinst von Fälschungen, Unterstellungen und Erfindungen, in einer Dornenhecke der Vergröberungen und Verdrehungen untergegangen. Was übrig blieb, war zumeist ein Popanz, ein Monster, ein Schreckgespenst. Und doch hat es sich immer wieder nur um einen langen Schlaf, nicht aber um den Tod des Ketzers gehandelt.
In der langen Tradition der Hoffnungen und der Sehnsüchte lebte nämlich der Unterlegene fort. Natürlich ist diese Tradition nicht so sehr in literarischen Quellen oder in Dokumenten greifbar. Und doch gibt es sie. Am eindeutigsten noch leuchtet sie in eben den »Anmerkungen« der Siegerliteratur auf, die nie umhin können, den Sieg der eigenen Seite auf dem dunklen Hintergrund der Unterlegenen auszumalen. Und zudem hätte man sich niemals eine solche Mühe bei der Verfolgung der Erinnerungen an die »Anderen« gegeben, wäre dies nicht immer wieder bitter nötig geworden.
Schon Martin Luther weiß das ganz genau, als er davon spricht, daß Thomas Müntzer, jener thüringische Wirrkopf, zwar tot sei, sein Geist aber weiterlebe. Und noch schlagkräftiger formuliert diese Erkenntnis Bernhard Wallde, der spätere Schosser zu Allstedt, am 19. Juni 1525, als er sagt, es sei »hoech von nöten, straeffvorzuwenden, dan Munczers geist regirt noch gwaldig. Whu dem nit gesteuert, ist zu besorgen, das die letzten ding so irig werden als di ersten.«
Mit dem »Steuern« aber scheint das doch nie so recht geklappt zu haben, denn die Fackel der Ketzerei und des Aufruhrs ist nie ganz verloschen, sondern von Hand zu Hand weitergereicht worden. Nikolaus Lenau, ein politischer Lyriker der deutschen Romantik, hat diese Erkenntnis in seinem Drama Die Albigenser (1842) in die Worte gefaßt:
Das Licht des Himmels läßt sich nicht versprengen,
Noch läßt der Sonnenaufgang sich verhängen
Mit Purpurmänteln oder dunklen Kutten;
Den Albigensern folgen die Hussiten
und zahlen blutig heim, was jene litten;
Naß Huß und Ziska kommen Luther, Hutten,
Die dreißig Jahre, die Cevennenstreiter,
Die Stürmer der Bastille und so weiter.
Die Opposition in der Kirche – und in der Gesellschaft – dauert also fort. Am besten dokumentiert wird diese These eben durch die nicht abreißende Beschäftigung der Sieger mit der Ketzer-Tradition.
Diese Bemühung war natürlich »negativ« gewendet: Man hat sich, weiß Gott, auf der Siegerseite alle erdenkliche Mühe gegeben, den Tod und damit das endgültige Aus über die »Anderen« zu verhängen. Dieser Tendenz der wenigen kam dabei vor allem ein in allen seinen Dimensionen auch heute noch nicht voll ausgelotetes Phänomen aus den Volksmassen selbst entgegen: die Lust am Durchschnittlichen. Man sollte also zunächst begreifen lernen, wie die menschliche Gesellschaft in der Regel reagiert, bevor man sich der ketzerischen Wirklichkeit nähert. Die Menschen akzeptieren gemeinhin am ehesten, was in eine bestimmte Schablone hineinpaßt, den Durchschnitt, die Mittelmäßigkeit. Durchschnittsleute haben daher auch kaum einmal Ärger, weder mit Vorgesetzten noch mit der Polizei. Dafür bleiben sie auch bis an ihr Lebensende nichts anderes als Mittelmaß.
Die Extremen jedoch werden von der Gesellschaft, die sich auf ein bestimmtes Verhaltensmuster geeinigt hat, kaum einmal richtig angenommen, weil es den meisten Menschen einfach nicht gelingt, jemanden anzunehmen, der sich nicht in die allgemeine Denkschablone einordnen läßt. Und jeder dieser »Außenseiter« wird deshalb nicht nur beargwöhnt, sondern geradezu attackiert. Die Sieger, gleichsam per definitionem Vertreter des Durchschnitts, ja bloße Sprachrohre der Mehrheit, haben somit noch immer ein leichtes Spiel gehabt. Man brauchte eigentlich nur auf die »Andersartigkeit« der kirchlichen Albinos hinzuweisen, ihnen die Etiketten des »schwarzen Schafes« umzuhängen – und schon hatte man die Mehrheit wieder auf seiner Seite. Die »Ketzer« aber, die waren plötzlich die Unpersonen, die ewigen Störenfriede innerhalb der allgemeinen Ruhe und Ordnung, die Nestbeschmutzer und so weiter. Das aus dem Griechischen stammende Wort »Häretiker« nennt diesen Sachverhalt noch klarer bei seinem wirklichen Namen: Leute sind das, welche aus dem Gesamt der gemeinsamen Tradition (Lehre, Disziplin, Praxis) von sich aus und für sich Teilstücke herausbrechen und sich zudem nicht einmal scheuen, ebendiese Bruchstücke wieder als das Gesamt auszugeben. Schlimm so was, oder etwa nicht?
Mit den »Schismatikern» verhielt es sich übrigens ähnlich. Auch sie sind – von den Siegern, wohlbemerkt – als diejenigen erkannt, gezeichnet und isoliert worden, die sich von der Mehrheit »abschnitten«, die Spaltspitze schlechthin. Und die »Apostaten«, welche die dritte Gruppe der Irrenden abzugeben haben, sind Leute, die vom Ganzen »abgefallen« sind, die größere Herde einfach aufgegeben haben.
Generationen von Kirchentheologen haben solche Bezeichnungen gebraucht und sie weitergegeben, nicht wenige unter ihnen in der stillen Genugtuung, zur Mehrheit zu gehören und es nicht nötig zu haben, sich mit »denen da draußen« die Hände zu beschmutzen.
Wir lernen schon an dieser Stelle, daß sich überall da, wo definitive Glaubenssätze (»Dogmen«) von einer in sich fest gefügten Institution verwaltet und nach außen hin verteidigt werden, auch Abweichler finden, die diese Dogmen und deren Administration angreifen, leugnen, verfälschen und verkürzen. Ohne den Anspruch, eine bestimmte Wahrheit erkannt und festgestellt zu haben, gibt es demnach auch keinen Anspruch, diese Wahrheit nicht akzeptieren zu können. Ohne Dogma gibt es keine Häresie – und umgekehrt.
Je anspruchsvoller aber eine »Wahrheit« behauptet und für die eigene Partei beschlagnahmt wird, desto eher wird sie auch wieder verzerrt und veruntreut. Das fühlen die »Ketzer«, die sich gegen die Verwalter des Wahren zur Wehr setzen, aus einem tiefen religiösen Ursinn heraus. Daß ausgerechnet die Ketzer nämlich nur kleine Geister ohne kirchlichen Impetus seien, lehrt allein die Siegerpropaganda. Der heilige Augustinus hingegen hat da klarer gesehen als die klerikalen Werbetrommler der Folgezeit, wenn er meint: »Glaubt nur nicht, daß Ketzereien durch ein paar hergelaufene kleine Seelen entstehen können. Nur große Menschen haben sie hervorgebracht.«
Ich bin der Ansicht, daß man der großen Tradition solcher Menschen nachgehen sollte, schon allein aus dem einsichtigen Grund, daß anschaulich genug werde, wie viele Wahrheiten durch amtliche Wahrheitswächter verschüttet worden sind und wie armselig und steril das Christentum wäre, würden seine großen und notwendigen Störenfriede es nicht immer wieder in Bewegung bringen. Denn nicht einmal die Sieger konnten leugnen, daß sie durch die Abweichler in Bewegung und Unruhe versetzt und gehalten worden sind. Die Ketzer prüfen ja die Kirche und deren Tradition immer wieder in sehr kritischer Reflexion – und nicht nur in bloßer Repetition. Sie schauen lieber vorwärts als zurück. Zwar verfallen sie immer wieder in Einseitigkeiten, verabsolutieren oft genug die von ihnen neu entdeckte Wahrheit. Und doch sind sie auch in ihrer Einseitigkeit ein ständig bohrendes Gewissen des Wahren gegenüber der Majorität. Die um die eigene Sicherheit und Ordnung besorgte Kirche aber sieht sich gezwungen, dieser religiösen Dynamik mit den Waffen der amtlichen Statik zu begegnen, ein recht zwiespältiges Unterfangen. Der unbeugsame Wille zur Opposition, dieser Wesenszug des Abweichlers, läßt viele Funktionäre nur den Kopf schütteln. Dabei wäre doch zu fragen, ob man nicht den Kopf schütteln sollte über das stete Mißverständnis der Sieger, ihre Kirche sei vor allem dazu da, ständig für law and order zu sorgen. Wo steht das denn geschrieben?
Wohl nirgends. Und doch erklärt sich aus diesem verfestigten Mißverständnis der trägen Sieger deren ständige Sorge um die Ruhe der Anvertrauten, die alte Feindschaft der langweilig Etablierten gegenüber dem fragenden Geist und seiner radikalen Kritikfähigkeit, gegenüber der Dynamik der intellektuellen Wahrhaftigkeit. Die Ketzer hinwiederum erinnern die Kirche durch ihr tragisches Aufbegehren daran, daß eine Wahrheit nicht in einem geschlossenen und widerspruchsfreien System kaserniert werden darf, ohne Gefahr zu laufen, früher oder später zur Lüge zu verkommen.
Im übrigen macht gerade der »Besitz« der Wahrheit ziemlich intolerant. Wer diese Erfahrung noch nicht gemacht haben sollte und dieser Meinung nicht zustimmen kann, der sei auf die lange Geschichte der Ketzerverfolgung verwiesen, die seit Jahrhunderten von allen religiösen Spielarten der Unduldsamkeit zu berichten weiß. Da ist viel Blut geflossen, auch und gerade in Deutschland. Ich meine jedoch, das sei, Tropfen für Tropfen, zu viel.
Die geistigen Bewegungen, die von den Siegern in den Untergrund gedrückt und blutig unterdrückt worden sind, repräsentieren nämlich eine christliche Opposition, wie sie lauterer selten in Erscheinung getreten sein mag. Walter Nigg sagt in diesem Zusammenhang mit einigem Recht, eben diese unterdrückte, in den Untergrund hinabgedrückte Auffassung von der »anderen Wahrheit«, vom wahren Evangelium auch, habe durch alle Zeiten hindurch immer wieder an die Türen der Christenheit geklopft und ganz still um Einlaß gebeten, ohne daß er ihr je gewährt worden sei. Und doch seien die unterschwelligen Strömungen bis auf den heutigen Tag nicht ganz versiegt.
Leider ist die Forschung diesem Problem noch viel zu wenig nachgegangen. Sie hat sich auf weiteste Strecken hin von den Vertretern der kirchenoffiziellen Richtung, der Schauseite des Christentums, dazu verleiten lassen, die »Anderen«, die im Verborgenen der evangelischen Geistigkeit Lebenden, als überwunden zu betrachten. Und so hat sie nicht selten Tod statt Leben diagnostiziert. Einen größeren Kunstfehler aber hätte sie kaum begehen können. Denn so unwichtig und zweitrangig sind die Besiegten nie gewesen. Sie vertraten stets einen enormen geistig-geistlichen Totalitätsanspruch. Diesem aber war die offizielle Kirche, die sich sehr bald mit dem Mittelmaß der vielen begnügen mußte, um überhaupt eine auch statistisch ergiebige »volkskirchliche« Gefolgschaft vorweisen zu können, kaum einmal gewachsen. Dem Zug ins Große und Radikale kann, tragisches Geschick jeder Kirche, die um jeden Preis »Großkirche« sein möchte, die Mehrheit jedoch nicht folgen. Deshalb muß die Bewegung der Radikalen auch von den Mittelmäßigen und ihren Argumentationsketten aufgehalten werden. Und so sind denn auch heutzutage die ketzerischen Bewegungen allesamt dogmatisch spezifiziert, klassifiziert und katalogisiert. Man hat sie inzwischen auch »ideologisch» abgestempelt. Jeder Theologiestudent, der etwas auf sich hält, weiß unterdessen zur Genüge, was all diese Leute seinerzeit falsch gemacht haben: Sie haben die »elitäre, die »reine«, die »arme« Kirche angestrebt und die Menschlichkeiten, die Sünden und die Mängel der Großinstitution nicht mit einkalkuliert.
Ob das aber alles ist, was wir über diese Menschen zu sagen haben? Oder ob man nicht auch einmal das Wagnis bewundern sollte, welches all die vielen offiziell Verfolgten und Hingemordeten auf sich genommen haben? Sie haben sich nämlich nicht gescheut, ihre eigene Wahrhaftigkeit der amtlich ratifizierten vorzuziehen. Sie lebten aus der inneren unaufgebbaren Verpflichtung, das, was ihnen eigentlich teuer und heilig war, vor aller Augen in Frage stellen zu müssen. Heinz Flügel spricht in diesem Zusammenhang vom spezifischen »Leiden des Ketzers« und fordert uns dazu auf, am Scheitern dieser Menschen zu ermessen, »welcher menschlichen Größe es bedarf, angesichts der ungeheuerlichen Suggestion der institutionalisierten überlieferten Wahrheit die Einsamkeit, die Unsicherheit, die niemals zur Ruhe kommende Frage zu wählen«.
Ob es für eine solche Wahl nicht doch der großen religiösen Natur bedarf? Diese Anlage, eines der ersten Kennzeichen des Ketzers, vielfach bestritten und doch immer wieder erobert und festgehalten, läßt den Ketzer eine bestimmte Wahrheit groß und scharf, ja überbelichtet sehen. Sie läßt ihn die Wahrheit auch mit der eigenen Ehre, mit dem guten Ruf, ja mit dem Leben bezahlen. Dieser Zug ins Unbedingte verdient schon ein wenig Anerkennung.
Dieser unserer Parteinahme können all die Versuche der Sieger, die Unterlegenen herunter zu spielen und zu diskriminieren, nichts anhaben. Die Beispiele für eine solche Verleumdung des Wahrhaftigen sind allerdings Legion. Ihr Niveau senkt sich von Mal zu Mal. Die Kleinen urteilen über die Großen. Und sie bemerken dabei noch nicht einmal, daß sie mit ihren Anwürfen wider Willen die Größe des Unterlegenen bezeugen. Die Kleinmütigen unter den Siegern aber sollten wenigstens zu verstehen suchen, was es für ein Menschenleben bedeutet, wenn man ihm – wie der große Ketzer Jan Hus – das Motto gibt: »Suche die Wahrheit. Höre die Wahrheit. Lerne die Wahrheit. Liebe die Wahrheit. Bleibe der Wahrheit treu. Verteidige die Wahrheit – bis in den Tod.«
Dieser Jan Hus ist für sein unbedingtes Festhalten an seiner Wahrheit im übrigen durch das Urteil der bedeutendsten damaligen Theologen ermordet worden. Im Namen Jesu Christi. Und seine Asche wurde »in den rein gefuert«. Wir wissen es bereits.