Veit Etzold
Dark Web
Thriller
Knaur e-books
Von Veit Etzold ist bereits folgender Titel erschienen:
Todesdeal
Dr. Veit Etzold ist Autor von vier Spiegel-Bestseller-Thrillern, die in sieben Sprachen übersetzt wurden. Er studierte internationales Management an der IESE Business School mit Stationen in Barcelona, New York, San Francisco / Silicon Valley und Shanghai. Er arbeitete für die internationale Strategieberatung Boston Consulting Group in Europa, Asien und den USA, Booz & Company, die Allianz Gruppe und als Berater für die globale Bergbaufirma Gaia Mineral Resources und die Investmentholding African Development Corporation in Ruanda, Hong Kong und Peking. Er ist Berater des Auswärtigen Amtes, Mitglied in unterschiedlichen Expertengruppen der Atlantikbrücke und Dozent für Geopolitik an der IESE Business School und an der Singapore Management University. http://www.veit-etzold.de/
© 2017 der eBook-Ausgabe Droemer eBook
© 2017 Droemer Verlag
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit
Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Redaktion: Antje Steinhäuser
Covergestaltung: NETWORK! Werbeagentur, München
ISBN 978-3-426-43989-0
Besser jemanden im eigenen Zelt haben, der rauspinkelt, als jemanden außerhalb, der reinpinkelt. (Übersetzung des Autors)
Für Roman Hocke und Markus Michalek von AVA international, ohne die es dieses Buch nicht geben würde.
Und natürlich auch wieder für Saskia …
Es gibt eine Menge Dinge, die wir gern machen würden, aber leider nicht tun können, weil sie illegal sind.
Weil es Gesetze gibt, die sie verbieten.
Wir sollten ein paar Orte haben, wo wir sicher sind.
Wo wir tun können, was wir tun wollen.
Larry Page, CEO Google, 2013
Die Angst hat große Augen.
Russisches Sprichwort
Jasmin Walters, auch genannt Johanna Langhaus, Abteilungsleiterin in der Abteilung Nemesis, Berlin
Roland Ressler, Direktor der Abteilung Nemesis, Berlin und Den Haag
Jürgen Kunhardt, Direktor des Bundesnachrichtendienstes (BND), Pullach und Berlin
Markus Olsen, Programmierer und White Hat Hacker bei Europol, Den Haag
Thomas Baker, Case Officer, MI6, London
Johannes Trautmann, Leiter der Abteilung Informationstechnik beim Bundeskriminalamt (BKA), Wiesbaden
Antonija, private und verdeckte Ermittlerin für die Gruppe Nemesis, u.a. Berlin
Birgit Breuer, Jürgen Kunhardts Sekretärin
Oliver Winter, Daytrader an der Börse und künftiger Inhaber der Plattform »Narcobay«, Berlin
Marc, genannt Vergil, inzwischen Hacker und Dark-Web-Experte, Berlin
Alexander Michalew, Chefstratege des Kreml und Stabschef des russischen Präsidenten, Moskau
Victor Ivanow, Direktor des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB/Nachfolger des KGB, Moskau
Vladimir Kowaljow, genannt »Vlad der Pfähler«, Chef der Solnzevskaja-Mafia, Moskau
Kyrill Karasow, rechte Hand von Vladimir, Moskau
Professor Ivan Ogarew, Akademischer Direktor des Forschungszentrums Skolkowo bei Moskau
Josef Shestakow, früherer akademischer Direktor des Forschungszentrums Skolkowo und Vorgänger von Ogarew, Moskau
Igor Andrejew, ehemaliger Assistent von Shestakow
Dr. Jacub Czerny, ehemaliger Chirurg, genannt Der Puppendoktor, Prag
Karloz, Schleuser und Menschenhändler und ehemaliger Offizier der rumänischen Geheimpolizei Securitate, Constanta, Rumänien
Abdul Al Dar, Menschenhändler und Schleuser, Kairo
Andrej Tatamowitsch, Vorstandschef der Novisbank, Moskau
Charles Taylor, CEO der Banco Angolano, Angola
Levin Wang, CEO der China First Bank, Beijing
Jürgen Schilling, Berater von Charles Taylor und ehemaliger Devisenbeschaffer der DDR, Starnberg
Investmentbanker aus London und New York
Jörg Tanner, Gründer und CEO der Vergleichsplattform Com-Pare, Berlin
Ben Howland, Investor und Inhaber des Venture Capital Fonds Anvil & Howland, Menlo Park, Kalifornien
Peter Thomson, Investor und Business Angel und Gründer von Thomson Disruption Fund, Palo Alto, Kalifornien
Gertrude (Gerda) Walters, Mutter von Jasmin
Carla Walters, Tochter von Jasmin und Lutz
Nina Winter, Frau von Oliver und Inhaberin eines Hochzeitsblogs, Berlin
Lutz Langhorn, Bildender Künstler und Meisterschüler der UDK Berlin, zudem Lebensgefährte von Jasmin Walters, Berlin
Spike, Mitarbeiterin für »besondere Aufträge« von Executive Solutions, Oslo
Slate, Auftragskiller im Dark Web, Aufenthaltsort unbekannt
Tony, Privatdetektivin
Joachim Warner, Journalist, Frankfurt am Main
HCL, Inhaber und Direktor von Executive Solutions, Wien
Marvin Bowers, Tourist aus Manchester in Berlin
Dr. Jürgen Rudolf, Direktor der Abteilung für Informationstechnologie und IT-Sicherheit, Europäische Zentralbank (EZB), Frankfurt am Main
Johannes Foltin, Abteilungsleiter IT-Schnittstellenmanagement, Europäische Zentralbank (EZB), Frankfurt am Main
Tanya, Waisenkind aus der tschechischen Republik
Yvonne, Flüchtling aus der Demokratischen Republik Kongo
William Grayson, Gründer von GH Associates
PRAG, AUGUST 2015
Mandarin Oriental Hotel
»Dann sind wir also im Geschäft?«, fragte der Mann, den alle Vlad den Pfähler nannten. Vladimir Kowaljow war der echte Name des Chefs der russischen Solnzevskaja-Mafia, die von Moskau aus den ganzen ehemaligen Ostblock kontrollierte und in Prag eine riesige Drehscheibe des Verbrechens betrieb. Und bald nicht nur in Prag. Sondern in ganz Ost- und Westeuropa. Und vor allem im Internet.
Der Pfähler war früher einmal der Beiname von Vlad Dracul gewesen, der später als Dracula weltberühmt wurde. Vladimir Kowaljow war zu diesem Spitznamen gekommen, weil er früher öfter seine Mädchen eingeritten hatte. Ein oder zwei sollen dabei gestorben sein.
Neben ihm saß Kyrill Karasow, Vlads rechte Hand, die riesigen Pranken um ein Wodkaglas gelegt, das Gesicht rauh und vernarbt, so als könnte man Parmesan daran reiben.
Oliver Winter blickte erst Vladimir Kowaljow und dann Kyrill Karasow an. Und dann nacheinander die fünf Leibwächter, die oben auf der Dachterrasse des Mandarin Oriental Hotels in Prag saßen. Sie alle hielten Zigaretten oder Zigarren in ihren riesigen Pranken, die bedeckt von Tätowierungen und bestückt mit schweren Ringen waren, Ringen, die gegen die Wodkaflaschen klirrten wie Ketten auf einer Galeere.
Schwere Ringe, schwere Zigarren, schwere Jungs, dachte Oliver.
Wobei schwere Jungs irgendwie romantisch klang. Doch hier war nichts romantisch. Der ganze obere Bereich des Hotels war abgesperrt. Schwarzgekleidete Bodyguards standen an den Eingängen. Und Kowaljows zwei Hunde, zwei eisgraue Weimaraner aus Deutschland, saßen zu den Füßen des Mafiabosses, wie früher die Tiger zu den Füßen Kleopatras. Peter und Josef hießen die beiden Tiere. Benannt nach Peter dem Großen und Josef Stalin.
»Sie helfen uns, ins Dark Web zu kommen«, sagte der Pfähler. »Sie machen die Online-Strategie für unser Kartell. Dafür kriegen Sie 15 Prozent von allem, was über Ihre Plattform geht.« Er schaute Oliver an. »Einverstanden?«
Oliver saß auf den letzten drei Zentimetern des Stuhls und nickte mechanisch.
»Sie sind sehr erfolgreich mit dem Verkauf von Drogen«, sprach Vlad Kowaljow weiter. »Ihre Seite, Narcobay, ist eine Legende geworden. In sehr kurzer Zeit.«
»Was haben Sie alles zu bieten?«, schaltete sich jetzt Kyrill Karasow ein.
»Alles, was Sie an Drogen kennen.« Oliver versuchte, weltmännisch und erfahren zu wirken. »Meth, Glass, Ice, K, E, Mitsu, Ames, Ex, Coke. Alles!«
»Und die Kunden wissen, dass es Sie gibt?«
»Natürlich! Wir sind bei Grams super geranked.«
»Grams?«
»Grams ist die Suchmaschine im Dark Web.« Genau genommen war Grams das Google des Dark Web. Am meisten wurde dort nach Drogen gesucht.
»Sonst noch etwas?«
»Waffen. Oder auch Hacking-Software. Zum Beispiel die, die beim Hack auf Sony eingesetzt wurde. Kostet nur dreißigtausend Dollar.«
»So wenig?« Vlad zog die Augenbrauen hoch. Kyrill machte sich eine Notiz.
Vlad zog an seiner Zigarre. Wahrscheinlich eine von denen, die achtzig Euro kosteten. Wobei nur zehn Cent davon bei den kubanischen Herstellern hängenblieben. Wenn überhaupt. »Was ist, wenn die Polizei kommt?«
»Dann finden sie nichts. Unsere Lieferanten haben das Zeug. Wir sind fein raus.«
»Und wenn doch? Wenn sie kommen? Mit Hunden?«
»Die Hunde merken nichts. Auch wenn wir es mal transportieren, kommen die Fahnder nicht dran. Wir reiben die Beutel mit dem Fleisch von verwesten Hunden ein. Das hassen die Hunde. Da gehen sie nicht ran. Und bellen auch nicht.«
Kyrill musste lachen. »Ist ja wie bei … wie heißt die Serie noch … Walking Dead.«
Oliver nickte. Er schien selbstsicher. Ein ruhiger See, auch wenn in ihm ein Orkan tobte. Wenn er einen Fehler machte, konnte er schon morgen tot sein. Oder noch heute. »Funktioniert aber genau so.«
Vlad beugte sich nach vorne, schaute kurz zu den beiden Weimaranern zu seinen Füßen und blickte ihn dann über seine gefalteten, tätowierten Finger an. »Wo habt ihr die toten Hunde her?«
»Ist das wichtig?«
»Ich will es wissen, darum ist es wichtig! Wir wollen zusammenarbeiten. Und wollen uns vertrauen. Oder etwa nicht?«
Es hätte Oliver nicht gewundert, wenn Vlad als Nächstes eine Pistole gezogen hätte. »Wir holen die toten Hunde aus dem Tierheim«, sagte Oliver. »Holen sie ab, bevor sie vom Kadaververnichter abgeholt werden. Kein Hund muss wegen uns sterben. Wir lassen sie verwesen. Und irgendwann kommen wir mit Gummihandschuhen und Plastikmänteln und reiben unsere Kartons … äh … damit ein.«
»Gute Idee.«
Oliver lächelte gequält. »Ich habe die Biografie von Pablo Escobar gelesen.«
Kyrill blickte ihn an. »Dem Drogenkönig aus Kolumbien? Wusste nicht, dass der eine Biografie geschrieben hat.«
»Hat er auch nicht. Ist eher eine Sammlung von Artikeln.«
»Schickst du mir die mal?«
»Klar.«
Vlad grinste. »Drogen, Hacking, Hunde.« Vlad, der Einzige, der heute keinen Wodka trank, trank von seinem Tee mit einer Miene, wie ein Militärdiktator von seinem Tee trinken würde, nachdem er gerade einen Erschießungsbefehl gegeben hatte. »Sie haben die Daten, Sie haben schon ein wenig Geld. Und wir haben die Waffen. Die Muskeln, während Sie das Gehirn haben. Allerdings …« Er zog an seiner Zigarre, »mit einem erweiterten Angebot werden wir alle noch viel mehr Geld verdienen.«
Oliver wusste, was der Mafiaboss meinte. Menschenhandel. Sexsklaven. Prostitution.
Oliver hatte alles im Dark Web gesehen. Jenem verborgenen Bereich des Internets, wo es alles gab.
Hier war alles extrem.
Extreme Porn. Extreme Torture. Extreme Snuff. Extreme Bestiality.
All das gab es dort.
Und dann noch CP.
CP. Das war Child Porn. Kinderpornografie. Netzwerke, wo Menschen ihre perversesten Vorlieben teilten. Mit denen sollte er arbeiten? Für die sollte er Dienstleistungen bereitstellen? Wie tief war er gefallen? Wohin war er geraten?
Und dann noch das, was sie Necro CP nannten.
Necro CP. Das waren die Dolls. Ausgestopfte Körper mit Glasaugen, die ihre Besitzer aus toten Augen anzwinkern konnten. Augen, die auf künstliche Weise lebend erschienen. Ausgestopfte, tote Körper aus Krisenregionen, bei denen gewisse Teile des Körpers präpariert waren, damit die Kunden dort besser hineinkamen, wie man ihm gesagt hatte.
Er wischte sich über die Augen, als könnte er damit all die Bilder wegwischen.
Doch das konnte er nicht.
Die Bilder blieben dort eingebrannt wie auf einer altmodischen Filmrolle.
Die toten Körper. Das waren die toten Dolls.
Vladimir Kowaljow lehnte sich nach vorne, als habe er Olivers Gedanken gelesen.
»Wir haben auch einen Kooperationspartner, der macht lebende Dolls.«
Lebende Puppen.
Oliver fragte sich, was die lebenden Dolls sein sollten.
Und er fürchtete, dass er es sehr bald erfahren würde.
Die Stimme des Russen brachte Oliver endgültig in die Realität zurück. Und die Realität war mindestens ebenso schrecklich wie die Vorstellungen, die gerade sein Gehirn wie schwarze Tinte überflutet hatten.
»Also, lieber Oliver Winter«, fragte Vladimir Kowaljow und drehte seinen schweren Schädel in Olivers Richtung wie ein MG-Geschütz, »sind wir im Geschäft?«
Oliver atmete tief aus. »Ja, Herr Kowaljow, das sind wir!«
Er lehnte sich zurück.
Fragte sich, wie er hierhergekommen war.
Fragte sich, woher er all das Geld hatte.
Und was noch alles kommen würde.
Und er fragte sich, wovor er mehr Angst hatte: Vor dem, was ihn erwartete, oder vor dem, was aus ihm geworden war.
Dann sah ich: Das Lamm öffnete das erste der sieben Siegel; und ich hörte das erste der vier Lebewesen wie mit Donnerstimme rufen: Komm!
Da sah ich ein weißes Pferd; und der, der auf ihm saß, hatte einen Bogen. Ein Kranz wurde ihm gegeben, und als Sieger zog er aus, um zu siegen.
Offenbarung, 6, 1–8, Der erste Reiter der Apokalypse
Russland hat zwei Verbündete: Seine Armee und seine Flotte.
Zar Alexander III
Moskau, Mai 2010
Kreml
Alexander Michalew, Chefstratege des Kreml und Stabschef des Präsidenten der Russischen Förderation, ging mit eiligen Schritten die Treppen zum Ausgang des Regierungspalastes herunter.
Es war 2 Uhr morgens.
Nationale Sicherheitsinteressen manipulierte man nicht bei Tageslicht.
Michalew kam gerade aus dem Predstavitel sky Zal des Kreml, der ovalen Empfangshalle mit den pastellgrünen Wänden, der Kuppel und den Verzierungen aus Stuck und Gold. Die vier Bronzestatuen von vier russischen Zaren blickten auf ihn herunter. Peter der Große, Katharina die Große, Alexander II. und Nikolaus I.
Michalew hatte gerade ein Gespräch mit dem Präsidenten gehabt. Der Präsident blieb gerne lange auf. So wie schon sein Vorbild Stalin. Und so, wie es in Deutschland einst Hitler zu tun pflegte. Offenbar hassten Diktatoren den Morgen und liebten die Nacht.
Michalew gehörte zum kleinen Kreis der Silowiki, den Getreuen des Präsidenten, genau wie der Mann, zu dem er jetzt noch unterwegs war. Es waren Vertreter aus Militär, Geheimdienst, Wirtschaft und Politik. Und seit neuestem auch der Kirche. Der Patriarch der russisch-orthodoxen Kirche war ebenfalls Teil der neuen russischen Strategie. Im Mittelalter hatte die russisch-orthodoxe Kirche das Zarenreich zum Dritten Rom erklärt. Nach Rom und Konstantinopel. Die letzte und größte Bastion des christlichen Abendlandes in einem Westen, der, so sah man es, immer verweichlichter wurde und allen Aggressoren nichts als Toleranz und Wehrlosigkeit entgegenbrachte.
Die Silowiki, was auf Russisch so viel wie zähe Jungs hieß, wurden immer zu den Samstags- und Montagsrunden des Präsidenten eingeladen, die manchmal bis 3 Uhr morgens dauerten.
Es war jetzt Dienstagmorgen, 2 Uhr. Da war Michalew noch recht früh weggekommen. Wenn auch die Nacht für ihn noch lange nicht zu Ende war.
Er stieg in die schwarze Limousine, die auf dem Roten Platz auf ihn wartete. Sein Ziel: Die Lubjanka, seit mehr als einem Jahrhundert Symbol von staatlicher Macht. Und sehr oft auch staatlicher Willkür. Hier war der Sitz des Federalnaja sluschba besopasnosti Rossijskoi Federazii (FSB), auch bekannt als Föderaler Dienst für Sicherheit der Russischen Föderation. Oder als Inlandsgeheimdienst, der aber viel mehr war als »nur« ein Inlandsgeheimdienst. Er war der Nachfolger des KGB. Und manche glaubten, es wäre an der Zeit, dass er seinen alten Namen wiederbekam. KGB. Statt FSB.
KGB. Das Komitee für Staatssicherheit. Gegründet im Jahr 1954, ein Jahr nach Stalins Tod. Mit weltweit mehr als siebzigtausend Mitarbeitern.
Michalew blickte an der Fassade hinauf. Nicht alle, die in dieses Gebäude kamen, waren immer so voller Vorfreude gewesen wie er. Hier hatte der sowjetische Geheimdienst gefoltert und gemordet, hier hatten sich lange Schlangen von Menschen gebildet, die wissen wollten, was aus ihren Angehörigen geworden war. Manche sagten, die Mauern der Lubjanka seien mit Blut getränkt. Doch Blut wurde immer weniger vergossen. Die Waffen der Zukunft waren unsichtbare. Und es war an der Zeit, dass Russland sich dieser Waffen noch umfassender bemächtigte.
Derjenige, der sich am lautesten dafür aussprach, war Victor Ivanow, der Chef des FSB. Der Mann, den Michalew noch in dieser Nacht besuchen wollte. Denn Ivanow hatte eine Idee. Und meistens waren die Ideen des FSB-Chefs es wert, angehört zu werden.
Alexander Michalew und Victor Ivanow.
Sie hatten schon manche Intrige zusammen gesponnen.
Den hageren, blitzschnellen Michalew nannten sie in Moskau »Die Kobra«.
Den korpulenten Ivanow nannten sie den T34. Nach dem berühmten Panzer, der im Zweiten Weltkrieg gegen die deutschen Divisionen gekämpft hatte. Ivanow kannte diesen Spitznamen. Und er hatte nichts dagegen. Er hatte sich damals, als der Eiserne Vorhang noch bestand, und auch danach noch öfter an dem sowjetischen Ehrenmal mit den zwei T34-Panzern in Berlin-Tiergarten abbilden lassen.
Der T34 und der Zweite Weltkrieg.
Es war Mai.
Mai 2010.
Nächste Woche würden die Feierlichkeiten beginnen. Am 8. Mai.
Vor fünfundsechzig Jahren hatte Russland Hitlerdeutschland besiegt.
1945.
Und zwei Jahre später hatte Russland eine Antwort auf die perfekten Gewehre der Deutschen Wehrmacht gehabt, wie zum Beispiel auf das Sturmgewehr 44.
Diese Erfindung kam von Michail Kalaschnikow. Zwei Jahre später.
1947.
Das Jahr, in dem diese Waffe das Licht der Welt erblickt hatte, wurde auch in ihrem Namen verewigt.
Automatische Kalaschnikow. 1947.
Oder wie man es kurz aus den amerikanischen Gangsterfilmen kannte: AK 47.
Er betrat das Arbeitszimmer von Victor Ivanow. Der hatte auch zu dieser späten Stunde seine Uniform noch nicht abgelegt. Einzig die Mütze mit dem Emblem des FSB lag auf dem Schreibtisch. Michalew schaute in eine Ecke des großen Büros. In einem abgedunkelten Aquarium schwamm ein Tiefseeanglerfisch, ein unheimlicher Raubfisch mit einem riesigen, zahnbewehrten Maul und einem Leuchtorgan, das andere Fische anlockte.
»Smirnoff?«, fragte Ivanow zur Begrüßung und reichte Michalew, ohne auf dessen Antwort zu warten, ein Glas.
Smirnoff war im 19. Jahrhundert die erste Destillerie gewesen, die Holzkohle zum Filtern des Destillats einsetzte. Dadurch war ihr Wodka im Vergleich zu anderen, damals üblichen Produkten besonders mild, klar und ohne Eigengeschmack.
Gut, wenn man in später Nacht noch klar denken wollte, dachte Michalew und genoss den scharfen Geschmack auf Zunge und Gaumen.
»Es wird Zeit, die Dinge wieder selbst in die Hand zu nehmen«, begann Ivanow und lief in dem riesigen Büro auf und ab. »Ein paar Probleme bleiben die alten. Sowohl unter Ivan dem Schrecklichen als auch heute. Moskau schützt kein großes Gebirge, und im Winter sind unsere Häfen gefroren.«
»Das ist aber nicht alles.«
»Nein. Zusätzlich wird alles, was Mutter Russland tut, von anderen bestimmt. Der Begriff Kalter Krieg wurde von Walter Lippmann von der New York Times geprägt, der Begriff Eiserner Vorhang von Winston Churchill. Immer waren es westliche Menschen, die Russland geprägt haben. Damit muss Schluss sein.«
»Da«, sagte Michalew zustimmend. Da hieß ja auf Russisch. »Was haben Sie vor?«
»Wir müssen den Westen in die Irre führen«, sagte Ivanow. »So wie damals Väterchen Stalin, als er die GIs im Zweiten Weltkrieg Richtung Alpenfestung lenkte, die es gar nicht gab, und dadurch die Rote Armee freie Bahn auf Berlin hatte. Und wir die Ersten waren in der Hauptstadt des Feindes! Und damit in einer sehr viel stärkeren Verhandlungsposition!« Er trank von seinem Wodka. »Schon Henry Kissinger sagte: Weltordnung braucht Hegemonie oder Gleichgewicht. Was wollen Sie, Herr Michalew? Was möchte der Präsident?«
Michalew brauchte nicht lange zu überlegen. »Hegemonie natürlich. Wir haben sie 1989 verloren. 1991 haben wir noch einmal versucht, mit Hilfe des KGB den Mann vom Chefsessel wegzuputschen.«
Ivanow nickte bitter. »Wir haben verloren. Der Coup misslang, und der KGB wurde aufgelöst.«
»Und darum müssen wir sie wiederbekommen. Die Hegemonie. Die Macht. Der Zusammenbruch der Sowjetunion war schließlich die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts.«
Ivanow nickte noch einmal. »Das hätte der Präsident nicht schöner sagen können. Damals, die Neunziger …« Er spuckte die Worte fast aus. »Zwanzig Männer, die Oligarchen haben 40 Prozent des Landes an sich gerissen. Chodorkowski war nur einer von ihnen. Dieser Vaterlandsverräter von Jelzin hat Mutter Russland an Diebe verkauft.«
»Und der Westen hat ihm geholfen«, ergänzte Michalew. »Leningrad 1991. Von dort haben sie Spin Doktors aus den USA nach Moskau geholt, damit dieser fette Säufer von Jelzin an die Macht kommen konnte. Der Westen wollte uns schwächen. Und das ist ihm auch gelungen. Jetzt ist es an der Zeit, die Sowjetunion wieder aufzuwecken. Oder besser: wach zu küssen.«
Ivanow nickte stumm.
»Der Westen hat uns belogen«, sagte er dann. »Helmut Kohl hat uns belogen. Die Wiedervereinigung sollte es nur geben, wenn die NATO nicht nach Osten vorrückt. Das ist nicht geschehen. Schon am 23. August 1939 haben wir im Hitler-Stalin-Pakt Europa in Einflusssphären aufgeteilt. Doch an diese Sphären hat sich der Westen noch nie gehalten. Hitler schon nicht und seine Nachfolger erst recht nicht.« Ivanow schenkte sich Wodka nach. »Es ist Heuchelei! Wenn sich die europäischen Länder zusammenschließen, dann wird das als normal angesehen – doch wenn wir im postsowjetischen Raum dasselbe tun, wird das als Wunsch Russlands angesehen, ein Imperium zu errichten.«
Michalew betrachtete abwechselnd Ivanow, der in seiner tonnenartigen Gestalt vor den großen Fenstern, die sich in die Dunkelheit der Nacht öffneten, auf und ab ging, und den Tiefseeanglerfisch in seinem düsteren Aquarium, dessen Licht unheimlich leuchtete. Ein T34 und ein Tiefseeangler. Zu Land und zu Wasser.
»Vor der Küste von Norwegen sind ständig amerikanische U-Boote im Einsatz«, sprach Ivanow weiter. »Die Zeit, die eine Rakete von den U-Booten bis nach Moskau braucht, beträgt siebzehn Minuten. Aus Sewastopol auf der Krim kommen wir nicht mal ins Mittelmeer. Und die Häfen im Norden sind im Winter gefroren. Und dann gilt Russland als aggressiv, wenn wir lediglich unsere Meinung und unsere Interessen vertreten?«
»Sie wissen doch, was Alexander III. gesagt hat«, sagte Michalew. Und dabei dachte er an den T34 und den Tiefseeanglerfisch. »Russland hat nur zwei Verbündete: seine Armee und seine Flotte!«
Ivanow schwieg einen Moment und schritt langsam zwei, drei Schritte auf Michalew zu.
Ein T34 und ein Tiefseeangler.
Dann legte er ihm die Hand auf die Schultern. »Ist der Kreml bereit zu handeln?«
Michalew nickte. »Das ist er.«
»Der FSB ist es auch. Der KGB.«
»… und der Präsident«, ergänzte Michalew, »wird es auch sein.«
Ivanow ließ die Hand auf Michalews Schulter und führte ihn näher an das Aquarium. »Lass uns so sein wie dieser Tiefseeanglerfisch«, sagte er.
»Was haben Sie vor?«, fragte Michalew.
»Ich habe da einen Plan«, sagte Ivanow.
OSLO, JULI 2015
im Taxi zum Flughafen
Spike hatte einen Anruf bekommen. Und fast immer, wenn Spike einen Anruf bekam, ging es darum, fat cats zu töten. Fette Katzen. Menschen, die sehr viel Geld bekamen und dafür sehr wenig taten. Darum hieß Spike Spike. So wie der Hund aus Tom und Jerry. Und die Toms, die Spike jagte, waren die fetten Katzen.
Der Auftraggeber hatte um ein Treffen in Frankfurt gebeten. Und einen Job gab es dort auch gleich noch auszuführen. »Spike muss mal wieder eine Fat Cat fressen«, hatte der Auftraggeber gesagt.
Spike saß im Taxi auf dem Weg zum Flughafen Oslo. Norwegen ging es noch immer ziemlich gut wegen all dem Öl. Sein Staatsfonds, in dem die Staatseinnahmen gesammelt wurden, war der größte der Welt. Auch wenn der Ölpreis in letzter Zeit ziemlich in den Keller gesackt war, so ließ man es sich hier gutgehen. Drei-Tage-Wochenenden waren eher die Regel als die Ausnahme. Und auch geopolitisches Denken war hier eher Glückssache. Warum Russland noch nicht Norwegen eingenommen hatte, fragten sich viele. Denn allzu schwer wäre das nicht für Russland, und der Zuwachs an Bodenschätzen und Öl wäre beträchtlich. Und der Widerstand der Norweger wohl ziemlich gering. Wäre da nicht die strategisch wichtige Rolle, die Norwegen in der NATO spielte. Ansonsten wäre das den USA sicher auch egal.
Spike war es in jedem Fall egal.
Spike hatte damals etwas Geld in Norwegen angelegt, 2010, als alle dachten, die Eurozone würde auseinanderbrechen. Denn Norwegen war weder Mitglied in der EU noch in der Eurozone. Und dann war Spike hiergeblieben. Oder besser: Reiste oft von Norwegen aus zu den Einsatzorten. Immer von Oslo aus. Denn Oslo war ein guter Ort. Nahe genug dran, aber weit genug weg. Nicht in der Eurozone. Nicht in der EU. Aber dennoch nur wenige Stunden von den wichtigen Aufträgen entfernt. Und Flüge aus Oslo waren oft billig. Auch in die USA. Auch in der Business Class. Spike reiste gern bequem. Konnte es sich leisten. Schließlich wurde Spike gut bezahlt. Dafür sparten ihre Auftraggeber auch eine Menge Geld, wenn der Job gut erledigt wurde.
Die Waffen waren schon vor Ort. Sie wurden immer vorher verschickt. Und sie lagen dann in irgendeinem Postfach bereit.
Am liebsten die Glock 17 mit Schalldämpfer.
Glock war 1982 die erste Firma gewesen, die eine Pistole aus Hartkunststoff statt aus Metall produzierte. Zusammen mit einer innovativen Munitionszuführung.
Die Glock 17 war leicht und konnte sehr schnell Dutzende von Projektilen hintereinander abfeuern, ohne Ladehemmung zu bekommen. Nachladen konnte man sie auch problemlos. »Die Wahlwaffe des Attentäters«, sagte man in den Fachmagazinen.
Dutzende von Projektilen. In sehr kurzer Zeit. Doch hier reichte eigentlich nur eines.
Manchmal eignete sich auch das Gewehr HK 416 von Heckler & Koch, das von den NAVY Seals genutzt wurde, unter anderem, um Osama bin Laden zu erschießen.
Spike war auch am Granatenwerfer ausgebildet. Aber der war laut und viel zu auffällig. Spike war das Skalpell, nicht die Axt. Der Schuss ins Nervensystem, nicht die Bombe.
HK. Heckler & Koch. Das klang wie Hunter Killer. Und natürlich war es eine deutsche Waffe. Genau wie der Leopard-Panzer, einer der größten Exportschlager der Wehrtechnik. Alles aus Deutschland. Oder aus Österreich. Spike dachte an das Gedicht Die Todesfuge, als sich der Flughafen näherte. Es stimmte schon, was Celan sagte:
Der Tod ist ein Meister aus Deutschland. Sein Auge ist blau. Er trifft dich mit bleierner Kugel. Er trifft dich genau.
Deutschland und Österreich.
Österreich war fast noch seltsamer.
Mozart kam aus Österreich. Hitler auch. Und die Glock. Die bevorzugte Waffe des Attentäters.
Und ebenso der Mann, der Spike gerade angerufen hatte.
Mit ihm hatte Spike noch nie zu tun gehabt. Und wusste von ihm nur, dass er der Chef des Ganzen war.
Er nannte sich HCL.
Was immer das bedeuten mochte.
MOSKAU, JULI 2015
Forschungskomplex Skolkowo
Johanna Langhaus war Marketingchefin eines mittelständischen, deutschen IT-Unternehmens. Gerade wurde sie mit einer Gruppe von Computerexperten durch den Forschungskomplex Skolkowo bei Moskau geführt.
Johanna Langhaus hieß eigentlich Jasmin Walters und war alles andere als Marketingchefin bei einem IT-Unternehmen, aber das war etwas, was gerade die Herren in Skolkowo nicht wissen sollten. Und der Leiter des Forschungskomplexes, Professor Ivan Ogarew, sollte es schon gar nicht wissen.
Damit ihre Tarnung nicht aufflog, hatten sie den indirekten Weg gewählt. Eine Wiener Anwaltskanzlei, die eigentlich für Nursultan Narsabajew, den Diktator von Kasachstan, arbeitete, hatte den Kontakt hergestellt. Die Kanzlei sollte einen hochrangigen Beraterkreis für Kasachstan aufbauen, arbeitete aber auch für andere Länder der Welt, so auch Russland und dabei auch für Skolkowo.
Professor Ogarew führte die Gruppe von Sicherheits- und IT-Experten im Rahmen eines gemeinsamen deutsch-russischen Programms zum Thema Internet-Sicherheit und Cybersecurity durch die Räume, die man nur mit einer recht erlesenen Einladung betreten durfte.
»Das Internet der Dinge«, sagte Ogarew, »ist ein Thema, das uns hier ganz besonders beschäftigt. Denn mit dem Web 4.0 kommt das Internet überallhin. Von Autos über TV bis hin zu Kinderspielzeug. Heute schon gibt es fünfzehn Milliarden vernetzte Geräte. 2020 wird es fünfzig Milliarden geben. Da muss alles von vornherein sicher sein. So wie Microsoft das früher gemacht hat, geht es heute nicht mehr. Erst mal auf den Markt bringen und dann nachträglich das Feuer löschen.« Er lächelte durch seinen grauen Bart hindurch. »Gott durfte das noch. Er sah, dass es gut war. Und als es doch nicht gut war, kam die Sintflut. So eine Art Neustart. Aber eine Sintflut kann sich das Internet der Dinge nicht erlauben. Niemand möchte, dass sein Auto gehackt wird. Kein Fahrer möchte, dass jemand anders als er selbst die Bremsen aktiviert oder plötzlich auf zweihundert Stundenkilometer beschleunigt.«
Jasmin alias Johanna Langhaus war gestern gelandet. Wie so ziemlich jeder auf dem Flughafen Шереме’тьево, was so viel wie Scheremetjewo hieß. Hier hatte auch Edward Snowden einige Zeit im Transferbereich vor sich hinvegetiert. Der ehemalige freiberufliche Mitarbeiter der IT-Security-Firma Booz Allen Hamilton, die mit der NSA und der Firma Palantir das Prism-Programm betreute. Und er hatte sich wahrscheinlich von den Russen auch noch die Festplatten wegnehmen lassen, die ihm die Chinesen in Hongkong vorher noch nicht abgeknöpft hatten.
Der Terminal 2 des Flughafens, ursprünglich errichtet für die Olympischen Sommerspiele 1980, war heute reichlich heruntergekommen. Die Sitze im Wartebereich waren im Boden verschraubt und aus Hartplastik ohne Kissen oder Polsterung. Wie Stühle, auf die man auch Folteropfer zum Verhör gefesselt setzte. Stühle, die man danach problemlos abspritzen konnte.
Jasmin wunderte sich jedes Mal wieder über die surrealen Metallzylinder an der Decke, von denen sie nicht wusste, wofür sie gut waren. Sie sahen aus wie eine Mischung aus Patronenhülsen und Campbell-Suppenkonserven von Andy Warhol.
Dann kam die Passkontrolle. Das gleiche Chaos wie immer. Das Drängeln. Hier drängelten alle. Wer den absoluten Kontrast wollte zwischen Geduld und Drängeln, der musste zuerst nach Japan und dann nach Russland fliegen. Ein weiteres typisch russisches Merkmal waren im Stadtverkehr die Blaulichter, die sich diejenigen, die es eilig hatten, auf ihre Protzlimousinen setzten.
Jasmin hatte ein Jahr in Moskau studiert, an der Higher School of Economics. Sie hatte Moskau hassen und lieben gelernt: Die Moskauer Metro, die immer fuhr, aber auch die Schwierigkeit, Fahrkarten zu kaufen, die Partys und immer wieder diese käuflichen Blaulichter.
Jasmin hatte zuvor am King’s College London War Studies studiert und war das erste Mal von Heathrow aus mit Aeroflot nach Moskau geflogen. Circa dreihundert Minuten Flugzeit. Sie hatte damals schon von vielen Geschäftsleuten gehört, die eine Ledermappe mit zehntausend Dollar in bar dabeihatten, falls es in Russland für sie ungemütlich werden sollte. So ähnlich wie die, die gerade noch aus Pjöngjang in Nordkorea herausgekommen waren, bevor dort das Beil fiel. Oder aus Kambodscha, bevor dort die Roten Khmer das Ruder übernommen hatten.
Sie hatte damals noch nicht so viel Geld dabeigehabt. Ob sie es gebraucht hätte, wusste sie nicht.
Skolkowo war riesig und reich. Es war von Oligarchen errichtet worden.
Die Oligarchen hatten in den frühen Neunzigern fast das ganze Land in ihren Besitz gebracht und waren über Nacht zu Milliardären geworden. Mutter Russland hatte sich die Kommandohöhen wegschnappen lassen.
»Es kann sinnvoll sein, die Marktkräfte zuzulassen und Teile der Industrie in private Hand zu legen.« Das hatte Lenin gesagt. Schon 1922. »Doch die Kommandohöhen der Wirtschaft, Energie, Stahl, Rohstoffe und Infrastruktur, müssen für immer in der Hand des Staates bleiben.« Aber Jelzin hatte dagegen verstoßen. Und jetzt war Russland keine Kommandowirtschaft mehr. Jetzt war es privatisierte Anarchie. Allerdings mit dem festen Willen, diesen Zustand so schnell wie möglich zu beenden.
»Ist dieses Thema nicht auch für Ihr Unternehmen relevant, Frau Langhaus?«, sprach sie einer der Techniker, der Sascha hieß, auf Englisch mit russischem Akzent an.
»Sicher«, sagte sie und fügte dann auf Russisch hinzu: »Wir machen das Internet der Dinge sicherer. Man glaubt ja nicht, was alles passiert. Hacking im Krankenhaus. Drogenzufuhr und Medikamente können mittlerweile per WLAN dosiert werden. Von den richtigen oder von den falschen Leuten.«
Sie war sich nicht sicher, ob die Leute hier die Serie Homeland kannten. Aber die Story von dem Herzschrittmacher von Vizepräsident William Walden, der von den Islamisten um Abu Nazir umprogrammiert wurde, damit Walden einen Herzinfarkt erlitt und daran starb, war näher an der Wahrheit, als man denken sollte. Sie sprach weiter. »Nicht nur Autos können plötzlich ganz anders fahren, als der Fahrer es will, Professor Ogarew sagte es ja. Mit entsprechenden Folgen. Es geht noch viel weiter. Auch die Waschmaschine kann anfangen, Spam-Mails zu verschicken, für tausend Euro bei Amazon einzukaufen, oder sie kann als Server für Kinderpornos dienen. Es ist alles möglich.«
Sascha grinste. Auch Professor Ogarew nickte lobend. »Sie kennen sich aus, Frau Langhaus. Und Ihr Russisch ist exzellent!«
Bei Gott, ja. Johanna Langhaus alias Jasmin Walters kannte sich aus. Sie sollte sich auch gut auskennen. Denn in Wahrheit war sie ja nicht Marketingchefin bei einer IT-Security-Firma. Und in Wahrheit waren auch die Experten hier in Skolkowo nicht so freundlich, wie sie taten.
Es konnte sein, dass diese Leute hier in Skolkowo sie nett anlächelten, aber in Wirklichkeit die Internet-Trolle bezahlten, die in St. Petersburg Online-Propaganda für den Kreml machten.
Sie zeigten die Bundeskanzlerin Merkel mit dem ukrainischen Präsidenten Poroschenko, dem seit 7. Juni 2014 gewählten Präsidenten der Ukraine. Untertitel: Eine alte Kommunistin und ein neuer Faschist.
Diese Botschaften wurden dann entschärft, vom Geheimdienst in den sozialen Medien verbreitet, von den westlichen Medien kritiklos wiedergekäut und auch in deutschen Talkshows nachgebetet.
Ja, Jasmin Walters kannte sich aus.
Aber Marketingchefin in einem normalen Unternehmen, auch wenn es ein IT-Unternehmen war, das war sie ganz sicher nicht.
In Wahrheit arbeitete Jasmin Walters in einer gemeinsamen Einheit von Bundeskriminalamt (BKA), Bundesnachrichtendienst (BND) und Europol in Den Haag, der Behörde, die europaweit für Cybercrime zuständig war. »Nemesis« war der Codename dieser Einheit. Diese Einheit hatte das Ziel, Hacking, Cyberkrieg, Kinderpornografie und Terrorismus, besonders über das Netz, aufzuspüren. Nemesis war nicht allein, sondern eng vernetzt mit dem französischen DGSE, dem MI6 in England, CIA und NSA und dem Mossad in Israel.
Sie war überall und nirgends. Genauso wie das Verbrechen. Das war eine Besonderheit.
Und Nemesis arbeitete manchmal an der Grenze zum Legalen. Was hieß manchmal? Fast immer. Getreu dem Motto: Die Guten sind gebunden an rechtsstaatliche Grundsätze, die Bösen aber nicht. Auf diese Weise konnte keine Waffengleichheit geschehen.
Das war die zweite Besonderheit.
Ihr Chef hatte ihr das mal folgendermaßen erklärt:
Wenn Sie hier überleben und auch noch erfolgreich sein wollen, dann stellen Sie keine Fragen, das ist das Erste, was wir Ihnen beibringen.
Und wer hat Ihnen das beigebracht?, hatte sie gefragt.
Habe ich vergessen. Das ist das Zweite, was wir Ihnen beibringen.
FRANKFURT AM MAIN, JULI 2015
Bankenviertel
Spike war in Frankfurt gelandet. Und saß jetzt in der Limousine. S-Klasse. Aber nicht hinten, wie in Norwegen. Sondern vorn. Dort, wo der Fahrer saß. Sah den Wolkenkratzer der Commerzbank, lange Zeit das höchste Gebäude Kontinentaleuropas, die Zwillingstürme der Deutschen Bank, der DZ-Bank. Weiter hinten den Messeturm von Goldman Sachs.
Der Mann, der das Gebäude an der Gallusanlage verließ, hieß Albert Schmidt. Ein pensionierter Vorstand. Er machte für seine Bank nichts mehr, kassierte aber weiterhin eine horrende Summe. Ins Büro ließ er sich jeden Tag kutschieren, um dort unnütz seine Zeit abzusitzen oder schwachsinnige Projekte zu initiieren, die niemandem weiterhalfen. Buchhalterisch gesehen ein Bilanzposten, der so schnell wie möglich wegmusste. Dennoch war er nicht im hässlichen Hochhaus gegenüber untergebracht, das man bankintern Elefantenfriedhof nannte und in dem die anderen Ex-Vorstände saßen. Alles Männer zwischen sechzig und achtzig Jahren, die mit ihrer freien Zeit und dem damit einhergehenden Bedeutungsverlust offenbar nichts anzufangen wussten und dort wie bestellt und nicht abgeholt saßen, um irgendwelche nutzlosen Charity-Projekte voranzutreiben. Schmidt hatte besser verhandelt, denn er hatte noch sein Eckbüro, seine Sekretärin, die Mitgliedschaft im Sportclub der Bank und seinen …
»Wo ist mein Fahrer?«, fragte Schmidt, als Spike die Tür zum Fond der Limousine öffnete. Der alte Mann trug einen teuren Anzug mit Krawatte, obwohl er wahrscheinlich keinen einzigen wichtigen Termin gehabt hatte. Eigentlich hätte er auch im Schlafanzug herumlaufen können, und es wäre niemandem aufgefallen. Und da es für die Vorstände und auch solche Ex-Vorstände wie Schmidt eigene Fahrstühle gab, erst recht nicht.
»Krank. Ich hoffe, Sie nehmen auch mit mir vorlieb, Dr. Schmidt?«
Schmidt fühlte sich geschmeichelt. »Es gibt nicht viele Frauen, die als Fahrer arbeiten.«
»Ich bin ja auch eine Fahrerin.« Spike lächelte und blickte ihn aus ihren schwarzen Augen verführerisch an.
»Natürlich. Und wenn Sie so attraktiv sind …« Er wusste offenbar nicht, wie er diesen plumpen Spruch elegant zu Ende bringen konnte, sagte dann einfach gar nichts mehr und ließ sich auf die lederne Rückbank fallen. »Sie wissen, wo wir hinmüssen?«
Sie nickte. »Kronberg im Taunus.«
Sie fuhren am Theodor-Stern-Kai entlang. Schmidt hatte es sich hinten mit seinem iPad bequem gemacht, das sicher auch noch die Firma zahlte, zusammen mit der schnellen Internetverbindung. Sein Gesicht schimmerte weißlich blau im Dunkeln. Spike fuhr auf die A5. Dann die B43. Parallel zur A3.
Jetzt sah Schmidt auf. »Wieso fahren wir Richtung Flughafen?«
»Haben Sie es nicht gehört?«, fragte Spike. »Der ganze Norden ist gesperrt. Gasexplosion. Wenn wir so fahren, wie ich es vorhabe, ist die Strecke zwar von den Kilometern her länger, aber wir sind schneller in Kronberg, wenn wir über die A5 hochfahren als durch die Innenstadt.«
»Wie Sie meinen. Sie sind der Experte.«
»Die Expertin.«
»Natürlich.« Schmidt lächelte und blickte wieder auf sein iPad.
Einige Zeit verging.
Sie fuhren am Flughafen vorbei, an der Cargo City entlang. Den Containern, Lagerhallen und Logistikzentren.
Spike stoppte den Wagen.
Schließlich merkte Schmidt, dass sie nicht etwa an einer Ampel standen. Sondern dass sie aus einem anderen Grund hielten. Einen Grund, den er nicht kannte. Und dass sie auch ziemlich weit von der Autobahn entfernt waren.
»Cargo City?« Schmidt reckte den Kopf. »Was machen wir denn hie–«
Der Schalldämpfer machte den Schuss aus der Glock zu einem Flüstern.
Ins Herz.
Keine Blutspritzer an der Scheibe. Keine Sauerei.
Das Logo von Lufthansa Cargo war das letzte Bild, das sich auf Schmidts Netzhaut gebrannt hatte.
Sein Mund stand offen.
Der Kopf war nach hinten gekippt.
Das iPad leuchte noch ein paar Sekunden gespenstisch auf seinem Schoß und ging dann aus.
Schmidt blieb jetzt nur noch das Ewige Licht.
Spike stellte die Scheinwerfer aus und stieg langsam aus dem Wagen.
Verriegelte die Türen.
Verließ die abgelegene Rampe und ging ins Hauptgebäude.
Warf den Schlüssel in einen Müllcontainer.
Der Wagen blieb auf der Rampe.
Der Wagen war teuer, aber das Geld, das der Klient zahlte, war viel mehr wert. Denn der Klient sparte künftig eine Menge Geld. Wenn man das zurückdiskontierte, per Barwert, oder auch Net Present Value, wie die Banker sagten, war es billiger, den Wagen stehenzulassen und den Besitzer zu erschießen. Der Net Present Value oder NPV war positiv.
Spike nahm das Handy und schickte eine SMS an den Auftraggeber.
An den Mann, der sich HCL nannte.
Die Kunden von HCL würden von einem Unfall hören.
Und würden wissen, dass die Firma ihre Arbeit erledigt hatte.
Die Angehörigen würden eine Menge Geld erben. Die Frau von Schmidt konnte noch mehr shoppen und sich ihren dicken Hintern noch häufiger liften lassen, um für den Swimmingpool-Boy, mit dem sie eine Affäre hatte, noch attraktiver zu sein, die Kinder an noch teureren Elite-Unis studieren, wo sie dann durch die Prüfungen fielen. Und die Bank selbst, Schmidts früherer Arbeitgeber, hatte einen Haufen Geld mehr zu investieren. Oder zu verteilen auf die restlichen Vorstände, die noch im Amt waren.
Alle würden glücklich sein. Nur die Lebensversicherung nicht.
Spike nahm die SIM-Karte aus dem Handy, übergoss sie in einem Aschenbecher mit Feuerzeugbenzin und verbrannte sie.
An einer dunklen Ecke zertrat sie das Handy.
Dann nahm sie die S-Bahn in die Innenstadt.
KAIRO, ÄGYPTEN, NOVEMBER 2014
Café am Tahrir-Platz
Kyrill Karasow, zweiter Mann der Russenmafia Solnzevskaja, saß gemeinsam mit seinem Geschäftspartner in einem verrauchten Café in Kairo und war froh, dass er dem russischen Winter für ein paar Tage entfliehen konnte. Schischa-Raucher saßen rechts und links neben ihnen auf den Sofas und hüllten den Raum in dichten Qualm. Der Mann, der ihm gegenübersaß, rauchte nicht. Abdul Al Dar war ein professioneller Menschen-Schleuser, der besonders afrikanische Flüchtlinge Richtung Lampedusa, dann italienisches Festland und schließlich Zentraleuropa aufs Meer schickte.
»Es ist bald Weihnachten«, sagte Kyrill.
»Für die meisten«, sagte Al Dar. »Die koptischen Christen hier feiern allerdings erst am 7. Januar.«
»Wir auch«, sagte Kyrill. »Ich bin Mitglied der russisch-orthodoxen Kirche.« Er traute sich nicht zu fragen, welcher Religion wohl Al Dar angehörte. Aber wahrscheinlich war er Muslim. Wenn auch einer, der es mit den meisten Regeln nicht allzu genau nahm.
»Maria und Joseph waren auch Flüchtlinge«, sagte Al Dar. »Und sie waren auch in Ägypten, als sie vor König Herodes geflohen sind.« Al Dar grinste und zeigte seine weißen Zähne. »Die hätten einen wie mich gut gebrauchen können.«
Da hatte Kyrill seine Zweifel.
Al Dar hatte drei Handys, die ständig klingelten. Er sprach Englisch, Französisch, Spanisch und natürlich Arabisch. Davon gleich einige Dialekte. Ebenso trug er immer einen Stoß Zeitungen in verschiedenen Sprachen mit sich herum, wobei Kyrill bezweifelte, dass er sie tatsächlich las.
»Alle wollen weg aus Afrika.«
»Und Syrien?«
»Sowieso. Aber Afrika auch immer mehr. Somalia, Kongo, Elfenbeinküste und natürlich Süd-Sudan. Nach der Unabhängigkeit 2011 ist da nichts besser geworden. Im Gegenteil. Und alle wollen nach Europa. Je dichter die Grenzen in Europa werden, desto besser für uns«, sagte Al Dar, »desto mehr Gründe haben wir, mit den Preisen hochzugehen.«
Al Dar sprach weiter von seinem Geschäft: Er bedauerte es, wenn ein Schiff mit Flüchtlingen unterging, aber nur, weil das seinem Ruf als Schleuser schadete. Denn ansonsten war alles nach wie vor sehr einfach. Die Budgets des Westens waren auf Terrorabwehr eingerichtet und nicht auf Menschenschmuggel. Und da sich die Budgetallokation nun mal nicht von heute auf morgen ändern ließ, dauerte es lange, bis die Behörden Firmen wie seiner auf die Schliche kamen. Dafür war das Ganze auch zu verstrickt. Teilweise mussten Ermittler fünfundzwanzig Schichten durchbrechen, um zu Al Dar vorzustoßen. Er arbeitete mit einem großen Netzwerk zusammen. Agenten, die Häuser und Lagerhallen vorhielten für die Zwischenunterbringung, Skipper, die die Boote besaßen, Lastwagenfahrer, Zugführer, Geldwechsler, Ex-Kapitäne, Fischer und eine große Armada an Männern und Frauen, die nichts anderes machten, als Behörden zu bestechen.
»Wir überlegen, ob wir nicht gleich am Strand eine Bootsfabrik bauen.« Er gestikulierte mit den Händen dazu und trank von seinem Mokka. Kyrill blickte an ihm vorbei durch die Rauchschwaden der Schischas auf die Straße vor dem Café und auf den Tahrir-Platz. Der Tahrir-Platz. Schauplatz des Arabischen Frühlings, der im Westen zwar euphorisch gefeiert worden war, doch letztendlich niemandem wirkliche Freiheit gebracht hatte. Aus dem Frühling war ohne Umweg über Sommer und Herbst tiefster Winter geworden. Statt mit einem starken Despoten hatte es der Westen jetzt mit mehreren schwachen Despoten zu tun. Und der alte Spruch hatte sich mal wieder bewahrheitet: Tyrannei ist immer besser organisiert als Freiheit. Mubarak und Gaddafi hatten zwar reichlich Menschen auf dem Gewissen, aber sie hielten ihren Scheißladen wenigstens zusammen. Geholfen hatte der Arabische Frühling nur Leuten wie Abdul Al Dar. Und hoffentlich auch zukünftig ihm. Kyrill und sein Boss Vladimir überlegten nämlich ebenfalls, ob ihre Mafia nicht auch in das Afrika-Geschäft einsteigen sollte. Im Balkan-Geschäft der Flüchtling-Schleuser waren sie bereits, nur in Afrika waren die Volumina noch viel höher. Und die Kunden weit weniger anspruchsvoll.
»Ein Boot kostet zweitausend Euro«, sprach Al Dar weiter, »es nimmt hundert Menschen mit, jeder zahlt tausend Euro, macht dann hunderttausend Euro Umsatz und nur zweitausend Euro Kosten.«
»Wo kommen Ihre Agenten her, die die Kunden aufreißen?«
»Die fliegen mir zu. Alle wollen für mich arbeiten. Die rufen an, ich rede mit ihnen.«
»Hier?«
Al Dar grinste. »Entweder hier oder per Skype. Wir sind ein modernes Unternehmen.«
»Was haben Sie noch vor?«, fragte Kyrill. »Amerika?«
Al Dar lachte wieder. »Nein, Schuster, bleib bei deinem Leisten. Zu weit weg. Und die südamerikanischen Drogenbarone und die White Supremacists, die das Geschäft von Miami aus steuern, mögen keine Konkurrenz. Und das zeigen sie auch jedem.« Er fuhr sich kurz mit der Hand über die Kehle.