Etwaige Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind selbstverständlich zufällig und vollkommen unbeabsichtigt, wohingegen es durchaus beabsichtigt ist, dass nicht alle Randfiguren erwähnt werden.
Die Ui Talchiu
Till – ein Träumer, der sich für seelenverwandt mit Oswald von Wolkenstein hält, bis er ihn kennen lernt
Rolf – zwei Schwerter, sein Laden und die Dauerfehde mit Gabriela sind die soliden Pfeiler, auf denen sein Leben ruht
Martin – möchte am liebsten eine Celtic Rock Band gründen, findet am Niederrhein aber einfach keinen Sänger, der Gälisch beherrscht
Almat – die Seele der Ui Talchiu, auch wenn er gelegentlich mit Hirschgeweih auftritt
Gabriela – stets schwarz gewandet und perfekt gestylt sucht sie nach ihrem Platz in der Welt
Mariana – die Druidin der Ui Talchiu, Expertin im Umgang mit Tollkirschen und mit Leuten, die nicht an Magie glauben
Die Heinzelmänner
Nöhrgel – der Älteste unter den Kölner Heinzelmännern ist der festen Überzeugung, dass jeder, der die Paten-Trilogie kennt, das Handwerkszeug hat, um in führender Position bestens durch das Leben zu kommen
Wallerich – ein Rebell unter den Heinzelmännern, der alles tun würde, um Neriellas Herz zu gewinnen
Birgel – weiß immer, wo es etwas zu essen gibt, und ist Wallerichs bester Freund
Malko – sein geheimnisvolles Verschwinden sorgte dafür, dass die Möwe Schnapper unter Mordverdacht geriet
Mozzabella – die Älteste der Heinzelfrauen in der Colonia und wohl der einzige Zweibeiner, den Nöhrgel fürchtet
Luigi Bügler – der Modezar der Heinzelmänner, der sein Leben lang gegen konservative rote Zipfelmützen kämpft
Mazzi – aus dem Osten zugewandert und zu einem bedeutenden Mitglied im Heinzelmännerrat aufgestiegen.
Laller – der Zweitälteste der Kölner Heinzelmänner, der keine Gelegenheit auslässt, Nöhrgel zum Abgang zu verhelfen und dessen Platz einzunehmen
Die Dunklen
Cagliostro – sollte eigentlich im Kerker der Inquisition gestorben sein, hat es aber irgendwie geschafft, sich nach Nebenan davonzustehlen
Der Erlkönig – würde gegen einen prominenten Dichter am liebsten eine Klage wegen Rufmord anstrengen. Nebenbei hat er einen guten Einfluss auf Kernkraftwerke
Flammerich III. – ein Drache, dem zum Verhängnis wird, dass er seine Physikstunden geschwänzt hat
Erik – überlegt seit Jahren, wohin er seine Axt verlegt hat
Rübezahl – wurde vor kurzem zum Riesen mit dem bestsitzenden Haarersatz gewählt
Die Schneekönigin – eine etwas frigide Dame mit einer ausgeprägten Vorliebe für die Farbe Weiß
Geschöpfe von Nebenan
Neriella – ist eine Dryade und schafft es irgendwie, in einem Baum mit einem Durchmesser von weniger als einem halben Meter ein geräumiges Eigenheim unterzubringen
Oswald von Wolkenstein – weiß auch nicht recht, wie er nach Nebenan kam, aber seit einem Ausflug in die APO-Zeit träumt er davon, die Beach Boys kennen zu lernen und auf einer Harley Davidson quer durch die Staaten zu tingeln
Rölps – ist ein Troll und manche behaupten, Arnie würde als Terminator Rölps kopieren
Knuper – schafft es, gegen so ziemlich alle existierenden Bauvorschriften zu verstoßen, aber da sie eine Hexe ist, hat es noch niemand riskiert, ihr einen Vortrag über Statik oder Materialermüdung zu halten
Verschiedene Beamte und Angestellte
Dr. Anton Mager – der Energieminister von Nordrhein-Westfalen
Dr. Helmut Kohl – sagte seinen Gastauftritt kurzfristig ab, weil er dieses Buch für anarchistischen Unfug hält
Müller – ein Berater, der ob der Umstände bald recht ratlos wird
Fräulein Kleber – als Sekretärin quasi das ausgelagerte Gedächtnis des Energieministers
Nadine Schimanski – ein Bodyguard mit so viel Sexappeal, dass potenzielle Attentäter vergessen könnten, auf wen sie schießen wollten
Mike – Bodyguard des Energieministers, der alle Schwarzenegger-Filme kennt und befürchtet, dass es sein Schicksal sein könnte, eines Tages auf einen Predator zu treffen
Dr. Frank Schütte – ein Atomkraftgegner, den das Schicksal und sein Einfamilienhaus zu Fall brachten
Klaus Kowalski – ein Hauptwachtmeister, der nie mehr leichtfertig von Geisterfahrern reden wird
Maria Kuhn – geborene Schimanski, ging zur Kölner Polizei, weil die Rolle der Lara Croft schon vergeben war
Die Kirche
Pater Anselmus – hatte immer geglaubt in der Kirche schnell Karriere machen zu können, bis er Pater Wschodnilas traf und erfahren musste, woran andere Priester so glauben
Der Kardinal – ist zugleich der Erzbischof von Köln und trauert den Zeiten nach, in denen man in seiner Position noch Reichsfürst war
Pater Carol Wschodnilas – für ihn ist Inquisition mehr als nur ein Wort und seiner Meinung nach wäre Clint Eastwood ein verdammt guter Priester geworden, obwohl er kein Pole ist
Der Rest
Dr. Armin Salvatorius – ein Zahnarzt, der so bedeutend ist, dass er keine Termine gibt, sondern Audienzen erteilt Bella – eine Pudeldame mit Autorität Gabi – eine Friseuse, deren Leben sich ändern wird, weil sie gerne Star Trek sieht
Joe Pandur – ein Trucker mit ökologischem Bewusstsein, der einen Schützenpanzer in seiner Garage stehen hat
Blau – ein Bullterrier, der so ziemlich alles beißt, was sich bewegt
Philip Pirrip – der größte Illusionist unserer Zeit. Seine wohl berühmteste Nummer: Vor fünftausend Gästen unsichtbar werden und seitdem nie wieder aufgetaucht sein
Marie Antoinette – Ein Eichhörnchen mit Charakter
Ludwig XIV. – Wenn Sie ihm begegnen, müssen Sie Ihre Nase zwischendurch auch in ein anderes Buch gesteckt haben
Das war das Ende! Er konnte jetzt nur noch in die Fremdenlegion eintreten oder sich von einer Rheinbrücke stürzen. Sechs Jahre hatten seine Eltern sein Studium bezahlt und heute Morgen waren alle Träume von akademischen Würden zerstoben. Luftschlösser!
Wollen Sie überhaupt noch zu den Klausuren und Prüfungsgesprächen kommen? Die Worte von Professor Mukke klangen ihm in den Ohren. Ob Mukke klar war, dass er mit diesem Satz ein Leben vernichtet hatte? Ein Sammelsurium unwissenschaftlicher Thesen hatte der Professor die Magisterarbeit über den Dichter und Ritter Oswald von Wolkenstein genannt.
Till glaubte nicht, dass er sich so sehr geirrt hatte! Oswald von Wolkenstein war ein Träumer, ein Abenteurer und Schlitzohr gewesen. Obwohl sie Jahrhunderte trennten, war der Student überzeugt, in den Werken des Dichters einer verwandten Seele begegnet zu sein.
Niedergeschlagen sah er den Blättern nach, die der Herbstwind von den Ästen der Bäume pflückte, um sie dekorativ auf den geborstenen Grabsteinen des alten Geusenfriedhofs zu verteilen. Till schob die Hände tiefer in die Taschen seiner Lederjacke und zog fröstelnd den Kopf zwischen die Schultern. Es war ein verregneter Herbstmorgen. Nicht gerade ein Tag, der zum Spaziergang auf einem Totenacker einlud. Und schon gar nicht, wenn man in einer solchen Stimmung wie Till war. Doch er liebte diesen Ort. Obwohl der kleine Geusenfriedhof kaum hundert Meter vom Hauptgebäude der Universität entfernt war, verirrte sich nur selten jemand hierher. Inmitten verschulter Gelehrsamkeit war dies ein Ort der Ruhe, ein verwunschener Hain, geschaffen für Träumer, die einen ganzen Nachmittag lang fallenden Blättern zusehen konnten, ohne auch nur eine Sekunde dabei das Gefühl zu haben, ihre Zeit zu vertun.
Till dachte wieder an seine Audienz bei Mukke. Vielleicht war es tatsächlich nicht so klug gewesen, den alten Oswald einen Aussteiger zu nennen, und zu poetisch, in ihm einen Don Quichotte im Kampf gegen die höfischen Konventionen zu sehen. Aber war es denn falsch, ein Träumer zu sein, der die Hoffnung nicht aufgeben mochte, dass man auch dem Alltag seine kleinen Wunder abringen konnte?
Zweifelnd sah Till an sich hinab. Er war nicht sonderlich groß und auch nicht sehr kräftig gebaut. Vermutlich würde er bei der Musterungsstelle der Fremdenlegion genauso durchfallen wie in seinem Examen. Und der Rhein … Um diese Jahreszeit war das Wasser eisig. Till überlief ein Schauer. Mit klappernden Zähnen zu ertrinken war weder romantisch noch heroisch. Vielleicht sollte er den großen Sprung doch noch einmal vertagen … Außerdem stand heute Nacht noch das Samhaimfest an. Vorläufig würde es wohl reichen, den Frust in Strömen von Met zu ertränken. Oswald hätte sicher auch nicht einfach aufgegeben!
Till legte den Kopf in den Nacken und blickte zu den kahlen Ästen hinauf, die sich im Herbstwind wiegten. Es wäre ritterlicher, mit einem Lächeln auf den Lippen dem sicheren Untergang entgegenzugehen. Den Kampf gegen Windmühlenflügel aufzunehmen stünde einem Altgermanisten, der Ritterepik mit dem Herzen und nicht mit kühlem Verstand las, gewiss besser zu Gesicht als sich kleinlaut davonzuschleichen.
Vom Starren zum Himmel hinauf war ihm ein wenig schwindelig. Er sah auf die Uhr. Es war Zeit, zu Grünwald zu gehen und sich seine Märchenvorlesung anzuhören. Leichten Schrittes verließ Till den Friedhof. Die grünen Augen, die ihn die ganze Zeit über verborgen aus dem Geäst einer alten Esche beobachtet hatten, bemerkte er auch jetzt nicht.
*
Neriella seufzte. Die Welt war doch ein Jammertal! Wie gerne hätte sie Till getröstet. Ihn in ihre Arme geschlossen und zu sich in die Esche gezogen, um ihn alle Sorgen vergessen zu lassen. Seit Monaten schon beobachtete sie ihn. Er war ihr aufgefallen, weil niemand so regelmäßig den kleinen Friedhof besuchte wie dieser Sterbliche mit den verträumten Augen. Anfangs war sie nur neugierig gewesen … Es war ein beliebter Zeitvertreib unter den Feenwesen, die Studenten auf dem Campus der Universität zu Köln zu studieren. Manchmal traf man sich, um über die interessantesten Exemplare zu tratschen. Auch wenn die großen Eckpfeiler Liebe, Intrige, Habsucht und weltvergessener Wissensdurst Konstanten waren, die sich über die Jahrhunderte kaum änderten, so ließ sich nicht bestreiten, dass die Studierenden in den letzten Jahrzehnten immer sonderbarer und zugleich auch amüsanter wurden.
Die Dryade lächelte gedankenverloren. Hätte ihr vor zwanzig Jahren ein Heinzelmann erklärt, dass es unter den Menschen eines Tages Mode werden würde, ihre Haarfarbe zu kopieren, hätte sie ohne Bedenken ihre Esche dagegen gewettet. Gut, dass es nicht so weit gekommen war! Heute wandelten Grünschöpfe jeder Art über den Campus …
Nachdenklich strich sie über ihr langes Haar. Bisher hatte ihr das dunkle Efeugrün gut gefallen. Aber in letzter Zeit dachte sie oft darüber nach, wie ihr die Farbe von jungem Gras wohl stehen würde. Sie hatte sogar zwei Mädchen belauscht, die auf einer Parkbank darüber plauderten, wie man die Haarfarbe wechselte. Zunächst brauchte man offenbar ein oder zwei der schmutzigen Papierfetzen, die die Sterblichen Geld nannten, und dann musste man in einen Laden gehen und konnte dort das Geld gegen Zauberpulver tauschen …
Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Till den Friedhof verließ. Es war an der Zeit, ihm zu folgen! In seinem Zustand mochte er es sich im letzten Augenblick anders überlegen und doch noch zum Rhein gehen. Dieser verfluchte Professor Mukke! Sie sollte ein paar Heinzelmännchen gegen ihn aufstacheln, die seinen Schreibkasten krank machten! Wallerich und sein Freund hatten neulich von allerlei merkwürdigem Zeug gesprochen … Viren, Infektionen … Dass jetzt sogar Maschinen krank werden konnten! Die Welt wurde immer sonderbarer!
Neriella kletterte zu Marie Antoinette hinüber, die gerade in einer Astgabel döste. »Ich bin für zwei oder drei Stunden fort. Passt du so lange auf den Baum auf? Wenn was ist, findest du mich bei dem Märchenmann …«
Marie nickte verschlafen. Für ein Eichhörnchen war sie relativ zuverlässig.
*
»Hast du ihn dabei?«, fragte Wallerich ungeduldig.
Birgel sah sich nervös um. Der Heinzelmann war ein wenig pummelig und hatte trotz seiner Jugend schon eine respektable Stirnglatze. »Was willst du eigentlich mit dem Ring?«
»Du hast ihn also …«
»Ich hoffe, du wirst keinen Mist bauen, Wallerich. Du weißt, dass ich ihn eigentlich gar nicht …«
»Nun hab dich nicht so! Sind wir Freunde?«
Birgel nestelte an seinem breiten Gürtel herum und zog endlich ein kleines Schmuckkästchen hervor. »Hier … Dir ist klar, dass es mich Kopf und Kragen kosten wird, wenn dem Ring etwas passiert!«
»Sehe ich vielleicht aus wie jemand, dem man nicht trauen kann, Birgel?«
Der untersetzte Heinzelmann runzelte die Stirn. Wallerich biss sich auf die Lippen. Den letzten Spruch hätte er sich wohl besser verkniffen. Er griff schnell nach dem Kästchen, bevor es sich sein Freund anders überlegte. Eine winzige Feder ließ den Deckel aufschnappen, als Wallerich auf das Schloss drückte. Der Heinzelmann fühlte sein Herz schneller schlagen. Nie hatte er einen der sieben Ringe wahrhaftig vor sich gesehen. Es hieß, die Alten hätten sie geschaffen und einst habe man gar Kriege um ihren Besitz geführt. Dann wurden sie dem Volk der Heinzelmännchen überlassen, weil diese als besonders vertrauenswürdig galten. Trug ein Feenwesen einen der Ringe, dann wurde es für Menschen sichtbar. Und zog umgekehrt ein Mensch einen solchen Ring auf einen Finger, dann vermochte er das verborgene Volk zu sehen. Es hieß auch, dass jedem der Ringe noch eine ganz eigene, besondere Macht innewohnte, doch darüber wusste Wallerich nichts Konkretes und genau genommen interessierte es ihn auch nicht.
Wie verzaubert starrte er den Ring an. Er bestand aus drei Bändern aus rotem, weißem und gelbem Gold, die untrennbar miteinander verwoben waren. Ehrfürchtig nahm er ihn von dem blauen Samt, mit dem das Kistchen ausgekleidet war. Der Ring fühlte sich angenehm warm in seiner Hand an.
»Was willst du jetzt damit tun?«, fragte Birgel unruhig.
»Siehst du dort vorne … Sie ist wieder gekommen.« Wallerich deutete mit ausgestreckter Hand auf die dritte Bankreihe. Dort saß Neriella, die ihrerseits ihren Blick nicht von Till wenden mochte, der eine Reihe über ihr saß. »Ist sie nicht wunderschön?«
»Na ja … Ein bisschen dünn vielleicht und für uns Heinzelmännchen auch viel zu groß. Dann diese blasse Haut und das grüne Haar. Also ich weiß nicht … Ich begreife nicht, was du an ihr findest!«
Wallerich richtete sich zu seinen vollen fünfunddreißig Zentimetern auf – was für sein Volk eine stattliche Größe war – und blickte überheblich auf seinen fünf Zentimeter kleineren Freund hinab. »Warst du jemals in eine Dryade verliebt?«
»Nö«, gestand Birgel unumwunden. »Ich käm nie auf die Idee, mich …«
»Und deshalb kannst du auch nicht begreifen, was ich für sie empfinde.« Wallerich ballte seine Rechte zur Faust, entschlossen, den Ring nicht mehr herauszurücken, bis die Tat vollbracht war. »Heute soll sie erkennen, wie sehr ich sie liebe!«
»Dazu braucht man doch keinen Ring!«
Wallerich hörte nicht mehr auf seinen Freund. Entschlossen schlängelte sich der Heinzelmann durch die Sitzreihe bis zum Mittelgang, der direkt auf das Katheder des Professors zuführte. Grünwald war recht beliebt bei den Studenten. Ein kleiner Mann mit roten Backen, gepflegtem schwarzen Bart und aufmerksamen dunklen Augen. Auch die Feenwesen besuchten seine Vorlesung gerne, doch kamen sie, um sich über die törichten Märcheninterpretationen der Menschen zu amüsieren. Es war schon erheiternd, was die Langen alles in Geschichten hineindeuteten, in denen mehr Wahrheit steckte, als sie sich in ihren kühnsten Träumen auszumalen vermochten. Schuld daran waren vor allem die Gebrüder Grimm, die die besten Geschichten erst gar nicht aufgeschrieben und auch die übrigen skrupellos der pikantesten Szenen beraubt hatten. Aber was wollte man von Menschen erwarten!
»Folgen wir also weiterhin Max Lüthis Ansatz, der …«, dozierte der Professor, während sich Wallerich neben dem Pult aufbaute und die Hände in die Hüften stemmte. Von hier aus hatte er fast den ganzen Hörsaal im Blick und, was noch wichtiger war, alle würden auch ihn sehen können. Grünwalds Vorlesung war gut besucht. Der Saal stieg in Terrassen nach hinten an, fast wie ein antikes Amphitheater, nur dass diese moderne Variante der Kulturarena mit fest am Boden verschraubten Klapppulten und Stühlen ausgestattet war, die so dicht beieinander standen, dass die Studiosi Ellenbogen an Ellenbogen zusammengepfercht saßen. Fast zweihundert Studenten hatten sich an diesem letzten Oktobermorgen versammelt, um in dem fensterlosen Hörsaal mit seiner kühlen Neonbeleuchtung ein wenig von dem Zauber, der den Märchen ihrer Ahnen innewohnte, zu erhaschen. Wallerich schmunzelte versonnen. Diese Märchenvorlesung würden die Langen niemals vergessen!
Neriella, die sich in einer der mittleren Sitzreihen niedergelassen hatte, wandte den Blick von ihrem Lieblingsstudenten und runzelte die Stirn. Endlich beachtete sie ihn! Noch konnte nur sie ihn sehen. Doch das würde sich gleich ändern! Er würde ihr zeigen, dass er sich für sie über alle Gesetze der Feenwelt hinwegsetzte. Er war bereit alles für ihre Liebe zu tun. Und sogar die Langen sollten dies sehen. Wallerich nahm den Ring und schob ihn sich über den Finger, während der Professor gerade darüber philosophierte, dass sich der Aufbau der meisten Märchen in die Strukturen der Zweiteilung und eines Dreierrhythmus zergliedern ließ.
Als Wallerich sichtbar wurde, verstummte das beständige leise Flüstern unter den Studenten, das bisher die Vorlesung begleitet hatte. Jemand hatte sein Handy fallen lassen. Klackernd hüpfte es die Stufen hinab und blieb unmittelbar vor dem Pult des Professors liegen. Grünwald hob verwundert den Kopf. Die ungewohnte Stille schien ihn aus dem Konzept gebracht zu haben.
Der Heinzelmann räusperte sich leise und versuchte sich an die Rede zu erinnern, die er sich in den letzten Tagen zurechtgelegt hatte, doch sein Kopf war völlig leer.
»Bist du von allen guten Geistern verlassen?«, fluchte Neriella, ohne dass die Menschen sie hätten hören können.
»Also …«, entgegnete Wallerich eingeschüchtert.
»Herr Professor …« Einer von Grünwalds Assistenten hatte sich erhoben und zeigte auf den Heinzelmann.
»Was ist denn das?«, kreischte eine Studentin mit schweren, blonden Walkürenzöpfen in der vordersten Bankreihe.
»Was?«, fragte der Professor verdutzt, der den Heinzelmann, der im toten Winkel vor seinem Pult stand, noch immer nicht gesehen hatte.
»Scheiße!«, fluchte Wallerich und zog sich den Ring vom Finger. Das alles lief ganz anders, als er es sich vorgestellt hatte!
Neriella tippte sich mit dem Zeigefinger gegen die Stirn und wandte ihre Aufmerksamkeit dann wieder ganz diesem kraushaarigen Studenten zu.
Grünwald drehte sich um und schüttelte den Kopf. »Also, wie Max Lüthi darlegte …« Sein Versuch, gegen den Lärm im Vorlesungssaal anzureden, scheiterte kläglich. Die Hälfte der Studenten hatte sich erhoben und diskutierte lebhaft miteinander, während die übrigen noch wie gebannt auf ihren Stühlen hockten und auf die Stelle starrten, an der Wallerich gerade wieder unsichtbar geworden war.
»Das war doch nur ein Hologramm«, rief ein pausbackiger Kerl mit hochrotem Kopf, während sich einige besonders Neugierige aufmachten, um den Platz neben dem Pult näher zu untersuchen.
»Ruhe bitte!« Niemand hörte auf den Professor.
Wallerich war inzwischen unmittelbar vor das Pult getreten. Er musste sich zusammenreißen! Es war unvermeidlich, dass die Ältesten von diesem Vorfall erfahren würden, und eine Chance wie diese würde es so schnell nicht wieder geben! Verächtlich sah er zu Neriellas Studenten in seiner abgewetzten Lederjacke. Was sie nur an dem Kerl fand? Nervös drehte der Heinzelmann eine Spitze seines frisch gestutzten Schnauzbarts zwischen den Fingern und sah an sich hinab. Er trug polierte braune Stiefel, eine weite graue Wollhose, ein dazu passendes graues Jackett und sein bestes Hawaiihemd. Er musste es noch einmal versuchen! Entschlossen zog er seine rote Schiebermütze ein wenig tiefer in die Stirn und streifte erneut den Ring über seinen Finger.
»Neriella, deine Augen strahlen wie Glühwürmchen in einer Mittsommernacht und der zarte Duft deines Haares macht trunkener als frisch gebrannter Ahornschnaps!« Aus den Augenwinkeln sah Wallerich, wie Birgel versuchte sich durch das allgemeine Durcheinander bis zum Pult vorzuarbeiten. Und Neriella … Auf ihren Wangen zeigte sich ein leichtes Rot, das hervorragend zu ihrem blassgrünen Teint passte. Ermutigt fuhr der Heinzelmann fort, während er sich unter der Hand eines Studenten wegduckte, der wohl überprüfen wollte, ob ein Hologramm vor dem Katheder sprach.
»Sogar meinen Bart würde ich scheren, wüsste ich, der Lohn dafür sei ein zarter Kuss auf meine Wangen.« Entschlossen machte der Heinzelmann sich auf den Weg zur Dryade und sprang auf die vorderste Tischreihe im Vorlesungssaal. »Mit Freuden würde ich den Rest meiner Tage im Stamm einer modrigen Esche verbringen, dürfte ich zur Nacht mein Lager mit dir teilen.« Wallerich griff nach den Walkürenzöpfen der Studentin in der vordersten Reihe und schwang sich zur nächsten Bankreihe hinauf. »Gegen Holzwürmer und Spechte würde ich unser morsches Eigenheim verteidigen. Mit bloßen Fäusten würde ich einen der orangen Ritter des Unigartenbauamts niederstrecken und dir seine Motorsäge als Morgengabe bringen, um im harzigen Duft deiner Schenkel zu versinken und …«
Eine schallende Ohrfeige beendete Wallerichs Rede. Einen Herzschlag lang versuchte der Heinzelmann mit rudernden Armen auf der Tischkante sein Gleichgewicht wiederzugewinnen, bis ihn eine zweite Ohrfeige der Dryade nach hinten stürzen ließ. Kopfüber landete er auf dem Schoß einer koreanischen Austauschstudentin, die ihn ansah, als sei sie gerade von einem Drachen zum Frühstück eingeladen worden.
Wallerich spürte, wie er grob beim Handgelenk gepackt wurde. Birgel schwang sich neben ihm auf den Schoß der Koreanerin. »Das war genug!« Mit einem Ruck zog er seinem Freund den Ring vom Finger.
Wallerich schob verdrossen seine Schiebermütze in den Nacken und sah zu Neriella hinauf. »Was habe ich nur falsch gemacht?«
»Morsches Eigenheim …«, murmelte Birgel schmunzelnd. »Mir scheint, Dryaden sind sehr eigen, was ihre Bäume angeht. Lass uns lieber verschwinden, bevor sie auf die Idee kommt, zu uns herunterzusteigen.«
Wallerich leistete kaum Widerstand, als sein Freund ihn am Kragen packte und davonzerrte. Im Hörsaal war indessen allgemeine Panik ausgebrochen und die beiden Heinzelmänner hatten einige Mühe, unbeschadet zwischen trampelnden Menschenbeinen zum Ausgang zu kommen.
*
Nöhrgel war der Älteste unter den Kölner Heinzelmännern, und obwohl in letzter Zeit einige seinen Geisteszustand bezweifelten, war er immer noch der oberste Richter und es oblag allein ihm, ein Urteil über einen Angehörigen seines Volkes zu sprechen.
Nöhrgel strich sich geistesabwesend über die Glatze. Von seinem Haar war nur noch ein schmaler Kranz geblieben, der sein Haupt wie weißer Lorbeer umschloss. Dafür war sein Bart umso eindrucksvoller. Nach Art assyrischer Potentaten hatte er ihn in lange Locken gedreht und mit Rosenöl behandelt. Seine Kleidung stand in merkwürdigem Gegensatz zu diesem Kopf, der selbst einem biblischen Propheten gut gestanden hätte. Der Älteste steckte in einem Neoprenanzug, der an eine Taucherausrüstung erinnert hätte, wären da nicht all die Schläuche und Kabel gewesen. Sie waren mit den zahlreichen Computern verbunden, die die kleine Kammer des Ältesten fast völlig ausfüllten. Heinzelmänner hatten schon immer viel für die Technik der Menschen übrig gehabt, oder besser gesagt, sie hatten sich schon immer dafür begeistert, die Erfindungen der Menschen zu verbessern. Nöhrgel jedoch war selbst für die Verhältnisse des kleinen Volkes ein außergewöhnlicher Bastler und entsprechend sah es in seiner Kammer aus. Die Hightech-Spitzenerzeugnisse von Menschen und Heinzelmännern stapelten sich wirr durcheinander. So war Nöhrgels Schreibtisch gleich von drei menschlichen Computermonitoren umstellt, die für Heinzelmänner die Größe von Videowänden hatten. Auf dem Schreibtisch selber aber standen zwei Pentium-VII-Rechner, das Neueste aus den Hardware-Schmieden des kleinen Volkes. Rings herum bildeten aufgeschraubte Computergehäuse, modifizierte Mikrowellengeräte, lasergesteuerte Roboterarme und etliche Kilometer Kabelstränge, die kreuz und quer zwischen den Geräten verlegt waren, ein atemberaubendes Techniklabyrinth. Freilich hätte ein menschlicher Beobachter die improvisierten Gerüstplattformen und Leitern aus hölzernen Grillspießen, Konservendosenblech und Streichhölzern wohl einigermaßen seltsam gefunden und für die Körbe an altertümlichen Flaschenzügen nur ein Lächeln übrig gehabt. Doch der Umgang mit überdimensionierter menschlicher Technologie erforderte gewisse Zugeständnisse an die Körpergröße der Heinzelmännchen.
Dass Nöhrgel aber auch noch jedes Stückchen freien Platz nutzte, um Tische mit alchemistischem Gerät aufzustellen und über die Kühlaggregate und Ventilatoren seiner Rechner bündelweise Kräuter zum Trocknen aufgehängt hatte, war selbst für einen Angehörigen des kleinen Volkes ungewöhnlich. Doch der Älteste gehörte zu den Letzten, die noch an den Lehren der mittelalterlichen Alchemie festhielten und niemals die Hoffnung aufgegeben hatten, den Stein der Weisen oder ein wirklich zuverlässiges Haarfärbemittel zu finden. So mischte sich unter das Summen der Rechner ein beständiges Blubbern und Zischen aus Tiegeln und Töpfen und das Fauchen einer alten Espressomaschine, die angeblich schon dreimal explodiert war.
»Ihr könnt jetzt gehen«, brummte Nöhrgel die wartenden Heinzelmänner an, während er aufmerksam eine Tabelle auf einem der übergroßen Bildschirme vor seinem Schreibtisch betrachtete.
»Aber du kannst doch nicht …«, begann Laller, der Chefankläger des hohen Rates. Er war der Zweitälteste unter den Kölner Heinzelmännern und seit Jahrhunderten Nöhrgels Rivale. Mit seinem dreifach gegabelten Bart, seiner groben Wollkleidung und einer roten Zipfelmütze war er ein typischer Vertreter der konservativen Puristen unter den Kölner Heinzelmännern. Wie üblich hatte Laller eine äußerst harte Bestrafung gefordert und diesmal wurde er in Anbetracht der Schwere des Vergehens sogar durch den Rat unterstützt.
»Ich brauche deine Erklärungen nicht. Ich kenne die beiden, das genügt mir für ein Urteil!« Der Alte blickte zu Birgel, der augenscheinlich am liebsten im Boden versunken wäre. »Ich denke, bei ihm handelt es sich eher um ein Opfer als um einen Täter. So wie ich Wallerich kenne, hat er den ehrenwerten Birgel erpresst oder vielleicht sogar unter Drogen gesetzt. Anders kann ich mir nicht erklären, dass unser unbescholtener junger Freund in diese infame Angelegenheit hineingeraten ist. Und nun lasst mich mit dem Übeltäter allein. Ich werde Wallerich mit einer Strafe bedenken, an die er sich noch in hundert Jahren erinnern wird.« Einer der Computer stieß ein schrilles Pfeifen aus und irgendwo hinter den Kabeln, die von der Decke hingen, begann eine rote Lampe zu blinken.
»Scheiße«, murmelte der Älteste halblaut und schlug mit der Faust auf eine Tastatur. Dort, wo die rote Lampe blinkte, quoll weißer Rauch aus einem Kabelschacht. Es stank nach verschmorter Plastikummantelung.
Laller blickte besorgt zur Decke und auch die übrigen Heinzelmänner, die mit den beiden Übeltätern erschienen waren, wirkten nervös. So widersprach niemand, als Nöhrgel noch einmal vorschlug, ihn mit Wallerich allein zu lassen.
»Hast du ein Problem?«, fragte Wallerich, als sich die Tür hinter den Ringwächtern geschlossen hatte, und blickte zur Decke.
»Ich, ein Problem!«, grollte der Alte, drehte sich um und machte sich erneut an seiner Tastatur zu schaffen. »Ich glaube, du verkennst die Tatsachen!« Die Lampe hörte auf zu blinken und kein weiterer Rauch quoll zwischen den Kabeln hervor. Nöhrgel lächelte verschwörerisch. »Ein Tauchsieder in einem Topf mit eingetrockneter Farbe und eine kleine Trockeneismaschine, hört sich das wie ein Problem an? Ein erstklassiger Weg, sich endlosem Heinzelmännchengeschwafel zu entziehen …« Der Alte zog die Brauen zusammen. »Aber dank dir werde ich mir jetzt wohl was Neues einfallen lassen müssen! Und jetzt erklär mir mal, was dieser Unsinn zu bedeuten hatte, den du bei dieser Vorlesung veranstaltet hast!«
Wallerich nahm seine Mütze ab und drehte sie unschlüssig zwischen den Händen. »Also ich … Da war diese Dryade … Ich fürchte, ich bin verliebt!«
Nöhrgel pfiff durch die Zähne. »Verliebt! Und du wolltest wohl ein bisschen Eindruck schinden … Hat es denn wenigstens was gebracht?«
»Sie hat mir zwei Ohrfeigen verpasst …«
Der Alte lachte. »Das ist nicht unbedingt ein schlechtes Zeichen.« Plötzlich wurde er ernst. »Aber warum zum Henker hast du dir ausgerechnet diesen Tag für deine Eskapaden ausgesucht! In der Samhaimnacht haben wir nun wirklich genug um die Ohren … In keiner anderen Nacht sind die Tore nach Nebenan so leicht zu öffnen. Die Dunklen werden nichts unversucht lassen, um herüberzukommen … Und zum Auftakt mischst du einen Vorlesungssaal auf! Was soll ich nur mit dir machen, Wallerich? Und dann noch einen der Ringe stehlen …« Nöhrgel schüttelte missbilligend den Kopf.
»Es heißt, zu deiner Zeit hättest du auch gelegentlich einmal einen der Ringe …«
»Wer sagt das?«
»Na ja, das sind halt so Geschichten …«
»So … Nehmen wir einmal an, das wäre wahr … Zumindest hätte ich mich dann nicht erwischen lassen. Begreifst du, was ich meine?«
»Na ja, vielleicht macht Liebe wirklich blind …« Wallerich legte die Rechte auf sein Herz und erklärte feierlich: »Ich gelobe bei meinem Barte … dass ich mich beim nächsten Mal nicht wieder so dämlich anstellen werde.«
Nöhrgel zwinkerte ihm freundlich zu. »Wenn du mir jetzt versprochen hättest, es nicht wieder zu tun, hätte ich dich bestrafen lassen. Lügen kann ich nicht ausstehen … Aber genug zu dem Thema.« Er deutete zu einem Computerbildschirm, der fest auf einem Rechner montiert war, aus dessen Rückseite die Kabel so dicht sprossen wie Haar aus den Nasenlöchern eines hundertjährigen Riesen. Auf dem Monitor erschienen abwechselnd ein Totenkopf und das Gesicht eines Mannes mit gepuderter Perücke.
»Dies ist ein Wahrscheinlichkeitskalkulator«, erklärte Nöhrgel stolz. »Zugegeben, es ist noch ein Prototyp, aber wenn ich noch ein paar Kleinigkeiten verbessert habe, dann wird er für immer das Leben aller Zwergenvölker verändern. Menschen sollte man ihn allerdings nicht überlassen. Ich denke, die Langen sind für diese Art von Technologie einfach noch nicht reif und …«
Es klopfte kurz, dann flog die Tür zur engen Kammer auf. Ein eleganter Frack schwebte herein. Von dem Heinzelmann, der ihn brachte, sah man nur die Hand, die den Bügel hochhielt. »Bin fertig mit dem guten Stück, Chef.
Hab die ganze Nacht gearbeitet. Ich fang jetzt mit den hundert Seidenrosengestecken an, wenn’s recht ist.«
Nöhrgel begutachtete den Frack mit verklärtem Blick, rieb prüfend den Stoff zwischen den Fingern und seufzte wie ein verliebter Teenager. »Sehr gute Arbeit. Ich lasse dir wie versprochen für tausend Mark BMW-Aktien gutschreiben.«
»Ähm, Chef … Könnten wir Daimler-Aktien draus machen, ich weiß nicht, ob du heute schon die aktuellen Börsenberichte gelesen hast, aber …« Hinter dem Frack war ein Heinzelmann zum Vorschein gekommen, als selbiger den Anzug an einen dicken Kabelstrang hängte. Es handelte sich um keinen Geringeren als Luigi Bügler, den allgemein anerkannten Topdesigner unter den Kölner Heinzelmännern, der vor rund hundert Jahren sein großes Coming-out gehabt hatte, als er hochmoderne Anzüge aus schottischem Clanstartan mit passenden Zipfelmützen in Schottenmustern kombinierte. Luigi hatte heute sein langes Haupthaar zu einem Zopf geflochten. Auch sein Bart war in drei Zöpfe gedreht, die wie Gabelzinken vor seiner Brust abstanden. Der Gipfel war jedoch, dass er auch noch winzige Zöpfchen aus seinen Augenbrauen geflochten hatte. Wie es schien, stand ein neuer Modetrend bevor. Wallerich überlegte, wie teuer Haarimplantate an den Augenbrauen wohl sein mochten.
»Kein Problem, das Aktienpaket zu ändern«, antwortete Nöhrgel geistesabwesend, während er noch immer den seidenglänzenden Stoff streichelte.
Luigi war längst wieder verschwunden und Wallerich tat vom leisen Räuspern schon die Kehle weh, als Nöhrgel endlich aus seinen Tagträumen aufschreckte. »Hast du was gesagt, mein Sohn?«
»Kann es sein, dass ich irgendwas nicht mitbekommen habe?«
Der Älteste errötete leicht. »Nö, ich dachte, in meinem Alter sei es an der Zeit, einen vernünftigen Anzug zu besitzen.«
»Und hundert Seidenblumengestecke?«
Nöhrgel machte eine weit ausholende Geste. »Findest du nicht auch, dass diese bescheidenen vier Wände ein bisschen geschmückt werden könnten?«
Der junge Heinzelmann sah sich zweifelnd um. Solange er Nöhrgel kannte, hatte der Alte nie etwas daran auszusetzen gehabt, in einer Kammer zu wohnen, die so viel Charme wie ein stillgelegter Aufzugschacht hatte.
»Du plünderst also immer noch Aktienfonds im Internet«, wechselte Wallerich das Thema.
»Nein, seit ich im Lotto gewonnen habe, habe ich diese Robin-Hood-Spielchen nicht mehr nötig.«
»Im Lotto gewonnen?«
Nöhrgel grinste verschwörerisch. »Ich sagte doch schon, dass der Wahrscheinlichkeitskalkulator das Leben aller Zwergenvölker revolutionieren wird. Es ist der Durchbruch im Computerzeitalter. In Metaphern gesprochen könnte man sagen, wir Heinzelmänner haben es wieder einmal geschafft, die Büchse der Pandora zu öffnen und …«
»Entschuldige, wenn ich dumme Fragen stelle«, unterbrach Wallerich Nöhrgels Redefluss, »aber was zum Henker ist ein Wahrscheinlichkeitskalkulator?«
Der Alte stockte und sah ihn an, als hätte er gefragt, warum eins und eins zwei ist. »Der Wahrscheinlichkeitskalkulator ist die technologische Innovation des beginnenden einundzwanzigsten Jahrhunderts! Er ermöglicht es, den Schleier der Zukunft zu zerreißen.«
»Ein Rechenprogramm, das Horoskope schreibt?«, fragte Wallerich vorsichtig.
»Nein, du Banause! Der Wahrscheinlichkeitskalkulator hat nichts mit Astrologie oder faulem Hokuspokus zu tun. Er basiert auf der konkreten Anwendung höherer Mathematik! Je weiter man in die Zukunft blickt, desto unschärfer wird allerdings die Perspektive«, fügte Nöhrgel etwas weniger enthusiastisch hinzu. »Aber seine Aussagen über die Entwicklungen in den letzten zwei Wochen haben sich als größtenteils richtig erwiesen.«
Wallerich begutachtete die Maschine misstrauisch. »Meinst du, er könnte berechnen, wann Neriella meine Braut wird?«
»Für solchen privaten Unsinn werde ich doch nicht den intelligentesten Rechner der Welt bemühen!« Der Alte packte ihn und zerrte ihn zum Bildschirm, um mit seinen ölverschmierten Fingern auf das Porträt zu deuten. »Das ist Alessandro Graf von Cagliostro, alias Giuseppe Balsamo! Laut Aussage des Wahrscheinlichkeitskalkulators wird er uns zu Samhaim gefährlich werden.«
»Sprichst du von dem Cagliostro? Der ist doch vor über zweihundert Jahren in einem Kerker der Inquisition gestorben. Vielleicht solltest du deine Programme noch einmal überarbeiten!«
»Mein Rechner irrt sich nicht! Wenn er sagt, Cagliostro wird uns Ärger machen, dann kannst du dich darauf verlassen, dass es so sein wird! Alles, was ich von dir will, ist, dass du die Augen offen hältst. Du hast einen wacheren Geist als die meisten Torwächter. Ich möchte, dass du diese Nacht in der Zentrale sitzt und alle ankommenden Nachrichten studierst. Wenn dir etwas seltsam vorkommt, dann meldest du dich sofort bei mir. Und keine Widerrede mehr, sonst überlasse ich dich diesem Paragraphenreiter Laller. Der wartet schon lange darauf, mit dir ein Hühnchen zu rupfen und dich in irgendein abgelegenes Eifeldorf zu verbannen.«
Der Monitor begann zu flimmern. Das Bild des Grafen verzerrte sich und verschwand. Stattdessen erschien ein Schriftzug.
+++ Sorry, Chef. Muss die Berechnungen von gestern Mittag berichtigen. Die Wahrscheinlichkeit, dass Sie in spätestens drei Wochen Sharon Stone heiraten werden, beträgt leider nicht 99,999999999, sondern 0,000000001 Prozent. +++
»Wie war das?- Für solchen privaten Unsinn werde ich doch nicht den intelligentesten Rechner der Welt bemühen?«
»Zwischen deinem privaten Unsinn und meinem privaten Unsinn besteht ein großer Unterschied! Und jetzt mach dich auf den Weg zur Zentrale!«, knurrte Nöhrgel in einem Tonfall, der zu seinem Namen passte.
»Natürlich«, murmelte Wallerich so leise, dass der Älteste ihn nicht mehr hören konnte. »Ich werde aufpassen, dass wir heute Nacht keinen Ärger mit einem Grafen haben, der schon seit mehr als zweihundert Jahren tot ist.«
Martin legte die Hand flach auf die Gitarrensaiten und griff nach dem tönernen Becher. »Erzählst du eine Geschichte?«
Till schüttelte müde den Kopf. »Nicht heute Nacht.« Seit mehr als einer Stunde starrte er in das Lagerfeuer, gebannt vom Tanz der Flammen. Seine Augen waren rot vom Rauch. Selbst auf dem Mond hätte er sich nicht weiter entfernt vom ausgelassenen Lärmen an den anderen Lagerfeuern fühlen können. Es war ein Fehler gewesen, zu kommen. Er war heute einfach nicht in der Stimmung für ein Samhaimfest. Laut keltischer Mythologie war es die Nacht, in der sich die Pforten zur Geisterwelt öffneten. Till lächelte zynisch. Für ihn war es heute wohl eher der Tag, an dem ihm Mukke für immer die Pforten ins wirkliche Leben verschlossen hatte. Er sah zum halb vollen Becher in seiner Hand. Nicht einmal Trinken half!
An den drei großen Feuern hatte sich der Clan der Ui Talchiu versammelt, und wäre ein nächtlicher Wanderer auf den abgelegenen Hügel irgendwo zwischen Blankenheim und Schneeeifel gestiegen, dann hätte er wohl den Eindruck gehabt, eine Barbarenhorde aus vergangenen Jahrhunderten sei zurückgekehrt. Um die Feuer hockten junge Männer mit wilden Bärten und schlammbespritzten Umhängen, prosteten sich mit Methörnern und Tonbechern zu und prahlten lauthals mit ihren Heldentaten bei den Schwertkampfübungen am späten Nachmittag. Hin und wieder verstummte das ausgelassene Grölen, dann ertönten Gitarrenklänge und eine einzelne, leise Stimme schlug alle für ein Lied oder zwei in ihren Bann.
Till spürte die Blicke der anderen auf sich lasten. »Nein, nicht heute Nacht«, erklärte er noch einmal laut. »Ich bin nicht in der Stimmung für eine Geschichte.«
»Vielleicht überlegt es sich dein Prof ja noch mal«, wandte Bambam ein und schob einen großen Scheit ins Feuer. Sein richtiger Name war eigentlich Rolf. Er war ein stämmiger Kerl, mit langem blonden Haar und klaren blauen Augen. Zu seinem Spitznamen Bambam war er an jenem Tag gekommen, an dem er zum ersten Mal mit zwei Macheten statt wie sonst mit einem Bastardschwert zu den Fechtübungen kam. Zunächst hatten sie ihn ausgelacht, doch am Ende des Sommers lachte keiner mehr und Bambams Ruf als Schwertmeister war legendär.
»Bevor Mukke seine Meinung ändert, fällt uns der Himmel auf den Kopf«, brummte Gabriela mürrisch und zog ihren Umhang aus schwarzen Rabenfedern enger um die Schultern. »Der hat auch meinen Ex über die Klinge springen lassen. Wenn der einen erst einmal auf dem Kieker hat, braucht man sich bei ihm nicht mehr blicken zu lassen.«
»Danke für den herzlichen Beistand«, knurrte Till. »Das ist genau, was ich jetzt hören möchte!«
Gabriela hob den Kopf und sah ihn geradewegs an. Mit ihrem scharf geschnittenen Gesicht, den hohen Wangenknochen und den funkelnden Augen wirkte sie wie ein wütender Raubvogel. Ein Windstoß bewegte ihr langes, schwarzes Haar und ließ die Federn auf ihrem Umhang rascheln. »Süßliches Gesäusel à la Es wird schon nicht so schlimm ist etwas für Weichlinge!« Sie warf Bambam einen spöttischen Blick zu.
»Könntest du vielleicht versuchen dich wenigstens heute Nacht nicht wie die Morrigan aufzuspielen? Glaubst du, dass du Till damit hilfst?«, mischte sich Martin ein. Normalerweise war der hünenhafte Gitarrenspieler eher still und so brachte sein plötzlicher Ausbruch für einen Moment alle zum Schweigen. Sie kannten einander zu gut, um jetzt noch weiterzustreiten. Till dachte daran, wie alles begonnen hatte. Seit sechs Jahren lebten sie zusammen. Martins Vater hatte ihnen eine alte Jugendstilvilla nahe der Uni überlassen, die sie noch immer gemeinsam bewohnten, obwohl die meisten von ihnen das Studium längst aufgegeben hatten, um andere Wege zu gehen.
In jenem Jahr, in dem sie gemeinsam anfingen zu studieren, hatten sie die Ui Talchiu gegründet, eine Truppe, die sie manchmal auch hochtrabend Celtic reinactment group nannten. Sie alle hatten sich schon am Gymnasium gekannt und in zahllosen Rollenspielnächten die phantastischsten Abenteuer im Geiste erlebt. Als sie zur Uni kamen, sollte alles noch größer und besser werden. Sie hatten begonnen sich Kostüme zu nähen, Schwerter gekauft und waren an den Wochenenden in entlegene Eifeltäler gefahren, um sich im Schwertkampf zu üben, nach verschollenen Kultplätzen zu suchen und wie die alten Kelten im Einklang mit der Natur zu leben.
Bald waren sie dabei auf Gleichgesinnte gestoßen und hatten an Heerlagern teilgenommen, zu denen Mittelaltergruppen aus halb Europa kamen. Sie waren als moderne Gladiatoren in den Schwertkampfarenen etlicher Mittelaltermärkte aufgetreten, hatten an nachgestellten Schlachten teilgenommen und an geheimen Treffen, wo Druiden vermeintlich keltische Rituale zelebrierten. Ihre Gruppe war gewachsen und zählte jetzt über dreißig Köpfe, doch sie waren immer der harte Kern gewesen: jene, die alles ausprobierten, die selbst im Winter im Zelt übernachteten und vor keiner Herausforderung zurückschreckten.
In letzter Zeit jedoch zeichnete sich mehr und mehr ab, dass sich ihre Wege bald trennen würden. Keiner sprach darüber, doch alle wussten es. Gabriela hatte ein Angebot, bei einem Musical in Hamburg zu tanzen, Rolf hatte einen Rollenspielladen eröffnet und war kaum noch zu Hause, Martin hatte eine Celtic-Rock-Band gegründet und interessierte sich mehr für Proben und Auftritte, Almat, der jetzt am Feuer fehlte, würde für ein halbes Jahr auf eine archäologische Expedition nach Syrien gehen und Till stand kurz davor, als Einziger von ihnen sein Studium zu vollenden – falls ihm Mukke keinen Strich durch die Rechnung machte.
Ihr kleines Haus an der Amalienstraße war still geworden und Martin hatte als Erster von ihnen die Befürchtung ausgesprochen, dass sie vielleicht begannen erwachsen zu werden. Als sicheres Indiz führte er an, dass schon seit einem halben Jahr keine Polizeistreife mehr bei ihnen vorbeigeschaut hatte, um irgendeiner Beschwerde von Nachbarn nachzugehen. Und was für Anzeigen sie früher bekommen hatten! In der WG-Küche hing eine Liste der Beschwerden, denen die Polizei nachgespürt hatte. Die Vergehen reichten von Lärmbelästigung durch Schwertkampfübungen bis zu der Behauptung, sie hätten einen heidnischen Kultplatz im Garten eingerichtet und würden in Vollmondnächten den Teufel anbeten.
Nach der ersten Anzeige hatten sie ihr Haus Villa Alesia getauft, denn sie fühlten sich von bürgerlicher Spießigkeit belagert, so wie das keltische Alesia einst von römischen Legionen eingeschlossen war. Sie hatten erfolgreich allen Konventionen getrotzt, hatten all das getan, wovor Eltern mit Schaudern in der Stimme warnten, und nun, da sie sich unbesiegbar wähnten, begann ihre Gruppe von innen heraus zu zerbrechen.
Martins Finger glitten über die Saiten der Gitarre. Er spielte Davids Song von Vladimir Costa. Das Lied war lange so etwas wie ihre Hymne gewesen, doch jetzt vertiefte die traurige Melodie nur das Schweigen am Feuer. Till beobachtete aus den Augenwinkeln seine Freunde, die jeder für sich ihren Gedanken nachhingen.
Bambam schnitzte mit seinem Dolch an einem Holzscheit herum. Sie beide kannten sich, seit sie vierzehn waren. Zum ersten Mal waren sie sich in einer Rollenspielrunde begegnet. Einen Elfen und einen Söldner hatten sie gespielt und zunächst hatten sie sich nicht riechen können, bis sie von Orks gefangen worden waren, um irgendeinem Gott geopfert zu werden, dessen Namen in erster Linie aus Konsonanten bestand. So etwas verbindet! Danach waren sie ein unzertrennliches Gespann geworden, und als sie das Tischrollenspiel aufgaben und Ui Talchiu gründeten, ließen sie ihre Phantasien wahr werden. Kaum ein Tag verstrich ohne gemeinsame Schwertkampfübungen im Garten der Villa Alesia, und als sie in ihre erste Schlacht auf einem Mittelaltermarkt zogen, waren sie ein Fechterduo geworden, das weder Tod noch Teufel fürchtete, höchstens vielleicht tschechische Stuntmen in Plattenrüstungen, die mit Zweihandschwertern jonglierten wie normale Sterbliche mit einem Brotmesser. Doch jetzt kamen sie immer seltener dazu, die Klinge zu kreuzen, und waren jeder für sich gezwungen Kämpfe auszufechten, bei denen man mit einem Schwert in der Faust nicht bestehen konnte.
Tills Blick wanderte zu Gabriela, die ins Feuer starrte und eine Haarsträhne um ihren Zeigefinger aufrollte. Sie wirkte mürrisch und unnahbar, wie fast immer. Gabriela war schön wie eine Märchenfee, nur dass Feen in der Regel nicht Schwarz trugen oder sich das Gesicht weiß puderten, und auf gar keinen Fall benutzten sie so viel Eyeliner, dass ihre braungoldenen Augen wie Raubvogelaugen wirkten. Auch trugen Feen – zumindest in Tills Vorstellung – in der Regel eher eine Garderobe, die Assoziationen an Nachthemden weckte, und keine hautengen Catsuits oder durchscheinende Kleider, bei deren Anblick einem zum WG-Frühstück regelmäßig der Löffel ins Müsli fiel. Trotz aller Bemühungen, sich mit einer düsteren Aura zu umgeben, wirkte Gabriela eher wie ein ätherisches Geschöpf, zart und zerbrechlich. Dennoch war immer sie es gewesen, die die Energie aufbrachte, die verrücktesten Ideen der Ui Talchiu Wirklichkeit werden zu lassen. Sie hatte die meisten Kostüme geschaffen, die sie trugen, hatte sie gelehrt im Schwertkampf die Eleganz von Tänzern zu bewahren und hatte sie zu dem berüchtigten Zeltlager während der Wintersonnenwende überredet, vom dem alle mit einer ausgewachsenen Grippe in die Villa Alesia zurückgekehrt waren.
Wehmütig dachte Till an den Sommer, in dem sie fast ein Paar geworden waren. Erst hatte Gabriela sich in ihn verliebt, was sich vornehmlich darin geäußert hatte, dass sie noch unnahbarer erschien. Als er dann endlich begriff, was ihre morgendlichen Sticheleien bedeuteten, und er sich in sie verliebte, war es zu spät gewesen. Vielleicht war aber auch deshalb nichts daraus geworden, weil sich Gabriela nur an dem begeistern konnte, was unerreichbar schien?
Tills Blick glitt weiter zu Martin. Groß, breitschultrig und mit einem selbst gefertigten Kettenhemd gewappnet war er das Fundament, auf dem die Freundschaft ihrer kleinen Gruppe ruhte. Martin war eher zurückhaltend und seine Schüchternheit stand im krassen Gegensatz zum ersten Eindruck, den man von ihm haben mochte. Er sah aus wie ein amerikanischer Baseball-Star und wirkte wie jemand, den nichts umzuwerfen vermochte. In Wahrheit jedoch hatte er lediglich hohe Mauern um seine verletzte Seele errichtet.
Als sie jünger waren, hatte Till Martin oft beneidet. Er hatte immer alles bekommen: die neuesten Computerspiele, die angesagtesten Klamotten, ein Mofa, ein Motorrad, ein Auto. Das Einzige, was ihm fehlte, waren seine Eltern. Sie waren die meiste Zeit auf irgendwelchen Kongressen oder in dem Forschungslabor, das sie leiteten. Martin war umgeben von Kindermädchen und Hauspersonal in einer wunderschönen, kalten Villa in Rhodenkirchen aufgewachsen und er hatte sehr früh gelernt, dass die meisten Menschen, denen er begegnete, nicht zu ihm nett waren, sondern zum Geld seiner Eltern.
Till hatte heute noch ein schlechtes Gewissen, wenn er daran dachte, wie seine Freundschaft mit Martin begonnen hatte. Als Schüler hatten sie Martin von ganzem Herzen gehasst. Nicht nur dass er von allem immer mehr als genug hatte, nein, er schrieb auch noch eine Eins nach der anderen und war der zweitbeste Schüler der Klasse. Deshalb hatten sie beschlossen, es ihm einmal so richtig zu zeigen.