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Andreas Laudan

Das blaue Leuchten

Thriller

Rowohlt E-Book

Inhaltsübersicht

Über Andreas Laudan

Andreas Laudan, geboren 1967 in Lüneburg, ist promovierter Musikwissenschaftler. Neben der Musik beschäftigt er sich mit Philosophie, Psychologie, Geschichte und Naturwissenschaften. Im Rowohlt Taschenbuch Verlag erschien bereits der erste Band um die Höhlenforscherin Tia «Das Geflecht».

 

Weitere Veröffentlichungen

Das Geflecht

Über dieses Buch

Ein geheimnisvolles Licht, eine Geschichte aus uralter Zeit.

 

Im Odenwald wird eine Höhle entdeckt. Sehr schnell gerät sie ins Visier fanatischer Schatzsucher. Doch welch tödliche Gefahr wirklich tief im Inneren der Erde lauert, ahnen sie nicht. Bald sitzen die Abenteurer in der Falle. Nur eine kann sie retten: Tia ist Höhlenforscherin, eine der besten – und sie ist blind. Zusammen mit ihrem Assistenten Leo stößt sie ins Unbekannte vor. Bis eine gewaltige Explosion das Höhlensystem erschüttert. Der Rückweg ist abgeschnitten ...

 

«Ein packender Öko-Thriller, der fast nur an einem einzigen Ort spielt – in einer tiefdunklen Höhle. Trotzdem schwindet keine Sekunde lang die Spannung, der Leser fiebert bis zur letzten Seite mit den Verschütteten.» (Südhessen Woche)

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, März 2014

Copyright © 2014 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Redaktion Tobias Schumacher-Hernández

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Umschlaggestaltung any.way, Cathrin Günther

(Abbildung: plainpicture/Naturbild; plainpicture/Johner)

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream Inc. All Rights Reserved.

Bitstream Vera is a trademark of Bitstream Inc.

ISBN Printausgabe 978-3-499-26719-2 (1. Auflage 2014)

ISBN E-Book 978-3-644-50541-4

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-50541-4

Prolog

Lochberg, Odenwald
September 1937

Liebste Eva,

dies sind wahrscheinlich meine letzten Zeilen an dich. Ich weiß nicht, was geschehen wird, doch ich wage nicht zu hoffen, dass ich dich wiedersehe oder dass es mir noch einmal möglich sein wird, dir zu schreiben.

Der Wahnsinn wird ein Ende haben; davon bin ich überzeugt. Es wird nicht heute oder morgen geschehen, und ich bedaure zutiefst, dass ich es aller Voraussicht nach nicht mehr erleben werde. Du aber, meine Liebste, sollst und wirst es erleben. Eines Tages werden die Banner der marodierenden Rotten sich senken; die Vernunft wird in Herzen und Köpfe zurückkehren – und du in dieses Haus, das eben sowohl deines wie meines ist. Du allein kennst das Versteck, in dem ich diesen Brief zurücklasse. Du wirst ihn finden und lesen, und vielleicht wirst du dann verstehen, warum ich handelte, wie ich nun handeln muss.

Ich blicke auf die Uhr: Nur Minuten bleiben. Gleich wird es an der Tür pochen. Darum muss ich dir Ade sagen – und es schmerzt mich, es in solcher Kürze zu tun. Vieles muss ungesagt bleiben, liebste Eva. Eines aber sollst du wissen: Siebenundvierzig Jahre habe ich gelebt, manche Wohltat und manchen Segen genossen, selbst Ruf und Rang unter meinen Kollegen, bescheidenen Wohlstand, öffentliche Anerkennung – das Beste aber und Wertvollste, das es in meinem Leben gab, bist du, und so wird es immer bleiben. Sollten wir uns nicht wiedersehen, wird mein letzter Gedanke dir gelten. Ich sehe uns stehen auf jener Brücke in Worms, der alten Königsstadt, deine Hände in meinen, überglänzt vom strahlenden Himmel, der sich in deinen Augen spiegelt. Dieses Bild wird mich begleiten, wo immer ich auch hingehe. Der glücklichste Augenblick meines Lebens – er wird bei mir sein. Du wirst bei mir sein.

Curd Heiding setzte den Federhalter ab und blickte zur Wanduhr hinüber. Der Messingzeiger näherte sich der fünften Stunde. Die Nacht ging vorüber, bald würde es draußen hell werden. Er musste sich beeilen.

Es war nicht nötig, den Brief zu adressieren, mit dessen Abfassung er die vergangenen Stunden zugebracht hatte. Ebenso wäre es sinnlos gewesen, ihn in einen Umschlag zu stecken. Heiding ging davon aus, dass man seine Post abfing. Irgendwo in einem Büro der Staatspolizei saß ein Beamter mit rasiertem Schädel und Nickelbrille – sie sahen alle so aus; Heiding kannte diesen Typus, der unter der Herrschaft der Partei so prächtig gedieh – und las jeden Brief, den er verschickte oder bekam.

Heiding faltete das Schriftstück zusammen, öffnete die Tür zur Terrasse und ging hinaus in den dunklen Garten. Die Grube neben dem Kirschbaum hatte er bereits am vorigen Abend ausgehoben. Seit zwei Jahren lagerte dort eine eiserne Kassette im Boden, die ein Bündel Hundert-Reichsmark-Scheine und den größten Teil des Familienschmucks enthielt. Ursprünglich hatte Heiding das Versteck angelegt, weil er mit Plünderungen rechnete. Seit die Partei herrschte, kam es nicht selten vor, dass Rotten skrupelloser Barbaren, aufgepeitscht von der Propaganda, in die Häuser von Juden eindrangen und alles mitgehen ließen, was auch nur halbwegs Wert besaß. Nun würde das Versteck auch dem Brief als sicherer Aufbewahrungsort dienen.

Heiding legte ihn in die Kassette, die er am Abend ausgegraben hatte, verschloss das Kästchen sorgfältig und versenkte es wieder in die Grube. Dann ergriff er den Spaten und schüttete das Loch zu. Zum Schluss galt es nur noch, die ausgestochenen Grassoden wieder an ihren Platz zu setzen, um die Stelle zu tarnen. Nach getaner Arbeit würde niemand mehr erkennen können, dass es hier etwas zu finden gab. Niemand kannte das Versteck – niemand außer Eva.

Er war keinen Moment zu früh fertig. Drüben im Haus wurde an die Tür geklopft, so heftig, dass das Oberlicht im Rahmen klirrte.

Heiding zuckte zusammen. Rasch huschte er zum Gartenschuppen hinüber, um den Spaten hineinzustellen, eilte zur Terrasse zurück und klopfte den Erdstaub von seinen Kleidern. Leise schloss er die Tür. Sein Blick wanderte zum Sekretär, wo noch immer der Federhalter lag.

Erneut wurde gegen die Tür geschlagen, nun hörbar ungeduldig.

Heiding ließ den Federhalter in einer Schublade des Sekretärs verschwinden. Dabei fiel sein Blick auf einen Brieföffner, ein stählernes Stilett mit fingerlanger Klinge. Einem Impuls folgend, steckte er das Messer in eine Innentasche seines Sakkos. Dann atmete er tief ein, straffte die Schultern und betrat den Flur, an dessen Ende die Haustür lag.

Es war ein Gefühl, wie zu seiner eigenen Hinrichtung zu gehen. Unwillkürlich dachte er an jene, die das gleiche Schicksal vor ihm erlitten hatten. Doch er war kein Thomas Müntzer, kein Ludwig der Sechzehnte, erst recht kein Christus. Er war nur Curd Heiding, bis vor kurzem Professor für Archäologie, Privatdozent, ein Mann in mittleren Jahren ohne revolutionäre Ambitionen und ohne außergewöhnliche Geschichte. Sein Leben wurde nicht bedroht, weil er an den Grundfesten der Herrschaft, der Moral, der Gesellschaft gerüttelt hätte. Er hatte überhaupt nichts getan. Sein einziges Vergehen bestand darin, dass einige seiner Vorfahren mütterlicherseits sich zum jüdischen Glauben bekannt hatten. Ihm selbst bedeutete dieser Glaube wenig. In seiner Welt gab es keinen Gott, der über ein auserwähltes Volk wachte. Gott war nur ein Begriff, ein Bauwerk des Gedankens, eindrucksvoll wie ein steinernes Mahnmal aus uralter Zeit – doch genauso leblos. Und was das auserwählte Volk betraf: Das waren die anderen. Sie hielten sich für die überlegene Rasse. Sie glaubten sich zur Herrschaft berufen, nicht durch göttlichen Bund, sondern durch die Natur, die die Starken über die Schwachen triumphieren ließ.

Was würden sie mit ihm tun? Heiding hatte nur Gerüchte darüber gehört, was mit jenen geschah, deren einziges Verbrechen ihre Abstammung war. Würden sie ihn in einen fensterlosen Kellerraum schleifen, der nur von einer nackten Glühbirne erhellt wurde? Würden sie ihm Fragen stellen? Es gab nichts, das er ihnen sagen konnte. Er konnte keine Freunde oder Bekannten benennen, die irgendeine Form von Umsturz betrieben. Diejenigen, die ernsthaft opponierten, waren längst außer Landes. Geblieben waren nur die Mutigsten – und die Naiven, die sich einredeten, die Lage sei gar nicht so ernst und der Terror würde vorübergehen. Curd Heiding war sich nicht sicher, zu welcher Kategorie er sich selber zählte. Das Zittern seiner Beine, als er den Treppenabsatz erreichte, deutete jedenfalls nicht auf eine Heldennatur hin.

Wieder erbebte die Haustür im Rahmen von einem heftigen Schlag.

Heiding drehte den Schlüssel und öffnete.

Er hatte mehrere Besucher erwartet, mindestens zwei oder drei, bewaffnet, in ledernen Mänteln. Doch es war nur Hans Maurer, der vor ihm stand – allein. Die Hand des SS-Mannes, zum nächsten Schlag gegen die Tür erhoben, sank langsam herab. Er trug seine feldgraue Uniformjacke mit den glänzenden Knöpfen, der roten Armbinde und den Abzeichen am Kragen. Sein Gesicht glänzte von einem feinen Schweißfilm. Maurers Gesicht hatte immer geglänzt, erinnerte sich Heiding: Schon, als der Mann noch ein einfacher Büroangestellter gewesen war, der am Wochenende Unkraut in seinem Garten jätete. Die Partei hatte ihm ein neues Leben und eine stattliche Uniform geschenkt, doch noch immer schien er alles, was er tat, mit jener angestrengten Beflissenheit zu tun, die ihn stets verschwitzt wirken ließ.

«Guten Morgen, Herr Untersturmführer», brachte Heiding mit mühsam kontrollierter Stimme hervor.

Maurer erwiderte den Gruß nicht. Stattdessen drängte er sich mit einer herrischen Grobheit herein, als gehöre das Haus ihm. Heiding musste beiseitetreten.

«Sehr vernünftig von dir, dass du nicht getürmt bist», versetzte Maurer mit seiner hohen, ein wenig quäkenden Stimme. Diese Stimme mochte manche Menschen dazu verführen, den kleinen Mann mit der Knollennase und dem glänzenden Gesicht nicht besonders ernst zu nehmen. Curd Heiding jedoch wusste es besser. Diese Stimme, bar aller natürlichen Kraft und Autorität, konnte jeden Moment in ein wütendes Schnarren überschnappen, in dem das unduldsame Bewusstsein seiner Amtswürde zum Ausdruck kam.

«Man hätte dich sofort geschnappt. Wir kontrollieren jede Straße und jede Eisenbahnverbindung ins Ausland.»

Das war Heiding klar, und er zog es vor zu schweigen.

«Du wirst mir jetzt diese Höhle zeigen», verlangte Maurer. «Augenblicklich. Pack alles zusammen, was wir dafür brauchen!»

Heiding erschrak. Damit hatte er nicht gerechnet. Er wusste, dass Maurer ihm sein Geheimnnis entlocken wollte, hatte jedoch angenommen, dass es nur um die Preisgabe des Ortes ging. Wollte Maurer die Höhle tatsächlich betreten?

«Mach schon!», drängte der SS-Mann.

Heiding gehorchte stumm. Er wandte sich um und ging den Flur hinunter in sein Arbeitszimmer, dicht gefolgt von Maurer. Dort angekommen, öffnete er die Truhe mit den Gerätschaften und kramte unter dem wachsamem Blick des Offiziers die Lampen, die Seile, die Steigeisen hervor. Sein Kopf schwirrte … hoffentlich vergaß er in seiner Angst nichts Wichtiges.

«Beeilung!»

Der Rucksack war kaum gepackt, als Maurer ihn zurück zur Haustür scheuchte. Heiding trat ins Freie, spürte die kalte Morgenluft auf dem Gesicht, blickte sich um. Kein Wagen stand bereit.

«Wir gehen zu Fuß», erklärte Maurer. «Du voran! Und keine Fisimatenten – du weißt, was dann passiert.»

Er legte eine Hand auf den ledernen Holster am Gürtel, in dem seine Waffe steckte.

 

Sie wanderten durch die leeren Gassen der Stadt, deren Bewohner noch schliefen, überquerten die Weinstraße, näherten sich dem alten Steinbruch. Der Weg war weit. Heiding schätzte, dass sie mindestens eine Stunde unterwegs sein würden. Warum, fragte er sich, war Maurer allein und ohne seinen Wagen gekommen?

Vielleicht will er niemanden dabeihaben, ging ihm plötzlich auf. Der Wagen ist ein Dienstfahrzeug der SS; es gehört ein Chauffeur dazu. Niemand soll wissen, was er tut. Selbst seine Vorgesetzten haben wahrscheinlich keine Ahnung. Aber was hat das zu bedeuten? Wird er sich die Höhle zeigen lassen und mich gleich an Ort und Stelle erschießen, damit niemand sein Geheimnis teilt?

«Bisschen schneller!», drängte Maurer hinter ihm.

Als sie den Wald erreichten, zeigte sich über den Bergen im Osten der erste fahle Schimmer der aufgehenden Sonne. Der Weg stieg an, wurde steinig. Heiding hörte seinen Begleiter vernehmlich schnaufen. Maurer war ein Schreibtischmensch und nicht an Fußmärsche gewöhnt. Vermutlich glänzte sein Gesicht inzwischen wie ein glasierter Kuchen.

«Wie weit noch?», keuchte er, als sie abbogen und in den Wald eindrangen.

«Fünf- oder sechshundert Meter», schätzte Heiding.

Eine weitere halbe Stunde lang kämpften sie sich durch das Unterholz. Schließlich aber erreichten sie die Stelle, die Heiding auf Anhieb wiedererkannte: den überwucherten Berghang, aus dem auf halber Höhe ein waagerechter Granitblock hervorbleckte. Wohl niemand wäre beim flüchtigen Vorbeigehen auf die Idee gekommen, dass sich unter diesem Felsen der Eingang zu einer ausgedehnten Höhle verbarg. Heiding selbst hatte sie nur durch Zufall entdeckt – und bislang niemandem verraten, wo genau sie sich befand.

Der Hang war steil und von Felsstufen durchsetzt, sodass sie sich auf alle viere niederlassen mussten, um hinaufzuklettern. Halt boten nur Büsche und einige Baumwurzeln, die aus der Erde ragten. Mehr als einmal rutschte Maurer ab und fluchte vor sich hin. Als sie endlich das kleine Plateau unter der Felszunge erreicht hatten, das von dichtem Gestrüpp bedeckt war, richtete er sich mühsam auf und wischte sich die schweißglänzende Stirn.

«Wo soll hier eine Höhle sein?»

Wortlos bog Heiding die Büsche zur Seite und zeigte ihm die Öffnung unter dem überhängenden Fels. Sie maß kaum einen halben Meter.

Maurer blickte fast erschrocken darauf. Offenbar wurde ihm erst jetzt klar, worauf er sich eingelassen hatte.

«Dort drinnen hast du also diesen goldenen Becher gefunden?»

Heiding nickte.

«Wenn du mich in die Irre führst, wird es zu deinem eigenen Schaden sein, das garantiere ich dir!»

«Ich gebe Ihnen mein Wort», beteuerte Heiding.

«Das Wort eines Juden ist nichts wert.» Maurer zog seine Pistole. «Du wirst dafür sorgen, dass wir heil wieder herauskommen – verstanden? Das ist in deinem eigenen Interesse. Schließlich willst du doch deine Frau wiedersehen, oder etwa nicht?»

Heiding erbleichte. «Was meinen Sie damit?»

«Ich bin ermächtigt, eine Vereinbarung mit dir zu treffen. Du zeigst mir den Fundort des Schatzes – und wir gewähren dir freie Ausreise nach Frankreich.»

Heidings Herz klopfte heftig. War es möglich, dass Maurer die Wahrheit sagte? Würde man ihn, einen jüdischen Intellektuellen, zu seiner Frau nach Paris reisen lassen? Er wusste, dass es bis vor kurzem offizielle Politik der Nationalsozialisten gewesen war, Juden des Landes zu verweisen und ihre Auswanderung zu fördern. Inzwischen jedoch hatte sich die Strategie geändert: Alle Grenzen waren geschlossen worden, und missliebige Elemente landeten nicht mehr im Ausland, sondern in Gefängnissen und Arbeitslagern. Wollte man für ihn eine Ausnahme machen? War sein Geheimnis für die Partei derart wertvoll?

«Ist das wirklich wahr?», brachte er heiser hervor.

Maurer richtete die Mündung der Pistole auf seine Brust.

«Du hast die Wahl: Zeig mir den Schatz, und bring mich sicher wieder nach draußen, dann kann ich schon morgen ein Sondervisum erwirken. Weigerst du dich, dann siehst du deine Frau nie wieder und darfst für den Rest deines Lebens bei der Straßenbaukolonne schuften.» Maurer machte eine bedeutungsvolle Pause. «Und wenn du zulässt, dass mir dort drinnen irgendetwas zustößt – dann bleibt es nicht bei der Straßenbaukolonne. Dann wartet der Strick auf dich! Das sollte dir klar sein.»

Heiding senkte den Blick. An diesem Versprechen zumindest zweifelte er nicht im Geringsten.

«Also los jetzt!» Maurer wies mit der Pistolenmündung auf den Rucksack. «Pack deine Sachen aus.»

 

Heiding tat es. Er schulterte Seile und Steigeisen, entzündete die Karbidlampen. Seinen Grubenhelm reichte er wortlos Maurer, der ihn aufsetzte. Als eben die ersten Strahlen der Sonne durch den Dunst am Horizont brachen, krochen sie hintereinander durch den schmalen Einstieg und ließen das keimende Tageslicht hinter sich. Maurer schnaufte und wand sich in dem engen Tunnel wie eine Made in ihrem Kokon. Als sie endlich den dahinterliegenden Raum erreicht hatten, musste Heiding ihn stützen, damit er wieder auf die Beine kam.

Im Stillen flehte Heiding, dass nichts schiefgehen würde. Einen völlig Unerfahrenen unter Tage zu führen, war kaum weniger gefährlich, als ein sechsjähriges Kind zum ersten Mal auf ein Fahrrad zu setzen. Die Gänge waren schmal, teilweise abschüssig, und an einer Stelle musste eine tiefe Grube überquert werden, die Heiding provisorisch mit einem Holzbrett überbrückt hatte. Schon nach kurzer Zeit schwitzte er fast ebenso wie sein Begleiter – aus purer Angst, diesem könnte etwas zustoßen. Mit allergrößter Sorgfalt erkundete er jeden Meter des Weges, warnte trotz der Lampen vor jeder Stufe, jeder Felszacke, jedem Tropfstein, der aus der Decke ragte. Mehrmals mussten sie enge Durchgänge passieren. Stets ging Heiding voran, wartete geduldig und leistete Hilfe, wo immer es möglich war, ohne die Grenzen der Schicklichkeit zu verletzen. Einmal musste er sich zurückhalten, seinen Begleiter nicht einfach am Kragen zu packen, als dieser sich schnaubend und fluchend durch einen Felsspalt wälzte.

Der schwierige Weg nahm Heiding gänzlich in Anspruch, sodass er kaum Gelegenheit zum Nachdenken hatte. Wenn es jedoch dazu kam, fragte er sich immer dasselbe: Warum nahm ein Unteroffizier der SS eine solche Strapaze auf sich? Warum war er allein gekommen, nicht mit seinen Kollegen oder einer Truppe erfahrener Höhlensteiger?

Er will keine Zeugen, vermutete Heiding erneut. Es gab keine andere Erklärung. Maurer war keineswegs im Auftrag seiner Dienststelle hier, um eine Fundstätte germanischer Altertümer zu erschließen. Soweit Heiding sich an jene Zeiten erinnern konnte, als Hans Maurer noch ein harmloser Nachbar mit gut gepflegtem Obstgarten gewesen war, hatte sich dieser Mann nie auch nur im Geringsten für Archäologie interessiert – wohl aber für seine Karriere. Soweit Heiding wusste, war Maurer in die Partei eingetreten, weil sie ihm einen steilen Aufstieg und zahlreiche Vergünstigungen geboten hatte. Er hatte sein Haus ausgebaut, hatte sich ein Motorrad zugelegt, einen Rundfunkempfänger, teure Garderobe, eine goldene Uhr. Seit er Uniform trug, war er nicht nur eine Respektsperson, sondern zugleich in den gehobenen Mittelstand aufgestiegen. Den goldenen Becher, Heidings ersten Fund aus dieser Höhle, hatte Maurer bereits konfisziert. Wer konnte schon sagen, ob dies wirklich im Auftrag der SS geschehen war? Stand das antike Stück womöglich in Maurers Wohnung und zierte seinen Kaminsims? Wollte der Mann den Schatz für sich allein – oder würde er sich als dessen Entdecker ausgeben, um allen Ruhm für sich zu beanspruchen?

In beiden Fällen, sagte sich Heiding, war es höchst unwahrscheinlich, dass irgendeine Abmachung für seine Ausreise nach Frankreich existierte. Maurers Vorgesetzte ahnten vermutlich gar nicht, dass ihr Untergebener gerade hier war. Nur zwei Männer kannten das Geheimnis … einer zu viel, aus Maurers Perspektive gesehen.

Es gibt keine Vereinbarung, folgerte Heiding. Kein Visum, keine Ausreise. Er wird mich erschießen, sobald wir wieder draußen sind … und meine Leiche irgendwo im Wald verscharren.

Inzwischen hatten sie den Raum erreicht, in dem sich der Abgrund öffnete: Ein senkrechter Schacht von scheinbar unermesslicher Tiefe. Maurer streckte den Arm mit der Lampe aus. Das Licht erhellte unregelmäßige, von Zacken und Kavernen durchschnittene Wände, verlor sich jedoch schon nach wenigen Metern.

«Dort unten?», fragte er.

Heiding nickte.

«Wie tief ist das?»

«Knapp hundertzwanzig Meter.»

Maurer verzog die Lippen. «Wie bist du da hinuntergekommen?»

«Es gibt einen Felsvorsprung auf halber Höhe», erklärte Heiding. «Mit dem Sechzig-Meter-Seil ist es möglich … wenn auch schwierig.»

«Also gut. Steigen wir hinunter.»

«Aber wir haben nur einen Hüftgurt und einen Achter zum Abseilen», gab Heiding zu bedenken. «Zu zweit ist das unmöglich.»

Maurer verzog keine Miene. «Ich nehme den Gurt! Du kletterst voran.»

Heidings Puls ging schnell, während er die Vorbereitungen traf. Dies würde weit gefährlicher werden als alles, was sie bisher bewältigt hatten. Der Achter, ein Eisenring mit zwei Ösen, diente normalerweise zur Bremsung und sollte ein unkontrolliertes Abrutschen verhindern. Gleichzeitig war das Gerät, als zusätzliche Sicherung, durch einen Karabiner mit dem Hüftgurt verbunden. Indem Maurer den Hüftgurt beanspruchte, überließ er Heiding den Kraftakt des Abseilens und hing selber wie ein zusätzliches Gewicht an ihm. Einen solchen Abstieg zu überstehen, war etwas ganz anderes, als sich durch dunkle Gänge und enge Spalten zu zwängen: Es erforderte Kraft, Geschick und Körperbeherrschung. Zwar besaß Heiding einige Erfahrung, denn Bergsteigen war seine Leidenschaft gewesen, schon bevor er die Archäologie für sich entdeckt hatte. Maurer jedoch würde am Seil hängen wie ein nasser Sack und womöglich ihrer beider Leben gefährden.

Aber was liegt noch an meinem Leben?, fragte sich Heiding, während er mit einem Hammer einen Felshaken am Rand des Schachtes einschlug. Er wird mich ohnehin töten.

Sorgfältig zurrte er Brems- und Lastseil fest und warf beide Enden in den Abgrund. Dann reichte er Maurer den Gurt, half ihm sogar beim Anlegen und klinkte den Karabiner ein. Er selbst würde faktisch ungesichert klettern.

«Abwärts!», kommandierte Maurer.

Gehorsam ließ sich Heiding von der Kante des Schachtes hinab, umklammerte mit beiden Händen das Seil und stemmte die Stiefel gegen die Felswand. Maurer folgte, zwar ungeschickt, doch immerhin bereit, sich gleichfalls an der Wand abzustützen, um das Gewicht zu verringern. Auf diese Weise überwanden sie mühsam die ersten Meter. Heidings Arme zitterten unter der Anstrengung. Beim letzten Abstieg war er allein gewesen und durch den Gurt gesichert. Nun schwebte er über dem Abgrund, nur an seinen Händen hängend. Würde er das durchhalten?

«Etwas schneller, wenn’s geht!», befahl Maurer.

Heiding schnaubte. Die Situation ließ ihn jeden Respekt vergessen. «Es geht nicht! Ich bin für unser beider Sicherheit verantwortlich, das haben Sie selbst gesagt. Mein Leben ist Ihnen vielleicht egal, aber wenn ich abstürze, müssen Sie aus eigener Kraft wieder hinaufklettern.»

«Willst du etwa behaupten, das würde ich nicht schaffen?», kläffte Maurer zurück. «Was ein Jude kann, kann ein deutscher Mann schon lange!»

Heiding verkniff sich einen Kommentar, biss die Zähne zusammen und ließ sich weiter hinab. Offenbar vertraute sein Feind darauf, dass er Kraft genug besaß, um diese Kletterpartie zu einem sicheren Ende zu bringen.

«Wenn wir unten sind und ich alles gesehen habe, wirst du wieder hochklettern», instruierte ihn Maurer vorsorglich, «und mich von oben hinaufziehen. Komm ja nicht auf die Idee, mich unten zu lassen und einfach zu türmen. Du weißt, was dann passiert!»

Diesmal regte sich in Heiding unwiderstehlicher Widerspruch.

«Ach ja?», gab er zurück. «Aber es weiß doch niemand, dass wir hier sind, habe ich nicht recht? Sie haben Ihren Vorgesetzten kein Wort gesagt.»

«Für wie dumm hältst du mich?», höhnte Maurer. «Ich habe meinen Sohn eingeweiht. Er wird alles Nötige veranlassen, falls ich bis zum Mittag nicht zurück bin.»

So ist das also, begriff Heiding.

«Sie wollen den Schatz für sich selbst, nicht wahr?», mutmaßte er kühn. «Ist der goldene Becher schon auf dem Schwarzmarkt gelandet?»

Maurer lachte schallend – ein hässliches, knatterndes Geräusch, das vom Echo der Schachtwände grotesk vervielfältigt wurde.

«Du dummer Jude! Euereins denkt nur an den Gewinn; so seid ihr eben. Dieser Schatz ist viel mehr wert als Geld! Er ist ein Heiligtum germanischer Herrenkultur, und er verleiht seinem Besitzer unbegrenzte Macht. Du hast doch keine Ahnung, Judenbengel, worüber du hier gestolpert bist!»

Heiding mühte sich einen Moment, das Gleichgewicht zu halten und eine sichere Stelle zum Abstützen zu finden. Dann erst schöpfte er genügend Atem für eine Antwort.

«Ich weiß es sehr wohl», gab er zurück. «Schließlich bin ich der Archäologe von uns beiden. Es handelt sich um Kunstgegenstände aus dem fünften bis sechsten Jahrhundert nach Christus, wahrscheinlich alemannisch oder suebisch.»

Maurer lachte erneut. «Und ganz zufällig unweit von Worms? Versenkt in einem Schacht? ‹Im Loch› – sagt dir das nichts?»

Heiding hielt inne. Doch, das sagte ihm etwas; schließlich kannte er sich in den historischen Überlieferungen der Region weit besser aus als sein Gegner. Er selbst hatte den Gedanken bereits erwogen, geprüft, als unwahrscheinlich verworfen. Glaubte Maurer tatsächlich, auf dem Grunde dieses Schachtes etwas zu finden, wonach seit über tausend Jahren vergeblich gesucht wurde? Etwas, das ihm nicht nur Reichtum, sondern unsterblichen Ruhm, vielleicht sogar die persönliche Gunst des Führers einbringen würde?

«Und ich werde der Entdecker sein!», frohlockte Maurer über ihm.

Heiding verstand. Der SS-Mann würde zweifellos dafür sorgen, dass es «seine» Entdeckung blieb und dass ein Fund, den die Propaganda wie die Kronjuwelen der arischen Rasse feiern würde, nicht unter dem Namen eines Juden in die Geschichte einging.

Ich werde sterben, begriff Heiding endgültig.

Im selben Augenblick traf ihn ein schweres Gewicht und riss ihn mehrere Meter tief hinab. Maurer schrie schrill. Heidings Füße wurden von der Felswand gerissen, und im nächsten Moment hing er frei über dem Abgrund und drehte sich um sich selbst, beide Hände um das Seil geklammert. Erst nach einer Schrecksekunde begriff er, was geschehen sein musste: Maurer, der keine Steigerstiefel trug, war an der Felswand abgerutscht und hatte seine Geisel mitgerissen. Erst im letzten Moment hatte der Achter den Sturz gebremst, und nun schwebten beide haltlos in der Leere.

Maurer keuchte heftig. Erst allmählich schien er zu begreifen, dass sie sich gefangen hatten und keine unmittelbare Gefahr drohte. Offenbar war sein Schrei ihm peinlich, weshalb er beschloss, den Schrecken durch gesteigerte Grobheit zu überspielen.

«Pass doch auf!», blaffte er zu Heiding hinab, als wäre es dessen Schuld gewesen.

Heiding kniff die Augen zusammen, als zwei oder drei Tropfen einer scharf riechenden Flüssigkeit auf sein Gesicht herabregneten. Offenbar hatte der entsetzte Herrenmensch sich glattweg in die feldgrauen Präsentierhosen gemacht.

«Weiterklettern!», verlangte er. «Na los, wird’s bald?»

In dem Moment, als die Tropfen Heidings Gesicht berührten, setzte in ihm irgendetwas aus. Statt zu gehorchen, riss er sich einen Augenblick zusammen und bündelte seine Kräfte. Dann zog er sich am Seil aufwärts.

«Was tust du da?», fauchte Maurer.

Heiding ignorierte ihn. Zwei, drei kräftige Züge, und er war auf einer Höhe mit seinem Gegner. Ein weiterer Zug, und Maurer hing halb unter ihm.

«He!», schrie Maurer und packte ihn am Gürtel. «Bist du übergeschnappt? Abwärts!»

Ungerührt stemmte Heiding einen Fuß auf die Schulter des Mannes. Dann ließ er mit einer Hand das Seil los und griff in seine Brusttasche. Der Brieföffner war ihm eingefallen, der noch immer darin steckte.

Maurers dunkle Augen weiteten sich entsetzt.

«Was … was soll das?»

Er schrie nicht mehr. Seine Stimme war zu einem heiseren Flüstern geschrumpft. Einen Moment versuchte er vergebens, Heiding wieder hinabzuziehen, doch besaß er weit weniger Körperkraft als sein Gegner.

Heiding antwortete nicht. Eigentlich, dachte er, musste doch offensichtlich sein, was er tat: Er hatte die scharfe Schneide des Brieföffners am Seil angesetzt und trennte die Fasern eine nach der anderen durch. Es dauerte einige Zeit, denn das Seil war so dick wie ein Daumen und aus mehrfach gedrechseltem Hanf.

Noch mindestens siebzig Meter bis zum Boden, dachte Heiding mit jäher Kälte. Da bleibt kein Knochen heil, nicht einmal ein Fingerglied. Ich komme hier sowieso nicht lebend heraus – aber dieser selbstgefällige Schweißbeutel auch nicht.

«Heiding!», brüllte Maurer, dem die nackte Todesangst offenbar das Duzen ausgetrieben hatte. «Lassen Sie das!»

Noch drei Fasern, noch zwei … das Seil ruckte.

Eva …

Heiding schloss die Augen.

Du bist mein letzter Gedanke. Du und ich, auf der Brücke in Worms. Deine Augen, in denen sich der Abendhimmel spiegelt …

Ein letzter Schnitt.

Das Seil zerriss.

Die Schwerkraft tat ihr Werk.

Eva.

Heidings letzter Gedanke glühte eine Sekunde lang in gleißender Helligkeit. Dann verschluckte ihn die Dunkelheit am Boden des Abgrunds.

Erster Teil

Das Leuchten

Dortmund, Gegenwart
Dienstag, 10. September

Tia

Der weiße Ford Transit legte sich in die Kurve und fädelte sich in einen Kreisverkehr ein. Tia Traveen musste nicht raten, wo sie sich befanden. Zwar hatten die Straßen sich verändert, und den Kreisel hatte es im vorigen Jahr noch gar nicht gegeben. Dennoch wies ihr Richtungssinn untrüglich nach Osten.

«Nächste Möglichkeit rechts raus», sagte sie.

Leon, der neben ihr am Steuer des Vans saß, schmunzelte hörbar. «Wenn du das sagst?»

«Verlass dich einfach auf mich.»

«Tu ich doch immer, mein geniales kleines Navi.»

Leon ging vom Gas, und Tia konnte die Fliehkraft spüren, als sie nach rechts ausscherten.

«Tatsächlich», gab er schließlich zu, offenbar ein Straßenschild musternd. «Schomakerstraße.»

«Wir kommen nur von der anderen Seite als sonst», erklärte Tia. «Halt mal Ausschau, da müsste gleich links eine Tankstelle sein.»

Leon fuhr langsam. Schließlich brauchte er im Gegensatz zu Tia seine Augen, um sich zu orientieren.

«Ja, da ist die Tankstelle. Dahinter dann rechts?»

«Links», korrigierte Tia.

Bereits das Geräusch der Reifen auf der kleinen Seitenstraße sagte ihr, dass sie richtig waren. Sie erkannte das brüchige Pflaster, die Bodenwellen, den Rhythmus der Schlaglöcher. Selbst die Ampelanlage summte noch auf derselben Frequenz wie in früheren Jahren. Die Reihenhaussiedlung, traditionelles Wohnviertel der Bergleute und Fabrikarbeiter, sah wahrscheinlich kaum anders aus als zur Zeit ihrer Erbauung. Nur wenig hatte sich seitdem verändert – abgesehen von der Schließung der letzten Zeche und der steigenden Arbeitslosigkeit, die nicht eben dazu beigetragen hatte, das Stadtviertel attraktiver zu machen. Einige der Wohnungen standen leer, und die Bewohner der übrigen waren ärmer denn je. Im Geist sah Tia die endlosen identischen Fassaden mit identischen Fenstern und Balkonen vor sich, einige davon in verblichenem Hellblau angestrichen, um ein wenig Farbe in die Eintönigkeit zu bringen.

Blau … Wie lange schon hatte sie diese Farbe nicht mehr gesehen, die sie einst geliebt hatte? Es war lange her, dass die kleine Tia, zwölfjährig und mit intakten Augen, auf dem schmalen Rasenstreifen an dieser Straße gespielt hatte.

«Sechsundvierzig … achtundvierzig …» Leon musterte die Hausnummern. «Hier.»

Er stoppte den Transit. Sie stiegen aus, und Tia roch die vertraute Luft. Sie kam nicht oft hierher, in der Regel zwei- oder dreimal im Jahr, doch stets berührte sie die Mischung aus den Abgasen der Großstadt und dem Duft des schmalen Rasenstreifens. Den Plattenweg zur Haustür hätte sie ohne Mühe gefunden. Dennoch ging sie an Leons Arm, wie sie es gewohnt war, während er das Gepäck trug.

Klingeln erwies sich als unnötig, denn die Tür stand bereits offen. Ein schwacher Geruch nach Scheuermittel drang aus dem Treppenhaus, und zugleich ein anderer, milder und lebendiger.

«Tieken!»

Die Stimme ihres Vaters war ein wenig heiser, doch voller Wärme. Tia löste sich von Leon und sank ihm in die Arme.

«Hallo, Papa.»

Er war nicht größer als sie. Dennoch hielt er sie aus alter Gewohnheit wie ein Kind: eine Hand auf ihrem Haar, ihren Kopf in seine Halsbeuge gedrückt. Tia schloss die Augen und atmete glücklich den vertrauten Geruch. Nur im allerhintersten Winkel ihres Gehirns blieb ein Rest von analytischem Denken wach, forschte, beobachtete, sondierte. Hatte er Gewicht verloren? Nein, er fühlte sich an wie beim letzten Besuch. Rasselte sein Atem? Nicht mehr als gewöhnlich. Seine Haut war warm, sein Herz schlug regelmäßig. Das war beruhigend.

«Herzlichen Glückwunsch zum Sechzigsten», flüsterte sie an seinem Hals.

«Und dir zum Achtundzwanzigsten, meine Kleine», gab er leise zurück.

Tia spürte sein Kinn an ihrer Schläfe. Dieses leichte Kratzen – seit Kindertagen hatte sie es gespürt, ganz gleich, wie sauber er sich rasierte. Sie hätte etwas vermisst, wenn es anders gewesen wäre.

«Hallo, Leon.» Jürgen Traveen trennte sich gerade so weit von Tia, dass er Leon die Hand reichen konnte. «Kommt doch rein!»

 

Sie folgten ihm die Treppe hinauf ins Wohnzimmer.

Tia brauchte keine Hilfe; sie fand den Weg mit einer Sicherheit, die mit gesunden Augen kaum größer gewesen wäre. Dies war die Wohnung, in der sie aufgewachsen war, und sie erinnerte sich an jede Stufe, jede Türklinke, jedes Stückchen Wand. Zwar waren fast alle Möbel mit den Jahren ausgetauscht, die Lampen ersetzt und Laminat verlegt worden, doch Tias innerer Lageplan gab die Gestalt der Räume noch immer exakt wieder. Es war ein Bild ohne Farben und ohne Details, ähnlich einer Computersimulation, in der jedes Zimmer als maßstabsgetreuer Quader vor neutralem Hintergrund erschien.

Nicht immer war es für Tia so einfach gewesen, sich zu orientieren. Als sie vor vielen Jahren nach ihrem Unfall aus dem Krankenhaus gekommen war, hatte sie sich vollkommen hilflos gefühlt. Sie hatte kaum ihr Bett gefunden, mit Mühe den Weg ins Bad ertastet und den Weg über die Treppe wie eine lebensgefährliche Kletterpartie im Hochgebirge erlebt. Doch sie hatte geübt, monatelang, mit der ihr eigenen Zähigkeit und Ausdauer. Sie hatte jedem verboten, ihr zu helfen – auch ihrem Vater, was Kämpfe und Tränen gekostet hatte. Damals hatte er aus Sorge um sie kaum eine ruhige Minute gehabt.

Heute war es Tia, die sich um ihn sorgte. Während sie neben Leon auf dem Sofa Platz nahm, lauschte sie aufmerksam, wie er an der Küchenzeile den Kaffee aufbrühte und mit Tassen und Tellern hantierte. Das leichte Rasseln seines Atems war erträglich. Tia war es gewohnt, denn die chronisch-obstruktive Bronchitis, die ihm von seiner Zeit als Bergmann geblieben war, hatte er schon in ihren Kindertagen gehabt. Der Kohlenstaub hatte seine Lungen ruiniert, sodass es im Grunde ein Glück gewesen war, dass man die Zeche in den Achtzigern stillgelegt hatte. Danach hatte Jürgen Traveen noch längere Zeit in einem Walzwerk gearbeitet. Erst als es zu jenem Autounfall gekommen war, der seine Frau das Leben und seine Tochter das Augenlicht gekostet hatte, war er in Frührente gegangen und zu Hause geblieben. Wie seltsam sich die Dinge seitdem entwickelt hatten, dachte Tia: Heute war er es, den seine schwache Gesundheit an die Wohnung fesselte – während seine blinde Tochter in der ganzen Welt herumreiste.

«So …» Tassen klirrten, als er das Tablett zum Wohnzimmertisch herübertrug. «Bedient euch!»

Tia streckte eine Hand aus und zog den Kaffee heran, der nach Zimt roch. Sie liebte diesen Geruch. Für sie musste Kaffee stets jene Prise Zimt enthalten, die sie von ihrem Vater kannte. Leon war längst auf diese Vorliebe konditioniert und vergaß sie nie, wenn er daheim das Frühstück machte.

«Gut hergefunden trotz der Umleitung?», fragte Jürgen Traveen, der sich ihnen gegenüber in seinen Sessel sinken ließ.

«Jo», bestätigte Leon. «Kein Problem.»

«Ihr seht gut aus, ihr zwei! Frisch und gesund. Wo wart ihr noch mal?»

«Andalusien.»

«Ach ja …» Er lachte entschuldigend. «Tut mir leid. Ihr seid so viel unterwegs, ich kann es mir einfach nicht merken.»

Tia fühlte einen leichten Stich – doch es lag keinerlei Vorwurf in den Worten ihres Vaters. Nie hatte er sich beklagt, dass seine Tochter so selten Zeit für ihn hatte. Er war stolz auf sie, das wusste Tia: Stolz auf sein kleines Mädchen, das Forschungsreisen machte und Vorträge an Universitäten hielt.

«Sieht ganz so aus, als hättet ihr zur Abwechslung mal ein paar Stunden über Tage verbracht», scherzte er. «Tieken hat richtig Farbe bekommen.»

Etwas unsicher stimmte Tia in sein Lachen ein. «Na ja … der Sonne wegen waren wir eigentlich nicht dort.»

«Schade!», meinte ihr Vater. «Immer nur in dunklen Höhlen herumzuklettern, tut deinem Teint gar nicht gut. Welches Höllenloch hatte es dir denn diesmal angetan?»

«Die Cueva de Nerja», erklärte Tia. «Eine riesige Höhle an der Südküste, fast viertausend Meter Gangsystem, aber nur zu einem Drittel erschlossen. Es war sehr aufregend.»

«Irgendetwas entdeckt?»

«Ein paar Räume, die noch nicht bekannt waren … und einige Höhlenmalereien. Aber die Entdeckung geht auf Leons Konto – schließlich konnte ich sie nicht sehen.»

«Wir haben eine Menge Fotos gemacht», erklärte Leon. «Die spanischen Behörden werden ein Archäologenteam zusammenstellen und die Sache genauer untersuchen.»

«Wie schön.» Jürgen Traveen lehnte sich zurück; Tia hörte es am leichten Knarren des Sesselleders. «Warum seid ihr nicht noch ein paar Tage dort geblieben?»

«Aber Papa!», fuhr Tia entrüstet auf. «Wir wollten doch unbedingt zu deinem Geburtstag zurück sein.»

«Ach, ich hätte es schon überlebt», schmunzelte ihr Vater. «Trotzdem freue ich mich natürlich, dass wir beiden Jungfrauen wieder gemeinsam feiern.»

Alle lachten – auch Leon, der den familiären Insiderwitz kannte. Sie waren beide Jungfrauen: Tias Geburtstag war am vierten September, der ihres Vaters am zehnten. Schon immer hatten sie ihre Geburtstage zusammengelegt und aus praktischen Gründen am zehnten September gefeiert – eine so altbewährte Tradition, dass Tia ihren eigenen Geburtstag manchmal fast vergaß.

«Ich hoffe doch, ihr könnt bis morgen bleiben?»

«Klar», bestätigte Tia. «Die Uni fängst erst nächste Woche wieder an.»

«Schön! Aber ich möchte nicht, dass ihr jungen Leute euch langweilt. Wie wäre es, wenn ich euch zum Essen einlade? Drüben an der Hauptstraße gibt es neuerdings einen hervorragenden Italiener.»

«Hm …» Tia überlegte. «Eigentlich würde ich am liebsten hierbleiben.»

«Ich könnte uns etwas zu essen machen», schlug Leon vor. «Schließlich bin ich der Hobbykoch.»

«Ach nein, du verwöhnst mich zu Hause schon genug», wehrte Tia ab. «Wollen wir uns nicht ganz dekadent irgendetwas bestellen?»

«Dann aber nur, wenn ich bezahlen darf», beharrte Leon.

«Oh nein, ich bezahle!», warf Jürgen Traveen ein.

«Halt, halt, halt!», bremste Tia, die über dieses Duell der Kavaliere lächeln musste. «Wisst ihr was? Drei Runden Skat – und wer gewinnt, darf bezahlen.»

«Das ist unfair!», protestierte Leon. «Du gewinnst doch sowieso immer.»

«Werden wir ja sehen.» Tia grinste in Richtung ihres Vaters. «Wie wär’s mit einem kleinen Duell, Papa?»

 

Eigentlich hatte Tia nur einen Vorwand gesucht, um Skat zu spielen. Sie wusste, dass ihr Vater dieses Spiel liebte und viel zu wenig Gelegenheit dazu hatte. Es war ihre Art, ihm ein Geburtstagsgeschenk zu machen. Schon immer hatten sie miteinander Skat gespielt, seit er es ihr als Kind beigebracht hatte, meistens mit einem seiner Kumpel aus der Zeche. Die speziellen Spielkarten mit dem tastbaren Profil, das ihre Finger mühelos lesen konnten, hatte er eigens für sie angeschafft. Tia erinnerte sich bis heute daran, wie ihre Mutter stets den Kopf geschüttelt hatte. Skat, das war ein Männer-Spiel. Es gehörte in die Welt der verrauchten Arbeiterkneipen, völlig unpassend für ein junges Mädchen.

Leon behielt recht: Tia führte wie stets, während er selbst sich bereits nach zwei Runden tief in den Miesen befand. Jürgen Traveen dagegen kämpfte tapfer und genoss es sichtlich, sich mit seiner Tochter zu messen. Tia hielt ihn bei Laune, reizte bewusst zu niedrig und gönnte ihm von Herzen jeden Stich. Dennoch gab letztlich ihr brillantes Gedächtnis den Ausschlag, da sie sich jede gespielte Karte mühelos merken und die letzten Stiche fast immer voraussehen konnte.

Am Ende erstritt sie sich selbst das Recht, den Pizzaservice anzurufen und die Rechnung zu bezahlen. Aus reiner Lust wurde weitergespielt, bis es klingelte. Dann wurde in bester Laune gegessen, und am Ende schenkte Jürgen Traveen zur Feier des Tages Schnaps aus. Leon, der keinen Alkohol vertrug, hielt sich höflich zurück. Tia dagegen, auch in diesem Punkt eher in der Welt ihres Vaters daheim, kippte den Kurzen mit geübter Geste und lehnte auch einen zweiten nicht ab.

Der Abend wurde wunderschön. Tia hatte das Gefühl, ihrem Vater selten so nahe gewesen zu sein, und kostete jede Minute aus. Im Stillen beschloss sie, ihn künftig häufiger zu besuchen und sich nicht mehr auf Vorwände wie Feiertage und Familienfeste zurückzuziehen.

Wer weiß, wie lange ich ihn noch habe …

Der Gedanke kam und ging mehrmals an diesem Abend. Tia mochte ihn nicht zu Ende denken. Ihr Vater war erst sechzig, aber die runde Zahl und seine heikle Gesundheit erinnerten sie daran, dass er nicht ewig da sein würde.

Es war bereits weit nach Mitternacht, als die Tafel aufgehoben wurde. Wie üblich hatte Jürgen Traveen für Tia das Bett in ihrem alten Kinderzimmer gerichtet. Leon schlief auf dem ausziehbaren Sofa im Wohnzimmer. Darauf bestand er, obwohl Tia wie bei jedem Besuch vergebens einen Tausch anbot. Am allerliebsten hätte sie ihr Bett mit ihm geteilt, denn es tat ihr gut, wenn Leon neben ihr lag. Sie schlief dann ruhiger und wachte in der Nacht nicht auf. Auf der Spanienreise hatten sie aus Kostengründen ein Doppelzimmer gebucht, und Tia hatte es sehr genossen. Doch sie wagte nicht, ihren Wunsch auszusprechen – um seinetwillen. In ihrer Berliner Wohnung hatten sie getrennte Schlafzimmer, und Leon war es so gewohnt. Also half sie ihm lediglich, das Sofa auszuziehen, während ihr Vater sich in der Tür stehend verabschiedete.

«Schlaft gut, ihr zwei», sagte er. «Wir sehen uns beim Frühstück.»

Er schloss die Tür hinter sich. Nachdenklich wandte sich Tia Leon zu, der eben seine Reisetasche auspackte.

«Es scheint ihm ganz gut zu gehen … oder?»

«Aber ja», beruhigte sie Leon. «Er ist wirklich gut drauf.»

«Wie ist seine Gesichtsfarbe? Kein bläulicher Schimmer?»

Leon seufzte. «Hör auf, dir Sorgen zu machen, Tia. Mir erschien er selten so fit wie heute.»

«Entschuldige …» Sie tastete sich zur Sofakante und setzte sich neben ihn. «Ich bin nur immer etwas nervös, wenn ich ihn ein paar Monate nicht gesehen habe.»

«Weiß ich doch», sagte Leon. «Im Übrigen macht er sich mindestens so viel Sorgen um dich wie du um ihn.»

«Wie kommst du darauf?»

«Ach, er hat da noch ein kleines Geburtstagsgeschenk für dich», verriet Leon. «Etwas, das zu deiner Sicherheit beitragen soll, wenn wir wieder einmal in irgendeiner Höhle herumkrabbeln. Aber spar dir weitere Fragen; ich darf es nicht verraten. Wahrscheinlich bekommst du es beim Frühstück. Es ist auch gar nichts Spektakuläres.»

«Trotzdem unfair!», ereiferte sich Tia. «Papa und ich haben schon seit Ewigkeiten ausgemacht, dass wir uns nichts mehr schenken, genauso wie du und ich.»

«Tja.» Leon klang plötzlich verlegen. «Wo wir gerade beim Thema sind … Wärst du sehr sauer, wenn auch ich gegen diese Vereinbarung verstoßen würde?»

Tia starrte entgeistert in die Richtung, wo sie seine Augen vermutete. «Aber … Leon …»

«Tut mir leid.» Er zog etwas aus seiner Reisetasche, das hörbar knisterte. «Aber ich konnte nicht widerstehen. Die Anfertigung hat ein wenig gedauert, sonst hättest du es schon viel früher bekommen.»

Sprachlos nahm Tia das flache, flexible Paket entgegen, das er ihr in die Arme drückte.

«Na los, mach es auf! Auf Geschenkpapier hab ich verzichtet … Ich glaube nicht, dass dich Farben oder Blümchenmuster interessieren würden.»

Tia lachte unsicher. Einen Moment mühte sie sich, die Plastikfolie einzureißen. Dann spürten ihre Finger etwas Glattes, Geschmeidiges; etwas, das sich vertraut anfühlte: Neopren. Ihr Herz machte einen kleinen Hüpfer, als sie das Kleidungsstück auf ihren Knien entfaltete und mit beiden Händen darüber strich.

«Oh, Leon …»

Sie fand keine Worte.

«Mein Gott», flüsterte Tia überwältigt. «Aber … das muss doch furchtbar teuer gewesen sein! Sörensen hat damals schon einen Monatslohn für die Maßanfertigung verlangt.»

Tia konnte es kaum fassen. Seit Jahren hatte sie bei ihren Höhlentouren einen solchen Cave-Suit getragen, eine Spezialanfertigung aus enganliegendem, weich gefüttertem Kunststoff, der Arme und Beine frei ließ und tatsächlich am ehesten einem Badeanzug ähnelte. Für Tia war es wichtig, so viel nackte Haut wie möglich als Sinnesfläche zu nutzen, um in unterirdischen Räumen Luftströmungen wahrnehmen zu können. Dass der knappe Anzug kaum wärmte, stellte für sie kein Problem dar, da sie selbst bei Temperaturen um zehn Grad, dem üblichen Höhlenklima, kaum fror. An diesem Kleidungsstück hatte sie sehr gehangen – und getrauert, als es bei ihrer vorletzten Expedition zerstört worden war. Auf den Gedanken, ein Duplikat anfertigen zu lassen, war sie nie gekommen, denn die Kosten hätten ihr bescheidenes Gehalt als Universitätsassistentin überstiegen.

«Ich schau mal, ob er passt», brachte sie betreten hervor.

«Könntest du …?»

Es war so rührend, dieses herrliche Geschenk. Wie konnte Tia ihre Dankbarkeit in angemessener Weise ausdrücken?

Sie spürte selbst, wie hohl ihre Worte klangen. Es wäre viel einfacher gewesen, ihn in die Arme zu schließen. Doch durfte sie das wagen? Einen Moment rang sie mit sich, und als sie sein Schweigen nicht mehr ertrug, wandte sie sich zur Seite und tastete nach ihrer Reisetasche, die am Boden neben dem Sofa stand.

Leon schwieg. Sie hörte, wie er ganz leise die Luft durch die Nase ausstieß – ein seltsames Geräusch, wie ein gequältes Seufzen.